BGB §§ 839 I, 844 II, GG Art. 1, 2, 34

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OLG Karlsruhe, Urteil vom 26.09.2001 - 7 U 148199

Der Strafgefangene J verbüßte in der JVA B. auf Grund Urteils des LG Frankfurt a. M. vom 8. 2. 1989 eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit Entführung und Vergewaltigung. Mitte Januar 1994 beantragte er, die Vollstreckung der restlichen Freiheitsstrafe gern. § 57 1 StGB zur Bewährung auszusetzen. Die StVK des LG Karlsruhe lehnte eine vorzeitige Entlassung durch Beschluss vom 6. 6. 1994 ab. Zur Begründung wies sie unter anderem darauf hin, wegen der in der Hauptverhandlung attestierten Persönlichkeitsproblematik und der Länge der Strafzeit sei das Risiko jedenfalls derzeit noch zu hoch. Es sei auch in diesem Falle unumgänglich, dass die JVA B. den Strafgefangenen J in Gestalt stufenweiser Vollzugslockerungen vorher erprobe. Das OLG Karlsruhe verwarf die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde des J durch Beschluss vom 12. 8. 1994. Nach Besprechung und Beratung im Rahmen einer so genannten "Lockerungskonferenz" verlegte die JVA B. den Strafgefangenen J am 3. 8. 1994 in die "offene Abteilung". Ab dem 15. 8. 1994 arbeitete er als "Freigänger" werktäglich ohne Aufsicht durch Vollzugsbedienstete in einem externen Handwerksbetrieb als Schweißer im Fahrzeugbau. Am 2. 9. 1994 gewährte ihm die JVA B. für den Zeitraum von 16.20 bis 23 Uhr einen "Ausgang" zum Schwimmen und anschließenden Kinobesuch. Gegen 20.35 Uhr traf J auf dem Parkplatz vor dem Hallenbad B. die ihm unbekannte K. Er zwang sie, mit ihm in ihrem Pkw wegzufahren. In der Folgezeit zwang er sein Opfer zum Analverkehr. Anschließend erdrosselte er es. Das LG Karlsruhe verurteilte J wegen dieser Straftat am 18. 3. 1996 wegen Mordes in Tateinheit mit sexueller Nötigung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Die am 26. 8. 1993 geborene Tochter der K ist Kl. im vorliegenden Zivilrechtsstreit. Sie nimmt das Land BadenWürttemberg als Bekl. auf Schadensersatz unter anderem in Gestalt einer monatlichen Geldrente in Anspruch. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen Folgendes vorgetragen: Die JVA hätte vor der Anordnung von Lockerungen eine Begutachtung des Strafgefangenen J veranlassen müssen. Vor Verlegung in den offenen Vollzug hätten Sozialtherapiegespräche durchgeführt werden müssen. Während der Gewährung von Lockerungen hätte J überwacht werden müssen. Die JVA B. habe auf der bestehenden Erkenntnisgrundlage nicht davon ausgehen dürfen, die Sexual- und Gewaltproblematik, die in der der Inhaftierung zu Grunde liegenden Straftat zum Ausdruck kam, bestehe zwischenzeitlich nicht mehr. Schließlich sei der JVA B. bekannt gewesen, dass J erst wenige Monate zuvor aus dem Gefängnis heraus Kontakte zu einer sado-masochistischen Aktions- und Gesprächsgruppe aufgenommen und mit einer Brieffreundin einen Briefwechsel geführt habe, der seine nach wie vor bestehende Neigung zu brutalem Sex bzw. Sadismus gezeigt habe. Das bekl. Land hat beantragt, die Klage abzuweisen. Es hat unter anderem vorgetragen: Die Maßnahmen seien nach sehr gründlichen Überlegungen gewährt worden. Ein neues fachpsychologisches Gutachten sei genauso wenig erforderlich gewesen wie vorgeschaltete Therapiegespräche. Anhaltspunkte für einen so raschen Rückfall seien nicht erkennbar gewesen, zumal angesichts der partnerschaftlichen Verbindung zu einer Frau und der für ihn gefundenen Arbeitsstelle. Einem schuldhaften Fehlverhalten der Vollzugsbeamten stünden außerdem die Ausführungen in den Beschlüssen der StVK und des OLG Karlsrube vom 6. 6. bzw. 12. 8. 1994 entgegen, die sich ausdrücklich für Vollzugslockerungen ausgesprochen hätten. Im Übrigen fehle es an der für eine Ersatzpflicht nach § 839 BGB erforderlichen Drittbezogenheit der behaupteten Amtspflichtverletzung. Das LG Karlsruhe wies die Klage durch Urteil vorn 30. 7. 1999 ab. Auf die Berufung der Kl. änderte der Senat die Entscheidung wie aus dem Folgenden ersichtlich ab.



Gründe: Die Kl. hat gegen das bekl. Land Anspruch auf Ersatz des ihr durch den Tod ihrer Mutter am 2. 9. 1994 entstandenen künftigen Unterhaltsschadens. Der Anspruch der Kl. gegen das bekl. Land ergibt sich aus Art. 34 GG i. V. mit §§ 839, 844 II BGB.

1. Mit der dem Strafgefangenen J gemäß der Lockerungskonferenz vom 4. 8. 1994 eingeräumten Vollzugslockerung mit unbeaufsichtigtem Tages- und Kulturausgang haben die Bediensteten des bekl. Landes gegen die in § 11 11 StVollzG normierte Amtspflicht verstoßen, einem Gefangenen Vollzugslockerungen nur zu gewähren, wenn nicht zu befürchten ist, dass der Gefangene die Lockerung des Vollzugs zu Straftaten missbrauchen werde. Der Senat tritt der ... Auffassung bei, dass es nicht zu verantworten war, dem Gefangenen J ohne vorausgegangene eingehende psychologische/psychiatrische Untersuchung und vor Beginn der vorgesehenen begleitenden Sozialtherapie unbeaufsichtigten Ausgang zu gewähren. Diese Entscheidung hat sich nicht mehr in dem Beurteilungsspielraum gehalten, der der Anstalt für die durch die Lockerungskonferenz vorbereitete (vgl. § 159 StVollzG) Entscheidung über Lockerungsmaßnahmen eingeräumt ist.
Die Personalakten des Gefangenen J lassen nicht erkennen, dass die vom bekl. Land ohne ausreichende Darlegung behaupteten gründlichen Überlegungen vor der Anordnung des offenen Vollzugs auch tatsächlich angestellt wurden. Vielmehr ergibt sich aus den Personalakten, dass ausreichende Abwägungen der Gründe, die für oder gegen eine Vollzugslockerung sprechen, nicht getroffen wurden. ... Dies bedeutet, dass der wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit einem schweren Sexualdelikt einsitzende Gefangene J vor der Verlegung in den offenen Vollzug nicht psychologisch untersucht wurde. ... Hinzu kommt aber vor allem, dass ... der JVA B.- die von dort aus aufgenommenen Kontakte des J zu einer sadomasochistischen Aktions- und Gesprächsgruppe sowie die von dort aus geschriebenen Briefe an eine Brieffreundin bekannt waren, die seine Wünsche nach bzw. Phantasien über gewalttätigen brutalen Sexualverkehr zum Inhalt hatten. . . . Bei dieser Sachlage ... hätte zur Klärung der Frage, ob unbeaufsichtigte Vollzugslockerungen zu verantworten sind, ein psychiatrisches oder kriminalprognostisches Sachverständigengutachten eingeholt werden müssen ... (auch) kam es bis zu der Straftat gegen die Mutter der Kl. wegen der Urlaubsabwesenheit des von J als Therapeuten ausgewählten Dr. W nicht zu der ihm in der Wiederbesprechung zum Vollzugsplan vom 14. 7. 1994 auferlegten ambulanten Therapie mit wöchentlich mindestens einem Gespräch. Statt dessen wurde ihm sofort und ohne ins Gewicht fallende Anhaltspunkte unbeaufsichtigter Tages- und Kulturausgang gewährt. Diese Lockerung des Strafvollzugs ohne vorausgegangene und ohne begleitende Sozialtherapie zur stufenweisen Erprobung hält der Senat für unvertretbar und nicht mehr zu verantworten.
Dem stehen nicht die Ausführungen in den Beschlüssen des LG Karlsrube vom 6. 6. 1994 und des OLG Karlsrube vom 12. 8. 1994 entgegen. Denn diesen Ausführungen durfte die JVA nicht entnehmen, dass die Vollzugslockerung sofort ohne begleitende sozialtherapeutische Maßnahmen und ohne Aufsicht vorgenommen werden könne. Wäre, wie es hätte sein müssen, angeordnet worden, dass J auch nur einen Monat lang bei seinen Haus- und Kulturausgängen unter Aufsicht stehen muss, dann wäre dies nach Überzeugung des Senats auch geschehen mit der Folge, dass es dann nicht zu der Straftat gegen die Mutter der Kl. gekommen wäre.



2. Die gemäß den obigen Ausführungen verletzte Amtspflicht bestand auch gegenüber der Mutter der Kl., die "Dritte" i. S. des § 839 I BGB war. Ob eine einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht verletzt ist, richtet sich nach ihrem Schutzzweck. Zu prüfen ist dabei, ob gerade das im Einzelfall berührte Interesse nach dem Zweck und der rechtlichen Bestimmung des Amtsgeschäfts geschützt werden soll (vgl. BGH, NJW 2000, 2672 [28751, und st. Rspr.).
Die Aufgaben des Strafvollzugs dienen nach § 2 StVollzG der Resozialisierung des Gefangenen und dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten. Daraus lässt sich jedoch nicht schließen, dass auch die aus §§ 10, 11 II StVollzG resultierende Amtspflicht, Vollzugslockerungen nicht anzuordnen, wenn zu befürchten ist, dass der Gefangene die Lockerungen des Vollzugs zu Straftaten missbrauchen werde, lediglich dem Interesse der Allgemeinheit dient. Vielmehr bezweckt diese Amtspflicht gerade auch den Schutz des Einzelnen vor Straftaten des Gefangenen. Gerade Vollzugslockerungen bringen - wie auch in den genannten Bestimmungen zum Ausdruck kommt - erfahrungsgemäß die Gefahr mit sich, dass der Gefangene während des offenen Vollzugs neue Straftaten begeht (§ 10 I StVollzG). Nr. 2 III der VV zu § 10 StVollzG zeigt in Übereinstimmung mit § 57 II StGB, dass bei jeder Vollzugslockerung der Schutz des bedrohten Rechtsguts und dessen (bei dem hier in Rede stehenden unzweifelhaft besonderes) Gewicht berücksichtigt werden muss.
Der Schutz von Leben und sexueller Selbstbestimmung ist hervorragende Aufgabe des Staats und wesentliche Pflicht seiner mit der Prävention vor Straftaten befassten Amtsträger, zu denen auch die im Strafvollzug tätigen Beamten zählen. Unter diesen Umständen zielt die Pflicht, Sexualstraftäter daran zu hindern, während des Vollzugs neue einschlägige Straftaten zu begehen, der Natur des Amtsgeschäfts nach darauf, die von solchen Tätern bedrohten Personen zu schützen. Die Annahme, der dem Staat von Verfassungs wegen auferlegte Schutz von Leben und sexueller Selbstbestimmung der Bürger diene lediglich dem Interesse der Allgemeinheit, wäre Ausdruck eines überholten Staatsverständnisses und ließe sich nicht mit dem grundrechtlich geschützten Anspruch des Einzelnen gegen den Staat auf Achtung seiner Würde und auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 1, 2 II GG) vereinbaren.



Die Amtspflicht, strafbare Handlungen durch den Gefangenen zu verhüten, obliegt somit den Bediensteten der Vollzugsanstalt auch gegenüber den gefährdeten Einzelnen, da die zu verhütenden Straftatbestände unmittelbar in den geschützten Rechtskreis des Einzelnen eingreifen (vgl. BGHZ 12, 206 = NJW 1954, 715 = LM § 839 [Fg] BGB Nr. 6; BGH, LM § 839 [Fg] BGB Nr. 5; vgl. auch Palandt/Thomas, BGB, 60. Aufl., § 839 Rdnr. 139). Dieser Schutzzweck der sich so aus §§ 10, 11 II StVollzG, § 57 StGB ergebenden Amtspflicht begründet die für eine Amtshaftung nach § 839 1 BGB erforderliche besondere Beziehung zwischen der verletzten Amtspflicht und dem geschädigten Dritten.
Der gegenteiligen Auffassung des OLG Hamburg (ZfStrVo 1996, 243), der das LG beigetreten ist, dass § 11 II StVollzG in erster Linie dem Interesse der Allgemeinheit und nicht dem Schutz des Einzelnen, der zufällig Opfer einer weiteren Straftat des Strafgefangenen anlässlich dessen Hafturlaubs geworden ist, diene, vermag der Senat nach alledem nicht zu folgen.

3. Demnach haftet das bekl. Land der Kl. dem Grunde nach für den durch den Tod ihrer Mutter erlittenen Unterhaltsschaden (§ 844 I 1 BGB). ...



* Quelle: NJW 2002, 445 f