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EMRK - KD Mainlaw - www.mainlaw.de
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Stand: 6. November 2016 (direkt zur Leitsatzkommentierung ...)
„Vom Verbot der Folter darf es keine Ausnahmen geben." (Luzius Wildhaber, Präsident des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, F.A.Z. v. 28.07.2003, S. 4)
- Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (der UN-Generalversammlung vom 10.12.1948, als pdf)
- Anti-Folter-Konvention (in englisch: htm)
- Charta der Grundrechte der Europäischen Union (verbindlich seit 01.12.2009, als pdf)
- Charta der Vereinten Nationen
- Charter of the United Nations
- Convention on the Rights of the Child - New York, 20 November 1989 (in deutsch: UN-Kinderrechtskonvention)
- EMRK - Leitsatzkommentar
- Ernährungsarmut und das Menschenrecht auf Nahrung in Deutschland (FIAN Deutschland e.V. - FoodFirst Informations- & Aktions-Netzwerk)
- Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (Dokumente auf Deutsch - Europarat)
- Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (Fundstellenverzeichnis in deutscher Sprache)
- Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (Entscheidungen im Volltext in englischer und französischer Sprache)
- Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (Amtliche Sammlung des Gerichtshofes - Amtssprachen Englisch & Französisch)
- Frauenkonvention (Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau)
- Genfer Flüchtlingskonvention - Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951
- Genfer - Konventionen (Auflistung)
- Gerichtshof der EU - EuGH - InfoCuria - Rechtsprechung des Gerichtshofs - auch zu Grundrechtecharta
- Haager Abkommen
- Haager Landkriegsordnung (HLKO)
- Hoher Kommissar für Menschenrechte der Vereinten Nationen (Aktuelle Informationen in verschiedenen Sprachen)
- Human Rights Watch
- Institut für Menschenrechte
- Internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen
- Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte - vom 19. Dezember 1966 (BGBl. 1973 II S. 1534)
- Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte - abgeschlossen in New York am 16. Dezember 1966 - ratifiziert am 17.12.1973
- Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung
- Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten in der Fassung der Bekanntmachung vom 17. Mai 2002 - EMRK (BGBl. II S. 1054)
- Right to Food (UN-Sonderberichterstatter - Jean Ziegler)
- Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs
- Rousseau, Jean-Jacques, geb. 28.06.1712 in Genf (so aktuell wie immer)
- Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
- Übereinkommen vom 9. Dezember 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (in englisch: html)
- Völkerstrafgesetzbuch (VStGB)
- weitere Rechtsprechung
Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten in der Fassung der Bekanntmachung vom 17. Mai 2002 (BGBl. II S. 1054)
Die Unterzeichnerregierungen, Mitglieder des Europarats -
in Anbetracht der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verkündet worden ist;
- in der Erwägung, dass diese Erklärung bezweckt, die universelle und wirksame Anerkennung und Einhaltung der in ihr aufgeführten Rechte zu gewährleisten;
- in der Erwägung, dass es das Ziel des Europarats ist, eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern herzustellen, und dass eines der Mittel zur Erreichung dieses Zieles die Wahrung und Fortentwicklung der Menschenrechte
und Grundfreiheiten ist;
- in Bekräftigung ihres tiefen Glaubens an diese Grundfreiheiten, welche die Grundlage von Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bilden und die am besten durch eine wahrhaft demokratische politische Ordnung sowie durch ein
gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Achtung der diesen Grundfreiheiten zu Grunde liegenden Menschenrechte gesichert werden;
- entschlossen, als Regierungen europäischer Staaten, die vom gleichen Geist beseelt sind und ein gemeinsames Erbe an politischen Überlieferungen, Idealen, Achtung der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit besitzen, die ersten Schritte
auf dem Weg zu einer kollektiven Garantie bestimmter in der Allgemeinen Erklärung aufgeführter Rechte zu unternehmen -
haben Folgendes vereinbart:
Art. 1 EMRK Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte
Art. 2 EMRK Recht auf Leben
Art. 3 EMRK Verbot der Folter
Art. 4 EMRK Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit
Art. 5 EMRK Recht auf Freiheit und Sicherheit
Art. 6 EMRK Recht auf ein faires Verfahren
Art. 7 EMRK Keine Strafe ohne Gesetz
Art. 8 EMRK Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens
Art. 9 EMRK Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit
Art. 10 EMRK Freiheit der Meinungsäußerung
Art. 11 EMRK Versammlung- und Vereinigungsfreiheit
Art. 12 EMRK Recht auf Eheschließung
Art. 13 EMRK Recht auf wirksame Beschwerde
Art. 14 EMRK Diskriminierungsverbot
Art. 15 EMRK Abweichen im Notstandsfall
Art. 16 EMRK Beschränkungen der politischen Tätigkeit ausländischer Personen
Art. 17 EMRK Verbot des Missbrauchs der Rechte
Art. 18 EMRK Begrenzung der Rechtseinschränkungen
Art. 19 EMRK Errichtung des Gerichtshofs
Art. 20 EMRK Zahl der Richter
Art. 21 EMRK Voraussetzungen für das Amt
Art. 22 EMRK Wahl der Richter
Art. 23 EMRK Amtszeit
Art. 24 EMRK Entlassung
Art. 25 EMRK Kanzlei und wissenschaftliche Mitarbeiter
Art. 26 EMRK Plenum des Gerichtshofs
Art. 27 EMRK Ausschüsse, Kammern und Große Kammer
Art. 28 EMRK Unzulässigkeitserklärungen der Ausschüsse
Art. 29 EMRK Entscheidungen der Kammern über die Zulässigkeit und Begründetheit
Art. 30 EMRK Abgabe der Rechtssache an die Große Kammer
Art. 31 EMRK Befugnisse der Großen Kammer
Art. 32 EMRK Zuständigkeit des Gerichtshofs
Art. 33 EMRK Staatenbeschwerden
Art. 34 EMRK Individualbeschwerden
Art. 35 EMRK Zulässigkeitsvoraussetzungen
Art. 36 EMRK Beteiligung Dritter
Art. 37 EMRK Streichung von Beschwerden
Art. 38 EMRK Prüfung der Rechtssache und gütliche Einigung
Art. 39 EMRK Gütliche Einigung
Art. 40 EMRK Öffentliche Verhandlung und Akteneinsicht
Art. 41 EMRK Gerechte Entschädigung
Art. 42 EMRK Urteile der Kammern
Art. 43 EMRK Verweisung an die Große Kammer
Art. 44 EMRK Endgültige Urteile
Art. 45 EMRK Begründung der Urteile und Entscheidungen
Art. 46 EMRK Verbindlichkeit und Durchführung der Urteile
Art. 47 EMRK Gutachten
Art. 48 EMRK Gutachterliche Zuständigkeit des Gerichtshofs
Art. 49 EMRK Begründung der Gutachten
Art. 50 EMRK Kosten des Gerichtshof
Art. 51 EMRK Vorrechte und Immunitäten der Richter
Art. 52 EMRK Anfragen des Generalsekretärs
Art. 53 EMRK Wahrung anerkannter Menschenrechte
Art. 54 EMRK Befugnisse des Ministerkomitees
Art. 55 EMRK Ausschluss anderer Verfahren zur Streitbeilegung
Art. 56 EMRK Räumlicher Geltungsbereich
Art. 57 EMRK Vorbehalte
Art. 58 EMRK Kündigung
Art. 59 EMRK Unterzeichnung und Ratifikation
Art. 1 EMRK Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte
Die Hohen Vertragsparteien sichern allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in Abschnitt I bestimmten Rechte und Freiheiten zu.
Leitsätze/Entscheidungen:
Die Rolle des Gerichtshofs ist gegenüber staatlichen Gerichten subsidiär. Eine Regierung kann daher vor dem Gerichtshof grundsätzlich nur mit dem gehört werden, was sie zuvor den staatlichen Gerichten vorgetragen hat, so dass die
bereits darüber entscheiden konnten. Ausübung von Hoheitsgewalt ist nach Art. 1 EMRK (Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte) notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Konventionsstaat für ihm zurechenbare
Handlungen und Unterlassungen verantwortlich ist. Die Hoheitsgewalt ist grundsätzlich territorial bestimmt. Handlungen von Vertretern der Konventionsstaaten, die außerhalb ihres Hoheitsgebiets vorgenommen werden oder dort
Auswirkungen haben, können im Ausnahmefall Ausübung ihrer Hoheitsgewalt i. S. von Art. 1 EMRK sein. Ein solcher Ausnahmefall kann gegeben sein, wenn
- diplomatische oder konsularische Vertreter im Ausland tätig werden,
- ein Staat mit Zustimmung der Regierung eines anderen auf deren Hoheitsgebiet Zuständigkeiten übernimmt,
- Gewaltanwendung staatlicher Vertreter im Ausland Personen unter ihre Kontrolle bringt, insbesondere wenn die Personen gefangen genommen werden,
- infolge rechtmäßiger oder unrechtmäßiger Militäraktion ein Staat die tatsächliche Kontrolle über ein Gebiet außerhalb seines Hoheitsgebiets ausübt.
Nach dem Sturz des Ba'ath Regimes und bis zur Bildung einer irakischen Interimsregierung hat das Vereinigte Königreich zusammen mit den USA Teile der öffentlichen Gewalt im Irak übernommen, die normalerweise von einer
souveränen Regierung ausgeübt werden. Unter diesen außergewöhnlichen Umständen unterstanden die bei Sicherheitsoperationen der britischen Streitkräfte getöteten Personen der Hoheitsgewalt des Vereinigten Königreichs i. S.
von Art. 1 EMRK. Die sich aus Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) ergebende Ermittlungspflicht bei Todesfällen gilt auch unter schwierigen Sicherheitsverhältnissen nach einem bewaffneten Konflikt. Die Ermittlungen über den
Tod der Angehörigen einiger Beschwerdeführer entsprachen nicht den Anforderungen von Art. 2 EMRK, weil sie gänzlich im Bereich der unmittelbaren militärischen Hierarchie blieben und sich darauf beschränkten,
Aussagen der beteiligten britischen Soldaten aufzunehmen. Auch die Sonderabteilung der Militärpolizei, die in einigen Fällen Ermittlungen geführt hat, war nicht gänzlich unabhängig von der militärischen Hierarchie. Deswegen
ist Art. 2 EMRK verletzt. Einer der Beschwerdeführer ist noch Opfer i. S. von Art. 34 EMRK (Individualbeschwerden), obwohl er Schadensersatz und ein Schuldanerkenntnis erhalten hat, weil keine umfassenden und unabhängigen
Ermittlungen angestellt worden sind. Bei einem anderen Beschwerdeführer hat eine umfassende, öffentliche Untersuchung stattgefunden, so dass er nicht mehr Opfer der von ihm behaupteten Konventionsverletzung ist. Der
Gerichtshof verurteilt die britische Regierung nicht, weitere Ermittlungen anzustellen. Nach Art. 46 II EMRK (Verbindlichkeit und Durchführung der Urteile) ist es Aufgabe des Ministerkommitees des Europarats zu prüfen, welche
Maßnahmen zur Durchführung des Urteils erforderlich sind (EMRK, Urteil vom 07.07.2011 - 55721/07 zu EMRK Art. 1, 2, 15, 34, 35, 41, 46, 56).
***
Wie das House of Lords zu Recht festgestellt hat, unterstand der Beschwerdeführer britischer Hoheitsgewalt i. S. von Art. 1 EMRK (Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte), als er wegen des Verdachts terroristischer
Aktivitäten über drei Jahre in einem militärischen Armeegefängnis festgehalten wurde. Die Ermächtigung in der Resolution Nr. 1511 des Sicherheitsrats der VN vom 16.10.2003 hatte nicht zur Folge, dass Handlungen von Soldaten
der Multinationalen Truppe den VN und nicht den Staaten zuzurechnen sind, welche Truppen gestellt haben. Daran hat auch die Resolution Nr. 1546 des Sicherheitsrats vom 08.06.2004 nichts geändert. Art. 5 I EMRK (Recht auf
Freiheit und Sicherheit) erlaubt keine Internierung oder präventive Haft, wenn nicht beabsichtigt ist, binnen angemessener Frist Anklage zu erheben. Die Internierung war weder nach Art. 5 I EMRK noch nach Völkerrecht,
insbesondere nach den Resolutionen des Sicherheitsrats der VN, gerechtfertigt. Die Resolution des Sicherheitsrats Nr. 1546 hatte das Vereinigte Königreich zwar ermächtigt, Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Sicherheit im Irak
zu treffen. Doch weder sie noch eine andere Resolution des Sicherheitsrats haben ausdrücklich oder stillschweigend vom Vereinigten Königreich verlangt, Personen auf unbestimmte Zeit ohne Anklage festzuhalten, weil sie eine
Gefahr für die Sicherheit im Irak sind. Bei Auslegung der Resolutionen des Sicherheitsrats der VN gilt die Vermutung, dass den Staaten keine Verpflichtung auferlegt werden werden soll, die den Grundrechte zuwider liefen. Unter
Berücksichtigung von Art. 1 III und 24 II der Charta der VN und der wichtigen Rolle der VN bei der Förderung des Schutzes der Menschenrechte muss angenommen werden, dass der Sicherheitsrat klare Worte finden würde, wenn er
Maßnahmen von Staaten verlangte, die ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen zum Schutz der Menschenrechte widersprechen könnten. Deswegen ist nicht anzunehmen, dass die Resolution Nr. 1546 des Sicherheitsrats die Staaten
dazu verpflichten wollte, unter Verletzung der Menschenrechte Personen unbefristet, ohne Anklage und ohne Richtergarantie in Haft zu halten. Eine Rechtfertigung ergibt sich auch nicht aus dem der Resolution Nr. 1546 des
Sicherheitsrats beigefügten Schriftwechsel zwischen der irakischen Regierung und der Regierung der USA im Namen der anderen Staaten, die Truppen im Irak gestellt haben. Darin heißt es, dass die Multinationale Truppe auf
Ersuchen der Regierung des Irak dort bleiben und auch weiterhin internieren werde, wenn sie das aus zwingenden Sicherheitserwägungen für nötig halte. Eine Vereinbarung dieser Art kann aber bindenden Konventionspflichten nicht
vorgehen. Deswegen ist Art. 5 I EMRK verletzt (EGMR, Urteil vom 07.07.2011 - 27021/08 zu EMRK Art. 1, 5 I, 41, BeckRS 2011, 25294)
***
Die Fortdauer der Sicherungsverwahrung über die ursprünglich im StGB vorgesehene Höchstdauer von zehn Jahren verstößt gegen Art. 5 I lit. a (Recht auf Freiheit und Sicherheit) und Art. 7 I EMRK (keine Strafe ohne Gesetz -
Anschluss an EGMR, Slg. 2009 = NJW 2010, 2495 - M./Deutschland). Nach Art. 5 z I lit. e EMRK kann einer Person die Freiheit wegen einer psychischen Krankheit nur entzogen werden, wenn sie zuverlässig nachgewiesen und so
schwerwiegend ist, dass sie eine zwangsweise Unterbringung notwendig macht. Die Fortdauer der Unterbringung ist nur so lange zulässig, wie die Störung fortbesteht. Eine Freiheitsentziehung wegen einer psychischen Erkrankung ist
nur rechtmäßig i. S. von Art. 5 I lit. e EMRK, wenn sie in einem Krankenhaus, einer Klinik oder einer anderen geeigneten Einrichtung vollzogen wird. Es gibt aber in Deutschland keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem
Vollzug einer langen Freiheitsstrafe und dem einer Sicherungsverwahrung. Die Feststellung einer Konventionsverletzung verpflichtet den beklagten Staat nach Art. 46 EMRK (Verbindlichkeit und Durchführung der Urteile) nicht nur
zur Zahlung des nach Art. 41 EMRK (gerechte Entschädigung) zugesprochenen Betrags an den Beschwerdeführer, sondern auch dazu, unter Aufsicht des Ministerkomitees des Europarats allgemeine oder individuelle Maßnahmen zu
treffen, um die Konventionsverletzung abzustellen und so weit wie möglich Wiedergutmachung zu leisten. Aus Art. 1 EMRK (Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte) ergibt sich, dass sich die Konventionsstaaten mit
Ratifizierung der Konvention verpflichtet haben sicherzustellen, dass ihre Rechtsordnung mit der Konvention übereinstimmt. Daraus folgt, dass der beklagte Staat jedes Hindernis in seiner Rechtsordnung für eine angemessene
Wiedergutmachung beseitigen muss. Nach dem Urteil in der Sache M./Deutschland (Slg. 2009 = NJW 2010, 2495) haben einige deutsche Gerichte die konventionswidrige Sicherungsverwahrung nicht beendet mit der Begründung, sie
könnten das StGB nicht konventionskonform auslegen. Einige Oberlandesgerichte und ein Senat des BGH halten das für möglich. Deswegen sieht der Gerichtshof davon ab, bestimmte allgemeine oder individuelle Maßnahmen zu
bezeichnen, die zur Durchführung des Urteils erforderlich sind. Er fordert die deutschen Behörden und Gerichte aber dringend dazu auf, ihrer Verantwortung für die Anwendung und Durchsetzung des Rechts des Beschwerdeführers
auf Freiheit nachzukommen (EGMR, Urteil vom 13.01.2011 - 17792/07).
***
Die französische Marine hatte von der Aufbringung des Schiffes bis zur Verbringung der Mannschaftsmitglieder nach Frankreich die volle und ausschließliche Kontrolle über das Handelsschiff und seine Mannschaft. Damit
unterstanden die Bf. als Besatzungsmitglieder französischer Hoheitsgewalt i. S. von Art. 1 EMRK Den Mitgliedern der Besatzung ist nach dem Entern des Schiffs die Freiheit entzogen worden, weil sie unter Bewachung in ihren
Kabinen bleiben mussten und der Kurs des Schiffs von der französischen Marine bestimmt wurde. Deswegen ist Art. 5 I EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit) anwendbar. Den Bf. ist die Freiheit an Bord des Schiffs „zur
Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde" i. S. von Art. 5 I lit c) entzogen worden. Bei Drogenhandel auf Hoher See gilt nach dem Völkerrecht der Grundsatz, dass der Staat zuständig ist, unter dessen Flagge das Schiff fährt.
Völkerrechtliche Vereinbarungen über die Bekämpfung des illegalen Drogenhandels auf See finden auf den vorliegenden Fall keine Anwendung. Die diplomatische Note, mit der Kambodscha dem Vorgehen der französischen Marine
zugestimmt hat, kann zwar eine völkerrechtliche Grundlage sein, ist aber nicht bestimmt genug gefasst und war in ihren Auswirkungen nicht vorhersehbar. Die Beschwerdeführer sind unverzüglich nach ihrer Ankunft in Frankreich, 13
Tage nach ihrer Festnahme, einem Richter vorgeführt worden. Eine solche Dauer ist nur unter außerordentlich ungewöhnlichen Umständen mit dem Erfordernis der unverzüglichen Vorführung nach Art. 5 III EMRK vereinbar.
Derartige Umstände liegen hier vor, weil es nicht möglich war, das aufgebrachte Schiff schneller nach Frankreich zu bringen (EGMR, Urteil vom 29.03.2010 - 3394/03 zu EMRK Art. 1, 5 I, III, 32, 41, BeckRS 2010, 30532).
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Art. 2 EMRK Recht auf Leben
(1) Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt. Niemand darf absichtlich getötet werden, außer durch Vollstreckung eines Todesurteils, das ein Gericht wegen eines Verbrechens verhängt hat, für das die
Todesstrafe gesetzlich vorgesehen ist.
(2) Eine Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie durch eine Gewaltanwendung, verursacht wird, die unbedingt erforderlich ist, um
a) jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen;
b) jemanden rechtmäßig festzunehmen oder jemanden, dem die Freiheit rechtmäßig entzogen ist, an der Flucht zu hindern;
c) einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen.
Leitsätze/Entscheidungen:
Die Handlungspflicht nach Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) verlangt vom Staat, Vorschriften zu erlassen, wonach Krankenhäuser, ob privat oder öffentlich, angemessene Maßnahmen zum Schutz des Lebens ihrer Patienten ergreifen
müssen und Verstöße gegen die Rechte des Patienten verfolgt und bestraft werden. Wenn ein Konventionsstaat angemessen dafür gesorgt hat, dass hohe berufliche Anforderungen für das ärztliche Personal und den Schutz des Lebens
der Patienten sichergestellt werden, reichen Ereignisse wie ein Kunstfehler oder nachlässige Abstimmung unter dem ärztliche Personal bei Behandlung eines Patienten allein nicht aus, einen Konventionsstaat unter dem Gesichtspunkt
seiner Schutzpflicht nach Art. 2 EMRK zur Verantwortung zu ziehen. Ein Beschwerdeführer kann die Opfereigenschaft i.S.v. Art. 34 EMRK verlieren, wenn die Behörden oder Gerichte des Staates ausdrücklich oder in der Sache den
Verstoß gegen die Konvention anerkannt und Wiedergutmachung geleistet haben. Wo es um die Frage geht, ob ein Staat für Verstöße gegen Art. 2 EMRK verantwortlich ist, reichen erfolgreiche Zivil- oder
Verwaltungsgerichtsverfahren aus, einem Beschwerdeführer die Opfereigenschaft zu nehmen. Der Beschwerdeführer verliert seine Opfereigenschaft, wenn der behandelnde Arzt in dem verklagten Staat wegen Körperverletzung
angeklagt und durch die zuständigen Disziplinargerichte wegen Verletzung seiner Berufspflichten verurteilt wurde und wenn die Zivilgerichte dem Beschwerdeführer eine Entschädigung nach Art. 41 EMRK für
Nichtvermögensschaden zugesprochen haben, der in der Höhe den Beträgen entspricht, die der Gerichtshof in ähnlichen Fällen gegen den Konventionsstaat (hier: Polen) zugesprochen hat (EGMR, Entscheidung vom 20.09.2011 -
27294/08 - juris - Orientierungssätze).
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Die Rolle des Gerichtshofs ist gegenüber staatlichen Gerichten subsidiär. Eine Regierung kann daher vor dem Gerichtshof grundsätzlich nur mit dem gehört werden, was sie zuvor den staatlichen Gerichten vorgetragen hat, so dass die
bereits darüber entscheiden konnten. Ausübung von Hoheitsgewalt ist nach Art. 1 EMRK (Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte) notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Konventionsstaat für ihm zurechenbare
Handlungen und Unterlassungen verantwortlich ist. Die Hoheitsgewalt ist grundsätzlich territorial bestimmt. Handlungen von Vertretern der Konventionsstaaten, die außerhalb ihres Hoheitsgebiets vorgenommen werden oder dort
Auswirkungen haben, können im Ausnahmefall Ausübung ihrer Hoheitsgewalt i. S. von Art. 1 EMRK sein. Ein solcher Ausnahmefall kann gegeben sein, wenn
- diplomatische oder konsularische Vertreter im Ausland tätig werden,
- ein Staat mit Zustimmung der Regierung eines anderen auf deren Hoheitsgebiet Zuständigkeiten übernimmt,
- Gewaltanwendung staatlicher Vertreter im Ausland Personen unter ihre Kontrolle bringt, insbesondere wenn die Personen gefangen genommen werden,
- infolge rechtmäßiger oder unrechtmäßiger Militäraktion ein Staat die tatsächliche Kontrolle über ein Gebiet außerhalb seines Hoheitsgebiets ausübt.
Nach dem Sturz des Ba'ath Regimes und bis zur Bildung einer irakischen Interimsregierung hat das Vereinigte Königreich zusammen mit den USA Teile der öffentlichen Gewalt im Irak übernommen, die normalerweise von einer
souveränen Regierung ausgeübt werden. Unter diesen außergewöhnlichen Umständen unterstanden die bei Sicherheitsoperationen der britischen Streitkräfte getöteten Personen der Hoheitsgewalt des Vereinigten Königreichs i. S. von
Art. 1 EMRK. Die sich aus Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) ergebende Ermittlungspflicht bei Todesfällen gilt auch unter schwierigen Sicherheitsverhältnissen nach einem bewaffneten Konflikt. Die Ermittlungen über den Tod der
Angehörigen einiger Beschwerdeführer entsprachen nicht den Anforderungen von Art. 2 EMRK, weil sie gänzlich im Bereich der unmittelbaren militärischen Hierarchie blieben und sich darauf beschränkten, Aussagen der beteiligten
britischen Soldaten aufzunehmen. Auch die Sonderabteilung der Militärpolizei, die in einigen Fällen Ermittlungen geführt hat, war nicht gänzlich unabhängig von der militärischen Hierarchie. Deswegen ist Art. 2 EMRK verletzt.
Einer der Beschwerdeführer ist noch Opfer i. S. von Art. 34 EMRK (Individualbeschwerden), obwohl er Schadensersatz und ein Schuldanerkenntnis erhalten hat, weil keine umfassenden und unabhängigen Ermittlungen angestellt
worden sind. Bei einem anderen Beschwerdeführer hat eine umfassende, öffentliche Untersuchung stattgefunden, so dass er nicht mehr Opfer der von ihm behaupteten Konventionsverletzung ist. Der Gerichtshof verurteilt die britische
Regierung nicht, weitere Ermittlungen anzustellen. Nach Art. 46 II EMRK (Verbindlichkeit und Durchführung der Urteile) ist es Aufgabe des Ministerkommitees des Europarats zu prüfen, welche Maßnahmen zur Durchführung des
Urteils erforderlich sind (EMRK, Urteil vom 07.07.2011 - 55721/07 zu EMRK Art. 1, 2, 15, 34, 35, 41, 46, 56).
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Der im blockierten Wagen sitzende Polizist konnte berechtigterweise annehmen, dass sein Leben durch Angriffe von Demonstranten gefährdet war. Dass er nach einer Warnung einen ungezielten Schuss abgegeben hat, der einen
Demonstranten tödlich verletzt hat, war nach Art. 2 II lit. a EMRK (Recht auf Leben) gerechtfertigt, weil die Gewaltanwendung unbedingt erforderlich war, um sich und seine Kollegen gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen. Art.
2 EMRK verpflichtet die Staaten nicht nur, absichtliche ungerechtfertigte Tötungen zu unterlassen, sondern auch dazu, die notwendigen Maßnahmen zum Schutz des Lebens der Personen unter ihrer Hoheitsgewalt zu treffen. Sie
müssen einen rechtlichen und verwaltungsmäßigen Rahmen schaffen, der die Voraussetzungen begrenzt, unter denen Polizisten Gewalt anwenden und von der Schusswaffe Gebrauch machen dürfen und dabei angemessene Garantien
gegen Willkür und Missbrauch vorsieht. Die italienischen Behörden haben alles getan, was vernünftigerweise von ihnen erwartet werden konnte, um den Schutz des Lebens bei den Polizeioperationen, bei denen die Gefahr tödlicher
Gewaltanwendung bestand, zu gewährleisten. Deswegen ist Art. 2 EMRK auch nicht bei Organisation und Planung dieser Operation verletzt. Italien hat weiter die sich aus Art. 2 EMRK ergebene Pflicht, beim Tod einer Person
wirksame Ermittlungen anzustellen, nicht verletzt. Deswegen ist gegen diese Vorschrift auch nicht in ihrem verfahrensrechtlichen Aspekt verstoßen worden (EGMR, Urteil vom 24.03.2011 - 23458/02 zu Art. 2, 3, 6, 13, 38, BeckRS
2011, 21463).
***
Art. 2 I EMRK verpflichtet die Vertragsstaaten, das Recht auf Leben durch wirksame Strafvorschriften zu schützen, zu denen ein System zur Durchsetzung mit dem Ziel der Vorbeugung, Verhinderung und Bestrafung von Verstößen
gehört. Daraus ergibt sich die weitere Pflicht, wirksame Ermittlungen anzustellen, wenn jemand durch Gewaltanwendung oder unter verdächtigen Umständen ums Leben gekommen ist. Die Ermittlungen müssen unabhängig,
unparteiisch und gründlich sein. Die Angehörigen des Opfers müssen Zugang zum Verfahren haben. Der Gerichtshof prüft, ob die Ermittlungen den genannten Anforderungen entsprechen, ohne sich in die Arbeit der zuständigen
Behörden oder Gerichte einzumischen, es sei denn, sie haben willkürlich gehandelt oder wesentliche Umstände nicht beachtet. Dem ist so im vorliegenden Fall: die bulgarische Behörden haben zahlreiche mögliche
Ermittlungsmaßnahmen nicht ergriffen und offenkundig wesentliches Beweismaterial außer Acht gelassen. Die Angehörigen hatten auch keinen Zugang zum Ermittlungsverfahren und waren am Verfahren über die Absprache
zwischen der Staatsanwaltschaft und dem Straftäter nicht beteiligt. Damit ist Art. 2 EMRK verletzt. Rassistisch motivierte Gewalt ist ein besonderer Angriff auf die Würde des Menschen und verlangt wegen ihrer gefährlichen
Auswirkungen von den Behörden besondere Aufmerksamkeit und energische Reaktion. Bei der Untersuchung von Gewalttaten sind die Vertragsstaaten verpflichtet, alles zu unternehmen, um rassistische Beweggründe
aufzudecken und herauszufinden, ob Hass oder Vorurteile wegen ethnischer Zugehörigkeit bei den Ereignissen eine Rolle gespielt haben. Im vorliegenden Fall scheint der verurteilte Täter seinem Opfer zugerufen zu haben "Du
verdammter Zigeuner", und der ermittelnde Staatsanwalt hat das Opfer und seine Angehörigen als "Zigeuner" bezeichnet. Unter den Umständen des Falls reicht das aber nicht aus, auf rassistische Vorurteile zu schließen, welche die
Ermittlungen beeinflusst hätten (EGMR, Urteil vom 27.01.2011 - 44862/04 zu EMRK Art. 2, 13, 14, 34, 35 I, III lit. a, 41, BeckRS 2011, 24044).
***
Das Recht einer Person zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt ihr Leben beendet sein soll, ist Teil des Rechts auf Achtung des Privatlebens i. S. von Art. 8 EMRK, vorausgesetzt, sie kann ihren Willen frei bilden und
entsprechend handeln. Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) verpflichtet Behörden, eine Person an einer Selbsttötung zu hindern, wenn sie die Entscheidung dazu nicht frei und in Kenntnis aller Umstände getroffen hat. Es gibt unter den
Mitgliedsstaaten des Europarats keinen Konsens über das Recht einer Person zu entscheiden, wann und auf welche Weise sie ihr Leben beenden möchte. Deswegen haben die Staaten insoweit einen erheblichen Ermessensspielraum.
Die mit einem Rechtssystem, das die Beihilfe zum Selbstmord erleichtert, verbundene Missbrauchsgefahr darf nicht unterschätzt werden. Eine Verschreibungspflicht für tödliche Substanzen dient dem Schutz der Gesamtheit, der
öffentlichen Sicherheit und der Verhütung von Straftaten. Selbst wenn eine Verpflichtung der Staaten bestünde, Maßnahmen zur Erleichterung einer Selbsttötung zu treffen, hätten die Schweizer Behörden im vorliegenden Fall
angesichts des ihnen zustehenden Ermessensspielraums nicht gegen diese Pflicht verstoßen (EGMR, Urteil vom 20.01.2011 - 31322/07 zu EMRK Art. 2, 8 II, 36 II, BeckRS 2011, 80449).
***
Die Entscheidung der Kammer, die Beschwerde teilweise für unzulässig zu erklären, ist endgültig. Dieser Teil der Beschwerde ist deswegen nicht vor der Großen Kammer anhängig. Art. 7 II EMRK (Keine Strafe ohne Gesetz) soll
deutlich machen, dass Art. 7 I EMRK nicht für Gesetze gilt, die unter ganz außergewöhnlichen Umständen am Ende des Zweiten Weltkrieges erlassen worden sind, z.B. um Kriegsverbrechen zu bestrafen. Die Definition von
Kriegsverbrechen in der Charta des Internationalen Kriegsverbrechertribunals in Nürnberg ist als Kodifizierung des 1939 geltenden Kriegsvölkerrechts und der völkerrechtlichen Gebräuche zu verstehen. Kriegsverbrechen wurden im
Mai 1944 als Handlungen definiert, die gegen Recht und Gebräuche des Krieges verstoßen. Das Völkerrecht hatte die zugrundeliegenden Prinzipien bestimmt und einen umfangreichen Katalog von Kriegsverbrechen aufgestellt. Die
Misshandlung, Verletzung und Tötung der Bewohner des Dorfes Mazie Bati war 1944 nach dem Kriegsvölkerrecht ein Kriegsverbrechen.Das Völkerrecht und die Gebräuche des Krieges genügten 1944, eine persönliche strafrechtliche
Verantwortlichkeit zu begründen. Das hätte der Beschwerdeführer vorhersehen können. Die Handlungen des Beschwerdeführers waren nach Recht und Gebräuchen des Krieges 1944 ausreichend als Straftaten bestimmt, so dass die
Verurteilung des Beschwerdeführers Art. 7 I EMRK nicht verletzt (EGMR, Urteil vom 17.05.2010 - 36376/04 zu EMRK Art. 2, 3, 5, 6, 7, 13, 15, 18, 43).
***
Unter bestimmten Umständen kann es angemessen sein, eine Beschwerde ganz oder teilweise nach Art. 37 Abs. 1 EMRK auf der Grundlage einer einseitigen Erklärung durch den beklagten Staat im Register zu streichen. Bei dem
erhobenen Vorwurf des Menschenhandels ist eine Streichung nicht angemessen, da es nur wenig Rechtsprechung zur Auslegung und Anwendung von Art. 4 EMRK (Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit) auf Fälle von
Menschenhandel gibt. Art. 2 EMRK verpflichtet Konventionsstaaten nicht, in ihrem Strafrecht eine weltweite Zuständigkeit ihrer Gerichte für Fälle vorzusehen, die den Tod eines ihrer Staatsangehörigen betreffen. Menschenhandel ist
eine Bedrohung für Menschenwürde und Grundfreiheiten seiner Opfer und mit der demokratischen Gesellschaft und den Grundwerten der Konvention unvereinbar. Es ist nicht erforderlich, zu unterscheiden, ob es sich bei
Menschenhandel um "Sklaverei", "Leibeigenschaft" oder "Zwangsarbeit" handelt. Er fällt jedenfalls in den Anwendungsbereich von Art. 4 EMRK. Wenn Behörden von Umständen wussten oder hätten wissen müssen, die den
Verdacht begründen, dass eine bestimmte Person in unmittelbarer Gefahr war oder ist, Opfer von Menschenhandel oder sexueller Ausbeutung zu sein, so ist Art. 4 EMRK verletzt, wenn die Behörden es versäumen, ihnen mögliche
angemessene Maßnahmen zu treffen, um die Person aus dieser Lage und dieser Gefahr zu befreien. Wie aus Art. 2 und 3 EMRK ergibt sich auch aus Art. 4 EMRK die verfahrensrechtliche Pflicht der Konventionsstaaten, Tatumstände
möglichen Menschenhandels zu ermitteln und bei der Strafverfolgung mit den zuständigen Behörden anderer beteiligter Staaten zusammenzuarbeiten.(EGMR, Urteil vom 07.01.2010 - 25965/04 zu Art 2, 3, 4, 5, 35, 37, 41 - juris).
***
„... 1. Behauptete Verletzung der Artikel 2 und 3 der Konvention
Der Beschwerdeführer rügte nach den Artikeln 2 und 3 der Konvention, dass seine lebenslange Freiheitsstrafe nicht nach 15 Jahren Haft zur Bewährung ausgesetzt worden sei und stattdessen die fortdauernde Vollstreckung der Strafe
bis zur Verbüßung von 25 Jahren angeordnet worden sei. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass diese Rügen allein nach Artikel 3 der Konvention zu prüfen sind, der wie folgt lautet:
„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden."
Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass eine Misshandlung ein Mindestmaß an Schwere erreichen muss, um in den Anwendungsbereich von Artikel 3 zu fallen. Die Beurteilung dieses Mindestmaßes hängt von den gesamten
Umständen des Falls ab, u.a. von der Dauer der Behandlung, ihren körperlichen oder seelischen Folgen und zuweilen dem Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers (siehe Irland ./. Vereinigtes Königreich , 18. Januar
1978, Serie A Band 25, S. 65, Rdnr. 162).
Der Gerichtshof weist außerdem darauf hin, dass die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe gegen einen erwachsenen Straftäter nicht schon an sich nach Artikel 3 oder einem anderen Artikel der Konvention verboten oder
hiermit unvereinbar ist. Der Gerichtshof hat jedoch zugleich auch festgestellt, dass die Verhängung einer nicht reduzierbaren lebenslangen Freiheitsstrafe gegen einen Erwachsenen eine Frage nach Artikel 3 aufwerfen kann. Eine
Analyse der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu dieser Frage zeigt, dass es nach Artikel 3 genügt, wenn das innerstaatliche Recht die Möglichkeit der Überprüfung einer lebenslangen Freiheitsstrafe im Hinblick auf ihre Umwandlung,
Ermäßigung, Beendigung oder die bedingte Entlassung des Gefangenen vorsieht (siehe u.a. Kafkaris ./. Zypern [GK], Individualbeschwerde Nr. 21906/04, Urteil vom 12. Februar 2008, Rdnrn. 97, 98). Abschließend weist der
Gerichtshof darauf hin, dass die Staaten nach der Konvention verpflichtet sind, Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor Gewaltkriminalität zu treffen (siehe V. ./ . Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr.
24888/94, ECHR 1999-IX, Rdnr. 98).
Die vorliegende Rechtssache ähnelt der Entscheidung des Gerichtshofs im Fall S. ./. Deutschland (siehe S. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 40384/04, 10. Februar 2009). Wie in diesem Fall stellt der Gerichtshof
auch in der vorliegenden Rechtssache fest, dass die Schwere der Straftat bei der Entscheidung, die Strafe nicht zur Bewährung aussetzen, nur ein Aspekt war; weitere Gründe lagen in der Persönlichkeit des Beschwerdeführers und vor
allem der fortdauernden, von ihm ausgehenden Gefahr für die Allgemeinheit. Der Gerichtshof lässt gelten, dass ein Zeitraum von möglicherweise 25 Jahren im Strafvollzug eine sehr lange Freiheitsstrafe bedeutet, die bei dem
Beschwerdeführer Angst und Unsicherheit verursachen kann. Gleichwohl ist der Beschwerdeführer nicht aller Hoffnung auf Entlassung aus der Haft beraubt. Das innerstaatliche Recht sieht ausdrücklich ein System der bedingten
Entlassung vor, und es steht dem Beschwerdeführer frei, jederzeit erneut einen Antrag auf bedingte Entlassung aus der Haft zu stellen. In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof fest, dass die innerstaatlichen Gerichte sogar
ausdrücklich darauf hingewiesen haben, dass seine bedingte Entlassung möglich werden könnte, sobald das Alter des Beschwerdeführers die von ihm ausgehende Gefahr ausreichend verringere. Außerdem deutet nichts darauf hin,
dass die fortdauernde Freiheitsentziehung ihm tatsächlich erhebliches seelisches oder körperliches Leid verursacht. Der alleinige Hinweis auf sein Alter genügt insoweit nicht.
In Anbetracht dieser Erwägungen und unter Berücksichtigung der hohen Schwelle, die Artikel 3 der Konvention hier vorsieht, kann die Entscheidung, die lebenslange Freiheitsstrafe des Beschwerdeführers nicht zur Bewährung
auszusetzen, nicht als unmenschliche Behandlung im Sinne von Artikel 3 der Konvention bezeichnet werden.
Daraus folgt, dass dieser Teil der Individualbeschwerde nach Artikel 35 Abs. 3 und 4 der Konvention wegen offensichtlicher Unbegründetheit für unzulässig zu erklären ist. ..." (EGMR, Entscheidung vom 03.11.2009 - 26958/07)
***
Es ist nicht erforderlich zu entscheiden, ob die Vermissten als Beschwerdeführer anzuerkennen sind, denn ihre Angehörigen können zweifellos Beschwerde wegen ihres Verschwindens erheben, soweit die in die Zuständigkeit des
Gerichtshofs fällt. Eine Regierung nimmt mit einer Staatenbeschwerde Einzelpersonen nicht die Möglichkeit, ihre eigenen Beschwerden einzureichen und zu verfolgen. Da die Türkei das Recht der Individualbeschwerde nur für
Tatsachen anerkannt hat, die nach dem 28.1.1987 eingetreten sind, ist der Gerichtshof nicht zuständig, die von den Beschwerdeführern gegen die Türkei erhobenen Beschwerden zu prüfen, soweit sich die behaupteten Verstöße gegen
die Konvention auf Tatsachen vor dem 28.1.1987 beziehen. Da die Beschwerden sich aber allein auf die Situation seit Januar 1987 beziehen, d.h. auf die andauernde Verletzung der Verpflichtung der Türkei, wirksame Ermittlungen
durchzuführen, kann der Gerichtshof sie prüfen. Die Verfahrenspflicht zu Ermittlungen hat ihren eigenen Anwendungsbereich: sie unterscheidet sich von der materiellen Verpflichtung nach Art. 2 MRK, wonach der Staat für jedes
rechtswidrige Töten oder lebensbedrohende Verschwinden eines Menschen verantwortlich ist, und kann unabhängig davon eine Rolle spielen. Die Sechsmonatsfrist des Art. 35 Abs. 1 MRK findet nicht ohne Weiteres bei andauernden
Verletzungen Anwendung. Dann beginnt die Frist nämlich an jedem Tag erneut, und erst wenn die zu Grunde liegende Verletzung beendet ist, beginnt tatsächlich die letzte Frist von sechs Monaten. Es ist unerlässlich, dass
Beschwerdeführer, die Angehörige des Vermissten sind und sich wegen mangelhafter oder fehlender Ermittlungen beschweren wollen, mit der Anrufung des Gerichtshofs nicht zu lange warten. Im Fall verschwundener Personen
dürfen Beschwerdeführer mit der Anrufung des Gerichtshofs nicht unbestimmt lange warten. Sie müssen zügig und entschlossen vorgehen und ihre Beschwerden ohne unangemessene Verzögerung erheben. Wenn Personen in einer
Zone unter ausschließlicher Kontrolle der Behörden des Staats verwundet oder tot aufgefunden wurden oder verschwunden sind und es Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Staat hier beteiligt ist, geht die Beweislast auf die Regierung
über, weil das fragliche Geschehen insgesamt oder größtenteils nur den Behörden bekannt ist. Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass eine andauernde Verletzung von Art. 2 MRK vorliegt, weil die Türkei keine wirksamen
Ermittlungen durchgeführt hat, um das Schicksal der neun Männer aufzuklären, die 1974 verschwunden sind. Wenn Menschen verschwinden, bedeutet das eine besondere Belastung für ihre Angehörigen, die in Ungewissheit über das
Schicksal derer gelassen werden, die ihnen nahe stehen, und dadurch in wachsender Angst leben. Das, was den Angehörigen damit geschieht, ist eine Art. 3 MRK zuwiderlaufende unmenschliche und erniedrigende Behandlung. Ein
beklagter Staat kann Mittel und Wege, seinen Verpflichtungen nach Art. 46 MRK nachzukommen, frei wählen, vorausgesetzt, sie sind mit den Schlussfolgerungen des Gerichtshofs in seinem Urteil vereinbar (EGMR, Urteil vom
18.09.2009 - 16064/90, 16064/90 ua - juris).
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Art. 3 EMRK Verbot der Folter
Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.
Leitsätze/Entscheidungen:
Einsperren eines Häftlings in einer Sicherheitszelle ohne Bekleidung (EGMR, Urteil vom 07.07.2011 - 20999/05 - LG Gießen):
„... VERFAHREN
1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 20999/05) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, Herr H. („der Beschwerdeführer"), am 31. Mai 2005 nach Artikel 34 der
Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention") beim Gerichtshof eingereicht hatte.
2. Der Beschwerdeführer wurde von Herrn H.-O. S., Rechtsanwalt in Frankfurt am Main, vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung") wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigte, Frau A. W.-V. vom Bundesministerium der
Justiz, vertreten.
3. Der Beschwerdeführer machte insbesondere geltend, dass seine Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum einer unmenschlichen und erniedrigenden Strafe oder Behandlung im Sinne von Artikel 3 der Konvention gleichkomme.
4. Am 15. Dezember 2009 entschied der Präsident der Fünften Sektion, der Regierung die Beschwerde zur Kenntnis zu bringen.
SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE
5. Der 1953 geborene Beschwerdeführer ist in F. wohnhaft.
1. Hintergrund der Rechtssache
6. Der Beschwerdeführer verbüßte eine Freiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt B. .
Im Oktober 2000 ordneten die Vollzugsbehörden in B. seine Verlegung aus seinem Einzelhaftraum in einen Haftraum an, in dem er mit zwei anderen Gefangenen untergebracht werden sollte; die Toilette darin war weder durch eine
Sichtschutzwand noch durch einen Vorhang vom übrigen Bereich des Haftraums abgetrennt.
7. Mit Schreiben vom 11. Oktober 2000 teilte der Beschwerdeführer dem Leiter der JVA B. unter Bezugnahme auf eine Entscheidung, die das Oberlandesgerichts Frankfurt 1985 in einer einen anderen Gefangenen betreffenden
Rechtssache erlassen hatte, mit, dass die Unterbringung in einem derartigen Haftraum grundsätzlich rechtswidrig sei und er sich weigere, diesen zu beziehen. Am selben Tag stellte der Beschwerdeführer einen Antrag beim
Landgericht Gießen, der diesem Gericht erst nach der Verlegung des Beschwerdeführers in den Gemeinschaftshaftraum1 zur Kenntnis gebracht wurde.
8. Am 12. Oktober 2000 forderten die Vollzugsbediensteten den Beschwerdeführer auf, seinen Einzelhaftraum zu räumen, und drohten ihm im Falle der Weigerung unmittelbaren Zwang an. Dementsprechend räumte der
Beschwerdeführer seinen Haftraum und wurde zu dem Gemeinschaftshaftraum verbracht. An der Tür dieses Haftraums weigerte er sich jedoch erneut, diesen zu beziehen. Daraufhin kam es zu einer körperlichen Auseinandersetzung
zwischen dem Beschwerdeführer und den Vollzugsbediensteten. Laut dem Vorbringen des Beschwerdeführers wurde er von den Vollzugsbediensteten getreten und geschlagen, während er lediglich passiven Widerstand gegen seine
Verbringung in den Gemeinschaftshaftraum geleistet habe. Laut der Regierung trat der Beschwerdeführer die Vollzugsbediensteten.
9. Anschließend wurde der Beschwerdeführer unter Anwendung unmittelbaren Zwangs in einen besonders gesicherten Haftraum ohne gefährdende Gegenstände verbracht, wo er einer körperlichen Durchsuchung unterzogen und
entkleidet wurde. Aus dem von den Parteien vorgelegten Material geht nicht eindeutig hervor, ob der Beschwerdeführer während seines gesamten Verbleibs in dem besonders gesicherten Haftraum unbekleidet war.
10. Der Haftraum hatte eine Größe von etwa 8,46 m² und folgende Ausstattung: zwei Türen mit Vorhängeketten, zwei Kameras, eine Milchglasscheibe für Tageslicht, eine Matratze mit feuerfestem Bezug, eine französische Toilette,
eine Rufanlage, zwei Fenster über den Türen, Zimmerdecke aus Aluminiumblech mit Lüftungsschlitzen, gefliester Boden. Das Vorhandensein einer angemessenen Raumtemperatur wurde kontrolliert, und die Mahlzeiten wurden zu
den anstaltsüblichen Zeiten gebracht.
11. Nach seiner Unterbringung in dem besonders gesicherten Haftraum wurde der Beschwerdeführer vom Anstaltsarzt untersucht, der kleine Prellmarken im Bereich der Stirn und des linken Schienbeins des Beschwerdeführers sowie
Prellmarken und ein kleines Hämatom im Bereich seines Thorax feststellte. Am 12., 13., 16., 18. und 19. Oktober 2000 wurde der Beschwerdeführer erneut vom Anstaltsarzt untersucht. Laut dem Bericht des Arztes vom 31. Oktober
2000 würden die Wunden komplikationslos ausheilen; die Prellung im Bereich des Thorax könnten erfahrungsgemäß über einen längeren Zeitraum Beschwerden verursachen.
12. Am 14. Oktober 2000 wurde der Beschwerdeführer von einem Psychiater besucht.
13. Am 15. Oktober 2000 besuchte der Anstaltspfarrer den Beschwerdeführer. In seinem Schreiben an die Polizei vom 12. Januar 2001 nahm dieser wie folgt Stellung:
„Da eine Sicherungskette vorgelegt war, was lediglich eine spaltbreite Öffnung der Tür zuließ, konnte ich wahrnehmen, dass der Gefangene nackt war. Für Verletzungen, die über Schürfwunden hinausgehen, bin ich mir nicht mehr
sicher und verweise auf den ärztlichen Bericht. Der Gefangene war jedoch in einem sehr erregten Zustand und sprach von Schlägen seitens der Bediensteten."
14. Am 16. Oktober 2000 berichtete der Vollzugsdienstleiter der JVA:
„Der [Gefangene] ist seit dem 12. Oktober 2000 im BGH untergebracht […]. Nach der ärztlichen Kontrolle sollte der Betroffene heute auf einen Gemeinschaftshaftraum der Stat. B I verlegt werden. Im Beisein [von den
Vollzugsbediensteten B. und H.] und dem Unterzeichner äußerte der Gef. H., dass er auf seinem Recht der Zuweisung eines Einzelhaftraumes entsprechend der OLG-Entscheidung bestehe und den BGH nicht verlassen würde. Sollte
dies mit Gewalt geschehen, „müssten die Bediensteten ihn totschlagen."
15. Am 17. Oktober 2000 erhielt der Beschwerdeführer einen Besuch vom Anstaltspsychologen Dr. E., der sein Gespräch mit dem Beschwerdeführer folgendermaßen schilderte:
„Am 17. Oktober 2000 habe ich Herrn H. in der Absonderung in der Absicht aufgesucht, nach einem Ausweg aus der verfahrenen Situation zu suchen. Herr H. erwies sich allerdings als nicht kompromissbereit und beharrte störrisch
auf seiner Forderung, in eine Einzelzelle verlegt zu werden. [...] Ein weiterer Verbleib in der hiesigen Anstalt sei für ihn kaum noch vorstellbar, nachdem er im Zusammenhang der Verbringung in die Absonderung misshandelt worden
sei. […] Mein Eindruck ist, dass Herr H. sich derart verrannt hat, dass es ihm im Augenblick nicht möglich ist, Kompromisse einzugehen und über Zwischenlösungen zu verhandeln. Er fühlt sich ungerecht behandelt und seiner
Einzelzelle, die er als Hausarbeiter und Stationshelfer innehatte, beraubt. Als Sportler und Nichtraucher sei es ihm nicht zuzumuten, mit Rauchern einen Haftraum zu teilen."
16. Der Beschwerdeführer verblieb bis zu seiner Einwilligung in die Verlegung in das Anstaltskrankenhaus am 19. Oktober 2000, 11.30 Uhr, in dem besonders gesicherten Haftraum. Danach strengte der Beschwerdeführer die beiden
folgenden Verfahren an.
2. Verfahren über die angebliche Gewaltanwendung durch die Vollzugsbediensteten und die Rechtswidrigkeit der Unterbringung in dem besonders gesicherten Haftraum
17. Am 25. Oktober 2000 beantragte der Beschwerdeführer beim Landgericht Gießen festzustellen, dass seine Unterbringung in der Isolationszelle und die Anwendung unmittelbaren Zwangs seitens der Vollzugsbehörden rechtswidrig
gewesen seien. Er brachte vor, dass er von den Vollzugsbediensteten getreten und geschlagen worden sei, obwohl er diesen keinen Grund zur Gewaltanwendung gegen ihn gegeben habe.
18. Am 8. April 2004 lehnte das Landgericht den Antrag ab. Das Gericht nahm die schriftlichen Stellungnahmen des Anstaltspfarrers, des Vollzugsdienstleiters und des Anstaltspsychologen (siehe Rdnrn. 14-16) zur Kenntnis. Zudem
wies es darauf hin, dass, wie das Oberlandesgericht Frankfurt in seiner früheren Rechtsprechung bereits ausgeführt habe, die Unterbringung in einem Gemeinschaftshaftraum zweifelsfrei rechtswidrig sei, wenn die Toiletten nicht
durch Sichtschutzwände oder Vorhänge vom übrigen Bereich abgetrennt seien.
19. Dem Landgericht zufolge wurde der Beschwerdeführer jedoch nicht in der Isolationszelle untergebracht, weil er sich geweigert hatte, in den Gemeinschaftshaftraum umzuziehen. Es sei insbesondere nicht um eine
Disziplinarmaßnahme zur Bestrafung wegen des geleisteten Widerstands gegangen; vielmehr sei der Beschwerdeführer in der Isolationszelle untergebracht worden, weil aufgrund seines Verhaltens konkret die Gefahr von
Gewalttätigkeiten gegen Personen und ihrer Verletzung im Sinne des § 88 Abs. 1 und 2 Nr. 5 des Strafvollzugsgesetzes (StVollzG) (siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht"), der die vorübergehende Unterbringung in einem
besonders gesicherten Haftraum zulässt, bestanden habe.
20. Das Gericht stützte seine Feststellungen auf die Aussagen der Vollzugsbediensteten, die bestätigt hatten, dass der Beschwerdeführer begonnen habe, Bedienstete zu treten und zu schlagen, und sehr aggressiv geworden sei, als er
aufgefordert worden sei, in den Gemeinschaftshaftraum umzuziehen. Nach den offiziellen Stellungnahmen der Vollzugsbediensteten wandte nur der Gefangene selbst Gewalt an. Angesichts der Gewalttätigkeit des Beschwerdeführers
sei die Anwendung unmittelbaren Zwangs durch die Vollzugsbediensteten zur Verbringung des Beschwerdeführers in den besonders gesicherten Haftraum notwendig gewesen, um ihn an Verletzungen der Bediensteten zu hindern.
21. Das Landgericht vertrat ferner die Auffassung, es „[könne] nicht sicher beurteilt werden", ob im Zeitraum der Unterbringung im besonders gesicherten Haftraum die ernsthafte Gefahr einer Selbstverletzung oder der Selbsttötung
bestanden habe.
22. Diese Unterbringung sei verhältnismäßig gewesen, weil eine Herausnahme des Beschwerdeführers aus dem Haftraum vor dem 19. Oktober 2000 nicht möglich gewesen sei. Der Beschwerdeführer habe angekündigt, dass die
Bediensteten ihn bei zwangsweiser Verlegung in den Gemeinschaftshaftraum totschlagen müssten. Es sei somit sehr wahrscheinlich gewesen, dass der Beschwerdeführer sich erneut gegen eine derartige Verlegung gewehrt hätte.
Daher habe bis zum 19. Oktober 2000 weiterhin konkret die Gefahr bestanden, dass der Beschwerdeführer gewalttätig werden würde. Darüber hinaus habe der Anstaltspsychologe ausgesagt, dass der Beschwerdeführer in keiner Weise
Kompromissbereitschaft habe erkennen lassen und insbesondere störrisch auf der Verlegung in einen Einzelhaftraum beharrt habe.
23. Am 8. April 2004 legte der Beschwerdeführer Rechtsbeschwerde ein.
Er brachte insbesondere vor, dass eine Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum nach den einschlägigen Richtlinien nicht länger als 24 Stunden dauern solle. Seine siebentägige Unterbringung sei daher unangemessen gewesen.
24. Am 27. September 2004 verwarf das Oberlandesgericht Frankfurt die Rechtsbeschwerde des Beschwerdeführers als unzulässig, weil eine Entscheidung in der Sache weder zur Fortbildung des Rechts noch zur Sicherung einer
einheitlichen Rechtsprechung geboten sei.
25. Am 26. Oktober 2004 erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde. Er behauptete, vor seiner Verbringung in den besonders gesicherten Haftraum getreten und geschlagen worden zu sein, obwohl er angeboten habe, in
seine Unterbringung in dem besonders gesicherten Haftraum einzuwilligen. Darüber hinaus brachte er Folgendes vor:
„Zwar wird im vorliegenden Fall nicht die Freiheitsentziehung als solche beanstandet. Wohl aber richtet sich die verfassungsrechtliche Beanstandung gegen die besonders einschneidende Art und Weise meiner zeitweiligen
Unterbringung während des Strafvollzuges."
26. Am 28. Dezember 2004 lehnte es das Bundesverfassungsgericht unter Bezugnahme auf seine Verfahrensordnung ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen.
3. Strafverfahren
27. Am 12. März 2001 stellte die Staatsanwaltschaft Gießen das Ermittlungsverfahren, das gegen die an der Verlegung des Beschwerdeführers in den besonders gesicherten Haftraum beteiligten Vollzugsbediensteten geführt worden
war, ein. Die Staatsanwaltschaft stellte fest, dass bei der ärztlichen Untersuchung des Beschwerdeführers am 12. Oktober 2000 Prellmarken festgestellt worden seien. Eine einige Tage später angefertigte Röntgenaufnahme habe keinen
Bruch oder sonstige knöcherne Verletzungen ergeben. Somit stehe fest, dass der Beschwerdeführer anlässlich seiner Verbringung in den besonders gesicherten Haftraum Verletzungen erlitten habe. Es bleibe jedoch offen, ob ihm diese
durch Vollzugsbedienstete, insbesondere durch Tritte und Schläge, zugefügt worden seien, oder als unvermeidbare Folge seiner Verbringung in den besonders gesicherten Haftraum unter Anwendung unmittelbaren Zwangs entstanden seien.
II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT
28. Die maßgeblichen Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes lauten wie folgt:
§ 88 (Besondere Sicherungsmaßnahmen)
„(1) Gegen einen Gefangenen können besondere Sicherungsmaßnahmen angeordnet werden, wenn nach seinem Verhalten oder auf Grund seines seelischen Zustandes in erhöhtem Maß Fluchtgefahr oder die Gefahr von
Gewalttätigkeiten gegen Personen oder Sachen oder die Gefahr des Selbstmordes oder der Selbstverletzung besteht.
(2) Als besondere Sicherungsmaßnahmen sind zulässig: ...
5. die Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum ohne gefährdende Gegenstände und ...
(5) Besondere Sicherungsmaßnahmen dürfen nur soweit aufrechterhalten werden, als es ihr Zweck erfordert."
§ 92 (Ärztliche Überwachung)
„(1) Ist ein Gefangener in einem besonders gesicherten Haftraum untergebracht oder gefesselt (§ 88 Abs. 2 Nr. 5 und 6), so sucht ihn der Anstaltsarzt alsbald und in der Folge möglichst täglich auf. […]
(2) Der Arzt ist regelmäßig zu hören, solange einem Gefangenen der tägliche Aufenthalt im Freien entzogen wird."
§ 96 (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit)
„(1) Unter mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen des unmittelbaren Zwanges sind diejenigen zu wählen, die den Einzelnen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigen.
(2) Unmittelbarer Zwang unterbleibt, wenn ein durch ihn zu erwartender Schaden erkennbar außer Verhältnis zu dem angestrebten Erfolg steht."
§ 109 (Antrag auf gerichtliche Entscheidung)
„(1) Gegen eine Maßnahme zur Regelung einzelner Angelegenheiten auf dem Gebiet des Strafvollzuges kann gerichtliche Entscheidung beantragt werden. […]"
III. DOKUMENTE DES EUROPARATS
29. Die folgenden Auszüge sind dem 2. Bericht des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter (CPT/Inf(92)3) entnommen:
„56. Der CPT wendet besondere Aufmerksamkeit denjenigen Gefangenen zu, die - aus welchem Grunde auch immer (aus Disziplinargründen, aufgrund ihrer „Gefährlichkeit" oder ihrer „schwierigen" Verhaltensweise, im Interesse der
strafrechtlichen Ermittlungen, auf eigenen Wunsch) - unter einzelhaftähnlichen Bedingungen untergebracht sind.
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfordert, dass ein Ausgleich geschaffen wird zwischen den Anforderungen des Falls und einem Vollzug in Einzelhaft, einer Maßnahme, die für die betreffende Person sehr schädliche Folgen
haben kann. Einzelhaft kann unter bestimmten Umständen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung bedeuten; in jedem Fall sollte Einzelhaft in jeglicher Form so kurz wie möglich sein. […]"
Im CPT-Bericht über Finnland von 1998 (CPT/Inf (96)28) (Anm. d. Übers.: Übersetzung aus dem englischen Original) heißt es:
„102. Es sollte hinzugefügt werden, dass die Abteilung auch eine „Beobachtungszelle" hatte, in der Gefangene untergebracht werden konnten, die als selbstmordgefährdet galten bzw. bei denen eine Gefahr der Selbstverletzung
bestand. Die Überwachung erfolgte über eine im Innern der Zelle angebrachte Kamera. […]
Die Delegation wurde darüber informiert, dass die darin untergebrachten Gefangenen oftmals entkleidet und nackt in der Zelle verbleiben würden. Eine solche Praxis ist völlig inakzeptabel.
Der CPT empfiehlt, die Praxis, Gefangene nackt in Beobachtungszellen unterzubringen, umgehend einzustellen; Gefangene, die in solchen Zellen untergebracht sind, sollten mit reißfester Kleidung und Wäsche ausgestattet werden. […]"
Im CPT-Bericht über Belgien von 2009 (CPT/Inf (2010)24) (Übersetzung aus dem französischen Original) heißt es:
„130. ... Wird ein Gefangener unbekleidet in einer Zelle festgehalten, so stellt dies nach Ansicht des CPT eine erniedrigende Behandlung dar. Der CPT empfiehlt, diese Praxis umgehend einzustellen. Es gibt spezielle Kleidung, die
dem Gefangenen ein Mindestmaß an Bekleidung ermöglicht und gleichzeitig der Selbstmordgefahr Rechnung trägt."
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. RÜGE WEGEN DER ANGEBLICHEN MISSHANDLUNG DES BESCHWERDEFÜHRERS DURCH VOLLZUGSBEDIENSTETE
30. Der Beschwerdeführer rügte, vor seiner Unterbringung in dem besonders gesicherten Haftraum von Vollzugsbediensteten getreten und geschlagen worden zu sein. Er berief sich auf Artikel 3 der Konvention, der wie folgt lautet:
„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden."
31. Die Regierung nahm Bezug auf die Feststellungen des Landgerichts Gießen in dessen Beschluss vom 8. April 2004.
32. Der Gerichtshof stellt fest, dass aus dem Vorbringen der Parteien nicht eindeutig hervorgeht, welche Rechtsbehelfe der Beschwerdeführer in Anspruch genommen hat, um eine strafrechtliche Verfolgung der Vollzugsbediensteten,
die ihn angeblich misshandelten, durchzusetzen. Selbst wenn von einer Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs ausgegangen wird, muss die Rüge des Beschwerdeführers wegen angeblicher Misshandlung aus den folgenden
Gründen wegen offensichtlicher Unbegründetheit für unzulässig erklärt werden.
33. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs enthält Artikel 3 kein absolutes Verbot der Anwendung unmittelbaren Zwangs gegen Personen in öffentlichem Gewahrsam. Allerdings darf ein solcher Zwang nur angewendet werden,
wenn er unverzichtbar ist, und er darf nicht übermäßig sein.
Wird gegen eine Person, der die Freiheit entzogen wird, körperlicher Zwang angewendet, der durch ihr Verhalten nicht unbedingt erforderlich gemacht wurde, so beeinträchtigt dies die Menschenwürde dieser Person und stellt
grundsätzlich eine Verletzung des in Artikel 3 anerkannten Rechts dar (siehe u.a. Ribitsch ./. Österreich, 4. Dezember 1995, Rdnr. 38, Serie A Band 336 und Staszewska ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 10049/04, Rdnr. 53, 3.
November 2009).
34. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass Vorwürfe über Misshandlungen auf geeignete Beweise gestützt werden müssen (siehe u.a. J. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 54810/00, Rdnr. 67, ECHR 2006-IX; und
sinngemäß K. ./. Deutschland, 22. September 1993, Rdnr. 30, Serie A Band 269).
Er stellt fest, dass das Landgericht Gießen nach gründlicher Prüfung der Behauptungen des Beschwerdeführers sowie der Aussagen der Vollzugsbediensteten und weiterer Zeugen zu dem Schluss kam, dass lediglich der
Beschwerdeführer Gewalt gegen die Vollzugsbediensteten angewandt habe und nicht umgekehrt. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer keine Beweise vorgelegt hat, die zu einem anderen Ergebnis führen würden.
35. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass der Anstaltsarzt, der den Beschwerdeführer unmittelbar nach dessen Unterbringung in dem besonders gesicherten Haftraum untersucht hat, nur kleinere Prellungen und ein kleines Hämatom
bei dem Beschwerdeführer festgestellt hat, die komplikationslos ausheilen würden. Eine einige Tage nach dem Vorfall angefertigte Röntgenaufnahme hat keinen Bruch oder sonstige knöcherne Verletzungen ergeben. Der Gerichtshof
erkennt an, dass diese Verletzungen dadurch erklärt werden könnten, dass der Beschwerdeführer bei seiner Verbringung in den besonders gesicherten Haftraum unter Anwendung unmittelbaren Zwangs Widerstand leistete.
36. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass das Landgericht Gießen anerkannt hat, dass es nicht rechtmäßig gewesen wäre, den Beschwerdeführer in einem Gemeinschaftshaftraum unterzubringen, da dieser nicht für drei Insassen
ausgelegt gewesen sei. Anscheinend gab es aber zu der maßgeblichen Zeit keine geeignete Unterbringungsmöglichkeit für den Beschwerdeführer. Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass es dem
Beschwerdeführer im Interesse der Wahrung der Anstaltsordnung zuzumuten gewesen wäre, eine Rechtsbeschwerde gegen seine Verlegung zu betreiben und letztendlich Schadensersatz für eine unangemessene zwischenzeitliche
Unterbringungen zu verlangen, statt körperlichen Widerstand gegen seine Verlegung zu leisten.
37. Unter Berücksichtigung all dieser Umstände und insbesondere des geringen Ausmaßes der Verletzungen des Beschwerdeführers kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die Schwelle der unmenschlichen Behandlung im
Hinblick auf die Behandlung des Beschwerdeführers während seiner Verlegung nicht erreicht war. Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet ist und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a der Konvention
zurückzuweisen ist.
II. RÜGE WEGEN DER RECHTMÄSSIGKEIT DER UNTERBRINGUNG IN DEM BESONDERS GESICHERTEN HAFTRAUM
38. Der Beschwerdeführer rügte, dass seine Unterbringung in dem besonders gesicherten Haftraum und die siebentägige Dauer dieser Unterbringung dort ohne Kleidung einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne
von Artikel 3 der Konvention gleichkämen.
39. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.
A. Zulässigkeit
40. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Das Vorbringen des Beschwerdeführers
41. Der Beschwerdeführer rügte, dass er sieben Tage lang in einem besonders gesicherten Haftraum untergebracht gewesen sei, in dem ihm keine Kleidung und keine Hygieneeinrichtungen zur Verfügung gestanden hätten. Er betonte,
die innerstaatlichen Gerichte hätten bestätigt, dass seine Unterbringung in einem Gemeinschaftshaftraum, welche die Vollzugsbehörde ursprünglich vorgesehen habe, rechtswidrig gewesen wäre. Daraus folge, dass er berechtigt
gewesen sei, gegen die Zwangsmaßnahmen der Vollzugsbediensteten, die seine zwangsweise Verbringung in den Gemeinschaftshaftraum zum Ziel gehabt hätten, Widerstand zu leisten. Folglich gebe es keine Rechtsgrundlage für
seine Verlegung in den besonders gesicherten Haftraum.
42. Der Beschwerdeführer brachte ferner vor, es sei nicht wahr, dass er die Vollzugsbediensteten gewalttätig angegriffen habe, was sich schon daran zeige, dass keiner der Vollzugsbediensteten verletzt worden sei. Er habe lediglich in
einem Einzelhaftraum verbleiben wollen. Er hätte den besonders gesicherten Haftraum sofort und widerstandslos verlassen, wenn ihm eine solche Unterbringung angeboten worden wäre.
43. Der Beschwerdeführer brachte darüber hinaus vor, dass seine Unterbringung in dem besonders gesicherten Haftraum zum Ziel gehabt habe, ihn zur Einwilligung in die Unterbringung in einem Gemeinschaftshaftraum zu nötigen.
2. Das Vorbringen der Regierung
44. Die Regierung vertrat die Auffassung, dass die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem besonders gesicherten Haftraum in Anbetracht der besonderen Umstände der vorliegenden Rechtssache keine unmenschliche oder
erniedrigende Behandlung im Sinne von Artikel 3 der Konvention darstelle. Die Behandlung des Beschwerdeführers habe mit den einschlägigen Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes und der Verwaltungsvorschriften im Einklang gestanden.
45. Im Hinblick auf die Dauer der Unterbringung sah die Regierung die Schwelle zu einer unmenschlichen Behandlung nicht überschritten.
Die konkreten Umstände seiner Unterbringung hätten für den Beschwerdeführer keine derartige physische oder psychische Belastung dargestellt, dass sie als unmenschliche Behandlung angesehen werden könnte. Die Regierung wies
darauf hin, dass der Beschwerdeführer neben beinahe täglichen Besuchen durch den ärztlichen Dienst auch Besuche vom psychologischen Dienst und einem Anstaltsseelsorger erhalten habe.
46. Da der Sachverhalt annähernd zehn Jahre zurückliege, sei es nicht mehr möglich, alle Einzelheiten der Unterbringung zu ermitteln. Aus den schriftlichen Unterlagen gehe nicht eindeutig hervor, ob der Beschwerdeführer während
der gesamten Zeit in dem besonders gesicherten Haftraum nackt gewesen sei. Allerdings sei es gängige Praxis, Gefangene zum Schutz vor Selbstverletzungen unbekleidet in derartigen Hafträumen unterzubringen, solange der
Erregungs- bzw. der psychische Zustand anhalte. Die Entscheidung über den Fortbestand dieser Gefahr werde in Absprache mit dem ärztlichen Dienst getroffen. Es sei auch üblich, dass Gefangene bei der Unterbringung in einem
solchen Haftraum zwei Decken erhielten und dass die Raumtemperatur nach ihren Wünschen angepasst werde.
47. Die Unterbringung des Beschwerdeführers in dem besonders gesicherten Haftraum sei angesichts der erkennbaren Gewaltbereitschaft des Beschwerdeführers, die mit dem Angriff gegen die Vollzugsbediensteten deutlich geworden
sei, die einzig verbleibende Möglichkeit gewesen, um eine gegenwärtige Gefahr von Verletzungen der Bediensteten abzuwenden und die Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten. Die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme sei in
angemessenen Abständen überprüft worden. Die Leitung der Justizvollzugsanstalt sei um eine schnellstmögliche Aufhebung der Sicherungsmaßnahme bemüht gewesen. Allerdings sei dies zunächst an der fehlenden Mitarbeit des
Beschwerdeführers gescheitert. Mit seinem Einverständnis sei der Beschwerdeführer am 19. Oktober 2000 vorübergehend in das Krankenhaus verlegt worden, da in der JVA kein Einzelhaftraum zur Verfügung gestanden habe.
48. Die Regierung vertrat ferner die Auffassung, dass weder die kurze Dauer der Einzelhaft des Beschwerdeführers, noch die konkreten Umstände oder die verfolgten Ziele zur Folge hätten, dass die Unterbringung des
Beschwerdeführers in den Anwendungsbereich von Artikel 3 der Konvention falle. Ziel der Unterbringung des Beschwerdeführers in dem besonders gesicherten Haftraum sei nicht die Bestrafung des Beschwerdeführers für seine
Weigerung, einen Gemeinschaftshaftraum zu beziehen, gewesen; vielmehr sei der Umstand, dass wegen seines Angriffs auf die Vollzugsbediensteten und seines anschließenden Verhaltens eine erhebliche Störung der Anstaltsordnung
zu befürchten gewesen sei, der Grund für seine Unterbringung gewesen.
49. Die Regierung brachte schließlich vor, dass auch berücksichtigt werden sollte, dass der Beschwerdeführer sein Ziel, nicht in einem Gemeinschaftshaftraum untergebracht zu werden, letztlich erreicht habe.
3. Würdigung durch den Gerichtshof
50. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass in Artikel 3 der Konvention einer der wichtigsten Grundwerte einer demokratischen Gesellschaft verankert ist. Er enthält ein absolutes Verbot der Folter und unmenschlichen oder
erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung, das unabhängig von den Umständen und vom Verhalten des Opfers gilt. Eine Misshandlung muss ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich von Artikel 3 zu
fallen. Die Beurteilung dieses Mindestmaßes ist relativ; sie hängt von den gesamten Umständen des Falls wie der Dauer der Behandlung, ihren körperlichen oder seelischen Folgen und zuweilen dem Geschlecht, Alter und
Gesundheitszustand des Opfers ab (siehe u.a., Price ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 33394/96, Rdnr. 24, ECHR 2001-VII und J., a.a.O., Rdnr. 67). Vorwürfe über Misshandlungen müssen auf geeignete Beweise
gestützt sein (siehe sinngemäß K., a.a.O., Rdnr. 30 und J., a.a.O., Rdnr. 67). Bei der Würdigung dieser Beweise wendet er Gerichtshof den Beweismaßstab „über jeden vernünftigen Zweifel hinaus" an, fügt jedoch hinzu, dass ein
solcher Beweis auch aus dem gleichzeitigen Vorliegen hinreichend gewichtiger, eindeutiger und konkordanter Schlussfolgerungen oder ähnlicher unwiderlegter Tatsachenvermutungen folgen kann (siehe Irland ./. Vereinigtes
Königreich, 18. Januar 1978, Rdnr. 161 in fine, Serie A Band 25; Labita ./. Italien [GK], Individualbeschwerde Nr. 26772/95, Rdnr. 121, ECHR 2000-IV und J., a.a.O., Rdnr. 67).
51. Eine Behandlung wurde vom Gerichtshof unter anderem dann für „unmenschlich" befunden, wenn sie vorsätzlich erfolgte, über Stunden ohne Unterbrechung angewendet wurde und entweder eine tatsächliche Körperverletzung
oder starkes körperliches und seelisches Leiden verursachte (siehe Labita, a.a.O., Rdnr. 120). Eine Behandlung wurde dann als „erniedrigend" erachtet, wenn sie bei den Opfern Gefühle der Angst, Qual und Unterlegenheit hervorrief,
die geeignet waren, sie zu demütigen und zu entwürdigen und möglicherweise ihren körperlichen oder moralischen Widerstand zu brechen (siehe Hurtado ./. Schweiz, 28. Januar 1994, Stellungnahme der Kommission, Rdnr. 67, Serie
A Band 280), oder wenn das Opfer dazu gebracht wurde, gegen seinen Willen oder sein Gewissen zu handeln (siehe z.B. Dänemark, Norwegen, Schweden und Niederlande ./. Griechenland (der "Fall Griechenland"),
Individualbeschwerden Nrn. 3321/67, 3322/67, 3323/67 und 3344/67, Bericht der Kommission vom 5. November 1969, Jahrbuch 12, S. 186 und Keenan ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 27229/95, Rdnr. 110,
ECHR 2001-III). Darüber hinaus berücksichtigt der Gerichtshof bei der Prüfung, ob eine Behandlung im Sinne von Artikel 3 „erniedrigend" ist, unter anderem die Frage, ob mit der Behandlung eine Demütigung oder Entwürdigung
der betroffenen Person beabsichtigt wurde, auch wenn die Feststellung einer Verletzung von Artikel 3 nicht schlüssig ausgeschlossen werden kann, wenn es an einer solchen Absicht fehlt (siehe Raninen ./. Finnland, 16. Dezember
1997, Rdnr. 55, Urteils- und Entscheidungssammlung 1997-VIII; Peers ./. Griechenland, Individualbeschwerde Nr. 28524/95, Rdnrn. 68 und 74, ECHR 2001-III; und J., a.a.O., Rdnr. 68). Damit eine Bestrafung oder eine damit
einhergehende Behandlung als „unmenschlich" oder „erniedrigend" gelten kann, muss das damit verbundene Leiden bzw. die damit verbundene Demütigung auf jeden Fall über das mit der jeweiligen rechtmäßigen Behandlung oder
Bestrafung zwangsläufig verbundene Maß an Leiden oder Demütigung hinausgehen (siehe Labita, a.a.O., Rdnr. 120 und J., a.a.O., Rdnr. 68).
52. Im Hinblick auf die Umstände der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass der Beschwerdeführer in dem besonders gesicherten Haftraum untergebracht worden war, um ihn an Angriffen gegen die
Vollzugsbediensteten zu hindern. Hinsichtlich der konkreten Umstände seiner Unterbringung stellt der Gerichtshof fest, dass der Haftraum eine Größe von ca. 8,46 m² hatte und mit einer Matratze und einer französischen Toilette
ausgestattet war. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die sehr einfache Ausstattung des besonders gesicherten Haftraums nicht für eine langfristige Unterbringung geeignet war. Er stellt jedoch fest, dass die Vollzugsbehörden die
Unterbringung des Beschwerdeführers in diesem Haftraum zu keiner Zeit als langfristige Maßnahme in Betracht gezogen haben. Dies zeigt sich daran, dass die Vollzugsbediensteten und der psychologische Dienst den
Beschwerdeführer am 16. und 17. Oktober 2000 zu überzeugen versuchten, den besonders gesicherten Haftraum zu verlassen, und ihn schließlich in das Anstaltskrankenhaus verlegten, da zu der maßgeblichen Zeit kein anderer
Einzelhaftraum zur Verfügung stand.
53. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass aus dem von den Parteien vorgelegten Material nicht eindeutig hervorgeht, ob der Beschwerdeführer nach der Leibesvisitation und der Verbringung in den besonders gesicherten Haftraum
während seines gesamten Verbleibs in diesem Haftraum unbekleidet war. Der Gerichtshof stellt diesbezüglich fest, dass nicht ersichtlich ist, dass der Beschwerdeführer zu irgendeinem Zeitpunkt während seiner Unterbringung in dem
besonders gesicherten Haftraum oder während des Verfahrens vor den innerstaatlichen Gerichten ausdrücklich gerügt hat, dass ihm Zugang zu Kleidung verwehrt worden sei. Erst in seiner Beschwerde vor dem Gerichtshof rügte er,
dass er nackt gewesen sei.
54. Andererseits nimmt der Gerichtshof das Vorbringen der Regierung zur Kenntnis, dass es gängige Praxis gewesen sei, Gefangene zum Schutz vor Selbstverletzungen ohne Kleidung in dieser Art von Hafträumen unterzubringen,
solange ihr Zustand der Erregung anhalte. Er stellt ferner fest, dass der Anstaltspfarrer, der den Beschwerdeführer drei Tage nach dessen Unterbringung in dem besonders gesicherten Haftraum kurz besuchte, in seiner Stellungnahme,
die im Beschluss des Landgerichts Gießen vom 8. April 2004 wiedergegeben ist, berichtet hatte, dass der Beschwerdeführer, der in einem sehr erregten Zustand gewesen sei, nackt gewesen sei.
55. Der Gerichtshof geht davon aus, dass im Fall des Beschwerdeführers nach der von der Regierung erwähnten allgemeinen Regelung (siehe Rdnrn. 46 und 54) verfahren wurde, und kommt zu dem Schluss, dass es hinreichend
gewichtige, eindeutige und konkordante Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Beschwerdeführer während seines gesamten Verbleibs in dem besonders gesicherten Haftraum nackt war. Ferner stellt er fest, dass die innerstaatlichen
Behörden von diesen Anhaltspunkten wussten und in der Lage gewesen wären, diese Tatsachen weiter zu prüfen. Folglich gründet der Gerichtshof seine weitere Prüfung der Rüge des Beschwerdeführers auf die Annahme, dass er
während seiner siebentägigen Unterbringung in dem besonders gesicherten Haftraum tatsächlich nackt war.
56. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Entziehung von Kleidung bei einem Gefangenen Gefühle der Angst, Qual und Unterlegenheit hervorrufen kann, die geeignet sind, ihn zu demütigen und zu entwürdigen. Was die
verfolgten Ziele angeht, nimmt der Gerichtshof das Vorbringen der Regierung zur Kenntnis, wonach Gefangene grundsätzlich ohne Kleidung in besonders gesicherten Hafträumen untergebracht würden, um sie von Selbstverletzungen
abzuhalten. Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass das Landgericht Gießen, das insoweit im Vorteil war, als es den Sachverhalt der Rechtssache früher als der Gerichtshof prüfen und Zeugen anhören konnte, nicht mit Gewissheit
feststellen konnte, ob während der Unterbringung des Beschwerdeführers in dem Haftraum eine ernsthafte Gefahr einer Selbstverletzung oder Selbsttötung bestand. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass es keine Anhaltspunkte dafür
gibt, dass die Vollzugsbehörden - wie vom Europäischen Ausschuss zur Verhütung von Folter empfohlen (siehe Rdnr. 29) - die Anwendung weniger einschneidender Maßnahmen, z.B. die Bereitstellung reißfester Kleidung, in
Erwägung gezogen hätten.
57. Unter Berücksichtigung all dieser Punkte gelangt der Gerichtshof zu der Auffassung, dass die siebentägige Unterbringung in dem besonders gesicherten Haftraum an sich durch die Umstände dieses speziellen Falls gerechtfertigt
sein mag. Allerdings hat die Regierung keine hinreichenden Gründe vorgebracht, die eine derart harsche Behandlung wie die Entziehung von Kleidung während des gesamten Verbleibs in dem Haftraum rechtfertigen könnten. Der
Beschwerdeführer war demnach einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ausgesetzt, die gegen Artikel 3 verstößt.
58. Folglich ist Artikel 3 der Konvention verletzt worden.
III. ANDERE BEHAUPTETE KONVENTIONSVERLETZUNGEN
59. Der Beschwerdeführer rügte ferner, die Dauer des Verfahrens über seine Unterbringung in dem besonders gesicherten Haftraum verletze sein Recht auf wirksame Beschwerde nach Artikel 13 der Konvention. Darüber hinaus
widerspreche der Beschluss des Landgerichts Gießen dessen eigener Rechtsprechung und verletze daher sein Recht auf Gleichbehandlung nach Artikel 14 der Konvention.
60. Unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und soweit die gerügten Angelegenheiten in seine Zuständigkeit fallen, stellt der Gerichtshof jedoch fest, dass hier keine Anzeichen für eine Verletzung der in
der Konvention oder den Protokollen dazu bezeichneten Rechte und Freiheiten ersichtlich sind.
61. Daraus folgt, dass diese Rügen offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen sind.
IV. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION
62. Artikel 41 der Konvention lautet:
„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser
Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist."
63. Der Beschwerdeführer forderte 40.000 Euro (EUR) in Bezug auf den immateriellen Schaden als Schmerzensgeld wegen der Verletzungen, der Verbringung in den besonders gesicherten Haftraum unter Anwendung unmittelbaren
Zwangs und seiner dortigen Inhaftierung.
64. Die Regierung verwies auf ihr Vorbringen, dass Artikel 3 der Konvention nicht verletzt worden sei.
65. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Rüge des Beschwerdeführers nur teilweise erfolgreich war. Der Gerichtshof entscheidet nach Billigkeit und spricht dem Beschwerdeführer 10.000 EUR in Bezug auf den immateriellen Schaden zu.
A. Kosten und Auslagen
66. Der Beschwerdeführer machte ferner 200 EUR für die vor den innerstaatlichen Gerichten entstandenen Kosten und Auslagen und 5.000 EUR für Kosten und Auslagen vor dem Gerichtshof geltend.
67. Die Regierung hat hierzu nicht Stellung genommen.
68. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur insoweit Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese tatsächlich und notwendigerweise entstanden sind und der
Höhe nach angemessen waren. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer seine angeblichen Auslagen vor den innerstaatlichen Gerichten nicht durch Belege nachgewiesen und die von seinem Bevollmächtigten für die
Vertretung vor diesem Gerichtshof geltend gemachten Kosten nicht weiter konkretisiert hat. Unter diesen Umständen hält es der Gerichtshof für angemessen, die Forderung nach Erstattung der im innerstaatlichen Verfahren
entstandenen Auslagen zurückzuweisen und dem Beschwerdeführer 3.500 EUR für das Verfahren vor dem Gerichtshof zuzusprechen.
B. Verzugszinsen
69. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Rüge wegen der Rechtmäßigkeit der Unterbringung in dem besonders gesicherten Haftraum wird für zulässig und die Individualbeschwerde im Übrigen für unzulässig erklärt;
2. Artikel 3 der Konvention ist verletzt worden;
3. (a) der beschwerdegegnerische Staat hat dem Beschwerdeführer binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig wird, folgende Beträge zu zahlen:
(i) 10.000 EUR (zehntausend Euro) für immateriellen Schaden, zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern;
(ii) 3.500 EUR (dreitausendfünfhundert Euro) für Kosten und Auslagen, zuzüglich der dem Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuern;
(b) nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten bis zur Auszahlung fallen für die oben genannten Beträge einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der
Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;
4. die Forderung des Beschwerdeführers nach gerechter Entschädigung wird im Übrigen zurückgewiesen. ..."
***
Das Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung ist absolut und besteht unabhängig vom Verhalten des Opfers. Die Art der Straftat ist vor dem Hintergrund des Artikels 3 MRK dabei
irrelevant. Das Verhalten solcher Personen, wie gefährlich oder unliebsam es auch sein mag, darf daher nicht in Rechnung gestellt werden. Angesichts des absoluten Charakters des Rechts auf Schutz vor Fehlbehandlung kann Artikel
3 der Konvention auch anwendbar sein, wenn die Gefahr von Personen oder Gruppen von Personen ausgeht, die keine öffentlichen Beamten sind. Es muss aber nachgewiesen werden, dass das Risiko real ist und dass die Behörden des
Empfangsstaates nicht in der Lage sind, dieses Risiko durch Gewährung entsprechenden Schutzes abzufangen. Eine volle und ex-nunc Beurteilung ist erforderlich, weil sich die Situation im Herkunftsland im Lauf der Zeit ändern
kann. Ein Beschwerdeführer muss nicht die Existenz von speziellen ihn aus der Allgemeinheit heraushebenden Aspekten seines Falles aufzeigen, wenn er jedenfalls zeigen kann, dass die allgemeine Situation der Gewalt im
Bestimmungsland ein ausreichendes Maß an Intensität aufweist, um eine konkrete Gefahr für die Fall der Rückschiebung ins Herkunftsland zu bewirken, die ihrerseits Artikel 3 MRK verletzen würde. Artikel 3 der Konvention erreicht
ein mit der Qualifikationsrichtlinie vergleichbares Schutzniveau. Da die Präsenz von internationalen NGO's und diplomatische Missionen in Süd- oder Zentralsomalia limitiert ist, ist es für den Gerichtshof unmöglich, eine Beurteilung
der Verlässlichkeit der Quellen zu treffen. Wo ihre Informationen unbestätigt oder widersprüchlich sind, sieht sich der Gerichtshof nicht in der Lage, ihnen substanzielles Gewicht zuzubilligen. Der Gerichtshof kommt zum Schluss,
dass das Maß allgemeiner Gewalt in Mogadischu ausreichend groß ist, um annehmen zu müssen, dass jeder Rückkehrer reale Gefahr laufen würde, zuwider Artikel 3 MRK fehlbehandelt zu werden allein aufgrund seiner Anwesenheit
dort, außer es könnte gezeigt werden, dass er ausreichend gut vernetzt ist mit mächtigen handelnden Personen in der City, die ihm ausreichenden Schutz sichern können (EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07, 11449/07, 8319/07, 11449/07).
***
Eine Strafe von fünf Jahren unter verschärften Haftbedingungen ist willkürlich und verletzt Art. 3 EMRK, wenn nicht ausreichend dargelegt ist, warum der Beschwerdeführer so gefährlich ist, dass ein solch strenges Haftregime über
Jahre hin notwendig war (EGMR, Urteil vom 07.06.2011 - 30042/08).
***
Überfüllte Gefängniszellen, in denen auf jeden Häftling rechnerisch weniger als 3 qm Bodenfläche entfallen, stellen eine unmenschliche Haftbedingung dar und daher eine Verletzung von Art. 3 EMRK (EGMR, Urteil vom 07.06.2011
- 30221/06).
***
Der im blockierten Wagen sitzende Polizist konnte berechtigterweise annehmen, dass sein Leben durch Angriffe von Demonstranten gefährdet war. Dass er nach einer Warnung einen ungezielten Schuss abgegeben hat, der einen
Demonstranten tödlich verletzt hat, war nach Art. 2 II lit. a EMRK (Recht auf Leben) gerechtfertigt, weil die Gewaltanwendung unbedingt erforderlich war, um sich und seine Kollegen gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen. Art.
2 EMRK verpflichtet die Staaten nicht nur, absichtliche ungerechtfertigte Tötungen zu unterlassen, sondern auch dazu, die notwendigen Maßnahmen zum Schutz des Lebens der Personen unter ihrer Hoheitsgewalt zu treffen. Sie
müssen einen rechtlichen und verwaltungsmäßigen Rahmen schaffen, der die Voraussetzungen begrenzt, unter denen Polizisten Gewalt anwenden und von der Schusswaffe Gebrauch machen dürfen und dabei angemessene Garantien
gegen Willkür und Missbrauch vorsieht. Die italienischen Behörden haben alles getan, was vernünftigerweise von ihnen erwartet werden konnte, um den Schutz des Lebens bei den Polizeioperationen, bei denen die Gefahr tödlicher
Gewaltanwendung bestand, zu gewährleisten. Deswegen ist Art. 2 EMRK auch nicht bei Organisation und Planung dieser Operation verletzt. Italien hat weiter die sich aus Art. 2 EMRK ergebene Pflicht, beim Tod einer Person
wirksame Ermittlungen anzustellen, nicht verletzt. Deswegen ist gegen diese Vorschrift auch nicht in ihrem verfahrensrechtlichen Aspekt verstoßen worden (EGMR, Urteil vom 24.03.2011 - 23458/02 zu Art. 2, 3, 6, 13, 38, BeckRS
2011, 21463).
***
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in einem richtungsweisenden Urteil die Abschiebung eines afghanischen Asylbewerbers aus Belgien nach Griechenland verurteilt. Der Beschwerdeführer, ein
afghanischer Staatsangehöriger, verließ Kabul Anfang 2008 und reiste, auf dem Weg über den Iran und die Türkei, über Griechenland in die EU ein. Am 10.02.2009 stellte er in Belgien einen Asylantrag. Gemäß der Dublin
II-Verordnung der EU ersuchte das belgische Ausländeramt die griechischen Behörden, die Prüfung des Asylantrags zu übernehmen. In der Zwischenzeit äußerte der UNHCR in einem Brief an den belgischen Minister für Migrations-
und Asylpolitik Kritik an den Mängeln des Asylverfahrens in Griechenland sowie an den dortigen Aufnahmebedingungen und empfahl, Überstellungen von Asylbewerbern nach Griechenland auszusetzen. Dennoch ordnete das
belgische Ausländeramt Ende Mai 2009 die Überstellung des Beschwerdeführers nach Griechenland an, wo er einen Asylantrag stellen könnte. Dass die griechischen Behörden innerhalb der vorgesehenen Frist von zwei Monaten nicht
geantwortet hatten, betrachtete das belgische Ausländeramt als stillschweigende Billigung. Zudem führte das Amt aus, dass Belgien gemäß der Dublin II-Verordnung der EU nicht für die Prüfung des Asylantrags zuständig sei und dass
es keinen Anlass zu der Annahme gebe, dass die griechischen Behörden ihren rechtlichen Verpflichtungen im Asylverfahren nicht nachkommen würden. Der Beschwerdeführer legte beim belgischen Rat für Ausländerstreitsachen
Berufung ein. Er machte geltend, dass ihm in Griechenland Haft unter unzumutbaren Bedingungen drohe, dass das dortige Asylverfahren Mängel habe und dass er befürchte, letztlich ohne Prüfung der Gründe für seine Flucht wieder
nach Afghanistan abgeschoben zu werden. Dort sei er einem Mordversuch der Taliban als Vergeltung für seine Arbeit als Dolmetscher für die internationalen Streitkräfte in Kabul entkommen. Nachdem der Rat seinen Eilantrag auf
Aussetzung der Maßnahme abgelehnt hatte, wurde er am 15.06.2009 nach Griechenland überstellt. Unmittelbar nach seiner Ankunft wurde er in einem Gebäude neben dem Flughafen untergebracht, wo er nach seinen Angaben mit 20
anderen Personen in einem kleinen Raum eingeschlossen worden sei, nur zu bestimmten Zeiten Zugang zu den Toiletten und keinen Zugang zur frischen Luft gehabt, nur wenig zu essen bekommen habe und wo er entweder auf
schmutzigen Matratzen oder dem nackten Boden habe schlafen müssen. Am 18.06.2009 wurde er freigelassen und erhielt einen Asylbewerberausweis. Seitdem habe er ohne Unterhaltsmittel auf der Straße gelebt. Einige Zeit später
wurde der Beschwerdeführer, nachdem er versucht hatte, Griechenland mit einem gefälschten Ausweis zu verlassen, erneut eine Woche lang in dem Haftzentrum neben dem Flughafen festgehalten. Nach seinen Angaben sei er dort
von der Polizei geschlagen worden. Nach seiner Freilassung habe er weiter, mit gelegentlicher Unterstützung durch Anwohner und die Kirche, auf der Straße gelebt. Bei der Verlängerung seines Asylbewerberausweises im Dezember
2009 wurden seitens der Behörden offenbar erste Schritte unternommen, um eine Übernachtungsmöglichkeit für den Beschwerdeführer zu finden. Nach seinen Angaben sei ihm aber nie eine Unterkunft angeboten worden. Der
afghanische Flüchtling argumentierte, dass seine Abschiebung aus Belgien nach Griechenland eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention darstellt, weil Asylbewerber dort unzumutbaren Bedingungen ausgesetzt
sind. Schließlich habe ihm nach belgischem Recht kein wirksamer Rechtsbehelf gegen seine Überstellung zur Verfügung gestanden. Die Beschwerde wurde am 11.06.2009 beim EGMR eingelegt. Der Antrag des Beschwerdeführers,
seine Überstellung nach Griechenland durch eine einstweilige Maßnahme nach Art. 39 der Verfahrensordnung gegenüber Belgien auszusetzen, wurde am 12.06.2009 abgelehnt. Am 02.07.2009 entschied der Gerichtshof, Art. 39
gegenüber Griechenland anzuwenden, mit der Wirkung, die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan bis zur Entscheidung seines Falls vor dem Gerichtshof auszusetzen.
Der EGMR hat der Beschwerde stattgegeben. Die belgischen Behörden hätten Asylwerber nicht nach Griechenland abschieben dürfen. So habe es konkret bei dem Afghanen eine Verletzung von Art. 3 der Europäischen
Menschenrechtskonvention (Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) durch Griechenland aufgrund der Haft- und der Lebensbedingungen des Beschwerdeführers gegeben. Außerdem registrierten die Richter eine
Verletzung von Art. 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) durch Griechenland aufgrund der Mängel des dortigen Asylverfahrens im Fall des Beschwerdeführers. Schließlich wurde Belgien aufgrund der Überstellung des afghanischen
Flüchtlings nach Griechenland verurteilt, weil der Asylwerber dem "dortigen mangelhaften Asylsystem und den damit verbundenen Risiken sowie den dortigen Haft- und Lebensbedingungen ausgesetzt" war. Ferner wurde eine
Verletzung von Art. 13 durch Belgien festgestellt, weil der Beschwerdeführer nach dortigem Recht über keinen wirksamen Rechtsbehelf gegen seine Überstellung verfügte. Griechenland muss dem Beschwerdeführer 1.000 Euro für
den erlittenen immateriellen Schaden und 4.725 Euro für die entstandenen Kosten zahlen. Belgien hat dem Beschwerdeführer 24.900 Euro für den erlittenen immateriellen Schaden und 7.350 Euro für die entstandenen Kosten zu
zahlen. Mit dem EGMR-Urteil wurde auch die Dublin II-Verordnung, nach welcher Asylsuchende ihr Verfahren in jenem EU-Land abwarten müssen, in welches sie zuerst eingereist sind, infrage gestellt. Deutschland hat bereits
wegen der humanitären Notsituation die Rückführung von Asylbewerbern nach Griechenland für ein Jahr gestoppt. Das Urteil kann Auswirkungen auf all jene EU-Staaten haben, die weiterhin Asylsuchende nach Griechenland
zurückschicken, wenn sie dort in die EU eingereist sind (EGMR, Entscheidung vom 21.01.2011 - 30696/09).
***
Art. 8 EMRK (Recht auf Schutz des Familien- und Privatlebens) ist nicht dahin auszulegen, dass die Schwangerschaft und der Schwangerschaftsabbruch ausschließlich zum Privatleben der Frau gehören, weil es, wenn die Frau
schwanger ist, eng mit dem sich entwickelnden Fötus verbunden ist. Das Recht der Frau auf Achtung ihres Privatlebens muss gegen andere Rechte und Freiheiten abgewogen werden, einschließlich der Rechte des ungeborenen Kindes.
Art. 8 EMRK kann auch nicht so ausgelegt werden, dass es ein Recht auf Abtreibung gibt. Das in Irland geltende Verbot der Abtreibung aus Gründen der Gesundheit oder des Wohlbefindens der Frau sowie das Fehlen von
Durchführungsbestimmungen für eine rechtmäßige Abtreibung sind jedoch Eingriffe in das durch Art. 8 EMRK garantierte Recht auf Achtung des Privatlebens. Ein solcher Eingriff ist nur dann nach Art. 8 EMRK gerechtfertigt, wenn
er in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist, also einem dringenden sozialen Bedürfnis entspricht, und verhältnismäßig ist. Insoweit muss ein gerechter Ausgleich geschaffen werden zwischen den Rechten von schwangeren
Frauen auf Achtung ihres Privatlebens und den moralischen Überzeugungen der Mehrheit der irischen Bevölkerung hinsichtlich der Vorstellungen über den Schutz des Lebens Ungeborener. Bei der Beurteilung, ob ein gerechter
Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen hergestellt worden ist, besteht ein Ermessensspielraum des irischen Staats. Dieser ist als weit zu beurteilen und wird nicht durch das Bestehen eines Konsenses zwischen den
Konventionstaaten reduziert. Denn es existiert zwar ein Konsens unter der großen Mehrheit der Konventionsstaaten, eine Abtreibung im weiteren Sinne zu erlauben, als dies in Irland der Fall ist, nicht aber ein Konsens über die
wissenschaftliche und rechtliche Definition des Beginns des Lebens, so dass es keine übereinstimmende Antwort auf die Frage gibt, ob das Ungeborene eine Person ist, die durch Art. 2 EMRK geschützt ist. Der Ermessensspielraum
ist jedoch nicht unbeschränkt. Das Verbot der Abtreibung aus Gründen der Gesundheit und des Wohlbefindens der Frau muss mit den Pflichten Irlands nach der Konvention vereinbar sein. Wegen seiner Zuständigkeit nach Art. 19
EMRK muss der Europäische Gerichtshof überwachen, ob der Eingriff einen verhältnismäßigen Ausgleich der widerstreitenden Interessen herstellt. Angesichts der Tatsache, dass Frauen in Irland rechtmäßig für eine Abtreibung ins
Ausland reisen können und freien Zugang zu angemessenen Informationen und medizinischer Behandlung haben, überschreitet das Verbot der Abtreibung aus Gründen der Gesundheit und des Wohlbefindens der Frau, das auf
tiefwurzelnden moralischen Überzeugungen der irischen Bevölkerung über den Schutz des Rechts auf Leben für das Ungeborene beruht, den insoweit dem irischen Staat zustehenden Ermessensspielraum nicht. Da Irland in seiner
Verfassung eine Entscheidung darüber getroffen hat, unter welchen Voraussetzungen die Abtreibung zugelassen ist, nämlich für den Fall einer Gefahr für das Leben der werdenden Mutter, muss der irische Staat entsprechende
Durchführungsregelungen erlassen, die es ermöglichen, die unterschiedlichen betroffenen Interessen angemessen und im Einklang mit den Verpflichtungen aus der Konvention zu berücksichtigen. Da in Irland keine
Durchführungsbestimmungen existieren, insbesondere hinsichtlich eines wirksamen und zugänglichen Verfahrens, in dem das Recht auf Abtreibung begründet werden kann, besteht ein auffälliger Widerspruch zwischen dem
theoretisch gewährten Recht auf Abtreibung wegen einer Gefahr für das Leben der Frau einerseits und seiner praktischen Anwendung andererseits. Dies stellt eine Verletzung des Art. 8 EMRK dar (EGMR, Urteil vom 16.12.2010 -
25579/05 zu Art 2, Art 8 Abs 1, Art 8 Abs 2, Art 19, Art 35 MRK).
***
„... Der 1956 geborene Beschwerdeführer, Herr F., ist deutscher Staatsangehöriger. Er ist derzeit in einem psychiatrischen Krankenhaus in W. untergebracht. Vor dem Gerichtshof wurde er von Herrn W. Karczewski, Rechtsanwalt in
Neuwied, vertreten. Die beschwerdegegnerische Regierung wurde von ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Frau Ministerialdirigentin A. Wittling-Vogel vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.
A. Die Umstände der Rechtssache
Der von den Parteien vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.
1. Der Hintergrund der Rechtssache
a. Das Verfahren gegen den Beschwerdeführer und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
Am 23. Juli 1982 wurde der Beschwerdeführer wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs eines neunjährigen Mädchens festgenommen. Nach einem Geständnis wurde er am selben Tag auf freien Fuß gesetzt.
Am 26. Juli 1982 begab der Beschwerdeführer sich freiwillig in eine psychiatrische Klinik in Andernach.
In dem Verfahren vor dem Landgericht Koblenz wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführer zwischen 1975 und 1982 in zwanzig Fällen sexuelle Handlungen an Kindern vorgenommen hatte. Der Beschwerdeführer hatte die erste
Tat im Alter von neunzehn Jahren begangen. Der Beschwerdeführer hatte mit seinen Händen Manipulationen im Genitalbereich seiner Opfer, Mädchen im Alter von acht bis zehn Jahren, vorgenommen, woraufhin es bei ihm zu
spontanen Samenergüssen kam oder er onanierte. Sobald sich die Opfer wehrten, stellte er die sexuellen Manipulationen ein. Die ersten sechzehn Sexualstraftaten waren zwischen 1975 und 1978 begangen worden. Die Opfer waren
Mitschülerinnen des Beschwerdeführers in einer Internatssonderschule für Sehbehinderte, die der Beschwerdeführer, der selbst an einer sehr starken angeborenen Sehbehinderung leidet, in der Zeit von 1966 bis 1978 zunächst als
Schüler und danach als Auszubildender besuchte. Die anderen Opfer waren Kinder von Verwandten oder anderen ihm bekannten Personen.
Am 18. August 1983 sprach das Landgericht Koblenz den Beschwerdeführer, der geständig gewesen war, nach Anhörung eines medizinischen Sachverständigen des psychiatrischen Krankenhauses Andernach frei; der Sachverständige
diagnostizierte bei dem Beschwerdeführer eine Persönlichkeitsstörung mit starker Selbstunsicherheit und sozialer Anpassungsstörung sowie schwerer sexueller Deviation im Sinne einer heterosexuellen Pädophilie. Das Landgericht
war der Auffassung, dass der Beschwerdeführer bei der Tatbegehung schuldunfähig gewesen sei und ordnete seine Unterbringung in einer Klinik für forensische Psychiatrie an, weil von ihm mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere
erhebliche Sexualstraftaten zu erwarten seien (§§ 20 und 63 StGB, siehe "Das einschlägige innerstaatliche Recht"). Der Beschwerdeführer ist seitdem über 25 Jahre in psychiatrischen Krankenhäusern untergebracht.
b. Die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus
Der Beschwerdeführer war zunächst im Krankenhaus für forensische Psychiatrie in Andernach und danach von 1984 bis 1986 in Landeck untergebracht, wo festgestellt wurde, dass seine sexuelle Deviation die Folge einer
zwangsneurotischen Entwicklung war und verschiedene Faktoren wie die angeborene Sehbehinderung und das problematische familiäre Umfeld zu einer sozialen Marginalisierung des Beschwerdeführers geführt hatten, die ihn daran
gehindert habe, einen adäquaten Umgang mit der eigenen Sexualität zu lernen.
Nach einem gescheiterten Therapieversuch wurde der Beschwerdeführer 1986 in das psychiatrische Krankenhaus Andernach zurückverlegt, wo er bis Juli 1997 blieb. Eine Genehmigung zur Arbeit in einer externen beschützten
Werkstatt für behinderte Menschen wurde 1992 zurückgenommen, weil der Beschwerdeführer die Wege zum Arbeitsplatz ohne Erlaubnis mehrmals ausgedehnt hatte.
Im August 1997 wurde der Beschwerdeführer in eine Klinik für forensische Psychiatrie in Alzey verlegt, wo er mit einem Mitpatienten eine homosexuelle Beziehung einging. Im Februar 2001 wurde er in eine Abteilung der Klinik
Andernach in W. zurückverlegt, wo er sich seither befindet.
In von den jeweiligen Kliniken in der Zeit von 1989 bis 2001 (z. B. am 25. August 1989, 28. Oktober 1993, 27. September 1995, 29. Februar 1996, 17. Dezember 1999 und 6. November 2001) regelmäßig erstellten
Sachverständigengutachten wurde zwar festgestellt, dass der Beschwerdeführer sich dem Leben in der Einrichtung angepasst und therapeutisch Fortschritte erzielt habe, aber auch betont, dass er dazu neige, die von ihm begangenen
Straftaten zu bagatellisieren, und nicht bereit sei, sich mit seiner Persönlichkeitsstörung auseinander zu setzen, und nicht auszuschließen sei, dass er nach seiner Freilassung ähnliche Straftaten begehen werde. In einem auf Wunsch des
Beschwerdeführers von dem Landgericht eingeholten und am 11. Dezember 2000 erstatteten externen Sachverständigengutachten wurde angeregt, mit dem Beschwerdeführer weiterhin therapeutisch zu arbeiten, ihm Anstaltsausgang
zu gewähren und nach drei Jahren eine Neubeurteilung seiner Kriminalprognose vorzunehmen. Spätere begleitete Ausgänge des Beschwerdeführers und weitere Vollzugslockerungen sind beanstandungsfrei verlaufen.
2002 ging der Beschwerdeführer eine weitere homosexuelle Beziehung mit einem Mitpatienten ein, die von den behandelnden Therapeuten als relativ stabil eingestuft und als Anfang einer Entwicklung zu einer reifen Form der
Sexualität angesehen wurde. Laut einem Sachverständigengutachten der Klinik vom 16. Dezember 2003 hatte der Beschwerdeführer bezüglich der Delinquenzbearbeitung zwar Fortschritte erzielt; es müsse aber nach wie vor davon
ausgegangen werden, dass er Zusammenhangsdelikte (Sexualstraftaten) begehen werde.
In einem Sachverständigengutachten vom 21. November 2004 kam derselbe externe Sachverständige, der das Gutachten vom 11. Dezember 2000 erstattet hatte, zu dem Ergebnis, dass bei dem Beschwerdeführer keine Pädophilie
vorliege und die Taten als Ersatzhandlungen eines gehemmten und erheblich sehbehinderten Menschen, der seine Opfer als kleine Erwachsene angesehen hatte, eingestuft werden müssten. Angesichts der von dem Beschwerdeführer
erzielten Fortschritte, die von dem behandelnden Therapeuten bestätigt wurden, stellte der Sachverständige eine ziemlich günstige Kriminalprognose für den Beschwerdeführer und empfahl, nach einer einjährigen Erprobungsphase
eine bedingte Entlassung in ein Betreutes Wohnen in Betracht zu ziehen.
Der Gutachter stellte ferner fest, dass ihm kaum ein Fall bekannt geworden sei, in dem eine in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebrachte Person so vielen verschiedenen Behandlungen ausgesetzt und so oft von einer Klinik in
die andere verlegt wurde; dies habe zu wechselweise günstigen und ungünstigen Prognosen geführt. So sei eine Therapie in der psychiatrischen Klinik Alzey, die zu positiven Ergebnissen geführt habe, durch die Zurückverlegung des
Beschwerdeführers in die Klinik W. 2001 unterbrochen worden.
c. Frühere Überprüfungen der Unterbringung des Beschwerdeführers
Die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus wurde von den zuständigen Gerichten regelmäßig überprüft (vgl. §§ 67d und 67e StGB, siehe "Das einschlägige innerstaatliche Recht"), und seine
Anträge, die Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung auszusetzen, wurden von den Gerichten wiederholt abgelehnt.
So wies das Landgericht Koblenz mit Beschluss vom 3. November 1995 zwar einen weiteren Antrag des Beschwerdeführers auf Aussetzung der Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung ab, stellte allerdings fest, dass die
weitere Fortdauer der Unterbringung nach über zwölf Jahren möglicherweise nicht mehr verhältnismäßig sein könnte und die Klinik deshalb verpflichtet sei, die Maßnahmen der Rehabilitation voranzutreiben, insbesondere im
Hinblick auf die Bereitschaft des Beschwerdeführers, sich angemessen behandeln und therapieren zu lassen. Wegen der besonderen Umstände des Falls kürzte das Landgericht die gesetzlich vorgesehene Jahresfrist zur Überprüfung
der Unterbringung des Beschwerdeführers auf ein halbes Jahr.
Die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen die anschließende Ablehnung eines gleichgelagerten Antrags durch das Landgericht Koblenz wurde vom Oberlandesgericht Koblenz durch Beschluss vom 24. April 2002 abgewiesen.
Am 30. Januar 2004 wies das Landgericht Koblenz den Antrag des Beschwerdeführers auf Aussetzung der Unterbringung zur Bewährung durch einen in der Beschwerdeinstanz bestätigten Beschluss erneut ab.
Am 14. Januar 2005 lehnte das Landgericht Koblenz einen weiteren Antrag des Beschwerdeführers auf bedingte Entlassung ab und ordnete eine Überprüfung seiner Unterbringung nach sechs Monaten und nicht nach Ablauf der
gesetzlich vorgesehenen Jahresfrist an.
2. Das in Rede stehende Verfahren
a. Die Entscheidung des Landgerichts Koblenz
Am 1. September 2005 wies das Landgericht Koblenz nach Anhörung des Beschwerdeführers dessen Antrag ab, die Vollstreckung seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zur Bewährung auszusetzen oder die
Unterbringung für erledigt zu erklären (siehe §§ 67d und 67e StGB). Nach Anhörung des Beschwerdeführers am 26. August 2005 im Beisein seines Anwalts, der Stationsärztin sowie eines weiteren Arztes und insbesondere aufgrund
eines Sachverständigengutachtens der psychiatrischen Klinik Andernach vom 13. Juni 2005 stellte des Landgericht fest, dass der Beschwerdeführer, der eine Zeit lang aggressives Verhalten an den Tag gelegt hatte, seit der letzten
Überprüfung seiner Unterbringung am 14. Januar 2005 nunmehr wieder regelmäßig therapeutische Gruppen besuche, wozu er sich allerdings erst bereit erklärt habe, als er darauf hingewiesen worden war, dass eine
Therapieverweigerung sich auf seine rechtliche und medizinische Prognose ungünstig auswirken würde. Das Landgericht berücksichtigte zwar die Dauer der Unterbringung des Beschwerdeführers, betonte aber, dass dieser noch am
Anfang eines neuen Therapieversuchs stehe, die begangenen Straftaten bagatellisiere, weil er gegenüber seinen Opfern nie Gewalt angewandt habe, es ihm an Opferempathie fehle und er nicht in der Lage sei, über seine Gefühle zu
sprechen. Nach Auffassung des Landgerichts bestand aus diesen Gründen weiterhin die ernsthafte Gefahr, dass der Beschwerdeführer nach einer Entlassung ähnliche Sexualstraftaten begehen werde.
b. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Koblenz
Am 20. Oktober 2005 verwarf das Oberlandesgericht Koblenz die Beschwerde des Beschwerdeführers. Das Oberlandesgericht hatte keinen Zweifel daran, dass bei dem Beschwerdeführer immer noch Pädophilie vorliege, und
unterstrich, dass diese Diagnose von den behandelnden Ärzten wiederholt bestätigt worden sei. Das Oberlandesgericht betonte ferner, dass die gegenteiligen Feststellungen des externen Sachverständigen aus dem Jahr 2004 es nicht
überzeugten. Es wies darauf hin, dass der Beschwerdeführer 1992 seine unbeaufsichtigten Wege zur Arbeit in einer beschützten Werkstatt dazu missbraucht habe, Örtlichkeiten aufzusuchen, an denen Kinder und Jugendliche sich
häufig aufhalten, kinderpornographische Bilder in seinem Zimmer gefunden worden seien und er Kinder- und Jugendzeitschriften abonniert habe. Das Oberlandesgericht stellte fest, dass eine Aussetzung der Unterbringung des
Beschwerdeführers zur Bewährung erst in Frage komme, wenn die Behandlung als so weit fortgeschritten angesehen werden könne, dass das Restrisiko für vorpubertäre Mädchen gering sei. Diese Voraussetzungen seien in dem
vorliegenden Fall nicht erfüllt, und es müsse als sicher angenommen werden, dass sich der Beschwerdeführer in Freiheit an kleinen Mädchen vergehen werde.
Das Oberlandesgericht, das auch auf seinen früheren Beschluss vom 24. April 2002 Bezug nahm, war überdies der Auffassung, dass die seit über 20 Jahren fortdauernde Unterbringung des Beschwerdeführers angesichts dieser Gefahr
noch verhältnismäßig sei. Mit Blick auf die Art der drohenden Taten und den staatlichen Schutzauftrag für die Rechtsgüter des Einzelnen und der Allgemeinheit sei es unvertretbar, den Beschwerdeführer in die Freiheit zu entlassen.
Auch lebenslange Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus könne angemessen und verfassungsgemäß sein, solange Schutzinteressen Dritter diese rechtfertigten.
c. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts
Am 17. Februar 2006 beschloss das Bundesverfassungsgericht, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers (Az.: 2 BvR 2096/05) mangels Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung anzunehmen. Es stellte fest, dass die
Vollstreckungsgerichte verpflichtet seien, Aussagen oder Gutachten von Sachverständigen eigenständig zu beurteilen und aufgrund der sich daraus ergebenden Prognose zu einer Entscheidung zu gelangen. Das Oberlandesgericht habe
sich den Ausführungen des externen Sachverständigen nicht unbesehen anschließen müssen, sondern eigene Erwägungen zum Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 20 und 63 StGB in vorliegender Rechtssache anstellen können. Das
Oberlandesgericht habe sich im Einklang mit anderen Gutachtern befunden, die offenbar über mehr als zwanzig Jahre von einer Pädophilie des Beschwerdeführers ausgegangen seien. Das Oberlandesgericht habe sich hinreichend mit
den Feststellungen und Wertungen des externen Sachverständigen auseinandergesetzt und sei zu keinen willkürlichen Schlussfolgerungen gelangt. Die negative Legalprognose des Beschwerdeführers sei mit Blick auf seine fehlende
Empathie mit den Opfern und seine Tendenz, die verübten Straftaten zu bagatellisieren, gerechtfertigt. Das Oberlandesgericht habe im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der fortdauernden Unterbringung eine gerechte
Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Beschwerdeführers nach einer mehr als 20-jährigen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und der Gefahr, die von ihm für die Gesellschaft ausgehe, vorgenommen.
3. Weitere Entwicklungen
Aus Anlass einer weiteren Überprüfung der Unterbringung des Beschwerdeführers ordnete das Landgericht Koblenz nach Anhörung des Beschwerdeführers und unter Berufung auf ein Gutachten der behandelnden Ärzte vom 31. Mai
2006 mit Beschluss vom 8. September 2006 erneut die Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Die behandelnden Ärzte hatten die Pädophiliediagnose bestätigt und eine
ungünstige Kriminalprognose für den Beschwerdeführer erstellt, insbesondere im Hinblick darauf, dass er im Verlauf seiner Therapie keine hinreichenden Fortschritte gemacht habe und sich daraus ein Rückfallrisiko ergebe.
Hinsichtlich der Beurteilung der Frage, ob die Dauer der Unterbringung noch verhältnismäßig sei, berief sich das Landgericht auf die Begründung des Beschlusses des Oberlandesgerichts vom 20. Oktober 2005. Die vom
Beschwerdeführer gegen diesen Beschluss eingelegte Beschwerde wurde vom Oberlandesgericht Koblenz mit Beschluss vom 18. Dezember 2006 als offensichtlich unbegründet verworfen.
Am 21. Januar 2008 holte das Landgericht Koblenz im Hinblick auf eine weitere Überprüfung der Unterbringung des Beschwerdeführers ein externes Sachverständigengutachten ein. Der Sachverständige befand, dass bei dem
Beschwerdeführer eine heterosexuelle Pädophilie vorliege und die von ihm mit anderen Untergebrachten eingegangenen homosexuellen Beziehungen als Ersatzhandlungen anzusehen seien. Der Sachverständige war der Auffassung,
dass der Beschwerdeführer weiterhin pädophile Neigungen zeige und die Gefahr fortbestehe, dass er im Falle seiner Entlassung entsprechende Sexualstraftaten begehen werde. Im Hinblick auf die Schlussfolgerungen des externen
Sachverständigen und nach Anhörung des Beschwerdeführers bestätigte das Landgericht mit Beschluss vom 20. Februar 2008 die Fortdauer seiner Unterbringung.
Am 17. April 2009 stellte das Landgericht Koblenz nach Anhörung des Beschwerdeführers und auf der Grundlage einer Stellungnahme der behandelnden Ärzte vom 13. Januar 2009 erneut fest, dass eine Aussetzung der
Unterbringung des Beschwerdeführers zur Bewährung noch nicht in Betracht komme, da die Gefahr fortbestehe, dass er weitere Straftaten begehen werde. Die Pädophilie und die Persönlichkeitsstörung seien unverändert und seine
Fähigkeit und Bereitschaft, im therapeutischen Prozess mitzuarbeiten, sei mangels Einsicht in seine Erkrankung und die Notwendigkeit der Behandlung stark eingeschränkt. Er bagatellisiere die begangenen Straftaten immer noch und
sei nicht in der Lage, ausreichend emotionale Anteilnahme und Einfühlungsvermögen zu zeigen. Das Landgericht berücksichtigte zwar die lange Dauer der Unterbringung des Beschwerdeführers, wies jedoch darauf hin, dass kein
Zweifel daran bestehe, dass eine Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik immer noch verhältnismäßig sei. Die Straftaten, die zur Einweisung des Beschwerdeführers in das psychiatrische Krankenhaus geführt hätten, seien
schwerwiegend und er sei immer noch hoch rückfallgefährdet. Nach den Ausführungen der behandelnden Ärzte sei dieser Rückfallgefahr nicht durch andere Maßnahmen zu begegnen, zumal die Haltung des Beschwerdeführers zu
seiner Sexualität und seinen pädophilen Neigungen völlig unklar sei. Daher könnten die Sicherungsinteressen der Allgemeinheit derzeit nur durch die weitere Unterbringung des Beschwerdeführers gewahrt werden und hätten
weiterhin Vorrang vor seinen Freiheitsinteressen.
Am 7. Juli 2009 verwarf das Oberlandesgericht Koblenz die vom Beschwerdeführer gegen diesen Beschluss eingelegte Beschwerde.
B. Das einschlägige innerstaatliche Recht
Das Strafgesetzbuch unterscheidet zwischen Strafen und sogenannten Maßregeln der Besserung und Sicherung als Reaktion auf rechtswidrige Taten. Strafen (siehe § 38 ff. StGB) umfassen im Wesentlichen Freiheitsstrafen und
Geldstrafen. Die Strafe wird nach der Schuld des Täters zugemessen (§ 46 Abs. 1 StGB). Maßregeln der Besserung und Sicherung (siehe §§ 61 ff. StGB) umfassen insbesondere die Unterbringung in einem psychiatrischen
Krankenhaus (§ 63 StGB), in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) oder in der Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB). Der Zweck dieser Maßregeln besteht darin, gefährliche Straftäter zu resozialisieren oder die Allgemeinheit vor ihnen
zu schützen. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus kann angeordnet werden, wenn jemand eine Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder der verminderten Schuldfähigkeit begangen hat. Die Maßregel muss
jedoch im angemessenen Verhältnis zur Bedeutung der vom Täter begangenen und zu erwartenden Taten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr stehen (§ 62 StGB).
Nach § 20 StGB handelt ohne Schuld, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer schwerwiegenden Persönlichkeitsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen
Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.
Artikel 63 StGB bestimmt, dass das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ohne Angabe einer Höchstdauer anordnet, wenn jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) begangen
hat und die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.
§ 67d StGB regelt die Dauer der Unterbringung. Stellt das Gericht nach Beginn der Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus fest, dass die Voraussetzungen der Maßregel nicht mehr vorliegen oder die
weitere Vollsteckung der Maßregel unverhältnismäßig wäre, so erklärt es sie für erledigt (§ 67d Abs. 6).
§ 67e StGB sieht die Überprüfung der Unterbringung u. a. in einem psychiatrischen Krankenhaus vor. Das Gericht kann jederzeit prüfen, ob die weitere Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung auszusetzen ist. Dies muss vor
Ablauf bestimmter Fristen geschehen (§ 67e Abs. 1). Für in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebrachte Personen beträgt die Frist ein Jahr (§ 67e Abs. 2).
RÜGEN
1. Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstaben a und e der Konvention, dass die Fortdauer seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus seit 1983 unverhältnismäßig sei.
Er wandte sich insbesondere gegen den Beschluss des Landgerichts Koblenz vom 1. September 2005, mit dem sein Antrag, seine Unterbringung für erledigt zu erklären oder zur Bewährung auszusetzen, abgelehnt wurde, den
Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 20. Oktober 2005, mit dem seine gegen den Beschluss des Landgerichts gerichtete Beschwerde abgewiesen wurde, sowie gegen den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 17.
Februar 2005, mit dem die Annahme der Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung abgelehnt wurde.
Er machte geltend, dass ausweislich eines 2004 erstatteten externen Sachverständigengutachtens bei ihm keine sexuelle Deviation im Sinne einer Pädophilie vorliege, die die Fortsetzung seiner Unterbringung in einem psychiatrischen
Krankenhaus rechtfertigen würde.
2. Er behauptete ferner, dass die Fortdauer seiner Unterbringung eine unmenschliche Behandlung im Sinne von Artikel 3 der Konvention darstelle.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
1. Der Beschwerdeführer rügte, dass die Fortdauer seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, wie sie in dem in Rede stehenden Verfahren bestätigt worden sei, mit Artikel 5 Abs. 1 Buchstaben a und e der
Konvention nicht vereinbar sei; die entsprechende Bestimmung lautet wie folgt:
"(1) Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:
a) rechtmäßige Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht;"
...
e) rechtmäßige Freiheitsentziehung mit dem Ziel, die Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern, sowie bei psychisch Kranken, Alkohol- oder Rauschgiftsüchtigen und Landstreichern; ...
Die Regierung brachte vor, die Beschwerde sei hinsichtlich des Vorbringens des Beschwerdeführers, das Landgericht Koblenz, das Oberlandesgericht Koblenz und das Bundesverfassungsgericht hätten bei ihren Entscheidungen vom
1. September 2005, 20. Oktober 2005 und 17. Februar 2006, durch die sein Antrag, seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zur Bewährung auszusetzen oder für erledigt zu erklären, abgelehnt worden sei, jeweils
nicht gebührend berücksichtigt, dass er bereit sei, seine Therapie im Falle einer Entlassung auf Bewährung ambulant fortzusetzen. Die Regierung trug vor, dass dieser Aspekt nicht Gegenstand der Verfassungsbeschwerde des
Beschwerdeführers vom 8. Dezember 2005 gewesen sei und der Beschwerdeführer daher insoweit den innerstaatlichen Rechtsweg nicht erschöpft habe.
Der Beschwerdeführer brachte vor, dass dieses Argument bereits in seiner sofortigen Beschwerde vom 21. September 2005 gegen das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 1. September 2005 vorgetragen worden sei; auch sei der
entsprechende Schriftsatz an das Oberlandesgericht Koblenz seiner Verfassungsbeschwerde als Anhang beigefügt worden.
Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass es nicht erforderlich ist, darüber zu entscheiden, ob der Beschwerdeführer diesbezüglich den innerstaatlichen Rechtsweg erschöpft hat oder nicht, da die Beschwerde aus den nachfolgend
aufgeführten Gründen in jedem Fall unzulässig ist.
Die Regierung brachte weiter vor, die Beschwerde sei unbegründet, da die Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers mit Artikel 5 Abs. 1 der Konvention vereinbar sei. Es sei verlässlich nachgewiesen worden, dass der
Beschwerdeführer im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e der Konvention "psychisch krank" und seine Krankheit so schwerwiegend sei, dass sie seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus weiter erforderlich
mache. Seine Unterbringung sei darüber hinaus rechtmäßig gewesen und in der gesetzlich vorgeschriebenen Weise erfolgt.
Unter Bezugnahme auf das 2004 erstellte externe Sachverständigengutachten brachte der Beschwerdeführer vor, dass bei ihm keine sexuelle Deviation im Sinne einer Pädophilie vorliege und der Grad oder die Schwere seiner
psychischen Erkrankung nicht seine Zwangsunterbringung rechtfertige, was insbesondere anlässlich seiner begleiteten Ausgänge aus dem Krankenhaus sowie weiterer Lockerungen seiner Unterbringung, die keinen Anlass zu
Beschwerden gegeben hätten, festgestellt worden sei. Seine bedingte Entlassung in ein Betreutes Wohnen, begleitet von einer ambulanten Therapie, wäre ausreichend, um das potentielle Restrisiko eines Rückfalls zu minimieren. Der
Beschwerdeführer war weiter der Auffassung, dass die innerstaatlichen Gerichte im Hinblick auf die Feststellungen, die der externe Sachverständige in seinem Gutachten von 2004 getroffen habe und in der die Pädophilie-Diagnose
bestritten worden sei, im Verlauf des Überprüfungsverfahrens, das zu den angefochtenen Entscheidungen geführt habe, zumindest ein Obergutachten hätten einholen müssen.
Der Gerichtshof stellt fest, dass der Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers und seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus eine gerichtliche Entscheidung zugrunde lag und seine Freiheitsentziehung daher
sowohl unter Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a als auch unter Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e fallen könnte. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sich Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a auf eine Situation bezieht, in der eine
Freiheitsentziehung "nach Verurteilung" durch ein zuständiges Gericht angeordnet worden ist, der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall jedoch freigesprochen wurde, ist der Gerichtshof jedoch der Auffassung, dass die Beschwerde
dahingehend zu prüfen ist, ob im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e eine Freiheitsentziehung bei einem "psychisch Kranken" vorliegt (siehe Rechtssache Luberti ./. Italien , 23. Februar 1984, Rdnr. 25, Serie A Band 75).
Der Gerichtshof stellt erneut fest, dass die fragliche Unterbringung, um Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e zu genügen, auf die "gesetzlich vorgeschriebene Weise erfolgt" und rechtmäßig sein sowie eine "psychisch kranke Person" betreffen musste.
a. War der Beschwerdeführer "psychisch krank"?
Bei der Entscheidung darüber, ob der Beschwerdeführer im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e psychisch krank war, weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass einer Person wegen einer psychischen Erkrankung die Freiheit nur
entzogen werden kann, wenn drei Mindestvoraussetzungen vorliegen: Die psychische Erkrankung muss zuverlässig nachgewiesen sein, d. h. eine tatsächliche psychische Störung muss aufgrund objektiver medizinischer Beweise vor
einer zuständigen Behörde festgestellt werden, die psychische Störung muss der Art oder des Grades sein, die eine Zwangsunterbringung rechtfertigt, und die Fortdauer der Unterbringung muss vom Fortbestehen einer derartigen
Störung abhängen (siehe Rechtssachen Winterwerp ./. die Niederlande, 24. Oktober 1979, Rdnr. 39, Serie A Bd. 33, und Shtukaturov ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 44009/05, Rdnr. 114, 27. März 2008).
Der Gerichtshof stellt fest, dass das Landgericht Koblenz die Unterbringung des Beschwerdeführers in einer psychiatrischen Klinik ursprünglich in seinem Urteil vom 18. August 1983 angeordnet hatte, nachdem es einen
medizinischen Sachverständigen hinzuzogen hatte, der festgestellt hatte, dass bei dem Beschwerdeführer eine schwere sexuelle Deviation im Sinne einer schweren seelischen Abartigkeit vorliege, weshalb seine Unterbringung in
einem psychiatrischen Krankenhaus unumgänglich sei. Auf der Grundlage der Feststellungen des medizinischen Sachverständigen war das Landgericht zu dem Schluss gelangt, dass der Beschwerdeführer mit hoher Wahrscheinlichkeit
weitere erhebliche Straftaten ähnlicher Art begehen werde. Hinsichtlich der Frage, ob bei den regelmäßigen Überprüfungen der weiteren Unterbringung des Beschwerdeführers zuverlässig nachgewiesen worden ist, dass der
Beschwerdeführer an einer psychischen Erkrankung der Art und des Grades leidet, die eine Zwangsunterbringung rechtfertigt, haben sich die innerstaatlichen Gerichte auf die verschiedenen Sachverständigengutachten berufen, die
während der Unterbringung des Beschwerdeführers in den Krankenhäusern regelmäßig von den Kliniken und behandelnden Ärzten erstellt wurden. In dem in Rede stehenden Verfahren stützten sich das Landgericht und das
Oberlandesgericht Koblenz insbesondere auf ein Sachverständigengutachten über den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers, das am 13. Juni 2005, nicht lange vor der angefochtenen Entscheidung vom 1. September 2005 über
die Fortdauer seiner Unterbringung, von der psychiatrischen Klinik, in der er untergebracht war, erstellt worden war. Das Landgericht hatte den Beschwerdeführer überdies am 26. August 2005 im Beisein seines Anwalts, der
Stationsärztin sowie eines weiteren Arztes angehört. Auf dieser Grundlage waren die innerstaatlichen Gerichte der Auffassung, dass der Beschwerdeführer seine Straftaten immer noch bagatellisiere und dass von ihm wegen seines
psychischen Zustands immer noch weitere erhebliche rechtswidrige Taten, ähnlich denen, die seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zugrunde lagen, zu erwarten seien und er deshalb für die Allgemeinheit
gefährlich sei.
Daher ist der Gerichtshof überzeugt, dass eine tatsächliche psychische Störung der Art und des Grades, die eine Unterbringung des Beschwerdeführers zum Schutz der Allgemeinheit rechtfertigten, aufgrund objektiver und hinreichend
aktueller ärztlicher Fachkompetenz von den innerstaatlichen Gerichten festgestellt wurde.
Hinsichtlich der Tatsache, dass das Landgericht und das Oberlandesgericht Koblenz sich den Schlussfolgerungen eines im Jahre 2004 von einem externen Sachverständigen erstellten Gutachtens, demzufolge bei dem
Beschwerdeführer tatsächlich nicht die diagnostizierte Pädophilie vorliege, nicht anschlossen, weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass den nationalen Behörden ein gewisser Ermessensspielraum hinsichtlich der Begründetheit
klinischer Diagnosen zustehe, weil es zunächst ihnen obliegt, die Beweismittel in einem konkreten Fall zu bewerten: Die Aufgabe des Gerichtshofs besteht darin, die Entscheidungen dieser Behörden im Lichte der Konvention zu
überprüfen (siehe Rechtssachen Winterwerp , a. a. O., Rdnr. 40 und Luberti ./. Italien , a.a.O., Rdnr. 27). Der Gerichtshof stellt in diesem Zusammenhang fest, dass es sich bei dem Gutachten des externen Sachverständigen aus dem
Jahre 2004, in dem den früheren Schlussfolgerungen der ärztlichen Sachverständigen, welche die Pädophiliediagnose wiederholt bestätigt hatten, widersprochen wurde, um eine isolierte Auffassung handelte, die mit den in den
vorangegangen Jahren erstellten Gutachten nicht vereinbar war und später weder durch die behandelnden Ärzte noch durch das nachfolgende, im Jahre 2008 vom Gericht eingeholte externe Sachverständigengutachten gestützt wurde.
Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass das Landgericht und das Oberlandesgericht Koblenz die Notwendigkeit der Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers im Laufe der nach dem innerstaatlichen Recht vorgeschriebenen
regelmäßigen Überprüfungen und insbesondere in dem in Rede stehenden Verfahren erneut geprüft haben; dies belegt, dass die weitere Vollziehung der Unterbringung vom Fortbestehen der psychischen Störung abhing (vgl.
Winterwerp , a.a.O., Rdnrn. 39 und 40).
Der Gerichtshof kommt deshalb zu dem Ergebnis, dass der Beschwerdeführer im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e psychisch krank war.
b. Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers
Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass Freiheitsentziehung rechtmäßig ist, wenn die materiell- und verfahrensrechtlichen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts eingehalten werden, wobei der Begriff "rechtmäßig" sich bis zu
einem gewissen Grad mit der allgemeinen Anforderung aus Artikel 5 Abs. 1 überschneidet, der "gesetzlich vorgeschriebenen Weise" zu entsprechen (siehe Rechtssachen Winterwerp ./. die Niederlande, a. a. O. Rdnr. 39, und H.L. ./.
Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 45508/99, Rdnr. 114, ECHR 2004-IX). Ein notwendiges Merkmal der "Rechtmäßigkeit" der Freiheitsentziehung im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e ist das Nichtvorliegen von
Willkür. Die Freiheitsentziehung stellt eine derart schwerwiegende Maßnahme dar, dass sie nur gerechtfertigt ist, wenn andere, weniger einschneidende Maßnahmen geprüft und für nicht ausreichend befunden worden sind, um die
Interessen des Einzelnen und der Allgemeinheit zu schützen; dies kann die Unterbringung des Betroffenen erforderlich machen. Es ist nachzuweisen, dass die Freiheitsentziehung unter den gegebenen Umständen erforderlich war
(siehe Rechtssache Verbanov ./. Bulgarien, Individualbeschwerde Nr. 31365/96, Rdnr. 46, ECHR 2000-X).
Angesichts der besonderen Umstände des Falles möchte der Gerichtshof darauf hinweisen, dass die nationalen Behörden dafür sorgen sollten, dass jede derartige Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus mit wirksamen
und konsequenten Therapiemaßnahmen einhergeht, um in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebrachten Personen nicht die Aussicht auf Entlassung zu nehmen. Anlässlich der regelmäßigen Überprüfungen der Fortdauer der
Unterbringung und bei der Abwägung zwischen den Freiheitsinteressen des Untergebrachten und den Sicherheitsinteressen der Öffentlichkeit sollte die Durchführung derartiger Maßnahmen von den innerstaatlichen Gerichten
besonders genau geprüft werden.
Der Gerichtshof stellt fest, dass die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB am 18. August 1983 vom Landgericht Koblenz für unbegrenzte Dauer angeordnet und anschließend
von den innerstaatlichen Gerichten nicht für erledigt erklärt oder zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Gerichte haben die Voraussetzungen für die weitere Unterbringung des Beschwerdeführers nach § 67e StGB regelmäßig geprüft
und die Fortdauer der Unterbringung wiederholt angeordnet, wie auch in dem in Rede stehenden Verfahren. Der Gerichtshof stellt daher fest, dass die Unterbringung des Beschwerdeführers mit den verfahrens- und materiellrechtlichen
Vorschriften des innerstaatlichen Rechts im Einklang stand.
Bei der Entscheidung darüber, ob die Unterbringung des Beschwerdeführers gemäß Artikel 5 Abs. 1 mit der Absicht, ihn vor Willkür zu schützen, vereinbar war, stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt
des in Rede stehenden Verfahrens bereits seit mehr als 20 Jahren in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht war und verschiedenen Behandlungen ausgesetzt worden war, die durch die häufigen Verlegungen des
Beschwerdeführers von einem psychiatrischen Krankenhaus in ein anderes manchmal unterbrochen wurden und zu wechselweise günstigen und ungünstigen Prognosen der entsprechenden Krankenhäuser und Sachverständigen geführt
hatten.
Die innerstaatlichen Gerichte widmeten der zunehmenden Dauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in den Entscheidungen, mit denen sie die Fortdauer seiner Unterbringung anordneten, jedoch besondere Aufmerksamkeit und
kamen dabei zu dem Schluss, dass mildere Mittel als die weitere Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus, wie die bedingte Entlassung in ein Betreutes Wohnen, nicht in Betracht kämen. Nach
Auffassung der Gerichte stellte der Beschwerdeführer immer noch eine Gefahr für die Allgemeinheit dar, da seine psychische Erkrankung fortbestehe, er in der Therapie keine hinreichenden Fortschritte erzielt habe und deswegen
immer noch die Gefahr bestehe, dass er im Falle einer Entlassung auf Bewährung erhebliche Sexualstraftaten begehen werde, ähnlich denen, die seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ursprünglich zugrunde
gelegen hätten.
Die innerstaatlichen Gerichte stützten ihre Entscheidungen auf die Aussagen des Beschwerdeführers und die im Verlauf des Verfahrens erstellten Gutachten der behandelnden Ärzte. Hinsichtlich des abweichenden Gutachtens des
externen Sachverständigen aus dem Jahre 2004 weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass die Schlussfolgerungen dieses Sachverständigen eine isolierte Auffassung darstellten und das nachfolgende medizinische
Sachverständigengutachten der behandelnden Ärzte vom 13. Juni 2005, das in dem in Rede stehenden Verfahren erstellt wurde, ihnen entgegenstand.
Hinsichtlich des Vorbringens des Beschwerdeführers, die innerstaatlichen Gerichte hätten in Anbetracht des Sachverständigengutachtens von 2004 in dem in Rede stehenden Verfahren ein Obergutachten einholen müssen, stellt der
Gerichtshof fest, dass dieser Punkt anscheinend nicht Gegenstand der von dem Beschwerdeführer gegen das Urteil des Landgerichts vom 1. September 2005 eingelegten Beschwerde oder seiner entsprechenden Verfassungsbeschwerde
gewesen ist. Selbst unter der Annahme einer Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs stellt der Gerichtshof fest, dass es in Anbetracht der zahlreichen, während der langen Unterbringung des Beschwerdeführers eingeholten
Sachverständigengutachten und insbesondere des in dem in Rede stehenden Verfahren erstellten Sachverständigengutachtens vom 13. Juni 2005, in dem die Notwendigkeit der weiteren Unterbringung des Beschwerdeführers bestätigt
wurde, keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass die innerstaatlichen Gerichte ihre Feststellungen nicht auf einer hinreichend sicheren Grundlage getroffen haben.
Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass die Feststellungen des externen Sachverständigen aus dem Jahre 2004 von dem vom Landgericht im Jahre 2008 in Auftrag gegebenen externen Sachverständigengutachten nicht gestützt wurden
und dass die innerstaatlichen Gerichte in dem nachfolgenden Überprüfungsverfahren unter Berufung auf weitere Sachverständigengutachten bestätigt haben, dass angesichts der Tatsache, dass der Beschwerdeführer eine Gefahr für die
Allgemeinheit darstelle, die Sicherheit der Allgemeinheit nur durch eine Fortdauer seiner Unterbringung gewahrt werden könne.
Obwohl er zur Kenntnis nimmt, dass die Verhältnismäßigkeit der Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus umso genauer zu prüfen ist, je länger die Unterbringung andauert, ist der Gerichtshof der
Auffassung, dass nichts darauf hindeutet, dass die innerstaatlichen Gerichte zum Zeitpunkt des in Rede stehenden Verfahrens keine gerechte Abwägung zwischen den Freiheitsinteressen des Beschwerdeführers und den
Sicherheitsinteressen der Öffentlichkeit vorgenommen haben oder dass die damaligen Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte willkürlich waren.
Folglich war die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e der Konvention gerechtfertigt.
Der Gerichtshof stellt daher fest, dass dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Absätze 3 und 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
2. Der Beschwerdeführer rügte ferner, dass die Fortdauer seiner Unterbringung eine unmenschliche Behandlung im Sinne von Artikel 3 der Konvention darstelle, der wie folgt lautet:
"Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden."
Unter Berücksichtigung seiner vorstehenden Einschätzung in Bezug auf Artikel 5 Abs. 1 der Konvention ist der Gerichtshof der Auffassung, dass eine eigene Frage nach Artikel 3 der Konvention nicht aufgeworfen wird.
Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde ebenfalls offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Absätze 3 und 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof die Individualbeschwerde mit Stimmenmehrheit für unzulässig. ..." (EGMR, Entscheidung vom 28.09.2010 - 32705/06)
***
Die Bedingungen in der Abschiebehaftanstalt auf Samos waren derartig schlecht, dass sie den nach Art. 3 EMRK (Verbot der Folter) erforderlichen Grad der Schwere erreicht und diesen Artikel verletzt haben. Dass die Behörden den
Beschwerdeführer nicht angemessen medizinisch versorgt haben, verstößt gleichfalls gegen Art. 3 EMRK. Eine Freiheitsentziehung muss nach Art. 5 EMRK (Recht auf Sicherheit und Freiheit) auf die "gesetzlich vorgesehene Weise"
vorgenommen worden sein; insoweit verweist die Konvention auf staatliches Recht. Die Freiheitsentziehung muss aber auch mit dem Ziel der Vorschrift vereinbar sein, den einzelnen vor Willkür zu schützen. Sie kann willkürlich sein
und damit gegen die Konvention verstoßen, obwohl sie nach staatlichem Recht "rechtmäßig" ist. Eine Freiheitsentziehung nach Art. 5 I lit. f EMRK muss in gutem Glauben vorgenommen werden und strikt auf den Zweck abgestellt
sein, eine unerlaubte Einreise zu verhindern. Außerdem müssen der Ort der Unterbringung und die Haftbedingungen angemessen sein. Schließlich darf ihre Dauer nicht über das hinausgehen, was vernünftigerweise notwendig ist, um
das verfolgte Ziel zu erreichen. Der Beschwerdeführer ist in Haft gehalten worden, obwohl nach griechischem Recht das Verfahren bis zur Entscheidung über seinen Asylantrag ausgesetzt war. Deswegen war die Freiheitsentziehung
nicht "rechtmäßig" i. S. von Art. 5 EMRK und verstieß gegen diese Vorschrift (EGMR, Urteil vom 22.07.2010 - 12186/08 zu EMRK Art. 3, 5 I lit. f, II, IV, 35, 41, BeckRS 2011, 02898)
***
Das Folterverbot des Art. 3 EMRK ist absolut. Es lässt keine Ausnahme, keinen Rechtfertigungsgrund und keine Interessenabwägung zu und gilt unabhängig vom Verhalten des Betroffenen und der Motivation der Behörden. Folter
oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung sind auch im Fall eines staatlichen Notstands nicht erlaubt (Art. 15 EMRK) und dürfen selbst dann nicht angewendet werden, wenn es um das Leben eines Menschen geht. Die
Bedrohung des Beschwerdeführers mit massiven Schmerzen, wenn er den Aufenthaltsort seines Opfers nicht preisgebe, ist eine unmenschliche Behandlung i.S. von Art. 3 EMRK, keine Folter. Die deutschen Gerichte haben den
Verstoß gegen das Folterverbot anerkannt. Die gegen die verantwortlichen Polizeibeamten verhängten Sanktionen sind jedoch eher symbolisch, und auf die Amtshaftungsklage des Beschwerdeführers haben die Gerichte bisher nicht
entschieden. Daher ist die Opfereigenschaft des Beschwerdeführers (Art. 34 EMRK) nicht entfallen. Die deutschen Gerichte haben die Verurteilung des Beschwerdeführers auf sein Geständnis in der Hauptverhandlung, nicht auf das
ihm im Ermittlungsverfahren abgepresste Geständnis gestützt. Die körperlichen Beweise, die nach dem ersten Geständnis sichergestellt worden waren, haben wesentlich dazu gedient, den Wahrheitsgehalt des in der Hauptverhandlung
abgelegten Geständnisses zu überprüfen. Die Verteidigungsrechte des Beschwerdeführers und sein Recht zu schweigen sind in seinem Prozess gewahrt worden. Das Verfahren war daher fair i.S. von Art. 6 EMRK (EGMR, Urteil vom
01.06. 2010 - 22978/05, NJW 2010, 3145).
***
Die Entscheidung der Kammer, die Beschwerde teilweise für unzulässig zu erklären, ist endgültig. Dieser Teil der Beschwerde ist deswegen nicht vor der Großen Kammer anhängig. Art. 7 II EMRK (Keine Strafe ohne Gesetz) soll
deutlich machen, dass Art. 7 I EMRK nicht für Gesetze gilt, die unter ganz außergewöhnlichen Umständen am Ende des Zweiten Weltkrieges erlassen worden sind, z.B. um Kriegsverbrechen zu bestrafen. Die Definition von
Kriegsverbrechen in der Charta des Internationalen Kriegsverbrechertribunals in Nürnberg ist als Kodifizierung des 1939 geltenden Kriegsvölkerrechts und der völkerrechtlichen Gebräuche zu verstehen. Kriegsverbrechen wurden im
Mai 1944 als Handlungen definiert, die gegen Recht und Gebräuche des Krieges verstoßen. Das Völkerrecht hatte die zugrundeliegenden Prinzipien bestimmt und einen umfangreichen Katalog von Kriegsverbrechen aufgestellt. Die
Misshandlung, Verletzung und Tötung der Bewohner des Dorfes Mazie Bati war 1944 nach dem Kriegsvölkerrecht ein Kriegsverbrechen.Das Völkerrecht und die Gebräuche des Krieges genügten 1944, eine persönliche strafrechtliche
Verantwortlichkeit zu begründen. Das hätte der Beschwerdeführer vorhersehen können. Die Handlungen des Beschwerdeführers waren nach Recht und Gebräuchen des Krieges 1944 ausreichend als Straftaten bestimmt, so dass die
Verurteilung des Beschwerdeführers Art. 7 I EMRK nicht verletzt (EGMR, Urteil vom 17.05.2010 - 36376/04 zu EMRK Art. 2, 3, 5, 6, 7, 13, 15, 18, 43).
***
Unter bestimmten Umständen kann es angemessen sein, eine Beschwerde ganz oder teilweise nach Art. 37 Abs. 1 EMRK auf der Grundlage einer einseitigen Erklärung durch den beklagten Staat im Register zu streichen. Bei dem
erhobenen Vorwurf des Menschenhandels ist eine Streichung nicht angemessen, da es nur wenig Rechtsprechung zur Auslegung und Anwendung von Art. 4 EMRK (Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit) auf Fälle von
Menschenhandel gibt. Art. 2 EMRK verpflichtet Konventionsstaaten nicht, in ihrem Strafrecht eine weltweite Zuständigkeit ihrer Gerichte für Fälle vorzusehen, die den Tod eines ihrer Staatsangehörigen betreffen. Menschenhandel ist
eine Bedrohung für Menschenwürde und Grundfreiheiten seiner Opfer und mit der demokratischen Gesellschaft und den Grundwerten der Konvention unvereinbar. Es ist nicht erforderlich, zu unterscheiden, ob es sich bei
Menschenhandel um "Sklaverei", "Leibeigenschaft" oder "Zwangsarbeit" handelt. Er fällt jedenfalls in den Anwendungsbereich von Art. 4 EMRK. Wenn Behörden von Umständen wussten oder hätten wissen müssen, die den
Verdacht begründen, dass eine bestimmte Person in unmittelbarer Gefahr war oder ist, Opfer von Menschenhandel oder sexueller Ausbeutung zu sein, so ist Art. 4 EMRK verletzt, wenn die Behörden es versäumen, ihnen mögliche
angemessene Maßnahmen zu treffen, um die Person aus dieser Lage und dieser Gefahr zu befreien. Wie aus Art. 2 und 3 EMRK ergibt sich auch aus Art. 4 EMRK die verfahrensrechtliche Pflicht der Konventionsstaaten, Tatumstände
möglichen Menschenhandels zu ermitteln und bei der Strafverfolgung mit den zuständigen Behörden anderer beteiligter Staaten zusammenzuarbeiten.(EGMR, Urteil vom 07.01.2010 - 25965/04 zu Art 2, 3, 4, 5, 35, 37, 41 - juris).
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Die Beschwerdeführer nehmen aktiv am politischen Leben in Bosnien-Herzegowina teil. Ihr Vortrag, sie hätten bei den Wahlen zur 2. Kammer des Parlaments, der Kammer der Völker, kandidiert, wenn ihnen das passive Wahlrecht
nicht wegen ihrer Herkunft als Rom und Jude versagt wäre, ist daher überzeugend. Folglich können sie behaupten, Opfer der von ihnen gerügten Diskriminierung zu sein (Art 34 EMRK). Die Verfassung von Bosnien-Herzegowina ist
in einem Anhang zum Friedensabkommen von Dayton niedergelegt, einem völkerrechtlichen Vertrag. Doch kann das Parlament des Landes die Verfassung ändern. Unter diesen Umständen ist Bosnien-Herzegowina jedenfalls dafür
verantwortlich, dass die von den Beschwerdeführern angegriffenen Verfassungsvorschriften noch immer in Kraft sind. Die Kammer der Völker in Bosnien-Herzegowina gehört zu den „gesetzgebenden Körperschaften" i. S. von Art. 3
Zusatzprotokoll zur EMRK (Recht auf freie Wahlen). Die Wahlen zu ihr fallen damit in den Anwendungsbereich dieser Vorschrift. Folglich gilt das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK. Diskriminierung liegt vor, wenn
Personen in vergleichbarer Lage ohne sachlichen und vernünftigen Grund unterschiedlich behandelt werden. Diskriminierung wegen der ethnischen Herkunft ist eine Form der Rassendiskriminierung, eine besonders scheußliche Form
der Diskriminierung. Die Konventionsstaaten müssen alle verfügbaren Mittel einsetzen, um Rassismus zu bekämpfen und so die demokratische Gesellschaft stärken, in der die Vielfalt nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung
verstanden wird. Eine unterschiedliche Behandlung, die ausschließlich oder wesentlich auf die ethnische Herkunft gestützt wird, ist in einer demokratischen Gesellschaft niemals gerechtfertigt. Um nach dem Ende des durch
Völkermord und „ethnische Säuberung" gekennzeichneten Konflikts in Bosnien-Herzegowina den Frieden zu sichern, war die Zustimmung der Bosniaken, Kroaten und Serben, der „konstituierenden Völker", dringend erforderlich.
Das kann erklären, wenngleich nicht unbedingt rechtfertigen, dass die anderen Gemeinschaften an den Friedensverhandlungen nicht beteiligt waren. Angesichts der positiven Entwicklungen in Bosnien-Herzegowina ist der weiterhin
bestehende Ausschluss der Beschwerdeführer von der Kandidatur zur Kammer der Völker nicht gerechtfertigt und verstößt gegen Art. 14 EMRK i. V. mit Art. 3 Zusatzprotokoll zur EMRK. Dasselbe gilt für die Wahlen zur
Präsidentschaft des Landes. Dabei kann dahin gestellt bleiben, ob insoweit Art. 3 Zusatzprotokoll zur EMRK anwendbar ist, denn in jedem Fall liegt ein Verstoß gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 1 Prot. Nr. 12
zur EMRK vor: der Begriff der Diskriminierung nach dieser Vorschrift entspricht dem in Art. 14 EMRK. Diskriminierung aus Gründen der Rasse kann unter bestimmten Umständen eine erniedrigende Behandlung i. S. von Art. 3
EMRK (Verbot der Folter) sein. Das ist hier jedoch nicht der Fall. Stellt der Gerichtshof eine Verletzung der Konvention fest, kann er den beklagten Staat nach Art. 41 EMRK (Gerechte Entschädigung) verurteilen, dem
Beschwerdeführer u. a. die - notwendigen und angemessenen - Kosten und Auslagen für seine Vertretung vor dem Gerichtshof zu erstatten. Das gilt auch, wenn der Beschwerdeführer im Ausland ansässige Anwälte beauftragt hat,
obwohl ihn ortsansässige ebenso gut und kostengünstiger hätten vertreten können (EGMR, Urteil vom 22. 12. 2009 - 27996, 34836/06, NJOZ 2011, 428).
***
„... 1. Behauptete Verletzung der Artikel 2 und 3 der Konvention
Der Beschwerdeführer rügte nach den Artikeln 2 und 3 der Konvention, dass seine lebenslange Freiheitsstrafe nicht nach 15 Jahren Haft zur Bewährung ausgesetzt worden sei und stattdessen die fortdauernde Vollstreckung der Strafe
bis zur Verbüßung von 25 Jahren angeordnet worden sei. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass diese Rügen allein nach Artikel 3 der Konvention zu prüfen sind, der wie folgt lautet:
„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden."
Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass eine Misshandlung ein Mindestmaß an Schwere erreichen muss, um in den Anwendungsbereich von Artikel 3 zu fallen. Die Beurteilung dieses Mindestmaßes hängt von den gesamten
Umständen des Falls ab, u.a. von der Dauer der Behandlung, ihren körperlichen oder seelischen Folgen und zuweilen dem Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers (siehe Irland ./. Vereinigtes Königreich , 18. Januar
1978, Serie A Band 25, S. 65, Rdnr. 162).
Der Gerichtshof weist außerdem darauf hin, dass die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe gegen einen erwachsenen Straftäter nicht schon an sich nach Artikel 3 oder einem anderen Artikel der Konvention verboten oder
hiermit unvereinbar ist. Der Gerichtshof hat jedoch zugleich auch festgestellt, dass die Verhängung einer nicht reduzierbaren lebenslangen Freiheitsstrafe gegen einen Erwachsenen eine Frage nach Artikel 3 aufwerfen kann. Eine
Analyse der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu dieser Frage zeigt, dass es nach Artikel 3 genügt, wenn das innerstaatliche Recht die Möglichkeit der Überprüfung einer lebenslangen Freiheitsstrafe im Hinblick auf ihre Umwandlung,
Ermäßigung, Beendigung oder die bedingte Entlassung des Gefangenen vorsieht (siehe u.a. Kafkaris ./. Zypern [GK], Individualbeschwerde Nr. 21906/04, Urteil vom 12. Februar 2008, Rdnrn. 97, 98). Abschließend weist der
Gerichtshof darauf hin, dass die Staaten nach der Konvention verpflichtet sind, Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor Gewaltkriminalität zu treffen (siehe V. ./ . Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr.
24888/94, ECHR 1999-IX, Rdnr. 98).
Die vorliegende Rechtssache ähnelt der Entscheidung des Gerichtshofs im Fall S. ./. Deutschland (siehe S. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 40384/04, 10. Februar 2009). Wie in diesem Fall stellt der Gerichtshof
auch in der vorliegenden Rechtssache fest, dass die Schwere der Straftat bei der Entscheidung, die Strafe nicht zur Bewährung aussetzen, nur ein Aspekt war; weitere Gründe lagen in der Persönlichkeit des Beschwerdeführers und vor
allem der fortdauernden, von ihm ausgehenden Gefahr für die Allgemeinheit. Der Gerichtshof lässt gelten, dass ein Zeitraum von möglicherweise 25 Jahren im Strafvollzug eine sehr lange Freiheitsstrafe bedeutet, die bei dem
Beschwerdeführer Angst und Unsicherheit verursachen kann. Gleichwohl ist der Beschwerdeführer nicht aller Hoffnung auf Entlassung aus der Haft beraubt. Das innerstaatliche Recht sieht ausdrücklich ein System der bedingten
Entlassung vor, und es steht dem Beschwerdeführer frei, jederzeit erneut einen Antrag auf bedingte Entlassung aus der Haft zu stellen. In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof fest, dass die innerstaatlichen Gerichte sogar
ausdrücklich darauf hingewiesen haben, dass seine bedingte Entlassung möglich werden könnte, sobald das Alter des Beschwerdeführers die von ihm ausgehende Gefahr ausreichend verringere. Außerdem deutet nichts darauf hin,
dass die fortdauernde Freiheitsentziehung ihm tatsächlich erhebliches seelisches oder körperliches Leid verursacht. Der alleinige Hinweis auf sein Alter genügt insoweit nicht.
In Anbetracht dieser Erwägungen und unter Berücksichtigung der hohen Schwelle, die Artikel 3 der Konvention hier vorsieht, kann die Entscheidung, die lebenslange Freiheitsstrafe des Beschwerdeführers nicht zur Bewährung
auszusetzen, nicht als unmenschliche Behandlung im Sinne von Artikel 3 der Konvention bezeichnet werden.
Daraus folgt, dass dieser Teil der Individualbeschwerde nach Artikel 35 Abs. 3 und 4 der Konvention wegen offensichtlicher Unbegründetheit für unzulässig zu erklären ist. ..." (EGMR, Entscheidung vom 03.11.2009 - 26958/07)
***
Die Ausweisung durch einen Vertragsstaat kann eine Verletzung von Art. 3 MRK zur Folge haben und demzufolge eine Verpflichtung dieses Vertragsstaates gemäß der Konvention auslösen, sofern stichhaltige Gründe die Annahme
rechtfertigen, dass die betroffene Person - falls sie abgeschoben würde - einer realen Gefahr, entgegen Art. 3 MRK behandelt zu werden, ausgesetzt ist. In einem solchen Fall begründet Art. 3 die Verpflichtung, die Person nicht in
dieses Land abzuschieben. Die Beurteilung, ob stichhaltige Gründe vorliegen, welche die Annahme rechtfertigen, dass der Beschwerdeführer einer solchen realen Gefahr ausgesetzt ist, erfordert unausweichlich, dass der Gerichtshof
die Bedingungen im Aufnahmeland danach beurteilt, ob sie dem Art. 3 MRK widersprechen. Diese Standards lassen darauf schließen, ob die Misshandlungen, von denen der Beschwerdeführer behauptet, sie im Falle seiner Rückkehr
erleiden zu müssen, ein Mindestniveau an Schwere erreichen, damit sie in den Anwendungsbereich von Art. 3 fallen. Die Beurteilung dessen ist relativ, abhängig von allen Umständen des Falles. Wegen des absoluten Charakters des
von Art. 3 MRK garantierten Rechts ist die Existenz der Verpflichtung, nicht abzuschieben nicht davon abhängig, ob die Gefahr der Misshandlungen sich aus Faktoren ergibt, welche die Behörden des Aufnahmelandes direkt oder
indirekt zu vertreten haben. In Fällen, in denen der Beschwerdeführer behauptet, dass er oder sie Mitglied einer Gruppe ist, die systematisch Misshandlungen ausgesetzt ist, kommt der Schutz durch Art. 3 MRK der Konvention ins
Spiel, sofern der Antragsteller darlegt, dass es ernsthafte Gründe gibt, welche die Annahme rechtfertigen, dass auch er oder sie den an die Gruppe gerichteten Misshandlungen ausgesetzt ist. Die indirekte Ausweisung eines Ausländers
in ein "Vermittlungsland" den Vertragsstaat nicht von seiner Verpflichtung entbindet sicherzustellen, dass der Ausländer (ohne die Ausländerin), als Folge dieser Ausweisungsentscheidung, einer Behandlung ausgesetzt wäre, die dem
Art. 3 MRK widerspräche. Es ist nicht möglich, die Gefahr einer Misshandlung mit den für die Ausweisung sprechenden Gründen aufzuwiegen, um zu bestimmen, ob die Verpflichtung eines Staates nach Art. 3 MRK wirksam sei,
sogar wenn eine solche Misshandlung von einem anderen Staat zugefügt wird. Das Verhalten der betreffenden Person, obwohl unerwünscht oder gefährlich, kann nicht berücksichtigt werden. Gewährung von Abschiebungsschutz aus
der Türkei (hier: iranischer Flüchtling aus dem Irak; EGMR, Urteil vom 22.09.2009 - 30471/08 - juris).
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Es ist nicht erforderlich zu entscheiden, ob die Vermissten als Beschwerdeführer anzuerkennen sind, denn ihre Angehörigen können zweifellos Beschwerde wegen ihres Verschwindens erheben, soweit die in die Zuständigkeit des
Gerichtshofs fällt. Eine Regierung nimmt mit einer Staatenbeschwerde Einzelpersonen nicht die Möglichkeit, ihre eigenen Beschwerden einzureichen und zu verfolgen. Da die Türkei das Recht der Individualbeschwerde nur für
Tatsachen anerkannt hat, die nach dem 28.1.1987 eingetreten sind, ist der Gerichtshof nicht zuständig, die von den Beschwerdeführern gegen die Türkei erhobenen Beschwerden zu prüfen, soweit sich die behaupteten Verstöße gegen
die Konvention auf Tatsachen vor dem 28.1.1987 beziehen. Da die Beschwerden sich aber allein auf die Situation seit Januar 1987 beziehen, d.h. auf die andauernde Verletzung der Verpflichtung der Türkei, wirksame Ermittlungen
durchzuführen, kann der Gerichtshof sie prüfen. Die Verfahrenspflicht zu Ermittlungen hat ihren eigenen Anwendungsbereich: sie unterscheidet sich von der materiellen Verpflichtung nach Art. 2 MRK, wonach der Staat für jedes
rechtswidrige Töten oder lebensbedrohende Verschwinden eines Menschen verantwortlich ist, und kann unabhängig davon eine Rolle spielen. Die Sechsmonatsfrist des Art. 35 Abs. 1 MRK findet nicht ohne Weiteres bei andauernden
Verletzungen Anwendung. Dann beginnt die Frist nämlich an jedem Tag erneut, und erst wenn die zu Grunde liegende Verletzung beendet ist, beginnt tatsächlich die letzte Frist von sechs Monaten. Es ist unerlässlich, dass
Beschwerdeführer, die Angehörige des Vermissten sind und sich wegen mangelhafter oder fehlender Ermittlungen beschweren wollen, mit der Anrufung des Gerichtshofs nicht zu lange warten. Im Fall verschwundener Personen
dürfen Beschwerdeführer mit der Anrufung des Gerichtshofs nicht unbestimmt lange warten. Sie müssen zügig und entschlossen vorgehen und ihre Beschwerden ohne unangemessene Verzögerung erheben. Wenn Personen in einer
Zone unter ausschließlicher Kontrolle der Behörden des Staats verwundet oder tot aufgefunden wurden oder verschwunden sind und es Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Staat hier beteiligt ist, geht die Beweislast auf die Regierung
über, weil das fragliche Geschehen insgesamt oder größtenteils nur den Behörden bekannt ist. Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass eine andauernde Verletzung von Art. 2 MRK vorliegt, weil die Türkei keine wirksamen
Ermittlungen durchgeführt hat, um das Schicksal der neun Männer aufzuklären, die 1974 verschwunden sind. Wenn Menschen verschwinden, bedeutet das eine besondere Belastung für ihre Angehörigen, die in Ungewissheit über das
Schicksal derer gelassen werden, die ihnen nahe stehen, und dadurch in wachsender Angst leben. Das, was den Angehörigen damit geschieht, ist eine Art. 3 MRK zuwiderlaufende unmenschliche und erniedrigende Behandlung. Ein
beklagter Staat kann Mittel und Wege, seinen Verpflichtungen nach Art. 46 MRK nachzukommen, frei wählen, vorausgesetzt, sie sind mit den Schlussfolgerungen des Gerichtshofs in seinem Urteil vereinbar (EGMR, Urteil vom
18.09.2009 - 16064/90, 16064/90 ua - juris).
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Schon die Unterbringung eines Untersuchungsgefangenen in einer erheblich überbelegten Zelle in einem estnischen Arresthaus begründet einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK, weil dies als eine unmenschliche und erniedrigende
Behandlung zu qualifizieren ist. Im Falle der Verletzung von Art. 3 EMRK umfasst das Recht auf wirksame Beschwerde des Art. 13 EMRK auch die Möglichkeit des Betroffenen, Schadensersatz zu erhalten. Eine böse Absicht des
Gefängnispersonals kann nicht zur Voraussetzung für einen Anspruch auf immateriellen Schadensersatz gemacht werden (EGMR, Urteil vom 02.07.2009 - 41653/05 zu Art 3, 13 MRK).
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Art. 4 EMRK Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit
(1) Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden.
(2) Niemand darf gezwungen werden, Zwangs- oder Pflichtarbeit zu verrichten.
(3) Nicht als Zwangs- oder Pflichtarbeit im Sinne dieses Artikels gilt
a) eine Arbeit, die üblicherweise von einer Person verlangt wird, der unter den Voraussetzungen des Artikels 5 die Freiheit entzogen oder die bedingt entlassen worden ist;
b) eine Dienstleistung militärischer Art oder eine Dienstleistung, die an die Stelle des im Rahmen der Wehrpflicht zu leistenden Dienstes tritt, in Ländern, wo die Dienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkannt ist;
c) eine Dienstleistung, die verlangt wird, wenn Notstände oder Katastrophen das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen;
d) eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört.
Leitsätze/Entscheidungen:
Unter bestimmten Umständen kann es angemessen sein, eine Beschwerde ganz oder teilweise nach Art. 37 Abs. 1 EMRK auf der Grundlage einer einseitigen Erklärung durch den beklagten Staat im Register zu streichen. Bei dem
erhobenen Vorwurf des Menschenhandels ist eine Streichung nicht angemessen, da es nur wenig Rechtsprechung zur Auslegung und Anwendung von Art. 4 EMRK (Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit) auf Fälle von
Menschenhandel gibt. Art. 2 EMRK verpflichtet Konventionsstaaten nicht, in ihrem Strafrecht eine weltweite Zuständigkeit ihrer Gerichte für Fälle vorzusehen, die den Tod eines ihrer Staatsangehörigen betreffen. Menschenhandel ist
eine Bedrohung für Menschenwürde und Grundfreiheiten seiner Opfer und mit der demokratischen Gesellschaft und den Grundwerten der Konvention unvereinbar. Es ist nicht erforderlich, zu unterscheiden, ob es sich bei
Menschenhandel um "Sklaverei", "Leibeigenschaft" oder "Zwangsarbeit" handelt. Er fällt jedenfalls in den Anwendungsbereich von Art. 4 EMRK. Wenn Behörden von Umständen wussten oder hätten wissen müssen, die den
Verdacht begründen, dass eine bestimmte Person in unmittelbarer Gefahr war oder ist, Opfer von Menschenhandel oder sexueller Ausbeutung zu sein, so ist Art. 4 EMRK verletzt, wenn die Behörden es versäumen, ihnen mögliche
angemessene Maßnahmen zu treffen, um die Person aus dieser Lage und dieser Gefahr zu befreien. Wie aus Art. 2 und 3 EMRK ergibt sich auch aus Art. 4 EMRK die verfahrensrechtliche Pflicht der Konventionsstaaten, Tatumstände
möglichen Menschenhandels zu ermitteln und bei der Strafverfolgung mit den zuständigen Behörden anderer beteiligter Staaten zusammenzuarbeiten.(EGMR, Urteil vom 07.01.2010 - 25965/04 zu Art 2, 3, 4, 5, 35, 37, 41 - juris).
***
Art. 5 EMRK Recht auf Freiheit und Sicherheit
(1) Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:
a) rechtmäßige Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht;
b) rechtmäßige Festnahme oder Freiheitsentziehung wegen Nichtbefolgung einer rechtmäßigen gerichtlichen Anordnung oder zur Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung;
c) rechtmäßige Festnahme oder Freiheitsentziehung zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde, wenn hinreichender Verdacht besteht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat, oder wenn begründeter Anlass zu
der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat oder an der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern;
d) rechtmäßige Freiheitsentziehung bei Minderjährigen zum Zweck überwachter Erziehung oder zur Vorführung vor die zuständige Behörde;
e) rechtmäßige Freiheitsentziehung mit dem Ziel, eine Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern, sowie bei psychisch Kranken, Alkohol- oder Rauschgiftsüchtigen und Landstreichern;
f) rechtmäßige Festnahme oder Freiheitsentziehung zur Verhinderung der unerlaubten Einreise sowie bei Personen, gegen die ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange ist.
(2) Jeder festgenommenen Person muss innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache mitgeteilt werden, welches die Gründe für ihre Festnahme sind und welche Beschuldigungen gegen sie erhoben werden.
(3) Jede Person, die nach Absatz 1 Buchstabe c von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, muss unverzüglich einem Richter oder einer anderen gesetzlich zur Wahrnehmung richterlicher Aufgaben ermächtigten Person
vorgeführt werden; sie hat Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist oder auf Entlassung während des Verfahrens. Die Entlassung kann von der Leistung einer Sicherheit für das Erscheinen vor Gericht abhängig gemacht werden.
(4) Jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, hat das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet,
wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist.
(5) Jede Person, die unter Verletzung dieses Artikels von Festnahme oder Freiheitsentziehung betroffen ist, hat Anspruch auf Schadensersatz.
Leitsätze/Entscheidungen:
Gewahrsamsorgien beim Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der G8-Staaten (EGMR, Urteil vom 01.12.2011 - 8080/08, 8577/08 - juris):
„... VERFAHREN
1. Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 8080/08 und 8577/08) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die zwei deutsche Staatsangehörige, S. („der erste Beschwerdeführer") und G. („der zweite
Beschwerdeführer"), am 8. bzw. 11. Februar 2008 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention") beim Gerichtshof eingereicht hatten. Der Kammerpräsident gab dem Antrag
des zweiten Beschwerdeführers vom 7. Juli 2010, seine Identität nicht offen zu legen, am 23. August 2010 statt (Artikel 47 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs).
2. Der erste Beschwerdeführer wurde vor dem Gerichtshof zunächst von Frau U., Rechtsanwältin in Hamburg, und anschließend von Frau L., Rechtsanwältin in Berlin, vertreten. Der zweite Beschwerdeführer wurde vor dem
Gerichtshof auch von Frau L. vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung") wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigte, Frau Ministerialdirigentin A. Wittling-Vogel vom Bundesministerium der Justiz, und den ständigen
Vertreter ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Herrn Ministerialrat H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.
3. Die Beschwerdeführer brachten insbesondere vor, ihre Präventivhaft während eines G8-Gipfels, durch die sie daran gehindert worden seien, an Demonstrationen teilzunehmen, habe gegen Artikel 5 Abs. 1 sowie Artikel 10 und 11
der Konvention verstoßen.
4. Am 30. November 2009 entschied der Präsident der Fünften Sektion, die Regierung von der Beschwerde in Kenntnis zu setzen. Es wurde auch beschlossen, über die Zulässigkeit und die Begründetheit der Beschwerden gleichzeitig
zu entscheiden (Artikel 29 Abs. 1).
SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE
5. Die Beschwerdeführer wurden beide 19.. geboren und sind in B. bzw. X. wohnhaft.
A. Hintergrund der Rechtssache
1. Die Einschätzung der Sicherheitslage durch die Behörden und die Sicherheitsmaßnahmen während des G8-Gipfels
6. Vom 6. bis 8. Juni 2007 fand in Heiligendamm in der Nähe von Rostock ein Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der G8-Staaten statt.
7. Nach Auffassung der Polizei bestand während des Gipfels die Gefahr terroristischer Anschläge, insbesondere durch islamistische Gruppen. Darüber hinaus ging die Polizei unter Berücksichtigung der bei früheren G8-Gipfeln
gewonnenen Erfahrungen von einer Gefahr objektbezogener Anschläge durch militante Linksextreme aus. Diese hätten geplant, gegen den Gipfel zu protestieren, ihn zu blockieren und zu sabotieren.
8. Die Polizei nahm an, dass etwa 25.000 Personen, von denen 2.500 gewaltbereit seien, an einer internationalen Demonstration am 2. Juni 2007 in Rostock teilnehmen würden, und dass während des Gipfels etwa 15.000
Demonstranten anwesend sein würden, von denen 1.500 gewaltbereit seien.
9. Am 2. Juni 2007 kam es im Stadtzentrum von Rostock zu schweren Ausschreitungen, an denen gut organisierte gewalttätige Demonstranten, die einem sogenannten „schwarzen Block" zuzurechnen waren, beteiligt waren; diese
griffen die Polizei mit Steinen und Baseballschlägern an. 400 Polizisten wurden verletzt.
10. Nach einer Presseveröffentlichung des Innenministeriums von Mecklenburg-Vorpommern vom 28. Juni 2007 waren 17.000 Polizisten im Einsatz, um den störungsfreien Ablauf des G8-Gipfels sicherzustellen und die
Gipfelteilnehmer vor Anschlägen durch Terroristen oder gewaltbereite Globalisierungsgegner zu schützen. Während des Gipfels seien 1.112 Freiheitsentziehungen in Gefangenensammelstellen erfasst worden. In 628 Fällen sei bei
Gericht die Bestätigung des Gewahrsams beantragt worden; in 113 Fällen sei diese Bestätigung erfolgt.
2. Die Festnahme der Beschwerdeführer
11. Im Juni 2007 fuhren die Beschwerdeführer nach Rostock, um an den Demonstrationen gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm teilzunehmen.
12. Am 3. Juni 2007 gegen 22.15 Uhr wurde die Identität der Beschwerdeführer auf einem Parkplatz vor der Justizvollzugsanstalt Waldeck von der Polizei überprüft; dort standen sie mit sieben anderen Personen neben einem
Transporter. Auf dem Parkplatz befanden sich keine weiteren Personen. Die Polizei brachte vor, dass der erste Beschwerdeführer Widerstand gegen die Identitätsfeststellung geleistet habe. Er habe einem Polizeibeamten, der versucht
habe, die Identität des zweiten Beschwerdeführers festzustellen, auf die Arme geschlagen. Er habe auch einem anderen Polizeibeamten gegen das Schienbein getreten, um die eigene Identitätsfeststellung zu verhindern. Die
Beschwerdeführer brachten vor, der zweite Beschwerdeführer sei von der Polizei geschlagen worden, obwohl er seinen Personalausweis vorzeigebereit in der Hand gehalten habe. Die Polizei durchsuchte das Fahrzeug und fand
eingerollte Transparente mit den Aufschriften „freedom for all prisoners" sowie „free all now". Die Beschwerdeführer wurden festgenommen. Die Transparente wurden anscheinend beschlagnahmt.
B. Das in Rede stehende Verfahren
1. Das Verfahren vor dem Amtsgericht
13. Mit zwei gesonderten Beschlüssen, die am 4. Juni 2007 um 4.20 bzw. 4.00 Uhr ergingen, ordnete das Amtsgericht Rostock nach persönlicher Vernehmung der beiden Beschwerdeführer deren amtlichen Gewahrsam bis längstens 9.
Juni 2007, 12.00 Uhr, an.
14. Gestützt auf §§ 55 Abs. 1 Nr. 2a und 56 Abs. 5 des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Mecklenburg-Vorpommern - SOG M-V - (siehe Rdnrn. 37-38) befand das Amtsgericht, dass die Ingewahrsamnahme der
Beschwerdeführer rechtmäßig gewesen sei, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat zu verhindern. Da die Beschwerdeführer vor der Justizvollzugsanstalt Waldeck in einem Transporter aufgegriffen
worden seien, in dem Gegenstände entdeckt worden seien, mit denen zur Gefangenbefreiung aufgerufen worden sei, sei anzunehmen gewesen, dass sie eine Straftat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen würden.
15. Das Amtsgericht befand ferner, dass die Fortdauer der Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführer unerlässlich und verhältnismäßig sei. In der Anhörung hätten die beiden Beschwerdeführer den Eindruck vermittelt, dass sie
beabsichtigten hätten, die Straftat fortzusetzen. Da sie keine Angaben zur Sache gemacht hätten, hätten sie ihr Verhalten auch nicht rechtfertigen können.
2. Das Verfahren vor dem Landgericht
16. Am 4. Juni 2007 wies das Landgericht Rostock die sofortigen Beschwerden des ersten und zweiten Beschwerdeführers mit zwei gesonderten Beschlüssen zurück.
17. Das Landgericht bestätigte die Feststellung des Amtsgerichts, die Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführer sei nach § 55 Abs. 1 Nr. 2a SOG M-V rechtmäßig gewesen. Indem die Beschwerdeführer im unmittelbaren Umfeld der
JVA Waldeck nachweislich Transparente mit einer imperativen Aufschrift („free" - „befreien") mit sich geführt hätten, hätten sie zur Gefangenenbefreiung, die eine Straftat darstelle, auffordern wollen. Darüber hinaus habe der erste
Beschwerdeführer dem Akteninhalt zufolge gegen Vollstreckungsbeamte Widerstand geleistet. Dem zweiten Beschwerdeführer sei seinerseits 2002 im Zusammenhang mit einem „Castor1-Transport" ein gefährlicher Eingriff in den
Bahnverkehr zur Last gelegt worden. Das Landgericht schloss sich überdies der Begründung des Amtsgerichts an, wonach die Fortdauer der Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführer unerlässlich und angemessen sei.
3. Das Verfahren vor dem Oberlandesgericht
18. Am 7. Juni 2007 wies das Oberlandesgericht Rostock die von den Beschwerdeführern anschließend erhobenen sofortigen weiteren Beschwerden zurück. In ihren Beschwerden hatten die anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer
vorgebracht, dass die Transparente sich an die Polizei und die Behörden gerichtet hätten, die dadurch aufgefordert werden sollten, die zahlreichen Festnahmen und Ingewahrsamnahmen von Demonstranten zu beenden. Die
Transparente hätten nicht darauf abgezielt, andere dazu aufzufordern, Gefängnisse zu stürmen und Gefangene gewaltsam zu befreien. Eine solche Auslegung müsse als lebensfremd angesehen werden, denn gewalttätige
Gefangenenbefreiungen aus Gefängnissen habe es in den letzten Jahrzehnten in Deutschland nicht gegeben.
19. Das Oberlandesgericht bestätigte die Feststellung der Vorinstanzen, dass die Voraussetzungen des § 55 Abs. 1 Nr. 2a SOG M-V gegeben seien. Die Festnahme und Fortdauer der Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführer sei zur
Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung unerlässlich gewesen. Das Transparent „free all now" könne zusammen mit dem Transparent „freedom for all prisoners" so gedeutet werden, dass zur
Gefangenenbefreiung, die nach § 120 StGB (siehe Rdnr. 41) einen Straftatbestand erfülle, aufgerufen werde. Für die Polizei habe der begründete Verdacht bestanden, dass die Beschwerdeführer sich nach Rostock begeben und die
Transparente bei den dort stattfindenden, teilweise gewalttätigen Demonstrationen zeigen würden. Damit hätte eine gewaltbereite Menge dazu bewogen werden können, in Gewahrsam genommene Personen zu befreien.
20. In Bezug auf den zweiten Beschwerdeführer seien die Voraussetzungen des §§ 55 Abs. 1 Nr. 2c SOG M-V (siehe Rdnr. 37) ebenfalls erfüllt gewesen. Der zweite Beschwerdeführer sei 2002 unter vergleichbaren Umständen wegen
Verdachts des gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr im Zusammenhang mit dem Transport von Castor-Behältern festgenommen worden. Ob er anschließend verurteilt worden sei, sei unerheblich.
21. Die Beschwerdeführer seien den Schlussfolgerungen der Gerichte nicht entgegengetreten und hätten sich nicht zur Sache eingelassen. Die Polizei habe die am 2. und 3. Juni 2007 in Rostock bestehende allgemeine Gefahrenlage
berücksichtigen müssen. An diesen Tagen sei es in der Innenstadt zu äußerst gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Demonstranten und der Polizei gekommen. Darüber hinaus hätten die Beschwerdeführer sich durch
Angriffe gegen Polizeibeamte selbst gewaltbereit gezeigt.
22. Das Oberlandesgericht war ferner der Auffassung, dass das Grundrecht der Beschwerdeführer auf freie Meinungsäußerung keine andere Schlussfolgerung rechtfertige. Es räumte ein, dass die Losungen auf den Transparenten
mehrdeutig seien. Jedoch habe die Polizei in der in und um Rostock bestehenden angespannten Situation missverständliche Meinungskundgebungen, die zu einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hätten führen
können, unterbinden dürfen.
23. Darüber hinaus sei die Dauer der Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer verhältnismäßig gewesen. Aus einem Bericht der Rostocker Polizei vom 6. Juni 2007 gehe hervor, dass sechs- bis zehntausend Globalisierungsgegner
mit zum Teil hoher Gewaltbereitschaft sich in Richtung Heiligendamm bewegt und zur „Stürmung des Dammes" aufgerufen hätten. Es habe nicht ausgeschlossen werden können, dass sich die Beschwerdeführer mit den Transparenten
an diesen Demonstrationen beteiligen und damit andere Teilnehmer zur Gefangenenbefreiung aufstacheln würden.
4. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht
24. Am 6. Juni 2007 erhoben die beiden Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht und beantragten den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel ihrer sofortigen Freilassung.
25. Die Beschwerdeführer rügten, dass ihre Ingewahrsamnahme insbesondere ihr Recht auf Freiheit und ihr Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt habe. Der zweite Beschwerdeführer machte ferner geltend, dass seine
Ingewahrsamnahme gegen sein Recht auf Versammlungsfreiheit verstoßen habe. Die beiden Beschwerdeführer trugen vor, dass die Wertung, die Transparentaufschriften riefen andere Demonstranten auf, die Gefängnisse zu stürmen
und die Gefangenen zu befreien, lebensfremd sei. Die Transparente hätten sich an die Polizei, die bereits viele Globalisierungsgegner festgenommen gehabt habe, an die Teilnehmer des G8-Gipfels und an die Allgemeinheit gerichtet
und nicht zu gewalttätigen Handlungen aufgefordert. Die Beschwerdeführer hoben überdies hervor, dass sie nicht vorbestraft seien. Der zweite Beschwerdeführer trug insbesondere vor, dass das gegen ihn wegen gefährlichen Eingriffs
in den Bahnverkehr eingeleitete Ermittlungsverfahren eingestellt worden sei.
26. Diese Beschwerden wurden anfangs unter dem Aktenzeichen 2 BvR 1195/07 bzw. 2 BvR 1196/07 geführt. Am 8. Juni 2007 teilte der Bericht erstattende Richter des Bundesverfassungsgerichts den Bevollmächtigten der
Beschwerdeführer telefonisch mit, dass das Bundesverfassungsgericht keine Entscheidung über den Antrag der Beschwerdeführer auf Erlass einer einstweiligen Anordnung treffen werde.
27. Die Beschwerdeführer wurden am 9. Juni 2007 um 12.00 Uhr aus dem Gewahrsam entlassen.
28. Die Verfassungsbeschwerden der Beschwerdeführer vom 6. Juni 2007 wurden nach ihrer Freilassung als erledigt betrachtet.
29. Obwohl sie mittlerweile freigelassen worden waren, beantragten die Beschwerdeführer am 6. Juli 2007 beim Bundesverfassungsgericht die Feststellung, dass ihre Ingewahrsamnahme verfassungswidrig gewesen sei. Daraufhin
wurden ihre Verfassungsbeschwerden neu registriert (2 BvR 1521/07 bzw. 2 BvR 1520/07).
30. Am 6. August 2007 lehnte es das Bundesverfassungsgericht mit zwei gesonderten Beschlüssen ohne Begründung ab, die Verfassungsbeschwerden des ersten und zweiten Beschwerdeführers zur Entscheidung
anzunehmen (Az.: 2 BvR 1521/07 bzw. 2 BvR 1520/07).
31. Die Entscheidung wurde der Bevollmächtigten des ersten Beschwerdeführers am 14. August 2007 und der Bevollmächtigten des zweiten Beschwerdeführers am 13. August 2007 zugestellt.
C. Weitere Entwicklungen
32. Das gegen den ersten Beschwerdeführer wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte bei der Feststellung seiner Personalien am 3. Juni 2007 eingeleitete Strafverfahren wurde gegen Zahlung eines Betrags von 200 Euro
eingestellt. Das wegen derselben Straftat gegen den zweiten Beschwerdeführer eingeleitete Strafverfahren wurde wegen Geringfügigkeit eingestellt.
33. Die Beschwerdeführer brachten vor, einer der an ihrer Ingewahrsamnahme beteiligten Polizeibeamten sei später in einer anderen Angelegenheit der Körperverletzung im Amt schuldig befunden worden. Das Verfahren sei in der
Berufungsinstanz noch anhängig. Die Regierung hat zu diesem Punkt nicht Stellung genommen.
34. Ein Strafverfahren wegen Aufforderung zur Gefangenenbefreiung wurde gegen die Beschwerdeführer nicht eingeleitet.
35. Am 20. Dezember 2007 verwarf das Oberlandesgericht Rostock die Anhörungsrügen der Beschwerdeführer.
36. Am 1. bzw. 3. Mai 2008 beschloss das BVG, die erneuten Verfassungsbeschwerden des ersten (2 BvR 538/08) und des zweiten Beschwerdeführers (2 BvR 164/08) nicht zur Entscheidung anzunehmen. In ihren Beschwerden
hatten sich die Beschwerdeführer insbesondere auf ihr Recht auf Freiheit, freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit berufen.
II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT
A. Das Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Mecklenburg-Vorpommern („das SOG M-V")
37. § 55 Absatz 1 SOG M-V, soweit maßgeblich, lautet:
„Eine Person kann nur in Gewahrsam genommen werden, wenn dies
1. ... ;
2. unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat zu verhindern; die Annahme, dass eine Person eine solche Tat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen wird, kann sich insbesondere
darauf stützen, dass
a) sie die Begehung der Tat ankündigt oder dazu aufgefordert hat oder Transparente oder sonstige Gegenstände mit einer solchen Aufforderung sich führt;
...
c) sie bereits in der Vergangenheit aus vergleichbarem Anlass bei der Begehung von Straftaten […] angetroffen worden ist und Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass eine Wiederholung dieser Verhaltensweise zu erwarten ist […]"
38. Nach § 56 Abs. 5 SOG M-V hat die Polizei, wenn sie eine Person in Gewahrsam nimmt, unverzüglich eine richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer des Gewahrsams herbeizuführen. In der richterlichen
Entscheidung ist die höchstzulässige Dauer des Gewahrsams zu bestimmen; sie darf in den Fällen des § 55 Abs. 1 Nr. 2 zehn Tage nicht überschreiten. Für die Entscheidung ist das Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk die Person
in Gewahrsam genommen worden ist.
39. Nach § 52 SOG M-V können die Behörden zur Abwehr einer konkreten Gefahr eine Person von einem Ort verweisen oder ihr vorübergehend das Betreten eines Ortes verbieten (Platzverweisung). Rechtfertigen Tatsachen die
Annahme, dass diese Person in einem bestimmten örtlichen Bereich eine Straftat begehen wird, so kann ihr bis zu einer Dauer von zehn Wochen untersagt werden, diesen Bereich zu betreten.
40. Nach § 61 Abs. 1 SOG M-V kann eine Sache nur sichergestellt werden, um eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren (Nr. 1) oder wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme
rechtfertigen, dass sie zur Begehung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit verwendet werden soll (Nr. 4).
B. Das Strafgesetzbuch (StGB)
41. Nach § 120 Abs. 1 StGB wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer einen Gefangenen befreit, ihn zum Entweichen verleitet oder dabei fördert. Nach § 120 Abs. 3 ist der Versuch strafbar.
C. Die Strafprozessordnung
42. §§ 112 ff. StPO behandeln die Untersuchungshaft. Nach § 112 Abs. 1 StPO darf die Untersuchungshaft gegen einen Beschuldigten angeordnet werden, wenn er der Tat dringend verdächtig ist und ein Haftgrund besteht. Sie darf
nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung außer Verhältnis steht.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. VERBINDUNG DER BESCHWERDEN
43. Da sich die beiden in Rede stehenden Individualbeschwerden auf zwei Verfahren beziehen, die denselben Gegenstand hatten, nämlich die Präventivhaft der Beschwerdeführer während des G8-Gipfels 2007 in Heiligendamm,
beschließt der Gerichtshof, die Individualbeschwerden zu verbinden (Artikel 42 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs).
II. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 5 ABSATZ 1 DER KONVENTION
44. Die Beschwerdeführer rügten, dass ihre Präventivhaft während des G8-Gipfels Artikel 5 Abs. 1 der Konvention verletzt habe, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:
„Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:
a) rechtmäßige Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht;
b) rechtmäßige Festnahme oder Freiheitsentziehung wegen Nichtbefolgung einer rechtmäßigen gerichtlichen Anordnung oder zur Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung;
c) rechtmäßige Festnahme oder Freiheitsentziehung zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde, wenn hinreichender Verdacht besteht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat, oder wenn begründeter Anlass zu
der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat oder an der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern; ..."
45. Die Regierung bestritt dieses Vorbringen.
A. Zulässigkeit
46. Die Regierung war der Auffassung, dass die Beschwerdeführer die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht dem Erfordernis aus Artikel 35 Abs. 1 der Konvention entsprechend erschöpft hätten. Sie hätten vor Erhebung der
Individualbeschwerden keine Klage auf Entschädigung für ihre angeblich unrechtmäßige Freiheitsentziehung nach Artikel 5 Abs. 5 der Konvention erhoben. Die Regierung räumte ein, dass die Beschwerdeführer hinsichtlich ihrer
Ingewahrsamnahme von allen verfügbaren Rechtsmitteln Gebrauch gemacht hätten. Ihr primäres Ziel - die Freilassung aus dem Gewahrsam - hätte sich nach ihrer Entlassung am 9. Juni 2007 erledigt. Danach hätten sie nur noch eine
Ersatzleistung durch den Staat erlangen können.
47. Die Beschwerdeführer bestritten diese Auffassung. Sie hätten sowohl in dem Verfahren über die Rechtmäßigkeit ihrer Ingewahrsamnahme vor den Rostocker Gerichten als auch gegenüber dem Bundesverfassungsgericht
vorgebracht, dass ihre Ingewahrsamnahme gegen ihre Grundrechte verstoßen habe. Ein zivilgerichtliches Entschädigungsverfahren wäre nicht umfassend genug gewesen und es wäre auch kein wirksames Rechtsmittel gewesen, um
eine zügige Entscheidung über die Rechtmäßigkeit ihrer Ingewahrsamnahme zu erwirken und im Falle der Unrechtmäßigkeit dieser Freiheitsentziehung ihre Freilassung durchzusetzen. Darüber hinaus hätte eine
Entschädigungsforderung keine Erfolgsaussichten gehabt, nachdem die Ingewahrsamnahme von den Rostocker Gerichten in dem in Rede stehenden Verfahren für rechtmäßig erachtet worden sei. Es sei kein einziger Fall bekannt, in
dem die Zivilgerichte in einem Entschädigungsverfahren einer früheren Entscheidung der Gerichte über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung einer Person nicht gefolgt wären. Unter diesen Umständen seien die
Beschwerdeführer nicht verpflichtet gewesen, zusätzlich zu dem Verfahren, mit dem sie die Rechtmäßigkeit ihrer Ingewahrsamnahme angefochten hätten, von einem weiteren Rechtsbehelf Gebrauch zu machen.
48. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Regel der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs nach Artikel 35 Abs. 1 der Konvention die Beschwerdeführer verpflichtet, zunächst von den ihnen nach ihrer
innerstaatlichen Rechtsordnung normalerweise zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfen Gebrauch zu machen, die solcher Art sind, dass den behaupteten Verletzungen abgeholfen werden kann (siehe u. a. Akdivar u . a. ./. Türkei, 16.
September 1996, Rdnr. 66, Urteils- und Entscheidungssammlung 1996-IV; und Aksoy ./. Türkei, 18. Dezember 1996, Rdnr. 62, Sammlung 1996-VI).
49. Nach der ständigen Rechtsprechung der Konventionsorgane ist eine Entschädigungsklage in einem Fall, in dem es um die Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung geht, kein Rechtsbehelf, der erschöpft werden müsste, denn das
Recht auf gerichtliche Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung und das Recht auf Erhalt einer Entschädigung für eine mit Artikel 5 nicht vereinbare Freiheitsentziehung sind zwei getrennte Rechte (siehe u. a. W?och v.
Poland, Individualbeschwerde Nr. 27785/95, Rdnr. 90, ECHR 2000-XI; Belchev ./. Bulgarien (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 39270/98, 6. Februar 2003; und Khadisov und Tsechoyev ./. Russland, Individualbeschwerde Nr.
21519/02, Rdnr. 151, 5. Februar 2009, mit weiteren Verweisen). In Artikel 5 Abs. 1 der Konvention geht es um das erstgenannte, und in Artikel 5 Abs. 5 um das letztgenannte Recht (Khadisov und Tsechoyev, a.a.O. Rndr. 151).
50. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerdeführer vor dem Gerichtshof gerügt haben, dass ihre Präventivhaft während des G8-Gipfels Artikel 5 Abs. 1 verletzt habe, und dass sie die Rechtmäßigkeit der Anordnung der
Ingewahrsamnahme zuvor vor allen zuständigen innerstaatlichen Gerichten gerügt hatten. Nach seiner Rechtsprechung haben sie im Hinblick auf ihre Rüge nach Artikel 5 Abs. 1 den innerstaatlichen Rechtsweg daher erschöpft. Die
Einrede der Regierung wegen Nichterschöpfung des Rechtswegs ist daher zurückzuweisen.
51. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass diese Beschwerde nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für
zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
a) Die Beschwerdeführer
52. Die Beschwerdeführer brachten vor, dass ihre Freiheitsentziehung im Zeitraum vom 3. bis 9. Juni 2007 gegen Artikel 5 Abs. 1 der Konvention verstoßen habe. Sie sei nach keinem der Buchstaben dieser Bestimmung gerechtfertigt gewesen.
53. Die Beschwerdeführer brachten insbesondere vor, dass ihre Freiheitsentziehung nicht nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c gerechtfertigt gewesen sei, weil dieser eine rein präventive Freiheitsentziehung nicht zulasse. Ihre
Freiheitsentziehung sei nicht im Zusammenhang mit einem Strafverfahren erfolgt, wie dies gemäß der Auslegung dieser Bestimmung in der Rechtsprechung des Gerichtshofs erforderlich sei (sie bezogen sich u. a. auf Jec(ius ./.
Litauen, Individualbeschwerde Nr. 34578/97, Rdnr. 50, ECHR 2000-IX). Dies werde dadurch belegt, dass ihre Freiheitsentziehung sich nicht auf § 112 StPO gestützt habe, der die Untersuchungshaft betreffe (siehe Rdnr. 42).
Vielmehr hätten die Gerichte ihre Freiheitsentziehung auf §§ 55 und 56 SOG M-V gestützt; diese regelten die Präventivhaft, die nicht mit einem Strafverfahren in Verbindung stehe.
54. Darüber hinaus brachten die Beschwerdeführer vor, ihre Freiheitsentziehung habe nicht darauf abgezielt, sie unverzüglich einem Richter vorzuführen und wegen potentieller künftiger Straftaten vor Gericht zu stellen, wie dies nach
Artikel 5 Abs. 3 i. V. m. Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c erforderlich sei. Auch habe nicht gemäß der zweiten Alternative von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c begründeter Anlass zu der Annahme bestanden, dass die Freiheitsentziehung
notwendig sei, um sie an der Begehung einer Straftat zu hindern. Ihre potentiellen Straftaten seien nicht, wie nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs erforderlich, mit einem angemessenen Maß an Spezifität insbesondere
hinsichtlich des Ortes und der Zeit ihrer Begehung und ihrer Opfer beschrieben worden (sie beriefen sich u. a. auf M. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 19359/04, Rdnr. 102, 17. Dezember 2009).
55. Die Beschwerdeführer brachten ferner vor, dass ihre Freiheitsentziehung auch nicht nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe b gerechtfertigt gewesen sei. Es habe keine gerichtliche Anordnung gegeben, die die Beschwerdeführer nicht
erfüllt hätten. Sie hätten auch keiner Verpflichtung unterlegen, die sie nicht erfüllt hätten. Selbst wenn sie die in dem Lieferwagen beschlagnahmten Transparente gezeigt hätten, hätten sie keine Straftat begangen.
56. Nach dem Vorbringen der Beschwerdeführer erfüllte ihre Freiheitsentziehung mangels „Verurteilung" auch nicht die Anforderungen von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a.
57. Darüber hinaus sei ihre Freiheitsentziehung nicht „rechtmäßig" gewesen, wie nach Artikel 5 Abs. 1 erforderlich. § 55 Abs. 1 SOG M-V, auf den ihre Freiheitsentziehung gestützt worden sei, sei nicht so konkret gewesen, dass sie
hätten vorhersehen können, dass sie wegen ihres Verhaltens mit einer Freiheitsentziehung zu rechnen hätten. Darüber hinaus sei die Bestimmung nicht korrekt angewandt worden. Es habe nichts darauf hingedeutet, dass die
Beschwerdeführer im Begriff gewesen seien, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort eine bestimmte Straftat zu begehen. Selbst wenn man, obwohl die Beschwerdeführer selbst von den Polizisten geschlagen worden seien,
annehme, dass der erste Beschwerde einem Polizeibeamten auf den Arm geschlagen und ihm ans Schienbein getreten habe, rechtfertige dies nicht die Schlussfolgerung, dass beide Beschwerdeführer dabei gewesen seien, eine weitere,
ganz andere Straftat, nämlich die gewaltsame Befreiung von Gefangenen, zu begehen. Aber selbst wenn die Beschwerdeführer die Transparente gezeigt hätten, wäre dies in jedem Fall nicht unrechtmäßig gewesen. Die Aufschriften
hätten nicht dazu aufgefordert, Gewalttaten zu begehen oder jemandem zu schaden. In diesem Zusammenhang betonten die Beschwerdeführer, ihre Rechtsanwältinnen hätten die verschiedenen möglichen Bedeutungen der Losungen
auf den Transparenten sowohl in der Anhörung vor dem Landgericht als auch in der Begründung ihrer sofortigen weiteren Beschwerde erläutert.
58. Darüber hinaus sei die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer auch nicht unerlässlich gewesen, um eine unmittelbar bevorstehende gewaltsame Gefangenenbefreiung oder einen Aufruf zur Gefangenenbefreiung zu verhindern.
Es habe nichts darauf hingedeutet, dass die Beschwerdeführer, die keine Werkzeuge bei sich gehabt hätten, die zur Befreiung von Gefangenen hätten dienen können, im Begriff gewesen seien, die Justizvollzugsanstalt Waldeck, eine
Hochsicherungseinrichtung, anzugreifen. Auf dem Parkplatz habe es keine Menschenmenge gegeben, die man hätte dazu anstiften können, gewaltsam Gefangene dieser Justizvollzugsanstalt zu befreien. Die Annahme, die
Beschwerdeführer könnten die Transparente bei einer nicht näher bestimmten Demonstration verwenden, an der eventuell gewaltbereite Personen teilnähmen, reiche für die nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 SOG M-V erforderliche
Schlussfolgerung, die Begehung einer Straftat stehe unmittelbar bevor, nicht aus. Die Beschwerdeführer brachten weiter vor, dass entgegen dem Vorbringen der Regierung keines der innerstaatlichen Gerichte die Ansicht geäußert
habe, die Beschwerdeführer selbst hätten beabsichtigt, gewaltsam Gefangene zu befreien. Die Gerichte hätten nur vorgebracht, es gebe Grund zu der Annahme, die Beschwerdeführer hätten beabsichtigt, andere dazu anzustiften.
59. Die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer sei auch willkürlich gewesen, denn sie sei zur Erreichung des verfolgten Ziels nicht notwendig gewesen. Die Polizei hätte den Beschwerdeführern einfach nach § 52 SOG M-V
verbieten können, das Gebiet zu betreten, in dem die G8-Demonstrationen stattgefunden hätten (siehe Rdnr. 39). Alternativ hätten sie auch nach § 61 SOG M-V die Transparente beschlagnahmen können (siehe Rdnr. 40). Den
Beschwerdeführern wäre dann bewusst gewesen, dass die Polizei die Losungen für unrechtmäßig halte. In Anbetracht der abschreckenden Wirkung einer solchen polizeilichen Maßnahme hätte entgegen dem Vorbringen der Regierung
nicht davon ausgegangen werden dürfen, dass die Beschwerdeführer ähnliche Transparente neu hergestellt und benutzt hätten. Da es während der gesamten Woche des G8-Gipfels zu keinen weiteren gewalttätigen Demonstrationen
gekommen sei, sei die sechstägige Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer unverhältnismäßig gewesen. Sie wiesen in diesem Zusammenhang weiter darauf hin, dass die sieben Weißrussen, die sich ebenfalls in dem Transporter
befunden hätten, als die Beschwerdeführer festgenommen worden seien, und denen die Transparente ebenfalls hätten gehören können, nicht in Gewahrsam genommen worden seien.
b) Die Regierung
60. Die Regierung vertrat die Auffassung, dass die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer mit Artikel 5 Abs. 1 der Konvention vereinbar gewesen sei. Sie sei nach der zweiten Alternative von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c als
Freiheitsentziehung wegen begründeten Anlasses zu der Annahme, dass es notwendig sei, die Beschwerdeführer an der Begehung einer Straftat zu hindern, gerechtfertigt gewesen.
61. Die Regierung widersprach dem Vorbringen der Beschwerdeführer, die Präventivhaft sei nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c der Konvention nur im Zusammenhang mit einem Strafverfahren zulässig, ihre Freiheitsentziehung sei
jedoch außerhalb eines Strafverfahrens erfolgt und die bis dahin begangenen Handlungen zur Vorbereitung der gewaltsamen Gefangenenbefreiung oder des Aufrufs dazu seien straffrei gewesen. Die Regierung brachte vor, dass die
Präventivhaft nach dem Wortlaut der zweiten Alternative von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c gerechtfertigt sei, wenn sie notwendig sei, um eine Personen an der Begehung einer konkreten und spezifischen Straftat zu hindern, die, wenn
sie begangen würde, zu einem Strafverfahren führen würde. Es sei nicht erforderlich, dass die betreffende Person bereits eine Straftat begangen habe; andernfalls wäre es überflüssig, neben der ersten Alternative von Artikel 5 Abs. 1
Buchstabe c noch eine zweite Alternative aufzuführen. Artikel 5 Abs. 3 der Konvention sei im Lichte von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c dahingehend auszulegen, dass eine unverzügliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der
Freiheitsentziehung erforderlich sei: Ein Strafverfahren sei nicht notwendig, da der Person keine Straftat zur Last gelegt werde.
62. Die Regierung brachte weiter vor, dass eine solche Präventivhaft in Deutschland erforderlich sei, da Vorbereitungshandlungen entgegen dem in anderen Vertragsstaaten der Konvention anwendbaren Strafrecht in Deutschland in
der Regel nicht strafbar seien. Dies diene dazu, potentielle Straftäter von ihren Plänen, eine Straftat zu begehen, abzubringen. Ohne die Möglichkeit, Personen präventiv in Gewahrsam zu nehmen, könnte der Staat daher seine positive
Verpflichtung, seine Bürger vor bevorstehenden Straftaten zu schützen - zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Transport von Castorbehältern oder bei Hooligans, die Vorbereitungen für eine geplante Schlägerei treffen - nicht erfüllen.
63. Unter Bezugnahme auf die Rechtssache Guzzardi ./. Italien (6. November 1980, Rdnr. 102, Band A Nr. 39) brachte die Regierung vor, dass die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c
gerechtfertigt gewesen sei. Bestimmte Tatsachen hätten die Schlussfolgerung gerechtfertigt, dass es notwendig gewesen sei, sie daran zu hindern, in der unmittelbaren Zukunft eine Straftat zu begehen. Die Beschwerdeführer seien
einen Tag nach gewalttätigen Ausschreitungen in der Innenstadt von Rostock gemeinsam mit sieben anderen Personen auf einem Parkplatz vor der Justizvollzugsanstalt Waldeck bei einem Transporter stehend angetroffen worden. Der
erste Beschwerdeführer habe bei der Identitätsfeststellung durch Polizeibeamte gewaltsam Widerstand geleistet. Die Polizei habe Transparente mit der Aufschrift „freedom for all prisoners" und „free all now" in dem Transporter
gefunden. Unter diesen Umständen hätten die Polizeibeamten davon ausgehen dürfen, dass die Beschwerdeführer im Begriff seien, sich den in Rostock stattfindenden Demonstrationen anzuschließen und die Transparente den
Demonstrationsteilnehmern, von denen einige gewalttätig gewesen seien, zu zeigen. Dies wäre einem Aufruf zur nach § 120 StGB strafbaren Gefangenenbefreiung gleichgekommen.
64. Die Regierung brachte vor, es könne als naheliegend angesehen werden, den Wortlaut des Transparents mit der Aufschrift „free all now" eher als an andere Demonstranten gerichteter Aufruf zur gewaltsamen Gefangenenbefreiung
zu verstehen als im Sinne eines Appells an die staatlichen Stellen, ihre Freilassung anzuordnen. Der erste Beschwerdeführer habe gewaltsam Widerstand gegen die Identitätsfeststellung geleistet und gegen den zweiten
Beschwerdeführer sei bereits wegen gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr im Zusammenhang mit dem Transport von Castor-Behältern ermittelt worden. Daher sei anzunehmen gewesen, dass die Beschwerdeführer beabsichtigt
hätten, den Gipfel mit gewaltsamen Mitteln zu stören und andere in Rostock anwesende gewalttätige Demonstranten dazu anzustiften, Personen, die in den in der Innenstadt errichteten Gefangenensammelstellen festgehalten oder
während einer Demonstration festgenommen worden seien, gewaltsam zu befreien. Die Beschwerdeführer hätten in dem Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten auch nicht dargelegt, dass die Aufschriften auf ihren Transparenten
eine andere Bedeutung gehabt hätten.
65. Die Regierung brachte ferner vor, dass die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer auch nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe b gerechtfertigt gewesen sei. Sie sei notwendig gewesen, um die Erfüllung einer gesetzlich
vorgeschriebenen Verpflichtung sicherzustellen. Im Hinblick auf die Umstände der Rechtssache sei es sicher, dass die Beschwerdeführer einer Meldeauflage, die sie verpflichtet hätte, sich in bestimmten zeitlichen Abständen bei
einem Polizeirevier an ihrem Wohnort zu melden, oder einem Platzverweis, der es ihnen untersagt hätte, ein bestimmtes Gebiet zu betreten, nicht nachgekommen wären. Die Beschwerdeführer seien mehrere Hundert Kilometer
gefahren, um zum Ort des G8-Gipfels zu kommen, und hätten bei der Identitätsfeststellung Widerstand geleistet. Somit hätten sie belegt, dass sie polizeiliche Aufforderungen nicht befolgen würden. Unter Berücksichtigung der
vorliegenden Ausnahmesituation sei es nicht erforderlich gewesen, zu warten, bis die Beschwerdeführer tatsächlich gegen eine solche Anordnung verstoßen hätten. Angesichts der Masse der anwesenden Demonstranten hätten die
Beschwerdeführer dann nicht mehr von der Begehung von Straftaten abgehalten werden können. Daher konnten die Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtung zur Befolgung einer solchen Anordnung und das Verhindern von
konkreten Straftaten nur durch ihre sofortige Ingewahrsamnahme sichergestellt werden.
66. Nach dem Vorbringen der Regierung war die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer nach der Anordnung des Gewahrsams durch das Amtsgericht auch nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a gerechtfertigt. Die Regierung brachte
vor, dass der in dieser Bestimmung enthaltene Begriff „Verurteilung" entgegen der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur strafrechtliche Verurteilungen, sondern auch richterliche Entscheidungen umfasse, mit denen
Präventivhaft angeordnet werde.
67. Die Regierung brachte weiter vor, die Freiheitsentziehung sei rechtmäßig gewesen und in der gesetzlich vorgeschriebenen Weise erfolgt. Sie habe sich auf § 55 Abs. 1 Nr. 2a SOG M-V gestützt. Die Freiheitsentziehung des
zweiten Beschwerdeführers, der 2002 wegen Verdachts des gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr festgenommen worden sei, habe sich zusätzlich auf § 55 Abs. 1 Nr. 2c SOG M-V gestützt.
68. Nach Auffassung der Regierung war der Gewahrsam der Beschwerdeführer auch verhältnismäßig und nicht willkürlich. Es hätten keine milderen Mittel zur Verfügung gestanden, um sie während der gesamten Dauer des
G8-Gipfels an der Gefangenenbefreiung bzw. der Anstiftung dazu zu hindern. Wie bereits dargelegt worden sei (siehe Rdnr. 65), wäre eine Meldeauflage, die sie verpflichtet hätte, sich in regelmäßigen Abständen bei einem
Polizeirevier außerhalb des G8-Bereichs zu melden, nicht ausreichend gewesen, um sie an der Begehung einer Straftat zu hindern. Aus denselben zuvor dargelegten Gründen wäre ein Platzverweis, mit dem es ihnen verboten worden
wäre, ein bestimmtes Gebiet - das des G8-Gipfels - zu betreten, zur Abwehr der Straftat nicht geeignet gewesen. Dasselbe gelte für die Beschlagnahme der Transparente, die die Beschwerdeführer neu hätten herstellen können.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
a) Zusammenfassung der einschlägigen Grundsätze
69. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass eine erschöpfende Liste zulässiger Gründe für die Freiheitsentziehung in Artikel 5 Abs. 1 Buchstaben a bis f enthalten ist und eine Freiheitsentziehung nur rechtmäßig sein kann, wenn
sie von einem dieser Gründe erfasst wird (siehe u. a. Guzzardi ./. Italien, 6. November 1980, Rdnr. 96, Serie A Band 39; Witold Litwa ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 26629/95, Rdnr. 49, ECHR 2000-III; und Saadi ./. Vereinigtes
Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 13229/03, Rdnr. 43, ECHR 2008-…).
70. Nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c kann die Freiheitsentziehung einer Person gerechtfertigt sein, „wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat zu hindern". Dieser
Grund für die Freiheitsentziehung bietet den Vertragsstaaten lediglich ein Mittel zur Verhütung einer, insbesondere hinsichtlich des Ortes und der Zeit ihrer Begehung und ihres Opfers bzw. ihrer Opfer (siehe M. ./. Germany,
Individualbeschwerde Nr. 19359/04, Rdnrn. 89 und 102, 17. Dezember 2009), konkreten und spezifischen Straftat (siehe Guzzardi, a.a.O., Rdnr. 102; Ciulla ./. Italien, 22. Februar 1989, Rdnr. 40, Serie A Band 148; und Shimovolos ./.
Russland, Individualbeschwerde Nr. 30194/09, Rdnr. 54, 21. June 2011 (noch nicht endgültig)). Dies ergibt sich sowohl aus dem Gebrauch des Singulars („einer Straftat") als auch aus dem Ziel von Artikel 5, nämlich sicherzustellen,
dass niemandem willkürlich die Freiheit entzogen wird (siehe Guzzardi, a.a.O.; und M. ./. Deutschland, a.a.O., Rdnr. 89).
71. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs muss eine Freiheitsentziehung, mit der eine Person an der Begehung einer Straftat gehindert werden soll, zusätzlich „zum Zweck der Vorführung vor die zuständige
Gerichtsbehörde" erfolgen; diese Anforderung bezieht sich auf jede Kategorie der Freiheitsentziehung im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c (siehe Lawless ./. Irland (Nr. 3), 1. Juli 1961, S. 51-53, Rdnr. 14, Serie A Band 3, und,
sinngemäß, Jec(ius ./. Litauen, Individualbeschwerde Nr. 34578/97, Rdnrn. 50-51, ECHR 2000-IX, und Engel u. a. ./. die Niederlande, 8. Juni 1976, Rdnr. 69, Serie A Band 22).
72. Daher ist die Freiheitsentziehung nach Buchstabe c nur in Verbindung mit einem Strafverfahren zulässig (siehe Jec(ius, a.a.O., Rdnr. 50). Die Untersuchungshaft fällt unter diese Bestimmung (siehe Ciualla, a.a.O., Rdnrn. 38-40).
Dies ergibt sich aus Wortlaut, der zusammen mit Buchstabe a sowie mit Absatz 3 zu betrachten ist und mit diesen zusammen ein Ganzes bildet (siehe u.a. Ciualla, a.a.O., Rdnr. 38; und E. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr.
77909/01, Rdnr. 35, 24. März 2005). Nach Artikel 5 Abs. 32 muss jede Person, die nach Absatz 1 Buchstabe c von Festnahme oder Freiheitsentzug betroffen ist, unverzüglich einem Richter vorgeführt werden - unter allen in Absatz 1
Buchstabe c erfassten Umständen - und hat Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist (siehe auch Lawless, a.a.O., S. 51-53; Rdnr. 14).
73. Darüber hinaus ist die Freiheitsentziehung nach der zweiten Alternative von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe b zulässig zur „Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung". Diese Bestimmung erfasst die Fälle, in denen es
gesetzlich zulässig ist, einer Person die Freiheit zu entziehen, um sie dazu zu zwingen, eine ihr bereits obliegende tatsächliche und konkrete Verpflichtung zu erfüllen, der sie bisher noch nicht nachgekommen ist (Engel und andere,
a.a.O., Rdnr. 69; Guzzardi, a.a.O., Rdnr. 101; Ciulla, a.a.O., Rdnr. 36; und E., a.a.O., Rdnr. 37). Festnahme und Freiheitsentzug müssen erfolgen, um die Erfüllung der Verpflichtung zu erzwingen, und dürfen keinen Strafcharakter
aufweisen (siehe Gatt ./. Malta, Individualbeschwerde Nr. 28221/08, Rdnr. 46, ECHR 2010-…). Sobald die entsprechende Verpflichtung erfüllt wurde, entfällt die Grundlage für die Freiheitsentziehung nach Artikel 5 Abs. 1
Buchstabe b (Vasileva ./. Dänemark, Individualbeschwerde Nr. 52792/99, Rdnr. 36, 25. September 2003; und E., a.a.O., Rdnr. 37). Diese Bestimmung rechtfertigt beispielsweise nicht die administrative Freiheitsentziehung, mit der
eine Person gezwungen werden soll, ihre allgemeine Verpflichtung zur Befolgung der Gesetze zu erfüllen (Engel u. a., a.a.O, Rdnr. 69). Schließlich muss zwischen der Bedeutung, die der Sicherstellung der sofortigen Erfüllung der
fraglichen Verpflichtung in einer demokratischen Gesellschaft zukommt, und der Bedeutung des Rechts auf Freiheit ein Ausgleich herbeigeführt werden (Vasileva, a.a.O, Rdnr. 37; und E., a.a.O., Rdnr.37).
74. Im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a ist der Begriff „Verurteilung" (englisch: „conviction") unter Berücksichtigung des französischen Textes („condamnation") so zu verstehen, dass er sowohl eine Schuldfeststellung
bezeichnet, nachdem das Vorliegen einer Straftat in der gesetzlich vorgesehenen Weise festgestellt wurde (s. Guzzardi, a.a.O., Rdnr. 100), als auch die Auferlegung einer Strafe oder einer anderen freiheitsentziehenden Maßnahme
(siehe Van Droogenbroeck ./. Belgien, 24. Juni 1982, Rdnr. 35, Serie A Band 50; und M. ./. Deutschland, a.a.O., Rdnr. 87).
b) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache
75. Der Gerichtshof hat zunächst darüber zu entscheiden, ob die Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführer nach § 55 Abs.1 Nr. 2 SOG M-V, mit der diese an der Begehung einer Straftat gehindert werden sollten, von einem der in
Artikel 5 Abs. 1 Buchstaben a bis f aufgeführten Gründe für die Freiheitsentziehung erfasst wird.
76. Der Gerichtshof weist auf das Vorbringen der Regierung hin, die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer sei zunächst nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c gerechtfertigt gewesen. Darüber hinaus stellt er fest, dass die
Beschwerdeführer dadurch, dass sie im Besitz zusammengerollter Transparente mit den Aufschriften „freedom for all prisoners" und „free all now" waren, noch keine Straftat begangen hatten und ihnen danach niemals eine Straftat
des Aufrufs zur gewaltsamen Gefangenenbefreiung zur Last gelegt wurde. Dies ist zwischen den Parteien unstreitig. Ihre Freiheitsentziehung ist daher nach der zweiten Alternative von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c -
Freiheitsentziehung wegen begründeten Anlasses zu der Annahme, dass es notwendig sei, die Beschwerdeführer an der Begehung einer Straftat zu hindern - zu prüfen.
77. Bei der Entscheidung darüber, ob die Straftat, an deren Begehung die Behörden die Beschwerdeführer zu hindern versuchten, als hinreichend konkret und spezifisch angesehen werden kann, wie dies nach der Rechtsprechung des
Gerichtshofs insbesondere hinsichtlich des Ortes und der Zeit ihrer Begehung sowie ihres Opfers bzw. ihrer Opfer erforderlich ist (siehe Rdnr. 70), stellt der Gerichthof fest, dass die innerstaatlichen Gerichte hinsichtlich der
spezifischen Straftat, die zu begehen die Beschwerdeführer im Begriff waren, anscheinend unterschiedlicher Auffassung waren. Das Amtsgericht Rostock und die Landgerichte waren anscheinend der Ansicht, dass die
Beschwerdeführer mit Hilfe der beschlagnahmten Transparente beabsichtigt hatten, andere dazu anstiften, Gefangene der Justizvollzugsanstalt Waldeck gewaltsam zu befreien (siehe Rdnrn. 14 und 17). Dies wurde daraus geschlossen,
dass sich die Beschwerdeführer auf dem Parkplatz vor dieser Justizvollzugsanstalt aufhielten, wo sich jedoch außer den sieben Insassen des Transporters sonst niemand aufhielt (siehe Rdnr. 12). Im Gegensatz dazu war das
Oberlandesgericht Rostock der Auffassung, die Beschwerdeführer hätten nach Rostock fahren, die Transparente bei den dort stattfindenden teilweise gewalttätigen Demonstrationen zeigen und somit die in Rostock anwesende Menge
zur gewaltsamen Gefangenenbefreiung anstiften wollen (siehe Rdnr. 19).
78. Zusätzlich kommt der Gerichtshof bei der Entscheidung darüber, ob die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer „wegen begründete[n] Anlasses zu der Annahme, dass es notwendig" sei, sie daran zu hindern, andere zur
gewaltsamen Gefangenenbefreiung anzustiften, nicht umhin, festzustellen, dass den Beschwerdeführern fünfeinhalb Tage lang, also für einen beträchtlichen Zeitraum, zu präventiven Zwecken die Freiheit entzogen war. Darüber
hinaus konnten, wie das Oberlandesgericht ebenfalls eingeräumt hat (siehe Rdnr. 22), die Aufschriften auf den Transparenten unterschiedlich interpretiert werden. Die Beschwerdeführer, die in dem Verfahren anwaltlich vertreten
waren, hatten erläutert, dass die Losungen sich an die Polizei und die Behörden gerichtet hätten, die dadurch aufgefordert werden sollten, die zahlreichen Ingewahrsamnahmen von Demonstranten zu beenden, und nicht dazu dienen
sollten, andere zur gewaltsamen Gefangenenbefreiung aufzufordern. Es ist auch unstreitig, dass die Beschwerdeführer selbst keine Werkzeuge mit sich führten, die zu einer gewaltsamen Gefangenenbefreiung hätten dienen können.
Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof nicht überzeugt, dass ihre fortdauernde Freiheitsentziehung wegen begründeten Anlasses zu der Annahme, es sei notwendig, die Beschwerdeführer an der Begehung einer hinreichend
konkreten und spezifischen Straftat zu hindern, als notwendig angesehen werden kann. Der Gerichtshof ist auch deswegen nicht davon überzeugt, dass es notwendig war, den Beschwerdeführern die Freiheit zu entziehen, da es in
jedem Fall ausgereicht hätte, die fraglichen Transparente zu beschlagnahmen, um die Beschwerdeführer auf mögliche negative Folgen hinzuweisen und sie daran zu hindern, andere - fahrlässig - zur Gefangenenbefreiung anzustiften.
79. Der Gerichtshof nimmt darüber hinaus auf seine ständige Rechtsprechung Bezug, nach der die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer nur dann nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c zu rechtfertigen wäre, wenn sie den Zweck
verfolgt hätte, sie im Verlauf ihrer Untersuchungshaft der zuständigen Gerichtsbehörde vorzuführen, und darauf ausgerichtet gewesen wäre, sie einem Strafverfahren zuzuführen (siehe Rdnrn. 71 - 72). In Anbetracht seiner bereits
getroffenen Feststellung, dass die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache begründeterweise nicht als notwendig angesehen werden konnte, hält der Gerichtshof es jedoch nicht für
erforderlich, auf die detaillierten Vorbringen der Parteien zu diesem Punkt, insbesondere die Argumente der Regierung, mit denen für eine Überprüfung der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs plädiert wird, einzugehen.
80. Demnach war die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer nicht nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c gerechtfertigt.
81. Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass die Regierung vorgebracht hat, die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer sei auch nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe b „zur Erzwingung einer gesetzlichen Verpflichtung" gerechtfertigt
gewesen. Die Beschwerdeführer wären weder eine Meldeauflage, die sie verpflichtet hätte, sich in bestimmten zeitlichen Abständen bei einem Polizeirevier an ihrem jeweiligen Wohnort, noch einem Platzverweis, der ihnen verboten
hätte, das Gebiet zu betreten, an dem die Demonstrationen anlässlich des G8-Gipfel stattgefunden hätten, nachgekommen. Es sei daher gerechtfertigt gewesen, durch ihre Ingewahrsamnahme sicherzustellen, dass sie eine derartige
Anordnung einhielten. Diesbezüglich kommt der Gerichtshof nicht umhin, festzustellen, dass die Polizei den Beschwerdeführern tatsächlich weder die Anordnung erteilte, sich in regelmäßigen Abständen bei einem Polizeirevier an
ihrem Wohnort zu melden, noch ihnen verbot, das Gebiet zu betreten, in dem die G8-Demonstrationen stattfanden. Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Beschwerdeführer im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe b
der „gesetzlichen Verpflichtung" unterlegen hätten, sich bei einem Polizeirevier zu melden oder das Gebiet der G8-Demonstrationen nicht zu betreten, und diese Verpflichtung nicht erfüllt hätten.
82. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Regierung weiter vorbrachte, den Beschwerdeführer sei nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe b die Freiheit entzogen worden, um sicherzustellen, dass sie ihrer Verpflichtung nachkommen würden,
eine bestimmte Straftat - die Anstiftung anderer Personen zur Gefangenenbefreiung - nicht zu begehen. Diesbezüglich nimmt der Gerichtshof auf seine bereits erwähnte Rechtsprechung Bezug, die besagt, dass die „gesetzliche
Verpflichtung" im Sinne der genannten Bestimmung real und spezifisch und der betreffenden Person bereits auferlegt sein muss und dass diese Person die Verpflichtung zum Zeitpunkt des Freiheitsentzugs noch nicht erfüllt haben darf
(siehe Rdnr. 73). Er stellt fest, dass die Beschwerdeführer nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 SOG M-V in Gewahrsam genommen wurden, der die Ingewahrsamnahme erlaubt, wenn „dies unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende
Begehung […] einer Straftat", wie beispielsweise einer Straftat nach § 120 StGB, „zu verhindern" (siehe Rdnr. 37). Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Verpflichtung, in unmittelbarer Zukunft keine Straftat zu begehen, im
Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht als hinreichend konkret und spezifisch angesehen werden kann, um unter Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe b zu fallen, zumindest nicht, solange keine Anordnung spezifischer Maßnahmen
erging und dieser nicht Folge geleistet wurde. Er stellt in diesem Zusammenhang erneut fest, dass eine weite Auslegung von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe b Auswirkungen hätte, die mit dem Gedanken der Rechtsstaatlichkeit nicht
vereinbar wären, der die gesamte Konvention geprägt hat (siehe Engel u. a., a.a. O., Rdnr. 69). Darüber hinaus kann nicht vorgebracht werden, dass die Beschwerdeführer ihrer Verpflichtung, keine derartige Straftat zu begehen, zu
einem früheren Zeitpunkt nicht nachgekommen wären. Die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer war daher auch nicht von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe b erfasst.
83. Der Gerichtshof nimmt weiter zur Kenntnis, dass die Regierung vorbrachte, die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer sei nach dem Beschluss des Amtsgerichts, mit dem es den Gewahrsam der Beschwerdeführer nach § 55
Abs. 1 Nr. 2 SOG M-V anordnete, auch nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a gerechtfertigt gewesen. Sie brachte vor, dass diese Bestimmung ihrem Wortlaut nach auch gerichtliche Entscheidungen, mit denen Präventivhaft angeordnet
werde, umfasse. Der Gerichtshof nimmt jedoch auf seine ständige Rechtsprechung Bezug, nach der eine „Verurteilung" unter Berücksichtigung des französischen Textes („condamnation") so zu verstehen ist, dass sie die Feststellung
einer Schuld für eine Straftat beinhaltet (siehe Rdnr. 74). Er stellt fest, dass die innerstaatlichen Gerichte die Beschwerdeführer in dem in Rede stehenden Verfahren keiner Straftat schuldig gesprochen haben. Vielmehr ordneten sie
ihre Freiheitsentziehung an, um sie daran zu hindern, in der Zukunft eine Straftat zu begehen. Somit fiel ihre Freiheitsentziehung nicht unter Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a.
84. Der Gerichtshof ist der Auffassung - und dies wird von den Parteien nicht bestritten - dass die Präventivhaft der Beschwerdeführer auch nach keinem anderen der Buchstaben von Artikel 5 Abs. 1 gerechtfertigt war.
85. Der Gerichtshof nimmt weiter zur Kenntnis, dass die Regierung vorbrachte, ohne die Möglichkeit, Personen präventiv in Gewahrsam zu nehmen, könnte der Staat seine positive Verpflichtung, seine Bürger vor bevorstehenden
Straftaten zu schützen, nicht erfüllen. In der vorliegen Rechtssache ist jedoch, auch wenn man die allgemeine Situation im Vorfeld und während des G8-Gipfels berücksichtigt, nicht hinreichend dargelegt worden, dass eine
Gefangenenbefreiung unmittelbar bevorgestanden habe. Daher konnte die Begehung dieser Straftat einen Eingriff in das Freiheitsrecht nicht rechtfertigten, zumal weniger einschneidende Maßnahmen hätten ergriffen werden können
(siehe Rdnr. 78). Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Konvention die staatlichen Behörden in jedem Fall verpflichtet, im Rahmen ihrer Befugnisse angemessene Vorkehrungen zu treffen, um Straftaten vorzubeugen, von
denen sie Kenntnis haben oder haben sollten. Sie erlaubt es einem Staat jedoch nicht, Einzelpersonen vor Straftaten einer Person durch Maßnahmen zu schützen, die gegen die Konventionsrechte dieser Person, insbesondere gegen das
in Artikel 5 Abs. 1 garantierte Recht auf Freiheit, verstoßen, um das es im Fall der Beschwerdeführer geht (siehe J. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 30060/04, Rdnrn. 37-38, 14. April 2011 mit weiteren Verweisen).
86. Folglich ist Artikel 5 Abs.1 der Konvention verletzt worden.
III. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 5 ABS. 5 DER KONVENTION
87. Gestützt auf Artikel 5 Abs. 5 der Konvention trug der erste Beschwerdeführer ferner vor, dass eine Klage auf Entschädigung für seine rechtswidrige Freiheitsentziehung keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte.
88. Der Gerichtshof hat die von dem ersten Beschwerdeführer vorgebrachte Rüge geprüft. Unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen stellt der Gerichtshof jedoch fest, dass die Rüge, selbst unter der
Annahme, dass der innerstaatliche Rechtsweg vollständig erschöpft wurde, keine Verletzung von Artikel 5 Abs. 5 erkennen lässt.
89. Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und Abs. 4 der Konvention als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen ist.
IV. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 10 UND 11 DER KONVENTION
90. Die Beschwerdeführer brachten darüber hinaus vor, dass ihre Freiheitsentziehung in ihr nach Artikel 10 der Konvention garantiertes Recht auf freie Meinungsäußerung sowie in ihr nach Artikel 11 der Konvention gewährleistetes
Recht auf Versammlungsfreiheit unverhältnismäßig eingegriffen habe, weil sie sie daran gehindert habe, an den Demonstrationen während des G8-Gipfels teilzunehmen und dort ihre Meinung zu äußern.
91. Artikel 10 und Artikel 11 der Konvention, soweit maßgeblich, lauten:
Artikel 10
„1. Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen
und weiterzugeben. ...
2. Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer
demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der
Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung."
Artikel 11
„1. Jede Person hat das Recht, sich frei und friedlich mit anderen zu versammeln und sich frei mit anderen zusammenzuschließen; …
2. Die Ausübung dieser Rechte darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale oder öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung
der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer." ..."
92. Die Regierung bestritt dieses Vorbringen.
A. Zulässigkeit
93. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht offensichtlich unbegründet im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a der Konvention ist. Unter Hinweis auf seine vorherigen Feststellungen (siehe Rdnrn. 48-50), stellt er darüber
hinaus fest, dass sie auch nicht aus anderen Gründen unzulässig ist. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
a) Die Beschwerdeführer
94. Die Beschwerdeführer brachten vor, dass ihre Ingewahrsamnahme sowohl ihr Recht auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 10 der Konvention als auch ihr Recht auf Versammlungsfreiheit nach Artikel 11 der Konvention
verletzt habe. Der mit ihrer Freiheitsentziehung verbundene Eingriff in diese Rechte sei nicht gerechtfertigt gewesen. Er sei nicht „gesetzlich vorgesehen" gewesen und habe aus den in Bezug auf Artikel 5 Abs. 1 dargelegten Gründen
kein rechtmäßiges Ziel verfolgt (siehe Rdnr. 57). Insbesondere sei unklar gewesen, ob, wann und wo die Beschwerdeführer die Transparente „freedom for prisoners" und „free all now" zeigen würden. Darüber hinaus wäre die
Zurschaustellung der Transparente nach dem Strafgesetzbuch auch nicht strafbar gewesen. Die Losungen hätten nicht als Anstiftung zu einer sehr ungewöhnlichen Straftat verstanden werden dürfen, sondern hätten eine andere,
näherliegende Bedeutung gehabt. Da mehr als 1000 Demonstranten im Zusammenhang mit dem G8-Gipfel in Gewahrsam genommen worden seien, aber nur 100 Ingewahrsamnahmen gerichtlich gebilligt worden seien, habe es mehr
als genug Grund gegeben, die Freiheitsentziehungen zu kritisieren, die im Zusammenhang mit dem Gipfel stattgefunden hätten.
95. Die Beschwerdeführer brachten weiter vor, ihre Ingewahrsamnahme sei unverhältnismäßig und daher im Sinne von Artikel 10 Abs. 2 und Artikel 11 Abs. 2 nicht „notwendig" gewesen. Das öffentliche Interesse an der
Verhinderung der ungewissen Begehung einer Straftat zu einer unbestimmten Zeit und an einem unbestimmten Ort habe gegenüber ihrem Interesse an der Bekundung ihres Protests gegen die zahlreichen unrechtmäßigen
Freiheitsentziehungen im Verlauf des G8-Gipfels und an der Teilnahme an Protesten gegen diesen Gipfel nicht überwogen. Bei den Losungen „freedom for all prisoners" und „free all now" handele es sich um bekannte und übliche,
von linksgerichteten Personen in Bezug auf derartige Freiheitsentziehungen verwendete Schlagwörter, die nicht als Aufruf zur gewaltsamen Gefangenenbefreiung hätten interpretiert werden dürfen. Unter den gegebenen Umständen
habe ihre Freiheitsentziehung eine offene Diskussion über Belange des öffentlichen Interesses verhindert.
b) Die Regierung
96. Die Regierung brachte vor, dass weder Artikel 10 noch Artikel 11 der Konvention verletzt worden sei. Der Eingriff in die Rechte der Beschwerdeführer auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit sei gerechtfertigt
gewesen. Er habe sich auf § 55 Abs. 1 Nr. 2a SOG M-V gestützt, eine Bestimmung, die hinreichend konkret gewesen und folglich im Hinblick auf ihre Anwendung auf die Beschwerdeführer vorhersehbar gewesen sei. Er habe
rechtmäßige Ziele verfolgt, da die Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführer im Interesse der öffentlichen Sicherheit und zur Verhütung von Straftaten erfolgt sei.
97. Die Regierung brachte weiter vor, der Eingriff sei im Sinne von Artikel 10 Abs. 2 und Artikel 11 Abs. 2 „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" gewesen. Sie betonte, dass zur Erreichung der genannten rechtmäßigen
Ziele keine weniger einschneidenden Maßnahmen zur Verfügung gestanden hätten. Insbesondere hätte es nicht ausgereicht, die fraglichen Transparente zu beschlagnahmen, da die Beschwerdeführer jederzeit neue, vergleichbare
Transparente hätten herstellen und diese während der Demonstrationen in Rostock sofort hätten verwenden können. Die Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführer sei auch verhältnismäßig gewesen. Am Tag zuvor habe es in Rostock
gewalttätige Ausschreitungen gegeben. Die Beschwerdeführer, die sich gewaltbereit gezeigt hätten, seien auf dem Weg nach Rostock gewesen, um an den Demonstrationen teilzunehmen. Die Befürchtung, die Transparente der
Beschwerdeführer hätten andere gewalttätige Demonstranten dazu anstiften können, in den Gefangenensammelstellen in Rostock festgehaltene Gefangene gewaltsam zu befreien, sei begründet gewesen. Unter diesen Umständen habe
das Interesse der Öffentlichkeit an der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verhütung von Straftaten gegenüber dem Interesse der Beschwerdeführer an der Teilnahme an den Demonstrationen überwogen.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
a) Anwendbarer Konventionsartikel
98. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass der Schutz persönlicher Meinungen, der durch Artikel 10 gewährleistet wird, eines der Ziele des in Artikel 11 der Konvention verankerten Rechts auf Versammlungsfreiheit ist (siehe
Ezelin ./. Frankreich, 26. April 1991, Rdnr. 37, Serie A Band 202; Djavit An ./. Türkei, Individualbeschwerde Nr. 20652/92, Rdnr. 39, ECHR 2003-III; Women On Waves u. a. ./. Portugal, Individualbeschwerde Nr. 31276/05, Rdnr.
28, ECHR 2009-. (Auszüge); Barraco ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 31684/05, Rdnr. 27, ECHR 2009-...; und Palomo Sánchez u. a. ./. Spanien [GK], Individualbeschwerden Nrn. 28955/06, 28957/06, 28959/06 und
28964/06, Rdnr. 52, 12. September 2011).
99. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass er in Fällen, in denen die Beschwerdeführer rügten, dass sie daran gehindert worden seien, an Versammlungen teilzunehmen oder bei Versammlungen ihre Ansichten zu äußern, oder dass sie
wegen eines solchen Verhaltens bestraft worden seien, bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Recht auf Meinungsfreiheit und dem Recht auf Versammlungsfreiheit mehrere Faktoren berücksichtigt hat. In Abhängigkeit
von den Umständen der Rechtssache ist Artikel 11 oft als das lex specialis angesehen worden, das bei Versammlungen Vorrang gegenüber Artikel 10 hat (siehe beispielsweise Ezelin, a.a.O., Rdnr. 35, betreffend eine dem
Beschwerdeführer, einem Juristen, nach der Teilnahme an einer Demonstration gegen zwei Gerichtsentscheidungen auferlegte disziplinarische Sanktion; Osmani u. a. ./. „die frühere jugoslawische Republik Mazedonien" (Entsch.),
Individualbeschwerde Nr. 50841/99, ECHR 2001-X, betreffend die Verurteilung des Beschwerdeführers, eines gewählten Amtsträgers, wegen Aufstachelung zu nationalem Hass durch eine Rede, die er bei einer von ihm organisierten
Versammlung gehalten hatte; Djavit An, a.a.O., Rdnr. 39, betreffend die Weigerung der türkischen und türkisch-zypriotischen Behörden, dem Beschwerdeführer die Überquerung der „Grünen Linie" zu erlauben, um im südlichen Teil
Zyperns an bikommunalen Treffen teilzunehmen; Galystan ./. Armenien, Individualbeschwerde Nr. 26986/03, Rdnr. 95, 15. November 2007, betreffend eine dreitägige Freiheitsentziehung wegen der Teilnahme an einer
Demonstration; und Barraco, a.a.O., Rdnr. 26, betreffend die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen der Teilnahme an einer verkehrsbehindernden Aktion, die im Rahmen eines gewerkschaftlichen Protesttages durchgeführt wurde).
100. In anderen Fällen ist der Gerichtshof in Anbetracht der jeweiligen besonderen Umstände und der Art und Weise der Formulierung der Rügen zu der Auffassung gelangt, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung im Mittelpunkt
der Rügen der jeweiligen Beschwerdeführer lag, und hat deswegen den Fall nur nach Artikel 10 geprüft (siehe z. B. Karademirci u. a. ./. Türkei, Individualbeschwerden Nrn. 37096 und 37101/97, Rdnr. 26, ECHR 2005-I, betreffend
eine strafrechtliche Sanktion wegen des Verlesens einer Erklärung während einer Versammlung vor einer Schule, und Y?lmaz and K?l?ç ./. Türkei, Individualbeschwerde Nr. 68514/01, Rdnr. 33, 17. Juli 2008, betreffend die
strafrechtliche Verurteilung der Beschwerdeführer wegen der Teilnahme an Demonstrationen zur Unterstützung von Abdullah Öcalan).
101. Der Gerichtshof stellt fest, dass sich die Vorbringen der Parteien vor dem Gerichtshof in dem vorliegenden Fall zugleich auf Artikel 10 und Artikel 11 bezogen. Er stellt fest, dass die Beschwerdeführer im Wesentlichen rügten,
dass sie wegen ihrer Freiheitsentziehung während der gesamten Dauer des G8-Gipfels nicht in der Lage gewesen seien, ihre Ansichten zusammen mit den anderen Demonstranten zu äußern, die zusammengekommen seien, um gegen
den Gipfel zu demonstrieren. Sie protestierten auch gegen das Verbot, ihre Meinung zur Verhaftung von Demonstranten, wie sie auf ihren Transparenten zum Ausdruck gekommen sei, zu äußern. Der Schwerpunkt ihrer Rügen liegt
jedoch auf dem Recht auf Versammlungsfreiheit, da sie daran gehindert wurden, an den Demonstrationen teilzunehmen und ihre Ansichten zu äußern. Der Gerichtshof wird diesen Teil der Beschwerde daher nur nach Artikel 11
prüfen. Er stellt jedoch fest, dass sich die Frage der freien Meinungsäußerung in dem vorliegenden Fall nicht ganz von der Frage der Versammlungsfreiheit trennen lässt. Ungeachtet seiner autonomen Rolle und seines besonderen
Anwendungsbereichs muss Artikel 11 also auch im Lichte von Artikel 10 betrachtet werden (siehe, sinngemäß, Ezelin, a.a.O. Rdnr. 37).
b) Gab es einen Eingriff in das Recht, sich frei und friedlich mit anderen zu versammeln?
102. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Beschwerdeführer aufgrund ihrer durch die innerstaatlichen Gerichte für die gesamte Dauer des G8-Gipfels angeordneten Ingewahrsamnahme daran gehindert waren, an
Demonstrationen gegen diesen Gipfel teilzunehmen.
103. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass Artikel 11 der Konvention nur das Recht auf „friedliche Versammlung" schützt. Dieser Begriff deckt keine Demonstration ab, bei der die Organisatoren und Teilnehmer gewalttätige
Absichten haben (siehe Stankov und die Vereinigte Mazedonische Organisation Ilinden ./. Bulgarien, Individualbeschwerden Nrn. 29211/95 und 29225/95, Rdnr. 77, ECHR 2001-IX; und Galstyan, a.a.O., Rdnr. 101). Jedoch kann die
Möglichkeit, dass gewalttätige Extremisten, die nicht zu den Organisatoren der Demonstration gehören, sich einer Demonstration anschließen, für sich genommen nicht zur Versagung dieses Rechts führen. Auch wenn die konkrete
Gefahr besteht, dass eine öffentliche Demonstration aufgrund von Entwicklungen, die außerhalb der Kontrolle der Organisatoren dieser Demonstration liegen, zu Ausschreitungen führt, liegt eine solche Demonstration für sich
genommen nicht außerhalb des Anwendungsbereichs von Artikel 11 Abs. 1; vielmehr muss jede Einschränkung, der eine solche Versammlung unterworfen wird, mit den Bestimmungen nach Absatz 2 dieser Bestimmung im Einklang
stehen (siehe Christians against Racism and Fascism ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 8440/78, Kommissionsentscheidung vom 16. Juli 1980, Decisions and Reports (DR) 21, S. 148-149; und, sinngemäß, Ezelin,
a.a.O., Rdnr. 41).
104. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerdeführer zur Zeit ihrer Festnahme die Absicht hatten, an künftigen Demonstrationen gegen den G8-Gipfel teilzunehmen. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die Organisatoren der
Demonstrationen, an denen die Beschwerdeführer teilnehmen wollten, gewalttätige Absichten hatten. Wie oben dargelegt worden ist (Rdnrn. 8 und 103), führt die Tatsache, dass die Polizei damit rechnete, dass sich auch Extremisten
mit gewalttätigen Absichten den ansonsten friedlichen Demonstrationen anschließen würden, nicht dazu, dass diese Demonstration den Schutz von Artikel 11 Abs. 1 verlieren würde.
105. Hinsichtlich der Frage, mit welchen Absichten sich die Beschwerdeführer den Demonstrationen anschließen wollten, ist der Gerichtshof nicht davon überzeugt, dass aufgezeigt worden ist, dass die Beschwerdeführer mit
gewalttätigen Absichten an den G8-Demonstrationen teilnehmen wollten. In diesem Zusammenhang stellt er zunächst fest, dass die innerstaatlichen Gerichte nicht der Auffassung waren, dass die Beschwerdeführer deswegen, weil sie
Transparente mit den Aufschriften „freedom for all prisoners" und „free all now" mit sich führten, die Absicht hatten, selbst Gefangene gewaltsam zu befreien. Er stellt auch fest, dass bei den Beschwerdeführern keine Waffen
gefunden wurden. Darüber hinaus nimmt er zur Kenntnis, dass das Oberlandesgericht festgestellt hat, dass eine gewaltbereite Menge durch die Transparente zur gewaltsamen Gefangenenbefreiung angestiftet werden könnte, stellt aber
außerdem fest, dass dasselbe Gericht einräumte, dass die Losungen auf den in Rede stehenden Transparenten unterschiedlich interpretiert werden könnten (siehe Rdrn. 19, 21 und 22). Er berücksichtigt auch die von den anwaltlich
vertretenen Beschwerdeführern vor den innerstaatlichen Gerichten abgegebene Erklärung. Sie hatten erläutert, dass die Losungen sich an die Polizei und die Behörden gerichtet hätten, die dadurch aufgefordert werden sollten, die
zahlreichen Ingewahrsamnahmen von Demonstranten zu beenden, und nicht dazu dienen sollten, andere zur gewaltsamen Gefangenenbefreiung aufzufordern (siehe Rdnrn. 18 und 25). Nach Auffassung des Gerichts ist die Aussage der
Beschwerdeführer zur Bedeutung der Aufschriften auf den Transparenten, die selbst eindeutig nicht offen zu Gewalt aufriefen, glaubhaft. Daher ist der Gerichtshof auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass das innerstaatliche
Gericht feststellte, die Aufschriften seien mehrdeutig und könnten unterschiedlich ausgelegt werden, der Auffassung, das nicht erwiesen worden ist, dass die Beschwerdeführer andere absichtlich zu Gewalt auffordern wollten. Nach
Ansicht des Gerichtshofs war eine derartige Schlussfolgerung auch nicht deshalb zulässig, weil davon ausgegangen wurde, dass einer der Beschwerdeführer bei der Feststellung seiner Personalien durch die Polizei gewaltsam
Widerstand leistete und daher selbst als gewalttätig angesehen wurde - unter anderen Umständen und in einer anderen Weise als durch das Zurschaustellen von Transparenten bei einer Demonstration. Darüber hinaus stellt er in diesem
Zusammenhang fest, dass nicht aufgezeigt worden ist, dass einer der Beschwerdeführer wegen gewalttätigen Verhaltens bei Demonstrationen oder in vergleichbaren Situationen vorbestraft wäre.
106. Die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer stellte daher nach Artikel 11 Abs. 1 einen Eingriff in ihr Recht dar, sich frei und friedlich zu versammeln. Dies ist zwischen den Parteien unstreitig.
c) War der Eingriff gerechtfertigt?
107. Ein solcher Eingriff führt zu einer Verletzung von Artikel 11, es sei denn, es kann dargelegt werden, dass er „gesetzlich vorgeschrieben" war, ein oder mehrere legitime Ziele nach Absatz 2 verfolgte und „in einer demokratischen
Gesellschaft notwendig" war.
(i) „Gesetzlich vorgeschrieben" und legitimes Ziel
108. Hinsichtlich der Entscheidung darüber, ob der Eingriff „gesetzlich vorgeschrieben" war, weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass eine Vorschrift nicht als „Gesetz" angesehen werden kann, wenn sie nicht so präzise
formuliert ist, dass der Einzelne - erforderlichenfalls mit entsprechende Rechtsberatung - in einem Maß, das unter den jeweiligen Umständen angemessen ist, voraussehen kann, welche Folgen eine bestimmte Handlung nach sich
ziehen kann (siehe Ezelin, a.a.O., Rdnr. 45). Er stellt fest, dass zwischen den Parteien strittig ist, ob die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers durch ein Gesetz - § 55 Abs. 1 Nr. 2 SOG M-V - vorgeschrieben war, das so präzise
war, dass seine Anwendung unter den im Falle des Beschwerdeführers gegebenen Umständen vorhersehbar war. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass er diese Frage offen lassen und die Rechtssache unter der Annahme prüfen
kann, dass der Eingriff aus den nachfolgend aufgeführten Gründen „gesetzlich vorgeschrieben" war.
109. Der Gerichtshof ist davon überzeugt, dass die Behörden mit der Anordnung der Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer das Ziel verfolgten, diese an der Begehung einer Straftat, nämlich der Anstiftung zur gewaltsamen
Gefangenenbefreiung, zu hindern. Dieses Ziel ist als solches nach Artikel 11 Abs. 2 rechtmäßig.
(ii) „Notwendig in einer demokratischen Gesellschaft"
110. Hinsichtlich der Entscheidung darüber, ob der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" war, stellt der Gerichtshof erneut fest, dass das Recht auf Versammlungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft ein
Grundrecht ist und, ebenso wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, einer der Grundpfeiler einer solchen Gesellschaft ist. Daher sollte es nicht restriktiv ausgelegt werden (siehe Djavit An, a.a.O., Rdnr. 56; und Barraco, a.a.O.,
Rdnr. 41).
111. Der Ausdruck „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" impliziert, dass der Eingriff einem „dringenden sozialen Bedürfnis" entspricht und insbesondere in Bezug auf das rechtmäßig verfolgte Ziel verhältnismäßig ist.
Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in Bezug auf das verfolgte Ziel sind Art und Schwere der verhängten Sanktion zu berücksichtigen (siehe Osmani u. a., a.a.O., mit weiteren Verweisen).
112. Der Gerichtshof muss darüber hinaus entscheiden, ob die von den nationalen Behörden zur Rechtfertigung des Eingriffs angeführten Gründe „stichhaltig und ausreichend" sind. . Dabei muss sich der Gerichtshof davon
überzeugen, dass die nationalen Behörden Regeln anwandten, die mit den in Artikel 11 enthaltenen Grundsätzen vereinbar sind, und dass sie ihre Entscheidung auf eine nachvollziehbare Bewertung der erheblichen Tatsachen stützten
(siehe Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei u. a. ./. Türkei, 30. Januar 1998, Rdnr. 47, Reports 1998-I); und Stankov und die Vereinigte Mazedonische Organisation Ilinden, a.a.O., Rdnr. 87).
113. Die Vertragsstaaten genießen bei der Beurteilung der Frage, ob ein Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" ist, einen gewissen Ermessensspielraum; dieser geht jedoch Hand in Hand mit einer europäischen
Überwachung, die sich sowohl auf die Gesetzgebung bezieht als auch auf die Entscheidungen, die sie anwenden (siehe Stankov und die Vereinigte Mazedonische Organisation Ilinden, a.a.O., Rdnr. 87; und Barraco, a.a.O., Rdnr. 42).
Nach Artikel 10 der Konvention - in dessen Licht Artikel 11 auszulegen ist (siehe Rdnrn. 98 und 101) - gibt es wenig Raum für Einschränkungen der politischen Redefreiheit oder der Debatte über Angelegenheiten des öffentlichen
Interesses (siehe Stankov und die Vereinigte Mazedonische Organisation Ilinden, a.a.O., Rdnr. 88, mit weiteren Verweisen). Jedoch genießen die staatlichen Behörden bei der Prüfung der Notwendigkeit eines Eingriffs in die freie
Meinungsäußerung einen größeren Ermessensspielraum, wenn eine Anstiftung zur Gewalt gegen einen Einzelnen, einen Amtsträger oder eine Bevölkerungsgruppe vorliegt (siehe Stankov und die Vereinigte Mazedonische
Organisation Ilinden, a.a.O., Rdnr. 90; und, sinngemäß, Galstyan, a.a.O., Rdnr. 115, und Osmani u. a., a.a.O.).
114. In der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass die Beschwerdeführer für fast sechs Tage in Gewahrsam genommen wurden, um sie daran zu hindern, andere während der Demonstrationen gegen den G8-Gipfel
dazu anstiften, Gefangene gewaltsam zu befreien. Er hat bereits festgestellt (siehe Rdnrn. 75-86), dass die Präventivhaft der Beschwerdeführer von keinem der in Artikel 5 Abs. 1 aufgeführten Gründe für die Freiheitsentziehung erfasst
wird und diese Bestimmung daher verletzt hat. Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass man davon ausging, dass anlässlich des Gipfels eine große Zahl von Demonstranten (etwa 25.000) anreisen würden, von denen die weitaus meisten
als friedlich, eine beträchtliche Zahl aber als gewaltbereit anzusehen seien. Über einen Zeitraum von mehreren Tagen sollte eine Reihe von Massendemonstrationen stattfinden, von denen einige vor der Festnahme der
Beschwerdeführer in Krawalle ausgeartet waren. Der Gerichtshof erkennt an, dass die Gewährleistung der Sicherheit der Gipfelteilnehmer und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in dieser Situation eine beträchtliche
Herausforderung für die innerstaatlichen Behörden darstellte und Entscheidungen oft schnell getroffen werden mussten.
115. Jedoch kann der Gerichtshof, wie er bereits dargelegt hat (siehe Rdnr. 105), es nicht als erwiesen ansehen, dass die Beschwerdeführer die Transparente mit den beanstandeten Aufschriften deshalb bei den Demonstrationen zeigen
wollten, weil sie andere, gewalttätige Demonstranten dazu anstiften wollten, Personen, die während des G8-Gipfels in Haft genommen worden seien, gewaltsam zu befreien. Eine Bewertung der erheblichen Tatsachen durch die
innerstaatlichen Behörden, nach der die Losungen als mehrdeutig angesehen werden konnten und die Beschwerdeführer somit andere fahrlässig zu Gewalt hätten anstacheln können, wenn sie sie bei gewissen Demonstrationen gezeigt
hätten, erscheint unter Berücksichtigung ihres Ermessensspielraums dagegen nachvollziehbar (siehe, als Beispiel für einen Fall, bei dem es um die Verwendung vieldeutiger Symbole ging, Vajnai ./. Ungarn, Individualbeschwerde Nr.
33639/06, Rdnrn. 51 ff., 8. Juli 2008).
116. Der Gerichtshof stellt darüber hinaus fest, dass die Beschwerdeführer mit ihrer Teilnahme an den G8-Demonstrationen beabsichtigten, sich an einer Debatte des öffentliches Interesses - die Auswirkungen der Globalisierung auf
das Leben der Menschen - zu beteiligen. Außerdem verfolgten sie mit den Losungen auf ihren Transparenten die Absicht, das Vorgehen der Polizei bei der Sicherung des Gipfels, insbesondere die zahlreichen Festnahmen von
Demonstranten, zu kritisieren. Angesichts der Tatsache, dass eine beträchtliche Zahl von Demonstranten (mehr als 1000 der erwarteten 25000 Demonstranten) im Verlauf des Gipfels vorübergehend in Haft genommen wurde, ist der
Gerichtshof der Auffassung, dass die Losungen einen Beitrag zu einer Debatte von öffentlichem Interesse darstellten. Darüber hinaus ist klar, dass die mehrtägige Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer wegen der Absicht, die
beanstandeten Losungen zur Schau zu stellen, hinsichtlich dieser Meinungsäußerung eine abschreckende Wirkung hatte und die öffentliche Diskussion dieser Frage einschränkte.
117. Zusammengefasst ist festzustellen, dass der beabsichtigte Protest der Beschwerdeführer während des G8-Gipfels als Wille zur Beteiligung an einer Debatte von öffentlichem Interesse, bezüglich derer es wenig Raum für
Einschränkungen gibt, zu werten ist (siehe Rdnr. 113). Darüber hinaus ist nicht aufgezeigt worden, dass die Beschwerdeführer die Absicht gehabt hätten, andere zu Gewalt anzustacheln. Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof der
Auffassung, dass die fast sechstägige Freiheitsentziehung, eine beträchtliche Sanktion, im Hinblick auf die Absicht, die Beschwerdeführer daran zu hindern, möglicherweise andere fahrlässig zu einer gewaltsamen Befreiung von
während des G8-Gipfels festgenommenen Demonstranten anzustiften, keine verhältnismäßige Maßnahme darstellt. In einer solchen Situation kann zwischen dem Ziel der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit sowie der
Verhinderung von Straftaten und dem Recht der Beschwerdeführer auf Versammlungsfreiheit nicht dadurch ein fairer Ausgleich geschaffen werden, dass die Beschwerdeführer sofort für mehrere Tage in Gewahrsam genommen werden.
118. Insbesondere ist der Gerichtshof nicht überzeugt, dass es keine anderen wirksamen, weniger einschneidenden Maßnahmen zur Erreichung der genannten Ziele gegeben hätte. Insbesondere ist er der Auffassung, dass es in der
gegebenen Situation, hinsichtlich derer nicht dargelegt worden ist, dass den Beschwerdeführern bewusst war, dass die Polizei die Losungen auf ihren Transparenten für illegal hielten, ausgereicht hätte, die fraglichen Transparente zu
beschlagnahmen. Man hätte davon ausgehen können, dass dies eine abschreckende Wirkung auf die Beschwerdeführer haben würde und sie daher davon abgehalten hätte, sofort neue, vergleichbare Transparente herzustellen. Auch
wenn dadurch ihr Recht auf freie Meinungsäußerung in einem gewissen Maß eingeschränkt worden wäre, hätte es sie nicht von vornherein daran gehindert, an den Demonstrationen teilzunehmen.
119. Angesichts der vorstehenden Ausführungen kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass der Eingriff in das Recht der Beschwerdeführer auf Versammlungsfreiheit nicht „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" war.
Folglich ist Artikel 11 der Konvention verletzt worden.
V. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION
120. Artikel 41 der Konvention lautet:
„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser
Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist."
A. Schaden
121. Die Beschwerdeführer forderten jeweils 10.000 Euro (EUR) für den infolge ihrer konventionswidrigen Freiheitsentziehung erlittenen immateriellen Schaden. Zur Stützung ihrer Auffassung, die geforderte Summe sei angemessen,
beriefen sie sich auf die Zubilligung gerechter Entschädigung durch den Gerichtshof in den Rechtssachen Brega ./. Moldau (Individualbeschwerde Nr. 52100/08, Rdnr. 52, 20. April 2010) und Vasileva ./. Dänemark
(Individualbeschwerde Nr. 52792/99, Rdnr. 47, 25. September 2003). Sie baten darum, alle Beträge auf das Treuhandkonto ihrer Rechtsanwältin einzuzahlen.
122. Die Regierung hielt die geforderten Beträge für unverhältnismäßig. Sie brachte vor, dass die Feststellung einer Konventionsverletzung durch den Gerichtshof eine hinreichende gerechte Entschädigung darstellen würde. Die von
den Beschwerdeführern zur Stützung ihrer Auffassung angeführten Tatsachen seien mit denen in den angeführten Beschwerdeverfahren nicht vergleichbar.
123. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass ihre etwa sechstägige, gegen Artikel 5 Abs. 1 und Artikel 11 der Konvention verstoßende Freiheitsentziehung bei den Beschwerdeführern Leid ausgelöst haben muss, das durch die
Feststellung einer Konventionsverletzung allein nicht angemessen wieder gut gemacht würde. Daher spricht der Gerichtshof, der die Summe nach Billigkeit festsetzt, den Beschwerdeführern unter dieser Rubrik jeweils 3.000 EUR
zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern zu. Im Hinblick auf die von der Rechtsanwältin der Beschwerdeführer vorgelegte Vollmacht, die sie zur Entgegennahme von Zahlungen befugt, die seitens der anderen
Verfahrenspartei zu leisten sind, ordnet er an, dass diese den Beschwerdeführern zugesprochenen Summen auf das Treuhandkonto ihrer Rechtsanwältin einzuzahlen sind.
B. Kosten und Auslagen
124. Der erste Beschwerdeführer forderte außerdem 2.340,85 EUR für Kosten und Auslagen vor den innerstaatlichen Gerichten (68 EUR für Gerichtskosten und 2.272,85 EUR für Anwaltsgebühren, einschließlich der darauf
anfallenden Mehrwertsteuer) sowie 1.892,50 EUR (einschließlich Mehrwertsteuer) für Kosten und Auslagen vor dem Gerichtshof. Der zweite Beschwerdeführer forderte 2.370,65 EUR für Kosten und Auslagen vor den
innerstaatlichen Gerichten (68 EUR für Gerichtskosten und 2.302,65 EUR für Anwaltsgebühren, einschließlich der darauf anfallenden Mehrwertsteuer) sowie 2.082,50 EUR (einschließlich Mehrwertsteuer) für Kosten und Auslagen
vor dem Gerichtshof. Sie begründeten ihre Ansprüche durch Belege.
125. Die Regierung, die generell die Auffassung vertrat, dass nach Artikel 41 der Konvention keine Entschädigung zu zahlen sei, nahm zu diesen Forderungen nicht Stellung.
126. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur insoweit Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese tatsächlich und notwendigerweise entstanden und der Höhe
nach angemessen sind. In der vorliegenden Rechtssache ist der Gerichtshof unter Berücksichtigung der ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und der oben genannten Kriterien überzeugt, dass das Verfahren vor den
innerstaatlichen Gerichten und vor dem Gerichtshof zunächst auf die Verhinderung und später auf die Beseitigung der festgestellten Verletzungen von Artikel 5 Abs. 1 und Artikel 11 der Konvention abzielte. Darüber hinaus stellt er
fest, dass die von den Beschwerdeführern geltend gemachten Kosten und Auslagen notwendigerweise entstanden und der Höhe nach angemessen waren.
127. Der Gerichtshof spricht dem ersten Beschwerdeführer daher 4.233,35 EUR (einschließlich Mehrwertsteuer) zur Deckung der unter allen Rubriken entstandenen Kosten, zuzüglich der ihm gegebenenfalls zu berechnenden Steuern
zu. Der Gerichtshof spricht ferner dem zweiten Beschwerdeführer 4.453,15 EUR (einschließlich Mehrwertsteuer) zur Deckung der unter allen Rubriken entstandenen Kosten zuzüglich der ihm gegebenenfalls zu berechnenden Steuern
zu. Er ordnet an, dass diese ihnen zugesprochenen Summen auf das Treuhandkonto ihrer Rechtsanwältin einzuzahlen sind.
C. Verzugszinsen
128. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Individualbeschwerden werden verbunden;
2. die Rüge des ersten Beschwerdeführers nach Artikel 5 Abs. 5 der Konvention wird für unzulässig und die Individualbeschwerden werden im Übrigen für zulässig erklärt;
3. Artikel 5 Absatz 1 der Konvention ist verletzt worden;
4. Artikel 11 der Konvention ist verletzt worden;
5. a) der beschwerdegegnerische Staat hat binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig wird, folgende Beträge auf das Treuhandkonto der Rechtsanwältin der
Beschwerdeführer einzuzahlen:
(i) für jeden Beschwerdeführer 3.000 EUR (dreitausend Euro) für den immateriellen Schaden, zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern;
(ii) für den ersten Beschwerdeführer 4.233,35 EUR (viertausendzweihundertdreiunddreißig Euro und fünfunddreißig Cent) einschließlich Mehrwertsteuer für Kosten und Auslagen, zuzüglich ihm gegebenenfalls zu berechnender Steuern;
(iii) für den zweiten Beschwerdeführer 4.453,15 EUR (viertausendvierhundertdreiundfünfzig Euro und fünfzehn Cent) einschließlich Mehrwertsteuer für Kosten und Auslagen, zuzüglich ihm gegebenenfalls zu berechnender Steuern;
b) Nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten fallen für die obengenannten Beträge bis zur Auszahlung einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der
Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;
6. Im Übrigen wird die Forderung der Beschwerdeführer nach gerechter Entschädigung zurückgewiesen.
Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 1. Dezember 2011 nach Artikel 77 Absätze 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs. ..."
***
Wie das House of Lords zu Recht festgestellt hat, unterstand der Beschwerdeführer britischer Hoheitsgewalt i. S. von Art. 1 EMRK (Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte), als er wegen des Verdachts terroristischer
Aktivitäten über drei Jahre in einem militärischen Armeegefängnis festgehalten wurde. Die Ermächtigung in der Resolution Nr. 1511 des Sicherheitsrats der VN vom 16.10.2003 hatte nicht zur Folge, dass Handlungen von Soldaten
der Multinationalen Truppe den VN und nicht den Staaten zuzurechnen sind, welche Truppen gestellt haben. Daran hat auch die Resolution Nr. 1546 des Sicherheitsrats vom 08.06.2004 nichts geändert. Art. 5 I EMRK (Recht auf
Freiheit und Sicherheit) erlaubt keine Internierung oder präventive Haft, wenn nicht beabsichtigt ist, binnen angemessener Frist Anklage zu erheben. Die Internierung war weder nach Art. 5 I EMRK noch nach Völkerrecht,
insbesondere nach den Resolutionen des Sicherheitsrats der VN, gerechtfertigt. Die Resolution des Sicherheitsrats Nr. 1546 hatte das Vereinigte Königreich zwar ermächtigt, Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Sicherheit im Irak
zu treffen. Doch weder sie noch eine andere Resolution des Sicherheitsrats haben ausdrücklich oder stillschweigend vom Vereinigten Königreich verlangt, Personen auf unbestimmte Zeit ohne Anklage festzuhalten, weil sie eine
Gefahr für die Sicherheit im Irak sind. Bei Auslegung der Resolutionen des Sicherheitsrats der VN gilt die Vermutung, dass den Staaten keine Verpflichtung auferlegt werden werden soll, die den Grundrechte zuwider liefen. Unter
Berücksichtigung von Art. 1 III und 24 II der Charta der VN und der wichtigen Rolle der VN bei der Förderung des Schutzes der Menschenrechte muss angenommen werden, dass der Sicherheitsrat klare Worte finden würde, wenn er
Maßnahmen von Staaten verlangte, die ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen zum Schutz der Menschenrechte widersprechen könnten. Deswegen ist nicht anzunehmen, dass die Resolution Nr. 1546 des Sicherheitsrats die Staaten
dazu verpflichten wollte, unter Verletzung der Menschenrechte Personen unbefristet, ohne Anklage und ohne Richtergarantie in Haft zu halten. Eine Rechtfertigung ergibt sich auch nicht aus dem der Resolution Nr. 1546 des
Sicherheitsrats beigefügten Schriftwechsel zwischen der irakischen Regierung und der Regierung der USA im Namen der anderen Staaten, die Truppen im Irak gestellt haben. Darin heißt es, dass die Multinationale Truppe auf
Ersuchen der Regierung des Irak dort bleiben und auch weiterhin internieren werde, wenn sie das aus zwingenden Sicherheitserwägungen für nötig halte. Eine Vereinbarung dieser Art kann aber bindenden Konventionspflichten nicht
vorgehen. Deswegen ist Art. 5 I EMRK verletzt (EGMR, Urteil vom 07.07.2011 - 27021/08 zu EMRK Art. 1, 5 I, 41, BeckRS 2011, 25294)
***
„... Aus Art. 5 IV EMRK ergibt sich kein Recht auf bedingte Entlassung. Außerdem ist bei einer Freiheitsentziehung auf Grund einer Verurteilung durch ein zuständiges Gericht die nach Art. 5 IV EMRK erforderliche Überprüfung in
der Gerichtsentscheidung enthalten, die nach einem Strafverfahren ergangen ist (s. EGMR, 1971, Serie A, Bd. 12 Nr. 76 = Golsong/Petzold/Furrer, Entscheidungen des EGMR in deutscher Sprache, Bd. 3, S. 1 - De Wilde, Ooms u.
Versyp/Belgien). Deswegen ist eine neuerliche Überprüfung nicht erforderlich. Bei einer zwingenden lebenslangen Freiheitsstrafe gilt das nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wenn sie wegen der Schwere der Straftat
ausschließlich Strafcharakter hat (s. als jüngstes Beispiel EGMR, Urt. v. 2. 9. 2010 - 36295/02 Nrn. 73 ff. - Iorgov/Bulgarien Nr. 2). Wenn sich aber die Gründe für die Freiheitsentziehung mit der Zeit ändern können, muss es möglich
sein, ein den Anforderungen von Art. 5 IV EMRK genügendes Organ anzurufen. In mehreren Fällen gegen das Vereinigte Königreich hat der Gerichtshof deswegen festgestellt, dass die Vorschrift zu lebenslanger Freiheitsstrafe
verurteilten Gefangenen das Recht auf einen Rechtsbehelf zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit ihrer Haft gibt, wenn sie den „Tarif" verbüßt haben, also den bestrafenden und abschreckenden Teil der Verurteilung. Denn nach
britischem Recht hängt die weitere Haft nach der ursprünglichen als Strafe anzusehenden Zeit von Umständen ab, die sich ändern können, z. B. die Gefährlichkeit des Täters oder die Wiederholungsgefahr (s. u. a. EGMR, Urt. v. 16.
10. 2003 - 67385/01 Nr. 24 - Wynne/Vereinigtes Königreich Nr. 2; EGMR, Slg. 2002-IV Nr. EUGH-SLG Jahr 2002 IV Seite 87 - Stafford/Vereinigtes Königreich; EGMR, Urt. v. 10. 12. 2002 . 53236/99 Nr. 56 - Waite/Vereinigtes
Königreich).
[59] Der Bf. ist wegen dreifachen Mordes zu der in § 203II zypriotisches StGB zwingend vorgesehenen lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Nach zypriotischem Recht wird diese Strafe nach dem StGB zwingend als Strafe
für Mord verhängt ohne Rücksicht auf die Gefährlichkeit des Täters. Bei der Verurteilung dazu hat das Gericht deutlich gemacht, dass der Bf. zu lebenslanger Freiheitsstrafe für den Rest seines Lebens verurteilt worden sei, wie es das
StGB vorschreibe (s. EGMR, Slg. 2008 = NJOZ2010, 1599 Nr. 119 - Kafkaris/Zypern). Deswegen ist eindeutig, dass die Entscheidung über die Notwendigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe nicht von Gesichtspunkten abhängig war,
die sich im Laufe der Zeit ändern könnten (anders EGMR, Slg. 2002-IV Nr. EUGH-SLG 2002 IV Seite 87 - Stafford/Vereinigtes Königreich). Die „neuen Punkte", auf die sich der Bf. stützt, … machen die ursprüngliche Begründung
der Freiheitsentziehung nicht obsolet und können auch die Rechtmäßigkeit der Haft nicht in Frage stellen. Auch lässt sich nicht sagen, dass die Strafe des Bf. zu einem Teil bestrafenden Charakter hat und im Übrigen dem Schutz der
Öffentlichkeit dient, wie er jetzt geltend macht (s. EGMR, Slg. 2002-IV Nr. 40 - Stafford/Vereinigtes Königreich). Die damals geltenden Strafvollstreckungsvorschriften haben lebenslange Freiheitsentziehung als gleichbedeutend mit
Gefängnis für 20 Jahre definiert, die Zeit von 20 Jahren entsprach also nicht einem „Tarif" oder einer „Mindesthaft".
[60] Unter Berücksichtigung des Urteils der Großen Kammer zu Art. 5 I EMRK über die erste Beschwerde des Bf. (s. EGMR, Slg. 2008 = NJOZ 2010,1599) beruhte die fortdauernde Freiheitsentziehung des Bf. auf seiner Verurteilung
durch das Geschworenengericht und der gegen ihn zwingend verhängten lebenslangen Gefängnisstrafe.
[61] Deswegen war die nach Art. 5 IV EMRK erforderliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung des Bf. in der Verurteilung durch die Gerichte enthalten, so dass eine weitere Überprüfung nicht erforderlich ist.
[62] Die jüngsten Änderungen des zypriotischen Rechts haben die Lage der Gefangenen wesentlich geändert, insbesondere der zu lebenslanger Strafe Verurteilten. Trotz der in Fällen von Mord von den Gerichten zwingend verhängten
lebenslangen Haft geben die jetzigen Regelungen lebenslang Inhaftierten die Möglichkeit, sich an den Bewährungsausschuss zu wenden, nachdem sie eine Mindeststrafe verbüßt haben (§ 14 A I, B 1 zypriotisches StVollzG). Der Bf.
kann schon einen Antrag an den Bewährungsausschuss stellen. Er hat also nach zypriotischen Recht die Möglichkeit, die Notwendigkeit seiner weiteren Freiheitsentziehung periodisch überprüfen zu lassen. Der Gerichtshof stimmt
dem Bf. nicht darin zu, dass diese Entwicklung für die vorliegende Beschwerde unbeachtlich sei.
[63] Deswegen ist die Beschwerde nach Art. 5 IV EMRK offensichtlich unbegründet und nach Art.35 III lit. a, IV EMRK zurückzuweisen. ..." (EGMR, Entscheidung vom 21.06.2011 - 9644/09)
***
„... 5. Der 1959 geborene Beschwerdeführer ist derzeit in der Justizvollzugsanstalt A. sicherungsverwahrt.
A. Die früheren Verurteilungen des Beschwerdeführers, die Anordnungen seiner Unterbringung in der Sicherungsverwahrung und deren Vollstreckung
6. Zwischen 1974 und 1990 wurde der Beschwerdeführer sechs Mal wegen Sexualstraftaten verurteilt, u.a. wegen versuchter Vergewaltigung, sexuellen Missbrauchs von Kindern, sexueller Nötigung, versuchter sexueller Nötigung
und gefährlicher Körperverletzung; er verbrachte etwa elf Jahre im Strafvollzug.
7. Am 14. Februar 1990 sprach das Landgericht Köln den Beschwerdeführer der sexuellen Nötigung in zwei Fällen schuldig. Es verurteilte ihn zu fünf Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe und ordnete seine (erste) Unterbringung
in der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 StGB an (siehe Rdnrn. 20-21). Es stellte fest, dass der Beschwerdeführer, der uneingeschränkt schuldfähig gehandelt habe, im Juni und Juli 1989 zwei Anhalterinnen, die er in seinem
Pkw mitgenommen hatte, sexuell genötigt habe. Nach Anhörung eines neurologischen Sachverständigen befand es ferner, dass der Beschwerdeführer aufgrund seines Hanges zu Straftaten im Fall seiner Entlassung mit hoher
Wahrscheinlichkeit weitere schwere Sexualstraftaten der abgeurteilten Art begehen werde und eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle. Daher sei seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung notwendig.
8. Der Beschwerdeführer verbüßte seine Freiheitsstrafe bis zum 17. Januar 1995; anschließend war er in der Sicherungsverwahrung untergebracht, bis die Unterbringungsanordnung am 29. März 1995 zur Bewährung ausgesetzt und
der Beschwerdeführer entlassen wurde.
9.Am 11. November 1996 sprach das Landgericht Köln den Beschwerdeführer der versuchten sexuellen Nötigung und der Fälschung eines Führerscheins schuldig. Es verurteilte ihn zu vier Jahren und neun Monaten Freiheitsstrafe
und ordnete seine (zweite) Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 StGB an. Das Landgericht stellte fest, dass der Beschwerdeführer, der uneingeschränkt schuldfähig gehandelt habe, im August 1995 erneut
versucht habe, eine Anhalterin sexuell zu nötigen. Er habe sie mit einer Gaspistole bedroht, es sei ihr aber gelungen, ihm die Pistole zu entreißen und zu flüchten. Im Hinblick darauf, dass der Beschwerdeführer nahezu unmittelbar
nach etwa 17 Jahren Haft wieder straffällig geworden sei, und dass es laut den überzeugenden Ausführungen eines Sachverständigen viele Jahre dauern würde, um bei dem Beschwerdeführer eine Besserung zu erreichen, falls dies
überhaupt möglich sein sollte, sah das Gericht seine zweite Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung als verhältnismäßig an.
10.Am 20. Juni 1997 widerrief das Landgericht Bonn die Aussetzung der ersten, durch Urteil des Landgerichts Köln vom 14. Februar 1990 angeordneten Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers zur Bewährung, weil er erneut
straffällig geworden sei und seine Therapie nicht gewissenhaft fortgesetzt habe.
11.Der Beschwerdeführer verbüßte die mit Urteil vom 11. November 1996 verhängte Freiheitsstrafe bis zum 25. Mai 2000 vollständig. Seit 26. Mai 2000 ist der Beschwerdeführer, wie in den Urteilen des Landgerichts Köln vom 14.
Februar 1990 und vom 11. November 1996 angeordnet, in der JVA A. sicherungsverwahrt.
12.Am 5. Juni 2002 lehnte es das Landgericht Aachen im Rahmen einer Überprüfung der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers ab, diese zur Bewährung auszusetzen.
B. Das in Rede stehende Verfahren
1. Der Beschluss des Landgerichts Aachen
13. Am 11. Juni 2003 beantragte der Beschwerdeführer beim Landgericht Aachen seine Entlassung aus der Sicherungsverwahrung und führte zur Begründung aus, dass die Sicherungsverwahrung gegen Artikel 5 Abs. 1 der
Konvention verstoße.
14. Nach Prüfung seines Antrags nach § 458 Abs. 1 StPO (siehe Rdnr. 24) entschied das Landgericht Aachen am 23. Juli 2003, dass die Einwendungen des Beschwerdeführers gegen die Zulässigkeit der Vollstreckung der
Sicherungsverwahrung unbegründet seien. Die 1996 vom Landgericht Köln nach § 66 StGB angeordnete Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung stelle eine rechtmäßige Freiheitsentziehung nach
Verurteilung durch ein zuständiges Gericht im Sinne des Artikels 5 Abs. 1 Buchstabe a der Konvention dar.
2. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Köln
15. Am 10. September 2003 verwarf das Oberlandesgericht Köln die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers und folgte der Begründung des Landgerichts. Es fügte hinzu, die Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB, die eine
Maßregel der Besserung und Sicherung darstelle und nicht mit einer Strafe gleichzusetzen sei, verstoße weder gegen die Konvention noch gegen das Grundgesetz. Darüber hinaus sei § 67d Abs. 3 StGB in der seit 31. Januar 1998
geltenden Fassung (siehe Rdnr. 23) verfassungskonform.
3. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
16. Am 15. März 2004 lehnte es das Bundesverfassungsgericht unter Hinweis auf sein Leiturteil vom 5. Februar 2004 in der Sache M. (2 BvR 2029/01; Individualbeschwerde Nr. 19359/04 vor diesem Gerichtshof) ab, die
Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers (2 BvR 1838/03) zur Entscheidung anzunehmen; der Beschwerdeführer hatte darin gerügt, dass seine unbefristete Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gegen Artikel 5 und
Artikel 7 der Konvention verstoße.
C. Weitere Entwicklungen
17. Am 19. Juli 2004, 19. Juli 2006 und 2. Juli 2008 lehnte es das Landgericht Aachen jeweils im Rahmen der Überprüfung der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung ab, diese zur Bewährung
auszusetzen. Es vertrat die Auffassung, es könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer, der eine ihm angebotene Therapie bei einem externen Psychologen abgelehnt habe, im Falle seiner Entlassung nicht
erneut straffällig werde.
18. Der Beschwerdeführer war bis zum 15. März 2010 in der mit Urteil des Landgerichts Köln vom 14. Februar 1990 angeordneten ersten Sicherungsverwahrung untergebracht. Seit 16. März 2010 wird die mit Urteil des Landgerichts
Köln vom 11. November 1996 zum zweiten Mal angeordnete Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers vollzogen.
II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT UND EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS SOWIE RECHTSVERGLEICHUNG
19. Ein umfassender Überblick über die Bestimmungen des Strafgesetzbuchs und der Strafprozessordnung zur Unterscheidung zwischen Strafen und Maßregeln der Besserung und Sicherung, insbesondere der Sicherungsverwahrung,
sowie zum Erlass, zur Überprüfung und zum praktischen Vollzug von Anordnungen der Sicherungsverwahrung ist im Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache M. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 19359/04, Rdnrn. 45-78,
17. Dezember 2009) enthalten. Die in der vorliegenden Rechtssache in Bezug genommen Bestimmungen lauten wie folgt:
A. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung durch das erkennende Gericht
20. Das erkennende Gericht kann im Zeitpunkt der Verurteilung des Straftäters unter bestimmten Umständen neben der Freiheitsstrafe die Sicherungsverwahrung, eine sogenannte Maßregel der Besserung und Sicherung, anordnen,
wenn sich herausgestellt hat, dass der Täter für die Allgemeinheit gefährlich ist (§ 66 StGB).
21. Insbesondere ordnet das erkennende Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung an, wenn jemand wegen einer vorsätzlichen Straftat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt wird und des Weiteren
folgende Voraussetzungen vorliegen: Erstens muss der Täter wegen vorsätzlicher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon zweimal jeweils zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden sein.
Zweitens muss der Täter zuvor für die Zeit von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe verbüßt oder sich im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung befunden haben. Drittens muss die
Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergeben, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder schwerer
wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, für die Allgemeinheit gefährlich ist (siehe § 66 Abs. 1 StGB, in der zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung).
B. Die Dauer der Sicherungsverwahrung
22. Nach § 67d Abs. 1 StGB in der vor dem 31. Januar 1998 geltenden Fassung darf die Dauer der ersten Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zehn Jahre nicht übersteigen. Ist die Höchstfrist abgelaufen, so wird der
Untergebrachte entlassen (§ 67d Abs. 3).
23. § 67d StGB wurde durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998, das am 31. Januar 1998 in Kraft trat, geändert. § 67d Abs. 3 in der geänderten Fassung sah vor,
dass das Gericht, wenn zehn Jahre der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vollzogen worden sind, die Maßregel (nur dann) für erledigt erklärt, wenn nicht die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte infolge seines Hanges
erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Mit der Erledigung tritt automatisch Führungsaufsicht ein. Die frühere Höchstdauer der erstmaligen Unterbringung in der
Sicherungsverwahrung wurde aufgehoben. Nach Artikel 1a Abs. 3 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch (EGStGB) war die geänderte Fassung von Artikel 67d Abs. 3 StGB zeitlich uneingeschränkt anzuwenden.
24. Nach § 458 Abs. 1 StPO ist die Entscheidung des Gerichts herbeizuführen, wenn Einwendungen gegen die Strafvollstreckung erhoben werden.
C. Die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
25. Am 4. Mai 2011 erließ das Bundesverfassungsgericht ein Leiturteil über die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung der Beschwerdeführer über die frühere Zehnjahresfrist hinaus (vgl. Vorschriften in den Rdnrn.
22-23) bzw. über die nachträgliche Anordnung der Unterbringung der Beschwerdeführer in der Sicherungsverwahrung (2 BvR 2365/09, 2 BvR 740/10, 2 BvR 2333/08, 2 BvR 1152/10 und 2 BvR 571/10). Es stellte fest, dass alle
Vorschriften über die nachträgliche Verlängerung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung und über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung mit dem Grundgesetz unvereinbar seien, weil sie das
rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot in Verbindung mit dem Freiheitsgrundrecht verletzten.
26. Das Bundesverfassungsgericht stellte ferner fest, dass alle in Rede stehenden Vorschriften des Strafgesetzbuchs über die Anordnung und die Dauer der Sicherungsverwahrung mit dem Freiheitsgrundrecht der sicherungsverwahrten
Personen unvereinbar seien, da diese Bestimmungen dem verfassungsrechtlichen Gebot, zwischen der Freiheitsentziehung in der Sicherungsverwahrung und der Freiheitsentziehung im Strafvollzug zu unterscheiden (Abstandsgebot),
nicht gerecht würden. Zu diesen Vorschriften gehöre insbesondere § 66 StGB in der seit 27. Dezember 2003 geltenden Fassung.
27. Das Bundesverfassungsgericht ordnete an, dass sämtliche für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärten Vorschriften bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung, längstens bis zum 31. Mai 2013, weiter anwendbar blieben. In Bezug
auf die Untergebrachten, deren Sicherungsverwahrung nachträglich verlängert oder angeordnet worden sei, hätten die Strafvollstreckungsgerichte unverzüglich zu prüfen, ob aus den konkreten Umständen in der Person oder dem
Verhalten der Untergebrachten eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten abzuleiten sei und diese zudem an einer psychischen Störung leiden. Was den Begriff "psychische Störung" angeht, nahm das
Bundesverfassungsgericht ausdrücklich auf den Begriff "psychisch Kranke" aus Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e der Konvention in der Auslegung durch den Gerichtshof Bezug. Bei Nichtvorliegen der oben genannten Voraussetzungen
seien diese Sicherungsverwahrten spätestens zum 31. Dezember 2011 freizulassen. Die übrigen Vorschriften über die Anordnung und die Dauer der Sicherungsverwahrung seien während der Übergangszeit nur nach Maßgabe einer
strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung anzuwenden; in der Regel werde der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur dann gewahrt sein, wenn die Gefahr bestehe, dass die betroffene Person im Falle ihrer Freilassung schwere Gewalt- oder
Sexualstraftaten begehen werde.
28. Das Bundesverfassungsgericht betonte in seinem Urteil, dass die Tatsache, dass das Grundgesetz in der innerstaatlichen Normenhierarchie über der Konvention stehe, einem internationalen und europäischen Dialog der Gerichte
nicht entgegenstehe, sondern vielmehr dessen normative Grundlage darstelle, da das Grundgesetz völkerrechtsfreundlich auszulegen sei. In seiner Begründung berief sich das Bundesverfassungsgericht auf die Auslegung von Artikel 5
und Artikel 7 der Konvention, die der Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache M. ./. Deutschland (a.a.O.) vorgenommen hat.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 5 ABS. 1 DER KONVENTION
29. Der Beschwerdeführer rügte, dass seine unbefristete Unterbringung in der Sicherungsverwahrung sein Recht auf Freiheit nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention verletze, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:
"(1) Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:
a) rechtmäßige Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht; …"
30. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.
A. Zulässigkeit
31. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
32. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass seine Sicherungsverwahrung unter keinen der Buchstaben a bis f des Artikels 5 Abs. 1 falle und somit gegen diesen Artikel verstoße. Die Sicherungsverwahrung sei insbesondere nicht
"nach Verurteilung" im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a erfolgt, da sie keine Strafe für eine von einem Täter begangene Straftat - diese Strafe sei allein die verhängte Freiheitsstrafe -, sondern eine rein präventive, auf die
Verhinderung zukünftiger Straftaten gerichtete Maßnahme sei. Darüber hinaus bestehe kein hinreichender Kausalzusammenhang zwischen seiner Verurteilung durch das Landgericht Köln und seiner Sicherungsverwahrung, die vom
Landgericht Aachen angeordnet worden sei.
33. Die Regierung vertrat die Auffassung, dass die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung mit Artikel 5 Abs. 1 vereinbar gewesen sei. Sie betonte, dass die in Rede stehende Individualbeschwerde kein
Folgefall zur Rechtssache M. ./. Deutschland (a.a.O.) sei. Zwischen der Verurteilung des Beschwerdeführers und seiner fortdauernden Sicherungsverwahrung bestehe, wie nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a erforderlich, ein
hinreichender Kausalzusammenhang. Der Beschwerdeführer sei zwar seit dem 16. März 2010 mehr als zehn Jahre in der Sicherungsverwahrung untergebracht. Aber anders als in der Rechtssache M. ./. Deutschland sei die erste
Sicherungsverwahrung, die das Landgericht Köln mit Urteil vom 14. Februar 1990 angeordnet habe, nicht länger als zehn Jahre vollstreckt worden. Seit dem 16. März 2010 sei der Beschwerdeführer entsprechend der zweiten
Anordnung durch das Urteil des Landgerichts Köln vom 11. November 1996 in der Sicherungsverwahrung untergebracht; allerdings habe auch nach dem vor der Neuregelung von 1998 geltenden Recht für die zweite angeordnete
Sicherungsverwahrung keine Höchstdauer gegolten.
34. Die Regierung brachte ferner vor, dass der Beschwerdeführer in dem hier in Rede stehenden Verfahren lediglich die Fortdauer seiner Unterbringung in der Sicherungsverwahrung rüge, nachdem er ca. drei Jahre sicherungsverwahrt
gewesen sei. Diese Unterbringung sei von seiner Verurteilung durch das Landgericht Köln vom 14. Februar 1990 erfasst, in der diese Maßnahme angeordnet worden sei. Unter Bezugnahme auf die Feststellungen des Gerichtshofs in
der Sache M. ./. Deutschland (a.a.O., Rdnr. 96) hielt es die Regierung für unerheblich, dass die Vollstreckung der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers getrennt davon durch das Landgericht Aachen angeordnet worden sei.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
(a) Zusammenfassung der einschlägigen Grundsätze
35. Der Gerichtshof verweist auf die in seiner Rechtsprechung zu Artikel 5 Abs. 1 der Konvention festgelegten Grundsätze, die in seinem Urteil vom 17. Dezember 2009 in der Rechtssache M. ./. Deutschland, Individualbeschwerde
Nr. 19359/04 (Rdnrn. 86-91), und in seinem Urteil vom 21. Oktober 2010 in der Rechtssache G. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 24478/03 (Rdnrn. 42-44), im Hinblick auf Individualbeschwerden in Bezug auf
Sicherungsverwahrung zusammengefasst wurden.
36. Er weist insbesondere erneut darauf hin, dass der Begriff "Verurteilung" im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a so zu verstehen ist, dass er sowohl eine Schuldfeststellung bezeichnet, nachdem in der gesetzlich vorgesehenen
Weise eine Straftat nachgewiesen wurde, als auch die Verhängung einer Strafe oder einer anderen freiheitsentziehenden Maßnahme (siehe Van Droogenbroeck ./. Belgien, 24. Juni 1982, Rdnr. 35, Serie A Band 50; und M. ./.
Deutschland, a.a.O., Rdnr. 87). Darüber hinaus bedeutet das Wort "nach" in Buchstabe a nicht einfach, dass die "Freiheitsentziehung" zeitlich auf die "Verurteilung" folgen muss. Zwischen der Verurteilung und der in Rede stehenden
Freiheitsentziehung muss ein hinreichender Kausalzusammenhang bestehen (siehe Stafford ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 46295/99, Rdnr. 64, ECHR 2002-IV; Kafkaris ./. Zypern [GK],
Individualbeschwerde Nr. 21906/04, Rdnr. 117, ECHR 2008-...; und M. ./. Deutschland, a.a.O., Rdnr. 88).
(b) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache
37. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass der Beschwerdeführer mit der vorliegenden Individualbeschwerde die Konventionskonformität der Beschlüsse bestritt, mit denen die innerstaatlichen Gerichte 2003/2004, d.h. zu einer Zeit,
als er sich weniger als vier Jahre in der Sicherungsverwahrung befand, die Fortdauer der Sicherungsverwahrung anordneten; er hat sich nicht gegen seine derzeitige Sicherungsverwahrung seit März 2010 gewandt.
38. Bei der Prüfung der Frage, ob dem Beschwerdeführer während dieser Zeit die Freiheit gemäß Artikel 5 Abs. 1 entzogen war, verweist der Gerichtshof auf seine Feststellungen in seinem kürzlich ergangenen Urteil vom 17.
Dezember 2009 im Fall M. ./. Deutschland (a.a.O.). In diesem Urteil war er zu dem Ergebnis gekommen, dass die Sicherungsverwahrung von Herrn M., die, wie in der vorliegenden Rechtssache, vom erkennenden Gericht nach § 66
Abs. 1 StGB angeordnet worden war, von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a insoweit erfasst war, als sie nicht über die zur Zeit der Tat und Verurteilung dieses Beschwerdeführers gesetzlich vorgeschriebene Höchstdauer von zehn Jahren
hinaus verlängert worden war (siehe a.a.O., Rdnrn. 96 und 97-105). Der Gerichtshof war überzeugt, dass die anfängliche Sicherungsverwahrung von Herrn M. bis zu dieser Höchstdauer "nach Verurteilung" durch das erkennende
Gericht im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a erfolgte.
39. Im Hinblick auf diese Feststellungen in seinem Urteil im Individualbeschwerdeverfahren M. ./. Deutschland, von denen abzuweichen er keinen Anlass sieht, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Sicherungsverwahrung des
Beschwerdeführers nach § 66 StGB in der vorliegenden Rechtssache auf seiner "Verurteilung" im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a durch das Landgericht Köln im Februar 1990 bzw. im November 1996 beruhte. Der
Gerichtshof betont jedoch, dass der Beschwerdeführer in der vorliegenden Rechtssache - anders als der Beschwerdeführer im Fall M. /. Deutschland, aber genauso wie der Beschwerdeführer in der Rechtssache G. - zu dem Zeitpunkt,
als die hier in Rede stehenden innerstaatlichen Gerichtsbeschlüsse ergingen, nicht über die zur Zeit seiner Tat und Verurteilung gesetzlich vorgeschriebene Höchstdauer hinaus in der Sicherungsverwahrung untergebracht war.
40. Darüber hinaus erfolgte die in Rede stehende Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers "nach" Verurteilung. Zwischen seiner Verurteilung und der Freiheitsentziehung bestand demnach ein hinreichender
Kausalzusammenhang. Sowohl die Anordnungen der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers durch das erkennende Landgericht Köln als auch der im Beschwerdeverfahren bestätigte Beschluss der Strafvollstreckungskammer
des Landgerichts Aachen, den Beschwerdeführer nicht freizulassen, beruhten auf denselben Gründen, nämlich den Beschwerdeführer davon abzuhalten, im Falle seiner Entlassung weitere schwere Sexualstraftaten zu begehen.
41. Die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers war auch insofern rechtmäßig, als sie auf einer vorhersehbaren Anwendung des § 66 Abs. 1 StGB beruhte. Der Gerichtshof nimmt in diesem Zusammenhang die Wende der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Bezug auf die Sicherungsverwahrung in dessen Leiturteil vom 4. Mai 2011 (siehe Rdnrn. 25-28) zur Kenntnis. Er begrüßt den Ansatz des Bundesverfassungsgerichts, die
Bestimmungen des Grundgesetzes auch im Lichte der Konvention und der Rechtsprechung dieses Gerichtshofs auszulegen, der den fortwährenden Einsatz des Bundesverfassungsgerichts für den Grundrechtsschutz nicht nur auf
nationaler, sondern auch auf europäischer Ebene unterstreicht.
42. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass das Bundesverfassungsgericht in dem genannten Urteil unter anderem die Ansicht vertrat, § 66 StGB in der seit 27. Dezember 2003 geltenden Fassung sei mit dem Freiheitsrecht der
betroffenen Personen nicht vereinbar. Er geht davon aus, dass die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers bei künftigen Überprüfungen nur nach Maßgabe einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung, so wie sie im Urteil des
Bundesverfassungsgerichts vorgesehen ist (siehe Rdnr. 27), verlängert werden wird. Er stellt jedoch fest, dass die hier in Rede stehende Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers auf der Grundlage einer früheren Fassung von §
66 StGB angeordnet und vollzogen wurde. Jedenfalls wurde § 66 StGB in der seit 27. Dezember 2003 geltenden Fassung nicht rückwirkend für nichtig erklärt, sondern blieb anwendbar und bildete damit insbesondere in der Zeit vor
dem Erlass des Urteils des Bundesverfassungsgerichts eine gültige Rechtsgrundlage im innerstaatlichen Recht. Die Rechtmäßigkeit der in Rede stehenden Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers im Sinne von Artikel 5 Abs. 1
Buchstabe a ist daher nicht in Frage gestellt.
43. Folglich ist Artikel 5 Abs. 1 der Konvention nicht verletzt worden.
II. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 7 ABS. 1 DER KONVENTION
44. Der Beschwerdeführer rügte ferner, dass seine Sicherungsverwahrung ihn in seinem Recht verletze, nicht mit einer schwereren als der zur Tatzeit anwendbaren Strafe belegt zu werden, wie in Artikel 7 Abs. 1 der Konvention
festgelegt, wo es heißt:
"Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Es darf auch keine schwerere als die zur Zeit der Begehung
angedrohte Strafe verhängt werden."
1. Die Stellungnahmen der Parteien
45. Die Regierung vertrat die Auffassung, dass die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung nicht gegen Artikel 7 Abs. 1 verstoßen habe. Unter Bezugnahme auf ihr Vorbringen bezüglich Artikel 5 Abs. 1
trug sie vor, dass die in Rede stehende Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers anders als im Fall M. ./. Deutschland nicht nachträglich über die zum Zeitpunkt seiner Tat zwar für eine erste, nicht aber eine zweite Anordnung
der Sicherungsverwahrung geltende Zehnjahresfrist hinaus verlängert worden sei.
46. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass seine Sicherungsverwahrung ohne konkrete Befristung, was der Gerichtshof in seinem Urteil in der Sache M. ./. Deutschland (a.a.O.) als "Strafe" im Sinne von Artikel 7 Abs. 1 erachtet
habe, gegen das Verbot der rückwirkenden Bestrafung verstoßen habe. Er trug vor, dass seine erste Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, die eine Strafe darstelle, aufgrund der Neuregelung des § 67d Abs. 1 und 3 StGB im
Jahr 1998 i.V.m. Artikel 1a Abs. 3 EGStGB (siehe Rdnrn. 22-23) von einer Höchstfrist von zehn Jahren zeitlich unbefristet und somit um einen nicht hinreichend bestimmten Zeitraum verlängert worden sei.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
47. Im Hinblick auf die Prüfung der Frage, ob die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers in der vorliegenden Rechtssache mit Artikel 7 Abs. 1 vereinbar war, verweist der Gerichtshof auf seine Schlussfolgerungen in der
Rechtssache M. ./. Deutschland (a.a.O., Rdnrn. 124-133). In jener Rechtssache hatte er festgestellt, dass die Sicherungsverwahrung nach dem deutschen Strafgesetzbuch insbesondere deshalb, weil sie von den Strafgerichten nach einer
Verurteilung wegen einer Straftat angeordnet wird und eine Freiheitsentziehung nach sich zieht, für die es nach der gesetzlichen Neuregelung von 1998 keine Höchstfrist mehr gibt, als "Strafe" im Sinne von Artikel 7 Abs. 1 der
Konvention einzustufen ist. Der Gerichtshof sieht keinen Grund, in der vorliegenden Rechtssache von dieser Feststellung abzuweichen.
48. Was die Frage angeht, ob gegen den Beschwerdeführer eine schwerere als zur Zeit der Begehung der Straftat angedrohte Strafe verhängt wurde, stellt der Gerichtshof fest, dass zum Zeitpunkt, als der Beschwerdeführer 1989 seine
Straftaten beging, Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, die von einem erkennenden Gericht i.V.m. § 67d Abs. 1 StGB in der zur damaligen Zeit geltenden Fassung erstmalig angeordnet wurde, bedeutete, dass der
Beschwerdeführer maximal zehn Jahre in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden konnte (siehe auch Rdnr. 22). Erst mit der Neuregelung von § 67d StGB im Jahr 1998, i.V.m. Artikel 1a Abs. 3 EGStGB (siehe Rdnr. 23),
entfiel die Höchstdauer mit sofortiger Wirkung; somit konnte auch eine erstmalige Anordnung der Sicherungsverwahrung zeitlich unbefristet vollzogen werden.
49. Als die angegriffenen Gerichtsbeschlüsse in den Jahren 2003 und 2004 ergingen, war der Beschwerdeführer jedoch noch keine zehn Jahre in der ersten Sicherungsverwahrung untergebracht (und es wurde dann nach einer weiteren
Straftat ein zweites Mal Sicherungsverwahrung gegen ihn angeordnet, für die eine Höchstfrist von zehn Jahren nie galt, siehe Rdnr. 22). Deshalb kann der Beschwerdeführer nicht beanspruchen, nach einem Gesetz, das erlassen wurde,
nachdem er seine Tat begangen hatte, im Sinne von Artikel 34 der Konvention Opfer einer rückwirkenden Verlängerung seiner Sicherungsverwahrung zu sein (vgl. auch M.-F. ./. Deutschland (Entsch.) Individualbeschwerde Nr.
47678/99, 30. März 2000).
50. Folglich ist dieser Teil der Beschwerde nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und Abs. 4 der Konvention als ratione personae mit den Bestimmungen der Konvention unvereinbar zurückzuweisen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Rüge nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention wegen der unbefristeten Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung wird für zulässig und die Individualbeschwerde im Übrigen für unzulässig erklärt;
2. Artikel 5 Abs. 1 der Konvention ist nicht verletzt worden.
Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 9. Juni 2011 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs. ..." (EGMR, Urteil vom 09.06.2011 - 30493/04)
***
Die Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik verstößt gegen Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf Freiheit der Person), wenn das nationale Gericht die Unterbringung nicht hinreichend geprüft hat. Diese Voraussetzungen sind
gegeben, wenn eine Notsituation nicht vorlag, der Betroffene keine Vorgeschichte psychischer Erkrankungen und keine Neigungen zu gewalttätigem Verhalten hatte und das nationale Gericht seine Feststellungen ausschließlich auf
das Protokoll des Gesprächs eines Justizangestellten mit dem behandelnden Arzt gestützt hat, der sich auf die Aussagen des Hausarztes und der Familie des Untergebrachten bezog und den Hausarzt und die Familie nicht persönlich
befragt hat (EGMR, Urteil vom 26.05.2011 - 39822/07).
***
Der Gerichtshof hat mehrfach entschieden, dass eine gewisse Verzögerung der Haftentlassung nach einer dahingehenden gerichtlichen Entscheidung verständlich und oft aus praktischen Gründen unvermeidbar sein kann. In Fällen, in
denen eine gesetzlich vorgeschriebene Höchstdauer der Haft überschritten worden ist, war er strenger, weil das Ende der zulässigen Höchstdauer im Voraus bekannt ist. Im vorliegenden Fall ist die gesetzlich vorgeschriebene
Höchstdauer der Haft um 30 Minuten überschritten worden. Die Staatsanwaltschaft hatte einen Haftbefehl innerhalb der vorgesehenen Frist gestellt und es stand eine Anhörung durch den Untersuchungsrichter unmittelbar bevor.
Deswegen ist Art. 5 I EMRK nicht verletzt (EGMR, Urteil vom 08.02.2011 - 36988/07 zu EMRK Art. 5, 35 III, IV, 41, BeckRS 2011, 21464).
***
Die Fortdauer der Sicherungsverwahrung über die ursprünglich im StGB vorgesehene Höchstdauer von zehn Jahren verstößt gegen Art. 5 I lit. a (Recht auf Freiheit und Sicherheit) und Art. 7 I EMRK (keine Strafe ohne Gesetz -
Anschluss an EGMR, Slg. 2009 = NJW 2010, 2495 - M./Deutschland). Nach Art. 5 z I lit. e EMRK kann einer Person die Freiheit wegen einer psychischen Krankheit nur entzogen werden, wenn sie zuverlässig nachgewiesen und so
schwerwiegend ist, dass sie eine zwangsweise Unterbringung notwendig macht. Die Fortdauer der Unterbringung ist nur so lange zulässig, wie die Störung fortbesteht. Eine Freiheitsentziehung wegen einer psychischen Erkrankung ist
nur rechtmäßig i. S. von Art. 5 I lit. e EMRK, wenn sie in einem Krankenhaus, einer Klinik oder einer anderen geeigneten Einrichtung vollzogen wird. Es gibt aber in Deutschland keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem
Vollzug einer langen Freiheitsstrafe und dem einer Sicherungsverwahrung. Die Feststellung einer Konventionsverletzung verpflichtet den beklagten Staat nach Art. 46 EMRK (Verbindlichkeit und Durchführung der Urteile) nicht nur
zur Zahlung des nach Art. 41 EMRK (gerechte Entschädigung) zugesprochenen Betrags an den Beschwerdeführer, sondern auch dazu, unter Aufsicht des Ministerkomitees des Europarats allgemeine oder individuelle Maßnahmen zu
treffen, um die Konventionsverletzung abzustellen und so weit wie möglich Wiedergutmachung zu leisten. Aus Art. 1 EMRK (Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte) ergibt sich, dass sich die Konventionsstaaten mit
Ratifizierung der Konvention verpflichtet haben sicherzustellen, dass ihre Rechtsordnung mit der Konvention übereinstimmt. Daraus folgt, dass der beklagte Staat jedes Hindernis in seiner Rechtsordnung für eine angemessene
Wiedergutmachung beseitigen muss. Nach dem Urteil in der Sache M./Deutschland (Slg. 2009 = NJW 2010, 2495) haben einige deutsche Gerichte die konventionswidrige Sicherungsverwahrung nicht beendet mit der Begründung, sie
könnten das StGB nicht konventionskonform auslegen. Einige Oberlandesgerichte und ein Senat des BGH halten das für möglich. Deswegen sieht der Gerichtshof davon ab, bestimmte allgemeine oder individuelle Maßnahmen zu
bezeichnen, die zur Durchführung des Urteils erforderlich sind. Er fordert die deutschen Behörden und Gerichte aber dringend dazu auf, ihrer Verantwortung für die Anwendung und Durchsetzung des Rechts des Beschwerdeführers
auf Freiheit nachzukommen (EGMR, Urteil vom 13.01.2011 - 17792/07).
***
Eine Freiheitsentziehung ist "rechtmäßig" i. S. von Art. 5 I lit. a EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit), wenn sie nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht vorgenommen wird. Das Wort "nach" bedeutet nicht nur, dass die
Freiheitsentziehung auf die Verurteilung folgen muss. Es muss auch eines ausreichender Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung und der Freiheitsentziehung bestehen. Den gab es im vorliegenden Fall nicht. Auch nach Art.
5 I c EMRK ist die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers nicht gerechtfertigt, denn sie wurde nicht angeordnet, um ihn unverzüglich einem Richter vorzuführen und wegen einer Straftat abzuurteilen (Art. 5 III EMRK). Nach
Art. 5 I e EMRK kann einer Person die Freiheit wegen einer psychischen Krankheit nur entzogen werden, wenn diese durch ärztliche Gutachten zuverlässig nachgewiesen ist. Außerdem ist eine solche Freiheitsentziehung nur
rechtmäßig i. S. dieser Vorschrift, wenn sie in einem Krankenhaus, einer Klinik oder einer anderen geeigneten Einrichtung vollzogen wird. An beiden fehlt es im vorliegenden Fall. Eine Freiheitsentziehung i. S. von Art. 5 I EMRK
muss im Übrigen, um "rechtmäßig" zu sein, eine Rechtsgrundlage haben, die ihrerseits eine bestimmte Qualität haben muss. Dazu gehört die Vorhersehbarkeit bei ihrer Anwendung, so dass jede Gefahr der Willkür ausgeschlossen ist.
Das BVerfG hat das BayStrUBG, die Rechtsgrundlage für die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers, für verfassungswidrig erklärt, gleichzeitig aber seine Fortgeltung für eine Übergangszeit angeordnet. Die Frage, ob das
vorhersehbar war und damit die Sicherungsverwahrung rechtmäßig, kann jedoch offen bleiben, da sie jedenfalls unter keinen der Buchstaben des Art. 5 I EMRK fällt. Dass die Sicherungsverwahrung drei Tage vor der geplanten
Entlassung des Beschwerdeführers angeordnet wurde und zwar für eine unbestimmte Dauer, hat bei dem Betroffenen sicherlich zu Gefühlen der Erniedrigung und Unsicherheit geführt, die über das üblicherweise mit einer
Freiheitsentziehung verbundene Maß an Leiden hinausgehen. Doch haben diese Umstände der Anordnung und der Dauer der Maßnahme nicht das Mindestmass an Schwere erreicht, um sie als unmenschliche oder erniedrigende
Behandlung oder Bestrafung i. S. von Art. 3 EMRK (Verbot der Folter) anzusehen. Wird eine psychische Störung aufgrund medizinischer Sachkompetenz festgestellt, ist der Betroffene - auch nach deutschem Recht-in einer
psychiatrischen Klinik oder einer vergleichbaren Einrichtung unterzubringen. Wird dies von der zuständigen Behörde gleichwohl abgelehnt mit der Folge, dass der Betroffene in einer Justizvollzugsanstalt untergebracht wird,
verbleiben durchgreifende Zweifel daran, ob eine "tatsächliche psychische Störung" i. S. von Art. 5 I lit. e EMRK festgestellt wurde und ob die Feststellung vor einer "zuständigen Behörde" erfolgt ist. Dies gilt umso mehr, wenn -wie
hier- die zuständige Strafvollstreckungskammer nach dem anzuwendenden Gesetz nicht einmal aufgefordert war zu untersuchen, ob der Betroffene als psychisch Kranker unterzubringen ist (EGMR, Urteil vom 13.01.2011 - 6587/04
zu MRK Art. 5 Ia, BeckRS 2011, 80793).
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Die in Art. 5 III EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit) erwähnte Sicherheit soll nicht den Ersatz eines Schadens sicherstellen, sondern das Erscheinen des Beschuldigten vor Gericht. Die Höhe einer Kaution muss unter
Berücksichtigung der Verhältnisse des Betroffenen, seiner Mittel und seiner Verbindung zu den Personen, welche die Kaution zahlen sollen, festgesetzt werden, mit anderen Worten insgesamt unter Berücksichtigung des Vertrauens
darauf, dass die Aussicht auf den Verlust der Kaution im Falle des Nichterscheinens vor Gericht für den Beschuldigten ein ausreichendes Hemmnis ist, das die Fluchtgefahr ausschließt. Die Behörden müssen bei der Bestimmung
der Höhe einer Kaution ebenso sorgfältig verfahren wie bei der Entscheidung, ob die Haft weiter notwendig ist. Entscheidungen über die Höhe der Kaution müssen ausreichend begründet werden. Bei der Bestimmung der
Kaution kann es unter Umständen angemessen sein, auch die Höhe des verursachten Schadens zu berücksichtigen und das berufliche Umfeld, in dem die Tat begangen worden ist (EGMR, Urteil vom 28.09. 2010 - 12050/04 zu NJOZ
2011, 1064).
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„... Der 1956 geborene Beschwerdeführer, Herr F., ist deutscher Staatsangehöriger. Er ist derzeit in einem psychiatrischen Krankenhaus in W. untergebracht. Vor dem Gerichtshof wurde er von Herrn W. Karczewski, Rechtsanwalt in
Neuwied, vertreten. Die beschwerdegegnerische Regierung wurde von ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Frau Ministerialdirigentin A. Wittling-Vogel vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.
A. Die Umstände der Rechtssache
Der von den Parteien vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.
1. Der Hintergrund der Rechtssache
a. Das Verfahren gegen den Beschwerdeführer und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
Am 23. Juli 1982 wurde der Beschwerdeführer wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs eines neunjährigen Mädchens festgenommen. Nach einem Geständnis wurde er am selben Tag auf freien Fuß gesetzt.
Am 26. Juli 1982 begab der Beschwerdeführer sich freiwillig in eine psychiatrische Klinik in Andernach.
In dem Verfahren vor dem Landgericht Koblenz wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführer zwischen 1975 und 1982 in zwanzig Fällen sexuelle Handlungen an Kindern vorgenommen hatte. Der Beschwerdeführer hatte die erste
Tat im Alter von neunzehn Jahren begangen. Der Beschwerdeführer hatte mit seinen Händen Manipulationen im Genitalbereich seiner Opfer, Mädchen im Alter von acht bis zehn Jahren, vorgenommen, woraufhin es bei ihm zu
spontanen Samenergüssen kam oder er onanierte. Sobald sich die Opfer wehrten, stellte er die sexuellen Manipulationen ein. Die ersten sechzehn Sexualstraftaten waren zwischen 1975 und 1978 begangen worden. Die Opfer waren
Mitschülerinnen des Beschwerdeführers in einer Internatssonderschule für Sehbehinderte, die der Beschwerdeführer, der selbst an einer sehr starken angeborenen Sehbehinderung leidet, in der Zeit von 1966 bis 1978 zunächst als
Schüler und danach als Auszubildender besuchte. Die anderen Opfer waren Kinder von Verwandten oder anderen ihm bekannten Personen.
Am 18. August 1983 sprach das Landgericht Koblenz den Beschwerdeführer, der geständig gewesen war, nach Anhörung eines medizinischen Sachverständigen des psychiatrischen Krankenhauses Andernach frei; der Sachverständige
diagnostizierte bei dem Beschwerdeführer eine Persönlichkeitsstörung mit starker Selbstunsicherheit und sozialer Anpassungsstörung sowie schwerer sexueller Deviation im Sinne einer heterosexuellen Pädophilie. Das Landgericht
war der Auffassung, dass der Beschwerdeführer bei der Tatbegehung schuldunfähig gewesen sei und ordnete seine Unterbringung in einer Klinik für forensische Psychiatrie an, weil von ihm mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere
erhebliche Sexualstraftaten zu erwarten seien (§§ 20 und 63 StGB, siehe "Das einschlägige innerstaatliche Recht"). Der Beschwerdeführer ist seitdem über 25 Jahre in psychiatrischen Krankenhäusern untergebracht.
b. Die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus
Der Beschwerdeführer war zunächst im Krankenhaus für forensische Psychiatrie in Andernach und danach von 1984 bis 1986 in Landeck untergebracht, wo festgestellt wurde, dass seine sexuelle Deviation die Folge einer
zwangsneurotischen Entwicklung war und verschiedene Faktoren wie die angeborene Sehbehinderung und das problematische familiäre Umfeld zu einer sozialen Marginalisierung des Beschwerdeführers geführt hatten, die ihn daran
gehindert habe, einen adäquaten Umgang mit der eigenen Sexualität zu lernen.
Nach einem gescheiterten Therapieversuch wurde der Beschwerdeführer 1986 in das psychiatrische Krankenhaus Andernach zurückverlegt, wo er bis Juli 1997 blieb. Eine Genehmigung zur Arbeit in einer externen beschützten
Werkstatt für behinderte Menschen wurde 1992 zurückgenommen, weil der Beschwerdeführer die Wege zum Arbeitsplatz ohne Erlaubnis mehrmals ausgedehnt hatte.
Im August 1997 wurde der Beschwerdeführer in eine Klinik für forensische Psychiatrie in Alzey verlegt, wo er mit einem Mitpatienten eine homosexuelle Beziehung einging. Im Februar 2001 wurde er in eine Abteilung der Klinik
Andernach in W. zurückverlegt, wo er sich seither befindet.
In von den jeweiligen Kliniken in der Zeit von 1989 bis 2001 (z. B. am 25. August 1989, 28. Oktober 1993, 27. September 1995, 29. Februar 1996, 17. Dezember 1999 und 6. November 2001) regelmäßig erstellten
Sachverständigengutachten wurde zwar festgestellt, dass der Beschwerdeführer sich dem Leben in der Einrichtung angepasst und therapeutisch Fortschritte erzielt habe, aber auch betont, dass er dazu neige, die von ihm begangenen
Straftaten zu bagatellisieren, und nicht bereit sei, sich mit seiner Persönlichkeitsstörung auseinander zu setzen, und nicht auszuschließen sei, dass er nach seiner Freilassung ähnliche Straftaten begehen werde. In einem auf Wunsch des
Beschwerdeführers von dem Landgericht eingeholten und am 11. Dezember 2000 erstatteten externen Sachverständigengutachten wurde angeregt, mit dem Beschwerdeführer weiterhin therapeutisch zu arbeiten, ihm Anstaltsausgang
zu gewähren und nach drei Jahren eine Neubeurteilung seiner Kriminalprognose vorzunehmen. Spätere begleitete Ausgänge des Beschwerdeführers und weitere Vollzugslockerungen sind beanstandungsfrei verlaufen.
2002 ging der Beschwerdeführer eine weitere homosexuelle Beziehung mit einem Mitpatienten ein, die von den behandelnden Therapeuten als relativ stabil eingestuft und als Anfang einer Entwicklung zu einer reifen Form der
Sexualität angesehen wurde. Laut einem Sachverständigengutachten der Klinik vom 16. Dezember 2003 hatte der Beschwerdeführer bezüglich der Delinquenzbearbeitung zwar Fortschritte erzielt; es müsse aber nach wie vor davon
ausgegangen werden, dass er Zusammenhangsdelikte (Sexualstraftaten) begehen werde.
In einem Sachverständigengutachten vom 21. November 2004 kam derselbe externe Sachverständige, der das Gutachten vom 11. Dezember 2000 erstattet hatte, zu dem Ergebnis, dass bei dem Beschwerdeführer keine Pädophilie
vorliege und die Taten als Ersatzhandlungen eines gehemmten und erheblich sehbehinderten Menschen, der seine Opfer als kleine Erwachsene angesehen hatte, eingestuft werden müssten. Angesichts der von dem Beschwerdeführer
erzielten Fortschritte, die von dem behandelnden Therapeuten bestätigt wurden, stellte der Sachverständige eine ziemlich günstige Kriminalprognose für den Beschwerdeführer und empfahl, nach einer einjährigen Erprobungsphase
eine bedingte Entlassung in ein Betreutes Wohnen in Betracht zu ziehen.
Der Gutachter stellte ferner fest, dass ihm kaum ein Fall bekannt geworden sei, in dem eine in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebrachte Person so vielen verschiedenen Behandlungen ausgesetzt und so oft von einer Klinik in
die andere verlegt wurde; dies habe zu wechselweise günstigen und ungünstigen Prognosen geführt. So sei eine Therapie in der psychiatrischen Klinik Alzey, die zu positiven Ergebnissen geführt habe, durch die Zurückverlegung des
Beschwerdeführers in die Klinik W. 2001 unterbrochen worden.
c. Frühere Überprüfungen der Unterbringung des Beschwerdeführers
Die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus wurde von den zuständigen Gerichten regelmäßig überprüft (vgl. §§ 67d und 67e StGB, siehe "Das einschlägige innerstaatliche Recht"), und seine
Anträge, die Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung auszusetzen, wurden von den Gerichten wiederholt abgelehnt.
So wies das Landgericht Koblenz mit Beschluss vom 3. November 1995 zwar einen weiteren Antrag des Beschwerdeführers auf Aussetzung der Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung ab, stellte allerdings fest, dass die
weitere Fortdauer der Unterbringung nach über zwölf Jahren möglicherweise nicht mehr verhältnismäßig sein könnte und die Klinik deshalb verpflichtet sei, die Maßnahmen der Rehabilitation voranzutreiben, insbesondere im
Hinblick auf die Bereitschaft des Beschwerdeführers, sich angemessen behandeln und therapieren zu lassen. Wegen der besonderen Umstände des Falls kürzte das Landgericht die gesetzlich vorgesehene Jahresfrist zur Überprüfung
der Unterbringung des Beschwerdeführers auf ein halbes Jahr.
Die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen die anschließende Ablehnung eines gleichgelagerten Antrags durch das Landgericht Koblenz wurde vom Oberlandesgericht Koblenz durch Beschluss vom 24. April 2002 abgewiesen.
Am 30. Januar 2004 wies das Landgericht Koblenz den Antrag des Beschwerdeführers auf Aussetzung der Unterbringung zur Bewährung durch einen in der Beschwerdeinstanz bestätigten Beschluss erneut ab.
Am 14. Januar 2005 lehnte das Landgericht Koblenz einen weiteren Antrag des Beschwerdeführers auf bedingte Entlassung ab und ordnete eine Überprüfung seiner Unterbringung nach sechs Monaten und nicht nach Ablauf der
gesetzlich vorgesehenen Jahresfrist an.
2. Das in Rede stehende Verfahren
a. Die Entscheidung des Landgerichts Koblenz
Am 1. September 2005 wies das Landgericht Koblenz nach Anhörung des Beschwerdeführers dessen Antrag ab, die Vollstreckung seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zur Bewährung auszusetzen oder die
Unterbringung für erledigt zu erklären (siehe §§ 67d und 67e StGB). Nach Anhörung des Beschwerdeführers am 26. August 2005 im Beisein seines Anwalts, der Stationsärztin sowie eines weiteren Arztes und insbesondere aufgrund
eines Sachverständigengutachtens der psychiatrischen Klinik Andernach vom 13. Juni 2005 stellte des Landgericht fest, dass der Beschwerdeführer, der eine Zeit lang aggressives Verhalten an den Tag gelegt hatte, seit der letzten
Überprüfung seiner Unterbringung am 14. Januar 2005 nunmehr wieder regelmäßig therapeutische Gruppen besuche, wozu er sich allerdings erst bereit erklärt habe, als er darauf hingewiesen worden war, dass eine
Therapieverweigerung sich auf seine rechtliche und medizinische Prognose ungünstig auswirken würde. Das Landgericht berücksichtigte zwar die Dauer der Unterbringung des Beschwerdeführers, betonte aber, dass dieser noch am
Anfang eines neuen Therapieversuchs stehe, die begangenen Straftaten bagatellisiere, weil er gegenüber seinen Opfern nie Gewalt angewandt habe, es ihm an Opferempathie fehle und er nicht in der Lage sei, über seine Gefühle zu
sprechen. Nach Auffassung des Landgerichts bestand aus diesen Gründen weiterhin die ernsthafte Gefahr, dass der Beschwerdeführer nach einer Entlassung ähnliche Sexualstraftaten begehen werde.
b. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Koblenz
Am 20. Oktober 2005 verwarf das Oberlandesgericht Koblenz die Beschwerde des Beschwerdeführers. Das Oberlandesgericht hatte keinen Zweifel daran, dass bei dem Beschwerdeführer immer noch Pädophilie vorliege, und
unterstrich, dass diese Diagnose von den behandelnden Ärzten wiederholt bestätigt worden sei. Das Oberlandesgericht betonte ferner, dass die gegenteiligen Feststellungen des externen Sachverständigen aus dem Jahr 2004 es nicht
überzeugten. Es wies darauf hin, dass der Beschwerdeführer 1992 seine unbeaufsichtigten Wege zur Arbeit in einer beschützten Werkstatt dazu missbraucht habe, Örtlichkeiten aufzusuchen, an denen Kinder und Jugendliche sich
häufig aufhalten, kinderpornographische Bilder in seinem Zimmer gefunden worden seien und er Kinder- und Jugendzeitschriften abonniert habe. Das Oberlandesgericht stellte fest, dass eine Aussetzung der Unterbringung des
Beschwerdeführers zur Bewährung erst in Frage komme, wenn die Behandlung als so weit fortgeschritten angesehen werden könne, dass das Restrisiko für vorpubertäre Mädchen gering sei. Diese Voraussetzungen seien in dem
vorliegenden Fall nicht erfüllt, und es müsse als sicher angenommen werden, dass sich der Beschwerdeführer in Freiheit an kleinen Mädchen vergehen werde.
Das Oberlandesgericht, das auch auf seinen früheren Beschluss vom 24. April 2002 Bezug nahm, war überdies der Auffassung, dass die seit über 20 Jahren fortdauernde Unterbringung des Beschwerdeführers angesichts dieser Gefahr
noch verhältnismäßig sei. Mit Blick auf die Art der drohenden Taten und den staatlichen Schutzauftrag für die Rechtsgüter des Einzelnen und der Allgemeinheit sei es unvertretbar, den Beschwerdeführer in die Freiheit zu entlassen.
Auch lebenslange Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus könne angemessen und verfassungsgemäß sein, solange Schutzinteressen Dritter diese rechtfertigten.
c. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts
Am 17. Februar 2006 beschloss das Bundesverfassungsgericht, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers (Az.: 2 BvR 2096/05) mangels Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung anzunehmen. Es stellte fest, dass die
Vollstreckungsgerichte verpflichtet seien, Aussagen oder Gutachten von Sachverständigen eigenständig zu beurteilen und aufgrund der sich daraus ergebenden Prognose zu einer Entscheidung zu gelangen. Das Oberlandesgericht habe
sich den Ausführungen des externen Sachverständigen nicht unbesehen anschließen müssen, sondern eigene Erwägungen zum Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 20 und 63 StGB in vorliegender Rechtssache anstellen können. Das
Oberlandesgericht habe sich im Einklang mit anderen Gutachtern befunden, die offenbar über mehr als zwanzig Jahre von einer Pädophilie des Beschwerdeführers ausgegangen seien. Das Oberlandesgericht habe sich hinreichend mit
den Feststellungen und Wertungen des externen Sachverständigen auseinandergesetzt und sei zu keinen willkürlichen Schlussfolgerungen gelangt. Die negative Legalprognose des Beschwerdeführers sei mit Blick auf seine fehlende
Empathie mit den Opfern und seine Tendenz, die verübten Straftaten zu bagatellisieren, gerechtfertigt. Das Oberlandesgericht habe im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der fortdauernden Unterbringung eine gerechte
Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Beschwerdeführers nach einer mehr als 20-jährigen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und der Gefahr, die von ihm für die Gesellschaft ausgehe, vorgenommen.
3. Weitere Entwicklungen
Aus Anlass einer weiteren Überprüfung der Unterbringung des Beschwerdeführers ordnete das Landgericht Koblenz nach Anhörung des Beschwerdeführers und unter Berufung auf ein Gutachten der behandelnden Ärzte vom 31. Mai
2006 mit Beschluss vom 8. September 2006 erneut die Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Die behandelnden Ärzte hatten die Pädophiliediagnose bestätigt und eine
ungünstige Kriminalprognose für den Beschwerdeführer erstellt, insbesondere im Hinblick darauf, dass er im Verlauf seiner Therapie keine hinreichenden Fortschritte gemacht habe und sich daraus ein Rückfallrisiko ergebe.
Hinsichtlich der Beurteilung der Frage, ob die Dauer der Unterbringung noch verhältnismäßig sei, berief sich das Landgericht auf die Begründung des Beschlusses des Oberlandesgerichts vom 20. Oktober 2005. Die vom
Beschwerdeführer gegen diesen Beschluss eingelegte Beschwerde wurde vom Oberlandesgericht Koblenz mit Beschluss vom 18. Dezember 2006 als offensichtlich unbegründet verworfen.
Am 21. Januar 2008 holte das Landgericht Koblenz im Hinblick auf eine weitere Überprüfung der Unterbringung des Beschwerdeführers ein externes Sachverständigengutachten ein. Der Sachverständige befand, dass bei dem
Beschwerdeführer eine heterosexuelle Pädophilie vorliege und die von ihm mit anderen Untergebrachten eingegangenen homosexuellen Beziehungen als Ersatzhandlungen anzusehen seien. Der Sachverständige war der Auffassung,
dass der Beschwerdeführer weiterhin pädophile Neigungen zeige und die Gefahr fortbestehe, dass er im Falle seiner Entlassung entsprechende Sexualstraftaten begehen werde. Im Hinblick auf die Schlussfolgerungen des externen
Sachverständigen und nach Anhörung des Beschwerdeführers bestätigte das Landgericht mit Beschluss vom 20. Februar 2008 die Fortdauer seiner Unterbringung.
Am 17. April 2009 stellte das Landgericht Koblenz nach Anhörung des Beschwerdeführers und auf der Grundlage einer Stellungnahme der behandelnden Ärzte vom 13. Januar 2009 erneut fest, dass eine Aussetzung der
Unterbringung des Beschwerdeführers zur Bewährung noch nicht in Betracht komme, da die Gefahr fortbestehe, dass er weitere Straftaten begehen werde. Die Pädophilie und die Persönlichkeitsstörung seien unverändert und seine
Fähigkeit und Bereitschaft, im therapeutischen Prozess mitzuarbeiten, sei mangels Einsicht in seine Erkrankung und die Notwendigkeit der Behandlung stark eingeschränkt. Er bagatellisiere die begangenen Straftaten immer noch und
sei nicht in der Lage, ausreichend emotionale Anteilnahme und Einfühlungsvermögen zu zeigen. Das Landgericht berücksichtigte zwar die lange Dauer der Unterbringung des Beschwerdeführers, wies jedoch darauf hin, dass kein
Zweifel daran bestehe, dass eine Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik immer noch verhältnismäßig sei. Die Straftaten, die zur Einweisung des Beschwerdeführers in das psychiatrische Krankenhaus geführt hätten, seien
schwerwiegend und er sei immer noch hoch rückfallgefährdet. Nach den Ausführungen der behandelnden Ärzte sei dieser Rückfallgefahr nicht durch andere Maßnahmen zu begegnen, zumal die Haltung des Beschwerdeführers zu
seiner Sexualität und seinen pädophilen Neigungen völlig unklar sei. Daher könnten die Sicherungsinteressen der Allgemeinheit derzeit nur durch die weitere Unterbringung des Beschwerdeführers gewahrt werden und hätten
weiterhin Vorrang vor seinen Freiheitsinteressen.
Am 7. Juli 2009 verwarf das Oberlandesgericht Koblenz die vom Beschwerdeführer gegen diesen Beschluss eingelegte Beschwerde.
B. Das einschlägige innerstaatliche Recht
Das Strafgesetzbuch unterscheidet zwischen Strafen und sogenannten Maßregeln der Besserung und Sicherung als Reaktion auf rechtswidrige Taten. Strafen (siehe § 38 ff. StGB) umfassen im Wesentlichen Freiheitsstrafen und
Geldstrafen. Die Strafe wird nach der Schuld des Täters zugemessen (§ 46 Abs. 1 StGB). Maßregeln der Besserung und Sicherung (siehe §§ 61 ff. StGB) umfassen insbesondere die Unterbringung in einem psychiatrischen
Krankenhaus (§ 63 StGB), in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) oder in der Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB). Der Zweck dieser Maßregeln besteht darin, gefährliche Straftäter zu resozialisieren oder die Allgemeinheit vor ihnen
zu schützen. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus kann angeordnet werden, wenn jemand eine Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder der verminderten Schuldfähigkeit begangen hat. Die Maßregel muss
jedoch im angemessenen Verhältnis zur Bedeutung der vom Täter begangenen und zu erwartenden Taten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr stehen (§ 62 StGB).
Nach § 20 StGB handelt ohne Schuld, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer schwerwiegenden Persönlichkeitsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen
Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.
Artikel 63 StGB bestimmt, dass das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ohne Angabe einer Höchstdauer anordnet, wenn jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) begangen
hat und die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.
§ 67d StGB regelt die Dauer der Unterbringung. Stellt das Gericht nach Beginn der Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus fest, dass die Voraussetzungen der Maßregel nicht mehr vorliegen oder die
weitere Vollsteckung der Maßregel unverhältnismäßig wäre, so erklärt es sie für erledigt (§ 67d Abs. 6).
§ 67e StGB sieht die Überprüfung der Unterbringung u. a. in einem psychiatrischen Krankenhaus vor. Das Gericht kann jederzeit prüfen, ob die weitere Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung auszusetzen ist. Dies muss vor
Ablauf bestimmter Fristen geschehen (§ 67e Abs. 1). Für in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebrachte Personen beträgt die Frist ein Jahr (§ 67e Abs. 2).
RÜGEN
1. Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstaben a und e der Konvention, dass die Fortdauer seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus seit 1983 unverhältnismäßig sei.
Er wandte sich insbesondere gegen den Beschluss des Landgerichts Koblenz vom 1. September 2005, mit dem sein Antrag, seine Unterbringung für erledigt zu erklären oder zur Bewährung auszusetzen, abgelehnt wurde, den
Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 20. Oktober 2005, mit dem seine gegen den Beschluss des Landgerichts gerichtete Beschwerde abgewiesen wurde, sowie gegen den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 17.
Februar 2005, mit dem die Annahme der Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung abgelehnt wurde.
Er machte geltend, dass ausweislich eines 2004 erstatteten externen Sachverständigengutachtens bei ihm keine sexuelle Deviation im Sinne einer Pädophilie vorliege, die die Fortsetzung seiner Unterbringung in einem psychiatrischen
Krankenhaus rechtfertigen würde.
2. Er behauptete ferner, dass die Fortdauer seiner Unterbringung eine unmenschliche Behandlung im Sinne von Artikel 3 der Konvention darstelle.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
1. Der Beschwerdeführer rügte, dass die Fortdauer seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, wie sie in dem in Rede stehenden Verfahren bestätigt worden sei, mit Artikel 5 Abs. 1 Buchstaben a und e der
Konvention nicht vereinbar sei; die entsprechende Bestimmung lautet wie folgt:
"(1) Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:
a) rechtmäßige Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht;"
...
e) rechtmäßige Freiheitsentziehung mit dem Ziel, die Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern, sowie bei psychisch Kranken, Alkohol- oder Rauschgiftsüchtigen und Landstreichern; ...
Die Regierung brachte vor, die Beschwerde sei hinsichtlich des Vorbringens des Beschwerdeführers, das Landgericht Koblenz, das Oberlandesgericht Koblenz und das Bundesverfassungsgericht hätten bei ihren Entscheidungen vom
1. September 2005, 20. Oktober 2005 und 17. Februar 2006, durch die sein Antrag, seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zur Bewährung auszusetzen oder für erledigt zu erklären, abgelehnt worden sei, jeweils
nicht gebührend berücksichtigt, dass er bereit sei, seine Therapie im Falle einer Entlassung auf Bewährung ambulant fortzusetzen. Die Regierung trug vor, dass dieser Aspekt nicht Gegenstand der Verfassungsbeschwerde des
Beschwerdeführers vom 8. Dezember 2005 gewesen sei und der Beschwerdeführer daher insoweit den innerstaatlichen Rechtsweg nicht erschöpft habe.
Der Beschwerdeführer brachte vor, dass dieses Argument bereits in seiner sofortigen Beschwerde vom 21. September 2005 gegen das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 1. September 2005 vorgetragen worden sei; auch sei der
entsprechende Schriftsatz an das Oberlandesgericht Koblenz seiner Verfassungsbeschwerde als Anhang beigefügt worden.
Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass es nicht erforderlich ist, darüber zu entscheiden, ob der Beschwerdeführer diesbezüglich den innerstaatlichen Rechtsweg erschöpft hat oder nicht, da die Beschwerde aus den nachfolgend
aufgeführten Gründen in jedem Fall unzulässig ist.
Die Regierung brachte weiter vor, die Beschwerde sei unbegründet, da die Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers mit Artikel 5 Abs. 1 der Konvention vereinbar sei. Es sei verlässlich nachgewiesen worden, dass der
Beschwerdeführer im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e der Konvention "psychisch krank" und seine Krankheit so schwerwiegend sei, dass sie seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus weiter erforderlich
mache. Seine Unterbringung sei darüber hinaus rechtmäßig gewesen und in der gesetzlich vorgeschriebenen Weise erfolgt.
Unter Bezugnahme auf das 2004 erstellte externe Sachverständigengutachten brachte der Beschwerdeführer vor, dass bei ihm keine sexuelle Deviation im Sinne einer Pädophilie vorliege und der Grad oder die Schwere seiner
psychischen Erkrankung nicht seine Zwangsunterbringung rechtfertige, was insbesondere anlässlich seiner begleiteten Ausgänge aus dem Krankenhaus sowie weiterer Lockerungen seiner Unterbringung, die keinen Anlass zu
Beschwerden gegeben hätten, festgestellt worden sei. Seine bedingte Entlassung in ein Betreutes Wohnen, begleitet von einer ambulanten Therapie, wäre ausreichend, um das potentielle Restrisiko eines Rückfalls zu minimieren. Der
Beschwerdeführer war weiter der Auffassung, dass die innerstaatlichen Gerichte im Hinblick auf die Feststellungen, die der externe Sachverständige in seinem Gutachten von 2004 getroffen habe und in der die Pädophilie-Diagnose
bestritten worden sei, im Verlauf des Überprüfungsverfahrens, das zu den angefochtenen Entscheidungen geführt habe, zumindest ein Obergutachten hätten einholen müssen.
Der Gerichtshof stellt fest, dass der Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers und seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus eine gerichtliche Entscheidung zugrunde lag und seine Freiheitsentziehung daher
sowohl unter Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a als auch unter Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e fallen könnte. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sich Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a auf eine Situation bezieht, in der eine
Freiheitsentziehung "nach Verurteilung" durch ein zuständiges Gericht angeordnet worden ist, der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall jedoch freigesprochen wurde, ist der Gerichtshof jedoch der Auffassung, dass die Beschwerde
dahingehend zu prüfen ist, ob im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e eine Freiheitsentziehung bei einem "psychisch Kranken" vorliegt (siehe Rechtssache Luberti ./. Italien , 23. Februar 1984, Rdnr. 25, Serie A Band 75).
Der Gerichtshof stellt erneut fest, dass die fragliche Unterbringung, um Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e zu genügen, auf die "gesetzlich vorgeschriebene Weise erfolgt" und rechtmäßig sein sowie eine "psychisch kranke Person" betreffen musste.
a. War der Beschwerdeführer "psychisch krank"?
Bei der Entscheidung darüber, ob der Beschwerdeführer im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e psychisch krank war, weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass einer Person wegen einer psychischen Erkrankung die Freiheit nur
entzogen werden kann, wenn drei Mindestvoraussetzungen vorliegen: Die psychische Erkrankung muss zuverlässig nachgewiesen sein, d. h. eine tatsächliche psychische Störung muss aufgrund objektiver medizinischer Beweise vor
einer zuständigen Behörde festgestellt werden, die psychische Störung muss der Art oder des Grades sein, die eine Zwangsunterbringung rechtfertigt, und die Fortdauer der Unterbringung muss vom Fortbestehen einer derartigen
Störung abhängen (siehe Rechtssachen Winterwerp ./. die Niederlande, 24. Oktober 1979, Rdnr. 39, Serie A Bd. 33, und Shtukaturov ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 44009/05, Rdnr. 114, 27. März 2008).
Der Gerichtshof stellt fest, dass das Landgericht Koblenz die Unterbringung des Beschwerdeführers in einer psychiatrischen Klinik ursprünglich in seinem Urteil vom 18. August 1983 angeordnet hatte, nachdem es einen
medizinischen Sachverständigen hinzuzogen hatte, der festgestellt hatte, dass bei dem Beschwerdeführer eine schwere sexuelle Deviation im Sinne einer schweren seelischen Abartigkeit vorliege, weshalb seine Unterbringung in
einem psychiatrischen Krankenhaus unumgänglich sei. Auf der Grundlage der Feststellungen des medizinischen Sachverständigen war das Landgericht zu dem Schluss gelangt, dass der Beschwerdeführer mit hoher Wahrscheinlichkeit
weitere erhebliche Straftaten ähnlicher Art begehen werde. Hinsichtlich der Frage, ob bei den regelmäßigen Überprüfungen der weiteren Unterbringung des Beschwerdeführers zuverlässig nachgewiesen worden ist, dass der
Beschwerdeführer an einer psychischen Erkrankung der Art und des Grades leidet, die eine Zwangsunterbringung rechtfertigt, haben sich die innerstaatlichen Gerichte auf die verschiedenen Sachverständigengutachten berufen, die
während der Unterbringung des Beschwerdeführers in den Krankenhäusern regelmäßig von den Kliniken und behandelnden Ärzten erstellt wurden. In dem in Rede stehenden Verfahren stützten sich das Landgericht und das
Oberlandesgericht Koblenz insbesondere auf ein Sachverständigengutachten über den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers, das am 13. Juni 2005, nicht lange vor der angefochtenen Entscheidung vom 1. September 2005 über
die Fortdauer seiner Unterbringung, von der psychiatrischen Klinik, in der er untergebracht war, erstellt worden war. Das Landgericht hatte den Beschwerdeführer überdies am 26. August 2005 im Beisein seines Anwalts, der
Stationsärztin sowie eines weiteren Arztes angehört. Auf dieser Grundlage waren die innerstaatlichen Gerichte der Auffassung, dass der Beschwerdeführer seine Straftaten immer noch bagatellisiere und dass von ihm wegen seines
psychischen Zustands immer noch weitere erhebliche rechtswidrige Taten, ähnlich denen, die seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zugrunde lagen, zu erwarten seien und er deshalb für die Allgemeinheit
gefährlich sei.
Daher ist der Gerichtshof überzeugt, dass eine tatsächliche psychische Störung der Art und des Grades, die eine Unterbringung des Beschwerdeführers zum Schutz der Allgemeinheit rechtfertigten, aufgrund objektiver und hinreichend
aktueller ärztlicher Fachkompetenz von den innerstaatlichen Gerichten festgestellt wurde.
Hinsichtlich der Tatsache, dass das Landgericht und das Oberlandesgericht Koblenz sich den Schlussfolgerungen eines im Jahre 2004 von einem externen Sachverständigen erstellten Gutachtens, demzufolge bei dem
Beschwerdeführer tatsächlich nicht die diagnostizierte Pädophilie vorliege, nicht anschlossen, weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass den nationalen Behörden ein gewisser Ermessensspielraum hinsichtlich der Begründetheit
klinischer Diagnosen zustehe, weil es zunächst ihnen obliegt, die Beweismittel in einem konkreten Fall zu bewerten: Die Aufgabe des Gerichtshofs besteht darin, die Entscheidungen dieser Behörden im Lichte der Konvention zu
überprüfen (siehe Rechtssachen Winterwerp , a. a. O., Rdnr. 40 und Luberti ./. Italien , a.a.O., Rdnr. 27). Der Gerichtshof stellt in diesem Zusammenhang fest, dass es sich bei dem Gutachten des externen Sachverständigen aus dem
Jahre 2004, in dem den früheren Schlussfolgerungen der ärztlichen Sachverständigen, welche die Pädophiliediagnose wiederholt bestätigt hatten, widersprochen wurde, um eine isolierte Auffassung handelte, die mit den in den
vorangegangen Jahren erstellten Gutachten nicht vereinbar war und später weder durch die behandelnden Ärzte noch durch das nachfolgende, im Jahre 2008 vom Gericht eingeholte externe Sachverständigengutachten gestützt wurde.
Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass das Landgericht und das Oberlandesgericht Koblenz die Notwendigkeit der Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers im Laufe der nach dem innerstaatlichen Recht vorgeschriebenen
regelmäßigen Überprüfungen und insbesondere in dem in Rede stehenden Verfahren erneut geprüft haben; dies belegt, dass die weitere Vollziehung der Unterbringung vom Fortbestehen der psychischen Störung abhing (vgl.
Winterwerp , a.a.O., Rdnrn. 39 und 40).
Der Gerichtshof kommt deshalb zu dem Ergebnis, dass der Beschwerdeführer im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e psychisch krank war.
b. Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers
Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass Freiheitsentziehung rechtmäßig ist, wenn die materiell- und verfahrensrechtlichen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts eingehalten werden, wobei der Begriff "rechtmäßig" sich bis zu
einem gewissen Grad mit der allgemeinen Anforderung aus Artikel 5 Abs. 1 überschneidet, der "gesetzlich vorgeschriebenen Weise" zu entsprechen (siehe Rechtssachen Winterwerp ./. die Niederlande, a. a. O. Rdnr. 39, und H.L. ./.
Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 45508/99, Rdnr. 114, ECHR 2004-IX). Ein notwendiges Merkmal der "Rechtmäßigkeit" der Freiheitsentziehung im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e ist das Nichtvorliegen von
Willkür. Die Freiheitsentziehung stellt eine derart schwerwiegende Maßnahme dar, dass sie nur gerechtfertigt ist, wenn andere, weniger einschneidende Maßnahmen geprüft und für nicht ausreichend befunden worden sind, um die
Interessen des Einzelnen und der Allgemeinheit zu schützen; dies kann die Unterbringung des Betroffenen erforderlich machen. Es ist nachzuweisen, dass die Freiheitsentziehung unter den gegebenen Umständen erforderlich war
(siehe Rechtssache Verbanov ./. Bulgarien, Individualbeschwerde Nr. 31365/96, Rdnr. 46, ECHR 2000-X).
Angesichts der besonderen Umstände des Falles möchte der Gerichtshof darauf hinweisen, dass die nationalen Behörden dafür sorgen sollten, dass jede derartige Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus mit wirksamen
und konsequenten Therapiemaßnahmen einhergeht, um in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebrachten Personen nicht die Aussicht auf Entlassung zu nehmen. Anlässlich der regelmäßigen Überprüfungen der Fortdauer der
Unterbringung und bei der Abwägung zwischen den Freiheitsinteressen des Untergebrachten und den Sicherheitsinteressen der Öffentlichkeit sollte die Durchführung derartiger Maßnahmen von den innerstaatlichen Gerichten
besonders genau geprüft werden.
Der Gerichtshof stellt fest, dass die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB am 18. August 1983 vom Landgericht Koblenz für unbegrenzte Dauer angeordnet und anschließend
von den innerstaatlichen Gerichten nicht für erledigt erklärt oder zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Gerichte haben die Voraussetzungen für die weitere Unterbringung des Beschwerdeführers nach § 67e StGB regelmäßig geprüft
und die Fortdauer der Unterbringung wiederholt angeordnet, wie auch in dem in Rede stehenden Verfahren. Der Gerichtshof stellt daher fest, dass die Unterbringung des Beschwerdeführers mit den verfahrens- und materiellrechtlichen
Vorschriften des innerstaatlichen Rechts im Einklang stand.
Bei der Entscheidung darüber, ob die Unterbringung des Beschwerdeführers gemäß Artikel 5 Abs. 1 mit der Absicht, ihn vor Willkür zu schützen, vereinbar war, stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt
des in Rede stehenden Verfahrens bereits seit mehr als 20 Jahren in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht war und verschiedenen Behandlungen ausgesetzt worden war, die durch die häufigen Verlegungen des
Beschwerdeführers von einem psychiatrischen Krankenhaus in ein anderes manchmal unterbrochen wurden und zu wechselweise günstigen und ungünstigen Prognosen der entsprechenden Krankenhäuser und Sachverständigen geführt
hatten.
Die innerstaatlichen Gerichte widmeten der zunehmenden Dauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in den Entscheidungen, mit denen sie die Fortdauer seiner Unterbringung anordneten, jedoch besondere Aufmerksamkeit und
kamen dabei zu dem Schluss, dass mildere Mittel als die weitere Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus, wie die bedingte Entlassung in ein Betreutes Wohnen, nicht in Betracht kämen. Nach
Auffassung der Gerichte stellte der Beschwerdeführer immer noch eine Gefahr für die Allgemeinheit dar, da seine psychische Erkrankung fortbestehe, er in der Therapie keine hinreichenden Fortschritte erzielt habe und deswegen
immer noch die Gefahr bestehe, dass er im Falle einer Entlassung auf Bewährung erhebliche Sexualstraftaten begehen werde, ähnlich denen, die seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ursprünglich zugrunde
gelegen hätten.
Die innerstaatlichen Gerichte stützten ihre Entscheidungen auf die Aussagen des Beschwerdeführers und die im Verlauf des Verfahrens erstellten Gutachten der behandelnden Ärzte. Hinsichtlich des abweichenden Gutachtens des
externen Sachverständigen aus dem Jahre 2004 weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass die Schlussfolgerungen dieses Sachverständigen eine isolierte Auffassung darstellten und das nachfolgende medizinische
Sachverständigengutachten der behandelnden Ärzte vom 13. Juni 2005, das in dem in Rede stehenden Verfahren erstellt wurde, ihnen entgegenstand.
Hinsichtlich des Vorbringens des Beschwerdeführers, die innerstaatlichen Gerichte hätten in Anbetracht des Sachverständigengutachtens von 2004 in dem in Rede stehenden Verfahren ein Obergutachten einholen müssen, stellt der
Gerichtshof fest, dass dieser Punkt anscheinend nicht Gegenstand der von dem Beschwerdeführer gegen das Urteil des Landgerichts vom 1. September 2005 eingelegten Beschwerde oder seiner entsprechenden Verfassungsbeschwerde
gewesen ist. Selbst unter der Annahme einer Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs stellt der Gerichtshof fest, dass es in Anbetracht der zahlreichen, während der langen Unterbringung des Beschwerdeführers eingeholten
Sachverständigengutachten und insbesondere des in dem in Rede stehenden Verfahren erstellten Sachverständigengutachtens vom 13. Juni 2005, in dem die Notwendigkeit der weiteren Unterbringung des Beschwerdeführers bestätigt
wurde, keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass die innerstaatlichen Gerichte ihre Feststellungen nicht auf einer hinreichend sicheren Grundlage getroffen haben.
Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass die Feststellungen des externen Sachverständigen aus dem Jahre 2004 von dem vom Landgericht im Jahre 2008 in Auftrag gegebenen externen Sachverständigengutachten nicht gestützt wurden
und dass die innerstaatlichen Gerichte in dem nachfolgenden Überprüfungsverfahren unter Berufung auf weitere Sachverständigengutachten bestätigt haben, dass angesichts der Tatsache, dass der Beschwerdeführer eine Gefahr für die
Allgemeinheit darstelle, die Sicherheit der Allgemeinheit nur durch eine Fortdauer seiner Unterbringung gewahrt werden könne.
Obwohl er zur Kenntnis nimmt, dass die Verhältnismäßigkeit der Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus umso genauer zu prüfen ist, je länger die Unterbringung andauert, ist der Gerichtshof der
Auffassung, dass nichts darauf hindeutet, dass die innerstaatlichen Gerichte zum Zeitpunkt des in Rede stehenden Verfahrens keine gerechte Abwägung zwischen den Freiheitsinteressen des Beschwerdeführers und den
Sicherheitsinteressen der Öffentlichkeit vorgenommen haben oder dass die damaligen Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte willkürlich waren.
Folglich war die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e der Konvention gerechtfertigt.
Der Gerichtshof stellt daher fest, dass dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Absätze 3 und 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
2. Der Beschwerdeführer rügte ferner, dass die Fortdauer seiner Unterbringung eine unmenschliche Behandlung im Sinne von Artikel 3 der Konvention darstelle, der wie folgt lautet:
"Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden."
Unter Berücksichtigung seiner vorstehenden Einschätzung in Bezug auf Artikel 5 Abs. 1 der Konvention ist der Gerichtshof der Auffassung, dass eine eigene Frage nach Artikel 3 der Konvention nicht aufgeworfen wird.
Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde ebenfalls offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Absätze 3 und 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof die Individualbeschwerde mit Stimmenmehrheit für unzulässig. ..." (EGMR, Entscheidung vom 28.09.2010 - 32705/06)
***
Die Bedingungen in der Abschiebehaftanstalt auf Samos waren derartig schlecht, dass sie den nach Art. 3 EMRK (Verbot der Folter) erforderlichen Grad der Schwere erreicht und diesen Artikel verletzt haben. Dass die Behörden den
Beschwerdeführer nicht angemessen medizinisch versorgt haben, verstößt gleichfalls gegen Art. 3 EMRK. Eine Freiheitsentziehung muss nach Art. 5 EMRK (Recht auf Sicherheit und Freiheit) auf die "gesetzlich vorgesehene Weise"
vorgenommen worden sein; insoweit verweist die Konvention auf staatliches Recht. Die Freiheitsentziehung muss aber auch mit dem Ziel der Vorschrift vereinbar sein, den einzelnen vor Willkür zu schützen. Sie kann willkürlich sein
und damit gegen die Konvention verstoßen, obwohl sie nach staatlichem Recht "rechtmäßig" ist. Eine Freiheitsentziehung nach Art. 5 I lit. f EMRK muss in gutem Glauben vorgenommen werden und strikt auf den Zweck abgestellt
sein, eine unerlaubte Einreise zu verhindern. Außerdem müssen der Ort der Unterbringung und die Haftbedingungen angemessen sein. Schließlich darf ihre Dauer nicht über das hinausgehen, was vernünftigerweise notwendig ist, um
das verfolgte Ziel zu erreichen. Der Beschwerdeführer ist in Haft gehalten worden, obwohl nach griechischem Recht das Verfahren bis zur Entscheidung über seinen Asylantrag ausgesetzt war. Deswegen war die Freiheitsentziehung
nicht "rechtmäßig" i. S. von Art. 5 EMRK und verstieß gegen diese Vorschrift (EGMR, Urteil vom 22.07.2010 - 12186/08 zu EMRK Art. 3, 5 I lit. f, II, IV, 35, 41, BeckRS 2011, 02898)
***
Die Entscheidung der Kammer, die Beschwerde teilweise für unzulässig zu erklären, ist endgültig. Dieser Teil der Beschwerde ist deswegen nicht vor der Großen Kammer anhängig. Art. 7 II EMRK (Keine Strafe ohne Gesetz) soll
deutlich machen, dass Art. 7 I EMRK nicht für Gesetze gilt, die unter ganz außergewöhnlichen Umständen am Ende des Zweiten Weltkrieges erlassen worden sind, z.B. um Kriegsverbrechen zu bestrafen. Die Definition von
Kriegsverbrechen in der Charta des Internationalen Kriegsverbrechertribunals in Nürnberg ist als Kodifizierung des 1939 geltenden Kriegsvölkerrechts und der völkerrechtlichen Gebräuche zu verstehen. Kriegsverbrechen wurden im
Mai 1944 als Handlungen definiert, die gegen Recht und Gebräuche des Krieges verstoßen. Das Völkerrecht hatte die zugrundeliegenden Prinzipien bestimmt und einen umfangreichen Katalog von Kriegsverbrechen aufgestellt. Die
Misshandlung, Verletzung und Tötung der Bewohner des Dorfes Mazie Bati war 1944 nach dem Kriegsvölkerrecht ein Kriegsverbrechen.Das Völkerrecht und die Gebräuche des Krieges genügten 1944, eine persönliche strafrechtliche
Verantwortlichkeit zu begründen. Das hätte der Beschwerdeführer vorhersehen können. Die Handlungen des Beschwerdeführers waren nach Recht und Gebräuchen des Krieges 1944 ausreichend als Straftaten bestimmt, so dass die
Verurteilung des Beschwerdeführers Art. 7 I EMRK nicht verletzt (EGMR, Urteil vom 17.05.2010 - 36376/04 zu EMRK Art. 2, 3, 5, 6, 7, 13, 15, 18, 43).
***
Die französische Marine hatte von der Aufbringung des Schiffes bis zur Verbringung der Mannschaftsmitglieder nach Frankreich die volle und ausschließliche Kontrolle über das Handelsschiff und seine Mannschaft. Damit
unterstanden die Bf. als Besatzungsmitglieder französischer Hoheitsgewalt i. S. von Art. 1 EMRK Den Mitgliedern der Besatzung ist nach dem Entern des Schiffs die Freiheit entzogen worden, weil sie unter Bewachung in ihren
Kabinen bleiben mussten und der Kurs des Schiffs von der französischen Marine bestimmt wurde. Deswegen ist Art. 5 I EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit) anwendbar. Den Bf. ist die Freiheit an Bord des Schiffs „zur
Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde" i. S. von Art. 5 I lit c) entzogen worden. Bei Drogenhandel auf Hoher See gilt nach dem Völkerrecht der Grundsatz, dass der Staat zuständig ist, unter dessen Flagge das Schiff fährt.
Völkerrechtliche Vereinbarungen über die Bekämpfung des illegalen Drogenhandels auf See finden auf den vorliegenden Fall keine Anwendung. Die diplomatische Note, mit der Kambodscha dem Vorgehen der französischen Marine
zugestimmt hat, kann zwar eine völkerrechtliche Grundlage sein, ist aber nicht bestimmt genug gefasst und war in ihren Auswirkungen nicht vorhersehbar. Die Beschwerdeführer sind unverzüglich nach ihrer Ankunft in Frankreich, 13
Tage nach ihrer Festnahme, einem Richter vorgeführt worden. Eine solche Dauer ist nur unter außerordentlich ungewöhnlichen Umständen mit dem Erfordernis der unverzüglichen Vorführung nach Art. 5 III EMRK vereinbar.
Derartige Umstände liegen hier vor, weil es nicht möglich war, das aufgebrachte Schiff schneller nach Frankreich zu bringen (EGMR, Urteil vom 29.03.2010 - 3394/03 zu EMRK Art. 1, 5 I, III, 32, 41, BeckRS 2010, 30532).
***
Unter bestimmten Umständen kann es angemessen sein, eine Beschwerde ganz oder teilweise nach Art. 37 Abs. 1 EMRK auf der Grundlage einer einseitigen Erklärung durch den beklagten Staat im Register zu streichen. Bei dem
erhobenen Vorwurf des Menschenhandels ist eine Streichung nicht angemessen, da es nur wenig Rechtsprechung zur Auslegung und Anwendung von Art. 4 EMRK (Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit) auf Fälle von
Menschenhandel gibt. Art. 2 EMRK verpflichtet Konventionsstaaten nicht, in ihrem Strafrecht eine weltweite Zuständigkeit ihrer Gerichte für Fälle vorzusehen, die den Tod eines ihrer Staatsangehörigen betreffen. Menschenhandel ist
eine Bedrohung für Menschenwürde und Grundfreiheiten seiner Opfer und mit der demokratischen Gesellschaft und den Grundwerten der Konvention unvereinbar. Es ist nicht erforderlich, zu unterscheiden, ob es sich bei
Menschenhandel um "Sklaverei", "Leibeigenschaft" oder "Zwangsarbeit" handelt. Er fällt jedenfalls in den Anwendungsbereich von Art. 4 EMRK. Wenn Behörden von Umständen wussten oder hätten wissen müssen, die den
Verdacht begründen, dass eine bestimmte Person in unmittelbarer Gefahr war oder ist, Opfer von Menschenhandel oder sexueller Ausbeutung zu sein, so ist Art. 4 EMRK verletzt, wenn die Behörden es versäumen, ihnen mögliche
angemessene Maßnahmen zu treffen, um die Person aus dieser Lage und dieser Gefahr zu befreien. Wie aus Art. 2 und 3 EMRK ergibt sich auch aus Art. 4 EMRK die verfahrensrechtliche Pflicht der Konventionsstaaten, Tatumstände
möglichen Menschenhandels zu ermitteln und bei der Strafverfolgung mit den zuständigen Behörden anderer beteiligter Staaten zusammenzuarbeiten.(EGMR, Urteil vom 07.01.2010 - 25965/04 zu Art 2, 3, 4, 5, 35, 37, 41 - juris).
***
Der Gerichtshof ist vom Argument des erkennenden Gerichts, dass die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers ohne Angabe einer Frist nur eine Verlängerung dieser Maßnahme betreffe und deshalb lediglich die Vollstreckung
der vom erkennenden Gericht gegen den Beschwerdeführer verhängten Sanktion darstellt, nicht überzeugt. Wie er bereits festgestellt hat, bedeutete zu dem Zeitpunkt, als der Beschwerdeführer seine Tat beging, die Anordnung der
Unterbringung in der Sicherungsverwahrung durch das erkennende Gericht in Verbindung mit § 67d Abs. 1 StGB in der damals geltenden Fassung, dass der Beschwerdeführer höchstens zehn Jahre in der Sicherungsverwahrung
untergebracht werden konnte. Die Verlängerung der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers, die von den Vollstreckungsgerichten nach der Neuregelung des § 67d StGB angeordnet wurde, betrifft deshalb nicht nur die
Vollstreckung der Sanktion (bis zu zehn Jahren Sicherungsverwahrung), die gegen den Beschwerdeführer in Übereinstimmung mit dem zur Tatzeit geltenden Recht verhängt wurde. Sie stellt eine zusätzliche Strafe dar, die gegen den
Beschwerdeführer nachträglich nach einem Gesetz verhängt wurde, das erst in Kraft trat, nachdem der Beschwerdeführer seine Straftat begangen hatte (EGMR, Urteil vom 17.12.2009 - 19359/04, juris zu Art 5 Abs 1, 7 Abs 1 MRK, §
66 Abs 1, § 67d Abs 2, § 67d Abs 3 StGB).
***
„... 57. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Große Kammer nicht daran gehindert ist, gegebenenfalls Fragen der Zulässigkeit einer Individualbeschwerde nach Artikel 35 Abs. 4 der Konvention zu prüfen, weil diese
Bestimmung dem Gerichtshof die Möglichkeit eröffnet, „in jedem Stadium des Verfahrens" eine Beschwerde zurückzuweisen, die er für unzulässig hält (siehe Rechtssachen Odièvre./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr.
42326/98, Randnr. 22, EGMR 2003-III; Azinas ./. Zypern [GK], Individualbeschwerde Nr. 56679/00, Randnr. 32, EGMR 2004-III; und Yumak und Sadak ./. Türkei [GK], Individualbeschwerde Nr. 10226/03, Randnr. 72, 8. Juli
2008). Nach Artikel 55 der Verfahrensordnung müssen Einreden wegen Unzulässigkeit jedoch, soweit ihre Natur und die Umstände es zulassen, von der beschwerdegegnerischen Vertragspartei in ihren nach Artikel 54 abgegebenen
Stellungnahmen zur Zulässigkeit der Beschwerde vorgebracht werden (vgl. Rechtssachen N.C. ./. Italien [GK], Individualbeschwerde Nr. 24952/94, Randnr. 44, EGMR 2002-X; Azinas , a. a. O., Randnrn. 32 und 37; und Sejdovic ./.
Italien [GK], Individualbeschwerde Nr. 56581/00, Randnr. 41, EGMR 2006-II). Nur außergewöhnliche Umstände, insbesondere das erst spätere Bekanntwerden eines Grundes, der zu einer Einwendung gegen die Zulässigkeit Anlass
gibt, könnten eine Regierung von der Verpflichtung entbinden, ihre Einrede in diesen Stellungnahmen vorzubringen, ehe die Kammer ihre Zulässigkeitsentscheidung erlässt (siehe Rechtssachen N.C. ./. Italien, a. a. O., Randnr. 44;
Sejdovic , a. a. O., Randnr. 41; und Lebedev ./. Russland , Individualbeschwerde Nr. 4493/04, Randnrn. 39-40, 25. Oktober 2007).
58. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Regierung in ihren Schriftsätzen zur Zulässigkeit der Beschwerde an die Kammer nicht vorgetragen hat, dass der Beschwerdeführer vor Erhebung seiner Individualbeschwerde beim Gerichtshof
eine Schadensersatzklage vor den Zivilgerichten hätte geltend machen sollen; vielmehr stützte sie ihre Einrede wegen Nichterschöpfung auf mehrere andere Gründe. Dies wurde von der Regierung auch nicht bestritten. Die
Verpflichtung der beschwerdegegnerischen Regierung nach Artikel 55, Einreden wegen Unzulässigkeit in ihren Stellungnahmen vorzubringen, ehe die Kammer ihre Zulässigkeitsentscheidung erlässt, stellt jedoch auf eine konkrete
Einrede - etwa wegen Unzulässigkeit - einschließlich ihrer Begründung ab. Daher genügt es nicht, dass die Regierung Nichterschöpfung aus anderen Gründen innerhalb der vorgeschriebenen Frist geltend gemacht hat (vgl.
insbesondere Rechtsache Sejdovic , a. a. O. Randnrn. 40-42). Da eine Schadensersatzklage nach Artikel 5 Abs. 5 laut Vorbringen der Regierung darüber hinaus ein bewährtes Rechtsmittel darstellt, kann der Gerichtshof keine
außergewöhnlichen Umstände erkennen, die die Regierung von ihrer Verpflichtung hätten entbinden können, ihre prozessuale Einrede wegen Nichterschöpfung in Bezug auf dieses Rechtsmittel in ihren Stellungnahmen zur
Zulässigkeit vor der Kammer vorzubringen.
59. Folglich ist die Regierung daran gehindert, in diesem Verfahrensabschnitt eine prozessuale Einrede der Nichterschöpfung innerstaatlicher Rechtsbehelfe wegen Nichterhebung einer Schadensersatzklage zu erheben. Ihre Einrede ist
daher zurückzuweisen.
II. RÜGEN IN BEZUG AUF DIE ZURÜCKVERWEISUNG
60. Der Beschwerdeführer rügte, dass das Oberlandesgericht in dem Haftprüfungsverfahren den ursprünglichen Haftbefehl des Amtsgerichts vom 25. Juli 2002 nicht aufgehoben und ihn nicht aus der Haft entlassen habe, obwohl es
den Haftbefehl für fehlerhaft befunden habe. Dadurch, dass es die Rechtssache an das Amtsgericht zurückverwiesen habe, habe das Oberlandesgericht ihm die Freiheit unrechtmäßig entzogen und seinen Antrag auf Haftprüfung
unnötig verzögert, über den daher nicht innerhalb einer angemessenen Frist verhandelt worden sei. Er berief sich auf Artikel 5 und 6 der Konvention.
61. Die Kammer vertrat die Auffassung, dass die Rügen des Beschwerdeführers allein nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c und 4 der Konvention zu prüfen seien.
Die Parteien haben diese Schlussfolgerung nicht beanstandet, und die Große Kammer sieht ihrerseits keinen Grund, einen anderen Standpunkt zu beziehen. Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c und 4 bestimmt:
„1. Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden: ...
c) rechtmäßige Festnahme oder Freiheitsentziehung zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde, wenn hinreichender Verdacht besteht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat, oder wenn begründeter Anlass zu
der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat oder an der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern; ...
4. Jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, hat das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn
die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist."
A) Rüge betreffend die Rechtmäßigkeit der Haft
1. Haftgrund
62. Die Kammer stellte fest, dass die Untersuchungshaft des Beschwerdeführers unter Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c der Konvention fällt, weil sie angeordnet worden sei, um ihn wegen des begründeten Verdachts der
Steuerhinterziehung der zuständigen Gerichtsbehörde vorzuführen. Die Parteien erkannten diese Feststellung an, und die Große Kammer schließt sich dieser Auffassung auch an.
2. „Rechtmäßige" Freiheitsentziehung „auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise"
a) Das Urteil der Kammer
63. Nach Auffassung der Kammer verstieß die gegen den Beschwerdeführer verhängte Haft nicht gegen Artikel 5 Abs. 1 der Konvention, weil sie „rechtmäßig" gewesen und in der „gesetzlich vorgeschrieben Weise" erfolgt sei. Sie
merkte an, dass das Oberlandesgericht in seinem Beschluss vom 14. Oktober 2002 festgestellt hatte, dass der Haftbefehl vom 25. Juli 2002 zwar nicht den formalen Anforderungen aus § 114 Abs. 2 StPO entsprochen, aber die
materiellen Anforderungen der Bestimmungen zur Untersuchungshaft erfüllt habe. Unter Verweis auf die ständige Rechtsprechung der Strafgerichte zu dieser Frage war das Oberlandegericht daher der Auffassung, dass der Haftbefehl
nur aus formalen Gründen fehlerhaft und somit nicht unwirksam sei. Der Haftbefehl stelle daher bis zu seiner Ersetzung nach innerstaatlichem Recht eine tragfähige Grundlage für die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers dar.
Die Kammer kam daher zu dem Schluss, dass die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers vom 25. Juli 2002 bis zur Ausstellung des neuen Haftbefehls am 29. Oktober 2002, die im Einklang mit den formalen Anforderungen aus §
114 Abs. 2 StPO gestanden habe, nach innerstaatlichem Recht rechtmäßig gewesen und auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise erfolgt sei, da sie auf dem ursprünglichen Haftbefehl vom 25. Juli 2002 beruht habe.
64. Die Kammer befand ferner, dass die Haft des Beschwerdeführers nicht willkürlich gewesen sei. Die Kammer erkannte zwar an, dass die Entscheidung des Oberlandesgerichts, die Rechtssache entgegen dem Wortlaut des § 309
Abs. 2 StPO an das erstinstanzliche Gericht zurückzuverweisen, zu Unsicherheit geführt habe; sie stellte aber fest, dass praktische Vorkehrungen getroffen werden mussten, ehe ein Haftbefehl, der den formalen Anforderungen des
innerstaatlichen Rechts entsprach, erlassen werden konnte, damit nicht unterstellt werden könnte, dass die Haft des Beschwerdeführers infolge des Zeitablaufs zwischen der Zurückverweisungsentscheidung des Oberlandesgerichts
vom 14. Oktober 2002 und der Ausstellung des neuen Haftbefehls am 29. Oktober 2002 willkürlich gewesen sei.
a) Die Stellungnahmen der Parteien
i) Der Beschwerdeführer
65. Laut Vorbringen des Beschwerdeführers verstieß seine Haft zumindest ab dem 14. Oktober 2002 gegen Artikel 5 Abs. 1, als das Oberlandesgericht seinen Fall an das erstinstanzliche Gericht zurückverwiesen hatte, obwohl ihm
bekannt gewesen sei, dass der Haftbefehl nicht mit innerstaatlichem Recht vereinbar war, weil er unzureichend begründet und dem Verteidiger Akteneinsicht versagt worden sei. Der Beschwerdeführer trug vor, dass die von den
nationalen Gerichten vorgenommene Unterscheidung zwischen „fehlerhaften" und „unwirksamen" Haftbefehlen in der Strafprozessordnung keine Grundlage habe. Jedenfalls könne nicht davon ausgegangen werden, dass Haftbefehle,
die mangels Einhaltung der formalen Anforderungen „fehlerhaft" seien, eher in der gesetzlich vorgeschriebenen Weise nach Artikel 5 Abs. 1 erlassen worden seien als unwirksame Haftbefehle. Da die nach Artikel 104 GG geschützten
formalen Erfordernisse des § 114 StPO nicht von dem materiellen Recht auf Freiheit getrennt werden könnten, sei seine Haft überdies wegen der Nichteinhaltung dieser Anforderungen, die nachträglich nicht geheilt werden konnte,
auch unrechtmäßig gewesen.
66. Überdies war die Entscheidung des Oberlandesgerichts, seine Sache an das Erstgericht zurückzuverweisen, nach Auffassung des Beschwerdeführers willkürlich. Da dem Oberlandesgericht die Verfahrensakte und die bisherige
Verfahrensdauer bekannt gewesen seien, seien dessen Weigerung, die notwendige Sachentscheidung gemäß seiner Pflicht aus § 309 Abs. 2 StPO selbst zu treffen, und sein Beschluss zur Fortdauer der Untersuchungshaft des
Beschwerdeführers völlig unangemessen gewesen.
67. Der Beschwerdeführer rügte ferner, dass seine Haft, die gegen Artikel 5 Abs. 1 verstieß, aus weiteren Gründen unrechtmäßig gewesen sei. Die Kammer habe in ihrem Urteil zutreffend festgestellt, dass das Oberlandesgericht dem
Gebot der Fairness und der Entscheidung innerhalb kurzer Frist nach Artikel 5 Abs. 4 nicht entsprochen habe. Da die letztgenannte Bestimmung in Deutschland unmittelbar geltendes Recht sei, sei seine Freiheitsentziehung, wie nach
Artikel 5 Abs. 1 erforderlich, nicht mit innerstaatlichem Recht vereinbar gewesen. Jedenfalls habe die Kombination der Verstöße gegen innerstaatliches Recht zusammengenommen zu einer Verletzung von Artikel 5 Abs. 1 geführt.
ii) Die Regierung
68. Die Regierung schloss sich der Feststellung der Kammer an, dass die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 „rechtmäßig" gewesen sei und „auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise" erfolgte.
69. Die Haft des Beschwerdeführers habe in dem Zeitraum vom 25. Juli 2002 bis 13. Oktober 2002 Artikel 5 Abs. 1 entsprochen. Das Oberlandesgericht habe in seinem Beschluss vom 14. Oktober 2002 festgestellt, dass der
Haftbefehl des Amtsgerichts rechtsfehlerhaft aber nicht unwirksam sei, weil die materiellrechtlichen Voraussetzungen für die Freiheitsentziehung erfüllt waren, obwohl er den formalen Anforderungen des § 114 Abs. 2 StPO nicht
entsprochen habe. Diese Beurteilung sei durch die ständige Rechtsprechung der Strafgerichte gedeckt (vgl. die oben unter Randnrn. 48-49 aufgeführten Fälle), dass unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit eine gänzliche
Unwirksamkeit fehlerhafter gerichtlicher Entscheidungen allenfalls in seltenen Ausnahmefällen in Betracht gezogen werden könne, wenn die Anerkennung ihrer zumindest vorläufigen Gültigkeit bis zur Ersetzung des Haftbefehls den
wesentlichen Prinzipien der rechtsstaatlichen Ordnung krass widersprechen würde. In allen anderen Fällen würden rechtsfehlerhafte gerichtliche Entscheidungen wie der Haftbefehl in der Rechtssache des Beschwerdeführers bis zur
Ersetzung im Haftprüfungsverfahren als rechtsgültig angesehen. Daher könnten insbesondere formale Rechtsfehler in gerichtlichen Entscheidungen - wie im vorliegenden Fall die unzureichende Anführung des Haftgrunds in dem
Haftbefehl - im Haftprüfungsverfahren geheilt werden, das genau diesem Zweck diene.
70. Die Regierung führte ferner aus, dass die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers vom 14. Oktober 2002 bis 29. Oktober 2002 auch Artikel 5 Abs. 1 entsprach. Bei der Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht habe das
Oberlandesgericht sich ausdrücklich auf eine von den Strafgerichten festgelegte Ausnahme von der Bestimmung des § 309 Abs. 2 StPO (vgl. die oben unter Randnr. 51 aufgeführten Fälle), dass es über die Rechtmäßigkeit der
Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers sachlich selbst zu entscheiden habe, gestützt. Seine Feststellung, dass ein Verfahrensmangel vorliege, der eine Zurückverweisung der Sache rechtfertigte, sei nicht willkürlich gewesen. Die
Zurückverweisung an ein untergeordnetes Gericht zur Heilung eines obergerichtlich festgestellten Fehlers sei eine anerkannte Technik des Rechtsschutzes, die von den nationalen Gerichten angewandt werde; diesen stehe es frei, ihr
Prüfungsverfahren in dieser Weise auszugestalten.
71. Überdies habe die Kammer zutreffend festgestellt, die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers sei wegen der für die Zurückverweisung benötigten Zeit angesichts der zu treffenden praktischen Vorkehrungen nicht willkürlich
gewesen. Die Zurückverweisung an das Amtsgericht, das mit dem Fall vertraut war, habe das Verfahren nicht zwangsläufig verzögert, weil das Oberlandesgericht sich vor einer Sachentscheidung erst in den Fall hätte einarbeiten müssen.
c) Würdigung durch den Gerichtshof
i) Zusammenfassung der einschlägigen Grundsätze
72. Bei der Frage der „Rechtmäßigkeit" der Freiheitsentziehung, u. a. auch der, ob sie „auf die die gesetzlich vorgeschriebene Weise" erfolgt ist, verweist die Konvention im Wesentlichen auf das innerstaatliche Recht und erlegt die
Verpflichtung auf, dessen materiell- und verfahrensrechtliche Bestimmungen einzuhalten. Die Einhaltung des innerstaatlichen Rechts reicht jedoch nicht aus: Artikel 5 Abs. 1 verlangt auch, dass jede Freiheitsentziehung mit dem
Zweck, den Einzelnen vor Willkür zu schützen, übereinstimmen sollte (siehe u. a. Rechtssachen Erkalo ./. Niederlande , 2. September 1998, Randnr. 52, Urteils- und Entscheidungssammlung 1998-VI; Steel u. a. ./. Vereinigtes
Königreich , 23. September 1998, Randnr. 54, Sammlung 1998-VII; und Saadi ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 13229/03, Randnr. 67, EGMR 2008-...). In diesem Zusammenhang muss der Gerichtshof
ferner feststellen, ob das innerstaatliche Recht selbst mit der Konvention und den darin formulierten oder enthaltenen allgemeinen Grundsätzen, insbesondere dem Grundsatz der Rechtssicherheit, übereinstimmt (vgl. Rechtssachen
Baranowski ./. Polen , Individualbeschwerde Nr. 28358/95, Randnrn. 51-52, EGMR 2000-III; Jec(ius ./. Litauen , Individualbeschwerde Nr. 34578/97, Randnr. 56, EGMR 2000-IX; und Nasrulloyev ./. Russland , Individualbeschwerde
Nr. 656/06, Randnr. 71, 11. Oktober 2007).
ii) Grundsätze für die Prüfung der Übereinstimmung mit innerstaatlichem Recht
73. Obwohl es in erster Linie den nationalen Behörden, insbesondere den Gerichten, obliegt, innerstaatliches Recht auszulegen und anzuwenden, stellt ein Verstoß gegen innerstaatliches Recht nach Artikel 5 Abs. 1 eine
Konventionsverletzung dar, und der Gerichtshof kann und sollte daher überprüfen, ob dieses Recht eingehalten worden ist (siehe u. a. Rechtssachen Benham ./. Vereinigtes Königreich , 10. Juni 1996, Randnr. 41, Sammlung 1996-III;
Baranowski , a. a. O. Randnr. 50; Jec(ius , a. a. O., Randnr. 68; und Ladent ./ Polen , Individualbeschwerde Nr. 11036/03, Randnr. 47, EGMR 2008-... (auszugsweise)).
74. Der Gerichtshof hat jedoch insbesondere in seiner neueren Rechtsprechung klargestellt, dass eine Freiheitsentziehung an sich nicht wegen jedes Fehlers, der in dem zu Grunde liegenden Haftbefehl festgestellt wurde, im Sinne von
Artikel 5 Abs. 1 unrechtmäßig ist.
Die Dauer einer Haft ist grundsätzlich „rechtmäßig", wenn sie auf einer gerichtlichen Entscheidung beruht. Die nachträgliche Feststellung eines nationalen übergeordneten Gerichts, dass dem Erstgericht bei dem Erlass des Haftbefehls
nach innerstaatlichem Recht ein Fehler unterlief, bedeutet nicht notwendigerweise, dass die dazwischen liegende Haft rückwirkend für unrechtmäßig erklärt wird (siehe u. a. Rechtssachen Benham , a. a. O., Randnr. 42; Douiyeb ./.
Niederlande [GK], Individualbeschwerde Nr. 31464/96, Randnr. 45, 4. August 1999; Minjat ./. Schweiz , Individualbeschwerde Nr. 38223/97, Randnr. 41, 28. Oktober 2003; und Khudoyorov ./. Russland , Individualbeschwerde Nr.
6847/02, Randnr. 128, EGMR 2005-X (auszugsweise)).
75. Der Gerichtshof hat in seiner neueren Rechtsprechung unter Hinweis auf eine nach englischem Recht getroffene vergleichbare Unterscheidung (vgl. Rechtssache Benham , a. a. O., Randnrn. 43-46; und Lloyd u. a. ./. Vereinigtes
Königreich , Individualbeschwerden Nrn. 29798/96 u. a. Randnrn. 102, 105 ff., 1. März 2005) die Umstände näher bezeichnet, unter denen die Freiheitsentziehung im genannten zu Grunde liegenden Zeitraum im Sinne von Artikel 5
Abs. 1 noch rechtmäßig war: Bei der Beurteilung der Vereinbarkeit mit Artikel 5 Abs. 1 der Konvention ist grundsätzlich zwischen ex facie unwirksamen Haftbefehlen, bei deren Erlass ein Gericht z. B. seine Zuständigkeit
überschritten hat (siehe Rechtssache Marturana ./. Italien , Individualbeschwerde Nr. 63154/00, Randnr. 78, 4. März 2008) oder bei denen dem Betroffenen der Anhörungstermin nicht ordnungsgemäß mitgeteilt worden ist (siehe
Rechtssachen Khudoyorov , a. a. O. Randnr. 129; und Liu ./. Russland , Individualbeschwerde Nr. 42086/05, Randnr. 79, 6. Dezember 2007), und Haftbefehlen zu unterscheiden, die prima facie rechtsgültig und wirksam sind, soweit
sie nicht von einem übergeordneten Gericht aufgehoben werden (a. a. O.). Ein Haftbefehl ist ex facie als unwirksam anzusehen, wenn der Mangel des Haftbefehls in einem „groben offensichtlichen" Fehler im besonderen Sinn der
Rechtsprechung des Gerichtshofs besteht (vgl. Rechtssachen Liu , a. a. O. Randnr. 81; Garabayev ./. Russland , Individualbeschwerde Nr. 38411/02, Randnr. 89, 7. Juni 2007, EGMR 2007-... (auszugsweise); und Marturana , a. a. O.
Randnr. 79). Folglich können fehlerhafte Haftbefehle, soweit der Mangel nicht grob und offensichtlich ist, im gerichtlichen Prüfungsverfahren von den nationalen Beschwerdegerichten geheilt werden.
B) Die erforderliche Qualität des innerstaatlichen Gesetzes
76. Darüber hinaus muss der Gerichtshof prüfen, ob das innerstaatliche Gesetz selbst und die darin formulierten oder enthaltenen allgemeinen Grundsätze mit der Konvention übereinstimmen. Hierzu führt der Gerichtshof aus, dass es
bei der Freiheitsentziehung besonders darauf ankommt, dem allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit Genüge zu tun (siehe Rechtssachen Baranowski , a. a. O. Randnrn. 51-52; Jec(ius , a. a. O. Randnr. 56; und Khudoyorov , a. a.
O. Randnr. 125). Durch die Festlegung, dass jede Freiheitsentziehung „rechtmäßig" sein und „auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise" erfolgen muss, bezieht Artikel 5 Abs. 1 sich nicht nur auf das innerstaatliche Recht; wie die
Wendung „gesetzlich vorgesehen" in Artikel 8 bis 11 Abs. 2 betrifft sie auch die „Qualität des Gesetzes", die mit der Rechtsstaatlichkeit, einer Leitidee, die in allen Konventionsartikeln verankert ist, vereinbar sein muss. „Qualität des
Gesetzes" bedeutet in diesem Sinne, dass das Gesetz in den Fällen, in denen die Freiheitsentziehung nach innerstaatlichem Recht zulässig ist, hinreichend zugänglich sein muss und präzise und vorhersehbar anzuwenden ist, um
jegliche Gefahr der Willkür zu vermeiden (siehe Rechtssachen Amuur ./. Frankreich , 25. Juni 1996, Randnr. 50, Sammlung 1996-III; und Nasrulloyev , a . a. O. Randnr. 71).
C) Grundsätze für den Begriff der willkürlichen Freiheitsentziehung
77. Eine willkürliche Freiheitsentziehung kann mit Artikel 5 Abs. 1 nicht vereinbar sein; der Begriff der „Willkür" geht in diesem Zusammenhang über die Verletzung innerstaatlichen Rechts hinaus. Folglich kann eine nach
innerstaatlichem Recht rechtmäßige Freiheitsentziehung dennoch willkürlich sein und damit gegen die Konvention verstoßen. Zwar hat der Gerichtshof bisher nicht global definiert, welche Verhaltensweisen der Behörden „Willkür"
im Sinne des Artikels 5 Abs. 1 darstellen könnten; in Form von Einzelfallentscheidungen wurden aber wesentliche Grundsätze entwickelt. Aus der Rechtsprechung ergibt sich überdies eindeutig, dass die Vorstellung von Willkür im
Zusammenhang mit Artikel 5 zum Teil von der Art der Freiheitsentziehung abhängig ist (siehe Rechtssache Saadi , a. a. O. Randnrn. 67-68).
78. Einer der in der Rechtsprechung festgelegten allgemeinen Grundsätze besteht darin, dass die Freiheitsentziehung „willkürlich" wird, wenn sie zwar innerstaatlich dem Buchstaben des Gesetzes entspricht, aber ein Merkmal von
Unredlichkeit oder Täuschung seitens der Behörden vorliegt (vgl. Rechtssachen Bozano ./. Frankreich , 18. Dezember 1986, Randnr. 59, Serie A Bd. 11; und Saadi , a. a. O. Randnr. 69) oder wenn die nationalen Behörden nicht
versucht haben, die maßgeblichen rechtlichen Bestimmungen richtig anzuwenden (siehe Rechtssachen Benham , a. a. O., Randnr. 47; Liu , a. a. O., Randnr. 82; und Marturana , a. a. O., Randnr. 80).
79. Darüber hinaus hängt es im Hinblick auf Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c maßgeblich von der Begründung der Haftentscheidung ab, ob die gegen eine Person verhängte Freiheitsentziehung als willkürlich anzusehen ist. Der
Gerichtshof hat erkannt, dass eine fehlende Begründung der Entscheidungen der Justizbehörden über eine langfristige Freiheitsentziehung mit dem in Artikel 5 Abs. 1 verankerten Grundsatz des Schutzes vor Willkür
unvereinbar ist (siehe Rechtssachen Stašaitis ./. Litauen , Individualbeschwerde Nr. 47679/99, Randnr. 67, 21. März 2002; Nakhmanovich ./. Russland , Individualbeschwerde Nr. 55669/00, Randnr. 70, 2. März 2006; und Belevitskiy
./. Russland , Individualbeschwerde Nr. 72967/01, Randnr. 91, 1. März 2007). Umgekehrt hat er festgestellt, dass die gegen einen Beschwerdeführer verhängte Freiheitsentziehung nicht als willkürlich angesehen werden kann, wenn
das nationale Gericht für die Fortdauer der Untersuchungshaft bestimmte Gründe anführt (vgl. Rechtssache Khudoyorov , a. a. O. Randnr. 31), sofern die Begründung nicht zu kurz gefasst ist und eine Rechtvorschrift
herangezogen wird, nach der die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers zulässig gewesen sein dürfte (vgl. Rechtssache Khudoyorov , a. a. O., Randnr. 157).
80. Der Gerichtshof hat darüber hinaus insbesondere im Zusammenhang mit Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c anerkannt, dass die Zügigkeit, mit der die nationalen Gerichte einen Haftbefehl ersetzen, der abgelaufen ist oder für
rechtsfehlerhaft befunden wurde, ein weiteres maßgebliches Kriterium dafür ist, ob die Freiheitsentziehung einer Person als willkürlich anzusehen ist. Daher war der Gerichtshof mit Blick auf Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c
der Auffassung, dass die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers wegen eines Zeitraums von weniger als einem Monat zwischen dem Ablauf des ursprünglichen Haftbefehls und dem Erlass eines neuen begründeten Haftbefehls
nach Zurückverweisung der Sache durch das Beschwerdegericht an ein untergeordnetes Gericht nicht willkürlich sei (siehe Rechtssache Minjat , a. a. O., Randnrn. 56 und 48). Dagegen wurde festgestellt, dass die Freiheitsentziehung
des Beschwerdeführers wegen eines Zeitraums von über einem Jahr nach der Zurückverweisung durch ein Beschwerdegericht an ein untergeordnetes Gericht, in dem der Beschwerdeführer über die Gründe seiner Untersuchungshaft
im Ungewissen gelassen wurde und dem Gericht der unteren Instanz für die Haftprüfung keine Frist gesetzt wurde, willkürlich sei (siehe Rechtssache Khudoyorov , a. a. O., Randnrn. 136-37).
81. Der Gerichtshof hat im Zusammenhang mit Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e erkannt, dass eine Zeitspanne von zwei Wochen zwischen dem Ablauf der früheren Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus und der anschließenden
Verlängerung keineswegs als unangemessen oder zu lang angesehen werden könne, so dass diese Verzögerung zu keiner willkürlichen Freiheitsentziehung geführt habe (siehe Rechtssache Winterwerp ./. Niederlande , 24. Oktober
1979, Randnr. 49, Serie A Band 33). Dagegen wurde festgestellt, dass eine Verzögerung von 82 Tagen zwischen dem Ablauf der ersten Einweisung in eine psychiatrische Einrichtung und der Verlängerung sowie fehlende
angemessene Garantien, die sicherstellen, dass die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers nicht unangemessen verzögert wird, mit dem Zweck von Artikel 5 Abs. 1, den Einzelnen vor willkürlicher Freiheitsentziehung zu
schützen, unvereinbar seien (siehe Rechtssache Erkalo , a. a. O., Randnrn. 57-60 zu Artikel 5 Abs. 1 Buchstaben a und e).
ii) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache
82. Bezüglich der Prüfung der Frage, ob die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 „rechtmäßig" war, einschließlich der Frage, ob sie „auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise" erfolgt ist, prüft der
Gerichtshof zunächst, ob die Haft des Beschwerdeführers mit deutschem Recht vereinbar war.
83. Er merkt in diesem Zusammenhang an, dass das Oberlandesgericht Düsseldorf am 14. Oktober 2002 festgestellt hatte, dass der Haftbefehl des Amtsgerichts vom 25. Juli 2002 den formalen Anforderungen des innerstaatlichen
Rechts nach § 114 Abs. 2 Nr. 4 StPO nicht entsprach, weil die Tatsachen und Beweismittel, aus denen sich der dringende Tatverdacht, dass der Beschwerdeführer sich der Steuerhinterziehung schuldig gemacht habe, und der
Haftgrund ergeben sollten, unzureichend dargestellt worden seien (siehe Randnrn. 28-29, oben). Somit wies der Haftbefehl einen Formmangel auf.
84. Da der Gerichtshof jedoch in seiner Rechtsprechung anerkannt hat (siehe Randnrn. 74 und 75 oben), dass Freiheitsentziehung aufgrund eines rechtsfehlerhaften Haftbefehls an sich nicht zwangsläufig „unrechtmäßig" im Sinne von
Artikel 5 Abs. 1 ist, muss er prüfen, ob der Mangel des gegen den Beschwerdeführer erlassenen Haftbefehls ein „grober offensichtlicher Fehler" war, aufgrund dessen die entsprechende Dauer seines Freiheitsentzugs unrechtmäßig wäre.
85. In vorliegender Rechtssache ist eingangs festzustellen, dass der Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers im maßgeblichen Zeitraum (25. Juli 2002 bis 29. Oktober 2002) der Haftbefehl des Amtsgerichts Mönchengladbach vom
25. Juli 2002 zu Grunde lag. Dieser blieb auch in Kraft, nachdem er am 14. Oktober 2002 aus formalen Gründen für fehlerhaft befunden worden war, weil das Oberlandesgericht in dem Haftprüfungsverfahren nur die Entscheidungen
vom 16. August 2002 und 9. September 2002 und nicht den Haftbefehl vom 25. Juli 2002 aufhob (siehe Randnr. 28 oben). Am 29. Oktober 2002 wurde der Haftbefehl vom 25. Juli 2002 durch einen neuen Haftbefehl ersetzt, der
ausführlicher begründet wurde; der Beschwerdeführer hat nicht bestritten, dass dieser neue Haftbefehl mit Artikel 114 Abs. 2 StPO vereinbar ist.
86. Bei der Entscheidung darüber, ob der Haftbefehl vom 25. Juli 2002 einen „groben offensichtlichen Fehler" aufwies, so dass er ex facie unwirksam war mit der Folge, dass die aufgrund dieses Haftbefehls gegen den
Beschwerdeführer verhängte Haft wiederum nach Artikel 5 Abs. 1 unrechtmäßig wäre, berücksichtigt der Gerichtshof alle Umstände des Falls sowie insbesondere die Würdigung durch die nationalen Gerichte. Er stellt fest, dass der in
Rede stehende Haftbefehl nach den Feststellungen der deutschen Gerichte keinen gravierenden offensichtlichen Mangel aufwies, aufgrund dessen er unwirksam war. Wie das Konventionssystem unterscheidet die deutsche
Rechtsordnung in der Tat zwischen unwirksamen Haftbefehlen und Haftbefehlen, die bis zur Aufhebung durch ein übergeordnetes Gericht wirksam bleiben (siehe Randnrn. 48-49 oben). Diese Unterscheidung findet sich auch in den
Rechtsordnungen anderer Konventionsstaaten (vgl. z. B. die Grundsätze des englischen Rechts in der Rechtssache Benham , a. a. O., Randnrn. 24-26 und 43-46, das niederländische Rechtssystem, dargelegt in der Rechtssache Erkalo ,
a. a. O., Randnrn. 31-33 und 53-55, und das schweizerische Rechtssystem erläutert in der Rechtssache Minjat , a. a. O., Randnrn. 21 und 42-44). Das Oberlandesgericht war in vorliegender Rechtssache der Auffassung, dass die
materiellrechtlichen Voraussetzungen für die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers erfüllt waren und die Formmängel des Haftbefehls vom 25. Juli 2002, nämlich die unzureichende Darstellung der Tatsachen und Beweismittel,
aus denen sich nach § 114 Abs. 2 Nr. 4 StPO der Tatverdacht und die Gründe für die Untersuchungshaft des Beschwerdeführers ergeben sollten, den Haftbefehl zwar rechtsfehlerhaft machten, jedoch nicht so gravierend waren, dass sie
dessen Unwirksamkeit zur Folge hatten.
87. Der Gerichtshof merkt ferner an, dass das Amtsgericht für den Erlass des Haftbefehls gegen den Beschwerdeführer vom 25. Juli 2002 zuständig war und den Beschwerdeführer vorher, und ehe es ihm den Haftbefehl eröffnete, bei
einer Vernehmung anhörte. Darüber hinaus waren die nationalen Gerichte aufgrund der ihnen vorliegenden Erkenntnisse während des gesamten Haftprüfungsverfahrens einhellig der Auffassung, dass die materiellrechtlichen
Voraussetzungen für die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers, ein dringender Verdacht der Hinterziehung von Einkommens-, Umsatz- und Gewerbesteuer sowie Verdunkelungs- oder Fluchtgefahr, erfüllt waren.
88. Es ist zutreffend, dass dem Anwalt des Beschwerdeführers während der gesamten aufgrund des Haftbefehls vom 25. Juli 2002 gegen den Beschwerdeführer verhängten Freiheitsentziehung keine Akteneinsicht gewährt wurde und
die Kammer deshalb eine Verletzung von Artikel 5 Abs. 4 festgestellt hatte. Entgegen dem Vorbringen des Beschwerdeführers stellen jedoch weder dieser Umstand noch ein anderer Verstoß gegen Artikel 5 Abs. 4 - obwohl diese
Bestimmung innerstaatliches Recht ist - zwangsläufig eine Verletzung von Artikel 5 Abs. 1 dar. Artikel 5 Abs. 1 und 4 stellen eigene Bestimmungen dar, und die Nichtbeachtung von Abs. 4 bedeutet daher nicht unbedingt, dass auch
Abs. 1 nicht eingehalten worden ist (vgl. z. B. Rechtssachen Winterwerp , a. a. O., Randnr. 53, und Douiyeb , a. a. O., Randnr. 57). Selbst unter der Annahme, dass die Tatsache, dass dem Anwalt im Haftprüfungsverfahren
Akteneinsicht versagt wird, in Verbindung mit anderen Verfahrensmängeln einen Haftbefehl zur Folge haben könnte, der nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs einen „groben offensichtlichen Fehler" aufweist, ist der Gerichtshof
der Auffassung, dass dies in der Rechtssache des Beschwerdeführers nicht der Fall war. Zwar hätte der Haftbefehl vom 25. Juli 2002 sich nach innerstaatlichem Recht auf substantiiertere Tatsachen stützen müssen; das Amtsgericht hat
die gegen den Beschwerdeführer erhobenen Tatvorwürfe aber benannt. Dabei wurden die Namen der Firmen aufgeführt, die die Provision bezahlt hatten, welche der Beschwerdeführer angeblich nicht versteuert hatte. Es stand darüber
hinaus fest, dass der gegen den Beschwerdeführer bestehende Tatverdacht auf den Geschäftsunterlagen, die in der Wohnung des Beschwerdeführers beschlagnahmt worden waren, gründete. Obwohl seinem Anwalt Akteneinsicht
versagt worden war, kann der Beschwerdeführer unter diesen Umständen daher nicht rügen, gänzlich im Unklaren gelassen worden zu sein oder nichts von Erkenntnissen gewusst gehabt zu haben, die den gegen ihn bestehenden
Tatverdacht begründeten.
89. Unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände dieser Rechtssache ist der Gerichtshof deshalb der Auffassung, dass der Haftbefehl vom 25. Juli 2002 keinen „groben offensichtlichen Fehler" im Sinne seiner Rechtsprechung
aufwies, so dass er ex facie unwirksam gewesen wäre (vgl. eine entsprechende Feststellung zu einem vergleichbaren Sachverhalt, insbesondere Rechtssache Minjat , a. a. O., Randnrn. 37-44).
90. Der Gerichtshof prüft nunmehr, ob das anwendbare innerstaatliche Recht die Qualität hatte, die erforderlich war, um dem allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit Genüge zu tun. Der Beschwerdeführer bestritt dies im
Wesentlichen aus zwei Gründen. Er trug erstens vor, dass die von den nationalen Gerichten vorgenommene Unterscheidung zwischen „fehlerhaften" und „ unwirksamen" Haftbefehlen in der Strafprozessordnung keine Grundlage
habe. Zweitens betonte er, dass die Weigerung des Oberlandesgerichts, die notwendige Sachentscheidung selbst zu treffen, dem klaren Wortlaut des § 309 Abs. 2 StPO widerspreche.
91. Hinsichtlich der Frage, ob es für den Beschwerdeführer vorhersehbar gewesen wäre, dass die nationalen Gerichte den Haftbefehl lediglich als „fehlerhaft" einstufen würden, so dass dieser bis zu seiner Aufhebung oder Ersetzung
eine tragfähige Grundlage für seine Freiheitsentziehung darstellen würde, merkt der Gerichtshof an, dass die nach deutschem Recht getroffene Unterscheidung zwischen „fehlerhaften" und „unwirksamen" Haftbefehlen der gefestigten
Rechtsprechung der nationalen Gerichte entspricht. Insbesondere werden Haftbefehle, in denen die Tatsachen, aus denen sich der dringende Tatverdacht und der Haftgrund ergeben, nicht hinreichend detailliert dargelegt werden, von
den nationalen Gerichten immer wieder als „fehlerhaft" aber nicht „unwirksam" erachtet (siehe Randnrn. 48-49 oben). Daher war die Feststellung des Oberlandesgerichts zu dieser Frage für den Beschwerdeführer - ggf. mit
anwaltlicher Beratung - vorhersehbar.
92. Hinsichtlich der Entscheidung des Oberlandesgerichts, die Rechtssache nach Feststellung der Rechtsfehlerhaftigkeit des Haftbefehls an das erstinstanzliche Gericht zurückzuverweisen, teilt der Gerichtshof die Auffassung, dass
dieses Verfahren dem Wortlaut des § 309 Abs. 2 StPO widerspricht, der bestimmt, dass die Beschwerdegerichte die in der Sache erforderliche Entscheidung selbst treffen (siehe Randnr. 50 oben). Die Beschwerdegerichte haben in
ihrer Rechtsprechung jedoch unter bestimmten eingeschränkten Umständen Ausnahmen von diesem Grundsatz zugelassen. Insbesondere entschieden sie in Fällen wie dem vorliegenden, in dem sie erkannten, dass die einem
Tatverdacht zugrunde liegenden Tatsachen in dem Haftbefehl genauer hätten dargestellt werden müssen, und die Staatsanwaltschaft Akteneinsicht versagt hatte, dass es ausnahmsweise zulässig sei und im Interesse der Gerechtigkeit
läge, die Sache an das Amtsgericht zurückzuverweisen und keine eigene Sachentscheidung zu treffen (siehe Randnr. 51 oben).
93. Nach Auffassung des Gerichtshofs kann der Grundsatz der Rechtssicherheit generell beeinträchtigt werden, wenn die nationalen Gerichte in ihrer Rechtsprechung Ausnahmen zulassen, die zum Wortlaut der anwendbaren
Gesetzesbestimmungen im Widerspruch stehen. Derartige Auslegungen sollten daher auf ein Mindestmaß beschränkt werden. In vorliegender Rechtssache verwies das Oberlandesgericht jedoch bei der Zurückverweisung des Falls an
das Amtsgericht ausdrücklich auf frühere Entscheidungen anderer Beschwerdegerichte, die dem Fall des Beschwerdeführers vergleichbare Rechtssachen betrafen (vgl. Randnrn. 30 und 51 oben). Unter diesen Umständen ist der
Gerichtshof überzeugt, dass die Zurückverweisung seines Falls an das erstinstanzliche Gericht und die Fortdauer seiner Haft mindestens bis zur Entscheidung dieses Gerichts für den Beschwerdeführer hinreichend vorhersehbar waren.
Die anwendbaren Vorschriften des innerstaatlichen Rechts, wie sie von den nationalen Gerichten ausgelegt wurden, haben daher dem Erfordernis der Rechtssicherheit genügt.
94. Der Gerichtshof muss sich schließlich vergewissern, ob die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers trotz der Übereinstimmung mit innerstaatlichem Recht nicht willkürlich war und deshalb im Widerspruch zu der Konvention
stand. Er stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die nationalen Gerichte die maßgeblichen innerstaatlichen Rechtsvorschriften nach der gefestigten Rechtsprechung angewandt haben. Obwohl der Haftbefehl vom 25. Juli 2002 sich
nach innerstaatlichem Recht auf substantiiertere Tatsachen hätte stützen müssen, waren darin überdies die Tat, derer der Beschwerdeführer dringend verdächtig war, einschließlich der Zeit und des Orts ihrer Begehung, sowie der
Haftgrund unter Hinweis auf die anwendbaren Bestimmungen angeführt. Es war weiterhin offensichtlich, dass der gegen den Beschwerdeführer bestehende Tatverdacht auf den in der Wohnung des Beschwerdeführers
beschlagnahmten Unterlagen beruhte; insoweit wurde der Beschwerdeführer über die Beweismittel, auf die sich die Gerichte gestützt hatten, nicht gänzlich im Unklaren gelassen (siehe Randnr. 88 oben). Damit hat das Amtsgericht
einige Gründe für die Haft des Beschwerdeführers angeführt, die von vornherein nicht nur in formelhaften Ausführungen bestanden.
95. Ferner hat der Gerichtshof in früheren Fällen anerkannt, dass die Zügigkeit, mit der die nationalen Gerichte einen Haftbefehl ersetzen, der abgelaufen ist oder für rechtsfehlerhaft befunden wurde, ein weiteres maßgebliches
Kriterium dafür darstellt, ob die Freiheitsentziehung einer Person als willkürlich anzusehen ist (siehe Randnrn. 80-81 oben). Er stellt fest, dass der Beschwerdeführer in vorliegendem Fall nach dem Beschluss des Oberlandesgerichts
vom 14. Oktober 2002, die Sache an das Amtsgericht zurückzuverweisen, aufgrund des - von dem Oberlandesgericht zwar für rechtsfehlerhaft befundenen - ursprünglichen Haftbefehls vom 25. Juli 2002 bis zum 29. Oktober 2002 in
Haft blieb, als das Amtsgericht einen neuen Haftbefehl erließ, der sich auf substantiiertere Tatsachen stützte. Somit befand der Beschwerdeführer sich fünfzehn Tage in Haft, an denen er zwar nur teilweise aber nicht umfassend von
den Tatsachen Kenntnis hatte, auf denen der dringende Tatverdacht der Verwicklung in Steuerhinterziehung und seine Freiheitsentziehung beruhten, das Oberlandesgericht aber klargestellt hatte, dass es seine Haft sachlich für
gerechtfertigt hielt.
96. Trotz der vorstehend geäußerten Vorbehalte (siehe Randnr. 93) ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Zurückverweisung einer Rechtssache an ein untergeordnetes Gericht eine anerkannte Technik zur genauen Feststellung
der Tatsachen und zur Würdigung der Beweise ist, die für eine gerichtliche Entscheidung von Bedeutung sind, und insoweit nicht als willkürlich angesehen werden kann (vgl. auch Rechtssache Minjat , a. a. O., Randnrn. 47-48). Unter
den Umständen der vorliegenden Rechtssache kann der Nutzen der Zurückverweisung des Falls an ein untergeordnetes Gericht den durch die Verzögerung verursachten Nachteil überwiegen und sogar unnötige Verzögerungen
verhindern. Insoweit können Rechtsfehler der ursprünglichen Entscheidung zunächst durch die Zurückverweisung geheilt werden; dabei können die umfassende Kenntnis der Verfahrensakte seitens des untergeordneten Gerichts sowie
dessen genauere Kenntnis der persönlichen Situation des Beschwerdeführers und des Stands des gegen ihn geführten Ermittlungsverfahrens genutzt werden. Überdies hat sich das Oberlandesgericht in vorliegender Rechtssache nicht
darauf beschränkt, die Entscheidung des Amtsgerichts aufzuheben, sondern es darüber belehrt, wie rechtsfehlerhafte Entscheidungen künftig zu vermeiden seien. Dies diente dem Zweck der langfristigen Verbesserung der
Rechtspflege. Zweitens war es erforderlich, einen Termin im Beisein des (anwaltlich vertretenen Beschwerdeführers), der Staatsanwaltschaft und eines Steuerfahnders anzuberaumen, damit der Beschwerdeführer zumindest mündlich
über die gegen ihn vorliegenden Beweise unterrichtet werden und sich dazu äußern konnte; hierzu mussten praktische Vorkehrungen getroffen werden. Unter diesen Umständen wurden durch die Zurückverweisungsentscheidung
möglicherweise tatsächlich Verzögerungen vermieden, weil aus prozessualer Sicht durchaus erwiesen sein mag, dass ein Fall bei einer Zurückverweisung und Entscheidung durch das Amtsgericht, ob ein neuer Haftbefehl zu erlassen
ist, zügiger bearbeit wird als bei einer Entscheidung des Oberlandesgerichts in dieser Frage. Schließlich war die neue Entscheidung des Amtsgerichts nach innerstaatlichem Recht Zeitbeschränkungen ausgesetzt, weil sie zügig zu
ergehen hatte (siehe Randnr. 47 oben), und dieses Gericht musste nach der Zurückverweisung eine erneute Anhörung der Parteien vorbereiten. Der Gerichtshof stellt in Anbetracht seiner Rechtsprechung (siehe insbesondere die oben
in Randnr. 80 und sinngemäß in Randnr. 81 zitierte Spruchpraxis) fest, dass der Zeitraum, der zwischen der Feststellung der Rechtsfehlerhaftigkeit des Haftbefehls seitens des Oberlandesgerichts und dem Erlass eines neuen
Haftbefehls durch das Amtsgericht verstrichen war, unter diesen Umständen auch nicht dazu geführt hat, dass die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers willkürlich war.
97. Vor diesem Hintergrund kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 „rechtmäßig" war und auf die „gesetzlich vorgeschriebene Weise" erfolgte.
98. Deshalb ist Artikel 5 Abs.1 der Konvention nicht verletzt worden.
B) Rüge der überlangen Dauer der gerichtlichen Prüfung
1. Umfang der Zuständigkeit der Großen Kammer
99. Der Beschwerdeführer hat in seinem Antrag auf Verweisung seiner Rechtssache an die Große Kammer die Feststellung der Kammer nicht bestritten, dass Artikel 5 Abs. 4 wegen der überlangen Dauer der Prüfung der
Rechtmäßigkeit seiner Freiheitsentziehung verletzt worden sei. Laut seinem Vorbringen war diese Feststellung daher rechtskräftig, und die Große Kammer sei nicht zuständig, diese Rüge wieder aufzugreifen.
100. Dies wurde von der Regierung bestritten.
101. Wie der Gerichtshof in seiner ständigen Rechtsprechung festgestellt hat, macht der Wortlaut von Artikel 43 der Konvention deutlich, dass „eine schwerwiegende Frage der Auslegung oder Anwendung der Konvention oder ihrer
Protokolle oder eine schwerwiegende Frage von allgemeiner Bedeutung" (Abs. 2) zwar Voraussetzung für die Annahme des Verweisungsantrags einer Partei ist, die Annahme aber zur Folge hat, dass die „Rechtsache" insgesamt zur
erneuten Entscheidung durch Urteil an die Große Kammer verwiesen wird (Randnr. 3). Insoweit umfasst die an die Große Kammer verwiesene „Rechtssache" notwendigerweise alle Aspekte der Beschwerde, soweit sie für zulässig
erklärt und zuvor durch Urteil der Kammer geprüft worden ist, und gibt es keine Grundlage für eine bloße Teilverweisung der Rechtssache (vgl. u. a. Rechtssachen K. und T. ./. Finnland [GK], Individualbeschwerde Nr. 25702/94,
Randnrn. 140-41, EGMR 2001-VII; Göç ./. Türkei [GK], Individualbeschwerde Nr. 36590/97, Randnr. 36, EGMR 2002-V; und Cumpa(na( und Maza(re ./. Rumänien [GK], Individualbeschwerde Nr. 33348/96, Randnr. 66, EGMR 2004-XI).
102. Da die Kammer die Rüge des Beschwerdeführers nach Artikel 5 Abs. 4 wegen der überlangen Dauer der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung für zulässig erklärt hat (siehe Randnr. 56 des Urteils der Kammer), ist
die Große Kammer zuständig und aufgefordert, sie zu prüfen.
2. Das Urteil der Kammer
103. In ihrem Urteil vom 13. Dezember 2007 stellte die Kammer fest, dass die Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 14. Oktober 2002, die Rechtssache an das Amtsgericht zurückzuverweisen, anstatt eine eigene
Sachentscheidung zu treffen, unter den Umständen des Falls eine ungerechtfertigte Verzögerung des gerichtlichen Prüfungsverfahrens verursachte habe. Die Kammer stellte fest, dass es während des Prüfungsverfahrens keine längeren
Phasen der Untätigkeit gegeben habe. Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Oberlandesgerichts sei dieses Verfahren jedoch bereits zwei Monate und sieben Tage bei den nationalen Gerichten anhängig gewesen, einschließlich des
Zeitraums von 28 Tagen, in dem es beim Oberlandesgericht selbst zur Entscheidung anstand. Da das Oberlandesgericht alle Entscheidungen aufgehoben habe, die bis dahin im gerichtlichen Prüfungsverfahren ergangen waren, seien
überdies zwischen dem Antrag des Beschwerdeführers vom 7. August 2002 auf gerichtliche Prüfung des gegen ihn erlassenen Haftbefehls und der Entscheidung des Amtsgerichts vom 29. Oktober 2002 über die Begründetheit seines
Antrag nach der Zurückverweisung zwei Monate und zweiundzwanzig Tage verstrichen. Die Kammer kam daher zu dem Schluss, dass Artikel 5 Abs. 4 verletzt worden sei (siehe Randnrn. 70-74 des Urteils der Kammer).
3. Vorbringen der Parteien an die Große Kammer
104. Der Beschwerdeführer forderte die Große Kammer auf, die Feststellung der Kammer, dass Artikel 5 Abs. 4 verletzt worden sei, zu bestätigen, falls sie die vorliegende Rüge prüfen sollte (Randnr. 99 oben).
105. Entgegen ihrem Vorbringen an die Kammer räumte die Regierung mit Bezug auf die Feststellungen, die die Kammer in ihrem Urteil getroffen hatte (siehe Randnrn. 69 ff.), ein, dass die Dauer des gerichtlichen Prüfungsverfahrens
dem Gebot der Entscheidung innerhalb kurzer Frist nach Artikel 5 Abs. 4 im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht entsprochen habe.
4. Würdigung durch den Gerichtshof
106. Der Gerichtshof stellt erneut fest, dass Artikel 5 Abs. 4 dadurch, dass er inhaftierten Personen das Recht auf Anfechtung der Rechtmäßigkeit ihrer Freiheitsentziehung garantiert, nach Einleitung des entsprechenden Verfahrens
auch ein Recht auf zügige gerichtliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Haft sowie auf Aufhebung der Haft bei Feststellung ihrer Unrechtmäßigkeit gewährt (siehe Rechtssachen Baranowski a. a. O., Randnr. 68; Jablonski ./.
Polen , Individualbeschwerde Nr. 33492/96, Randnr. 91, 21. Dezember 2000; und Sarban ./. Moldau , Individualbeschwerde Nr. 3456/05, Randnr. 118, 4. Oktober 2005). Bei der Entscheidung darüber, ob das Erfordernis, dass eine
Entscheidung innerhalb „kurzer Frist" zu ergehen hat, erfüllt worden ist, ist eine Gesamtwürdigung vorzunehmen, wenn das Verfahren in mehreren Instanzen geführt wurde (vgl. Rechtssache Navarra ./. Frankreich , 23. November
1993, Randnr. 28, Series A Band 273-B). Die Frage, ob das Recht auf eine zügige Entscheidung beachtet worden ist, muss - wie dies auch für das Gebot der „angemessenen Frist" aus Artikel 5 Abs. 3 und Artikel 6 Abs. 1 der
Konvention gilt - im Lichte der Umstände jedes einzelnen Falles betrachtet werden (siehe Rechtssachen Rehbock ./. Slowenien , Individualbeschwerde Nr. 29462/95, Randnr. 84, EGMR 2000-XII; G.B. ./. Schweiz ,
Individualbeschwerde Nr. 27426/95, Randnr. 33, 30. November 2000; und M.B. ./. Schweiz , Individualbeschwerde Nr. 28256/95, Randnr. 37, 30. November 2000) einschließlich der Komplexität des Verfahrens, der
Verfahrensführung seitens der nationalen Behörden und des Beschwerdeführers sowie der Bedeutung der Rechtssache für die Interessen des Beschwerdeführers (vgl. Rechtssachen G.B ./. Schweiz , a. a. O., Randnrn. 34-39, und M.B.
./. Schweiz , a. a. O. Randnrn. 38-43).
107. Im Hinblick auf die strengen Maßstäbe, die der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung zu der Frage gesetzt hat, ob der Staat der Anforderung der Entscheidung innerhalb kurzer Frist nachgekommen ist (siehe insbesondere
Rechtssachen G. B ./. Schweiz , M. B ./. Schweiz , Rehbock und Sarban , a. a. O.), ist die Große Kammer aus den von der Kammer dargelegten Gründen der Auffassung, dass die deutschen Gerichte, und insbesondere das
Oberlandesgericht, nicht „innerhalb kurzer Frist" über die Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers entschieden haben. Deshalb ist Artikel 5 Abs. 4 der Konvention insoweit verletzt worden.
III. GERÜGTE VERSAGUNG DER AKTENEINSICHT
108. Der Beschwerdeführer rügte weiterhin, dass seinem Anwalt im Haftprüfungsverfahren die Akteneinsicht versagt worden sei, weshalb er sich nicht wirksam habe verteidigen können. Er berief sich auf die Artikel 5 und 6 der Konvention.
109. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass diese Rüge allein nach Artikel 5 der Konvention zu prüfen ist, der soweit maßgeblich, lautet:
„(4) Jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, hat das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet,
wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist."
A) Umfang der Zuständigkeit der Großen Kammer
110. Der Beschwerdeführer hob hervor, er habe in seinem Antrag auf Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer die Feststellung der Kammer nicht bestritten, dass Artikel 5 Abs. 4 wegen der Weigerung, seinem Anwalt
Akteneinsicht zu gewähren, verletzt worden sei. Seines Erachtens hatte die Große Kammer daher zur erneuten Prüfung dieser Rüge keine Zuständigkeit.
111. Dies wurde von der Regierung bestritten.
112. Die große Kammer stellt fest, dass die Kammer die Rüge des Beschwerdeführers in Bezug auf Artikel 5 Abs. 4 zu dieser Frage für zulässig erklärt hat (siehe Randnr. 87 des Urteils der Kammer). In Anbetracht der Rechtsprechung
des Gerichtshofs (a. a. O. Randnr. 101) muss sie diese Rüge deshalb prüfen.
B) Prozessuale Einrede der Regierung
113. Die Regierung beanstandete, dass der Beschwerdeführer den innerstaatlichen Rechtsweg in Bezug auf seine Rüge nach Artikel 5 Abs. 4 nicht ausgeschöpft habe. Er habe die gerichtliche Überprüfung der Entscheidung der
Staatsanwaltschaft, seinem Anwalt nach § 147 Abs. 5 StPO die Akteneinsicht zu versagen, nicht gesondert beantragt.
1. Das Urteil der Kammer
114. Mit Urteil vom 13. Dezember 2007 wies die Kammer die Einrede der Regierung zurück. Sie war der Auffassung, dass die Rüge des Beschwerdeführers in Bezug auf die Tatsache, dass seinem Anwalt Akteneinsicht verwehrt
wurde, nur einen Aspekt seiner umfassenderen Rüge im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit seines Haftbefehls dargestellt habe. Ein zusätzliches Verfahren nach § 147 Abs. 5 StPO zur gerichtlichen Überprüfung der Entscheidung, dem
Anwalt des Beschwerdeführers keine Akteneinsicht zu gewähren, sei daher nicht geeignet gewesen, in Bezug auf die angebliche Unrechtmäßigkeit des Haftbefehls Abhilfe zu schaffen, sondern nur hinsichtlich eines Aspekts der von
dem Beschwerdeführer gerügten Rechtsverletzung. Darüber hinaus habe das Landgericht, das über einen Antrag nach § 147 Abs. 5 StPO hätte entscheiden müssen, sich mit der Rüge des Beschwerdeführers hinsichtlich der Weigerung,
Akteneinsicht zu gewähren, tatsächlich befasst, und der Beschwerdeführer habe diese Frage in dem Verfahren zur gerichtlichen Überprüfung des gegen ihn bestehenden Haftbefehls, das er zum Abschluss führte, auch vor dem
Bundesverfassungsgericht gerügt. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass ein zusätzlicher Antrag auf gerichtliche Überprüfung nach § 147 Abs. 5 StPO unter diesen Umständen kein wirksames Rechtsmittel mit angemessenen
Erfolgsaussichten gewesen wäre, das von dem Beschwerdeführer hätte erschöpft werden müssen (siehe Randnrn. 83-84 des Urteils der Kammer).
2. Die Stellungnahmen der Parteien
115. Die Regierung verwies auf ihr Vorbringen an die Kammer zur Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs und trug vor, dass der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer beim Landgericht Mönchengladbach einen
gesonderten Antrag auf gerichtliche Überprüfung der Entscheidung der Staatsanwaltschaft, seinem Anwalt Akteneinsicht zu versagen, nach § 147 Abs. 5 StPO hätte stellen müssen. Dieser Antrag hätte ausdrücklich und ergänzend zu
seinem Antrag auf gerichtliche Überprüfung des Haftbefehls gestellt werden müssen, weil ein Antrag nach § 147 Abs. 5 das einzige nach deutschem Recht zur Verfügung stehende Rechtsmittel im Hinblick auf die Versagung der
Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft sei. Nach Auffassung der Regierung hatte das Landgericht Mönchengladbach bei der Prüfung des Antrags auf Haftprüfung nicht berücksichtigt, dass es auch aufgefordert war zu prüfen, ob
es rechtmäßig war, dem Verteidiger Akteneinsicht zu versagen.
116. Mit Bezug auf sein Vorbringen an die Kammer trug der Beschwerdeführer vor, dass die Kammer zu Recht der Ansicht gewesen sei, dass ein gesonderter Antrag auf gerichtliche Prüfung nach § 147 Abs. 5 StPO kein wirksames
Rechtsmittel gewesen wäre, das von ihm hätte erschöpft werden müssen.
3. Würdigung durch den Gerichtshof
117. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Regierung ihre Einrede, der Beschwerdeführer habe den Rechtsweg wegen Nichtstellens eines Antrags auf gerichtliche Überprüfung nach § 147 Abs. 5 StPO nicht erschöpft, in ihrer
Stellungnahme zur Zulässigkeit der Beschwerde in dem Verfahren vor der Kammer nach Artikel 55 und 54 der Verfahrensordnung vorgebracht hat (siehe Randnr. 78 des Urteils der Kammer). In Anbetracht der Rechtsprechung des
Gerichtshofs (a. a. O., Randnr. 57) sollte die Große Kammer ihre Einrede deshalb prüfen.
118. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Regel der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs nach Artikel 35 Abs. 1 der Konvention die Beschwerdeführer verpflichtet, zunächst von den ihnen nach ihrer
innerstaatlichen Rechtsordnung zur Verfügung stehenden Rechtsmitteln Gebrauch zu machen, die hinreichend geeignet sind, der behaupteten Verletzung abzuhelfen (vgl. Rechtssachen Airey ./. Irland , 9. Oktober 1979, Randnr. 19,
Serie A Band 32; Iatridis ./. Griechenland [GK], Individualbeschwerde Nr. 31107/96, Randnr. 47, EGMR 1999-II; und Ilhan ./. Türkei [GK], Individualbeschwerde Nr. 22277/93, Randnr. 58, EGMR 2000-VII). Es obliegt der
Regierung, die eine Nichterschöpfung geltend macht, den Gerichtshof davon zu überzeugen, dass der Rechtsbehelf wirksam war und zur maßgeblichen Zeit in der Theorie und in der Praxis zur Verfügung stand, er also zugänglich und
geeignet war, den Rügen des Beschwerdeführers unmittelbar abzuhelfen, und angemessene Aussicht auf Erfolg bot. Sobald diese Beweispflicht erfüllt worden ist, obliegt es jedoch dem Beschwerdeführer nachzuweisen, dass der von
der Regierung dargelegte Rechtsbehelf tatsächlich erschöpft worden ist oder aus irgendeinem Grund unter den besonderen Umständen des Falls unzureichend und unwirksam war oder der Beschwerdeführer aufgrund vorliegender
besonderer Umstände von diesem Erforderns befreit war (siehe Rechtssachen Akdivar u. a. ./. Türkei, 16.September 1996, Randnr. 68, Sammlung 1996-IV; und Kleyn u. a. ./. Niederlande [GK], Individualbeschwerden Nrn. 39343/98,
39651/98, 43147/98 und 46664/99, Randnr. 156, EGMR 2003-VI). Daher kann ein Beschwerdeführer nicht dafür kritisiert werden, dass er von einem Rechtsmittel keinen Gebrauch gemacht hat, mit dem im Wesentlichen dasselbe
Ziel verfolgt worden wäre wie mit dem Verfahren, das der Beschwerdeführer zum Abschluss geführt hat, und das darüber hinaus auch keine größeren Erfolgsaussichten gehabt hätte (vgl. Rechtssachen Iatridis , a. a. O., Randnr. 47;
und Miailhe ./. Frankreich (Nr. 1) , 25. Februar 1993, Randnr. 27, Serie A Band 256-C).
119. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer eine gerichtliche Prüfung der Rechtmäßigkeit seines Haftbefehls beantragt hatte, weil seinem Anwalt u. a. Akteneinsicht versagt worden war. In dem Haftprüfungsverfahren
ist das Landgericht Mönchengladbach, das nach § 161a Abs. 3 StPO allein zuständig gewesen wäre, über jeden gesonderten Antrag nach § 147 Abs. 5 StPO zu entscheiden, ausdrücklich auf den Antrag des Anwalts auf Akteneinsicht
eingegangen. Das Landgericht führte in seinem Beschluss vom 9. September 2002 aus, dass der Anwalt des Beschwerdeführers zunächst mündlich über den Akteninhalt zu informieren sei und eine unbeschränkte Einsicht im
gegenwärtigen Stadium des Verfahrens nicht verlangen könne (siehe Randnr. 20 oben). Das Bundesverfassungsgericht, das auch zuständig gewesen wäre, die Abweisung eines von dem Beschwerdeführer ausdrücklich nach § 147 Abs.
5 gestellten gesonderten Antrags durch das Landgericht zu überprüfen, nahm dessen Verfassungsbeschwerde gegen den Haftbefehl, in der er die Frage der Akteneinsichtsversagung vorgebracht hatte, nicht zur Entscheidung an. Vor
diesem Hintergrund ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Frage, ob ein gesonderter Antrag nach § 147 Abs. 5 generell als wirksamer Rechtsbehelf angesehen werden könnte, der geeignet ist, in Fällen Abhilfe zu schaffen, in
denen eine inhaftierte Person in erster Linie die Rechtmäßigkeit ihrer Freiheitsentziehung bestreitet, offen gelassen werden kann. Er stellt fest, dass unter den besonderen Umständen des Falls, unter denen das Landgericht sich
ausdrücklich mit dem Antrag auf Akteneinsicht befasst und ihn mit einem von dem Bundesverfassungsgericht bestätigten Beschluss abgewiesen hat, jeder an dieselben Gerichte gerichtete weitere gesonderte Antrag nach § 147 Abs. 5
jedenfalls keinerlei Aussicht auf Erfolg gehabt hätte.
120. Daraus folgt, dass die Einrede der Regierung zurückzuweisen ist.
C) Einhaltung von Artikel 5 Abs. 4 der Konvention
1. Das Urteil der Kammer
121. Die Kammer hat festgestellt, dass der Beschwerdeführer keine Gelegenheit hatte, die Feststellungen der nationalen Gerichte in ihren Haftentscheidungen wirksam anzufechten, wie der Grundsatz der „Waffengleichheit" dies erfordert.
Seinem Anwalt sei keine Einsicht in die von der Staatsanwaltschaft vorgelegten und den Gerichten herangezogen Teile der Akte gewährt worden, auf die sich der Verdacht gegen den Beschwerdeführer im Wesentlichen gestützt habe.
Es habe nicht genügt, dem Anwalt des Beschwerdeführers Ablichtungen von vier Seiten der umfangreichen Ermittlungsakten, die eine von der Steuerfahndung erstellte Aufstellung der Steuerhinterziehungen enthielten, deren der
Beschwerdeführer verdächtig war, auszuhändigen. Ebenso habe der Vorschlag der Behörden, den Anwalt des Beschwerdeführers lediglich mündlich über die in der Akte enthaltenen Tatsachen und Beweismittel zu informieren, dem
Erfordernis der „Waffengleichheit" nicht entsprochen. Die Tatsache, dass das Oberlandesgericht zu einem späteren Zeitpunkt anerkannt habe, dass die Verfahrensrechte des Beschwerdeführers dadurch, dass seinem Verteidiger
Akteneinsicht versagt wurde, beschnitten worden seien, und dass die nationalen Behörden seinem Anwalt nach der bedingten Entlassung des Beschwerdeführers Akteneinsicht gewährten, habe die Verfahrensmängel in den früheren
Phasen des Verfahrens nicht mehr wirksam beheben können. Daher habe das Verfahren zur Prüfung der gegen den Beschwerdeführer verhängten Haft gegen Artikel 5 Abs. 4 verstoßen (siehe Randnrn. 93-99 des Urteils der Kammer).
2. Die Stellungnahmen der Parteien
122. Der Beschwerdeführer forderte die Große Kammer auf, die Feststellung der Kammer, dass Artikel 5 Abs. 4 verletzt worden sei, zu bestätigen.
123. Die Regierung räumte vor der Großen Kammer ein, dass die Weigerung, dem Anwalt des Beschwerdeführers Akteneinsicht zu gewähren, dem Gebot der Fairness aus Artikel 5 Abs. 4, wie es insbesondere in den Urteilen des
Gerichtshofs in den Rechtssachen S. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 25116/94), L. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 24479/94) und G. A. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 23541/94) definiert wurde,
nicht genügt habe.
3. Würdigung durch den Gerichtshof
124 Das Verfahren, das nach Artikel 5 Abs. 4 der Konvention vor dem Gericht geführt wird, das die Haftbeschwerde prüft, muss kontradiktorisch sein und stets „Waffengleichheit" zwischen den Prozessparteien - dem Staatsanwalt
und der Person, der die Freiheit entzogen ist - gewährleisten (vgl. insbesondere Rechtssachen S. ./. Deutschland Individualbeschwerde Nr. 25116/94, Randnr. 44, EGMR 2001-I; L. ./. Deutschland , Individualbeschwerde Nr. 24479/94,
Randnr. 44, EGMR 2001-I; G. A. ./. Deutschland , Individualbeschwerde Nr. 23541/94, Randnr. 39, 13. Februar 2001; und Svipsta ./. Lettland, Individualbeschwerde Nr. 66820/01, Randnr. 129, EGMR 2006-...). Die
Waffengleichheit ist nicht gewährleistet, wenn dem Verteidiger der Zugang zu denjenigen Schriftstücken in der Ermittlungsakte versagt wird, die für die wirksame Anfechtung der Rechtmäßigkeit der
Freiheitsentziehung seines Mandaten wesentlich sind (siehe u. v. a. Rechtssachen Lamy ./. Belgien , 30. März 1989, Randnr. 29, Serie A Band 151; Nikolova ./. Bulgarien [GK], Individualbeschwerde Nr. 31195/96, Randnr. 58,
EGMR 1999-II; Schöps , a. a. O., Randnr. 44; Shishkov ./. Bulgarien , Individualbeschwerde Nr.38822/97, Randnr. 77, EGMR 2003-I; und Svipsta , a. a. O., Randnr. 129).
125. Mit Blick auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs schließt die Große Kammer sich der Begründung der Kammer voll und ganz an und stellt fest, dass das Verfahren, mit dem der Beschwerdeführer die Rechtmäßigkeit der gegen
ihn angeordneten Untersuchungshaft anfocht, das Gebot der Fairness aus Artikel 5 Abs. 4 der Konvention verletzt hat.
IV. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION
126. Artikel 41 der Konvention lautet: ...
A) Schaden
127. Die Kammer erkannte in ihrem Urteil, dass die Feststellung einer Verletzung eine hinreichende gerechte Entschädigung in Bezug auf den immateriellen Schaden darstelle, den der Beschwerdeführer angeblich erlitten hat, weil die
nationalen Gerichte dem Gebot der Fairness aus Artikel 5 Abs. 4 nicht entsprochen hatten. Hingegen stellte sie fest, dass der Beschwerdeführer wegen der Verletzung des Gebots der Entscheidung innerhalb kurzer Frist aus Artikel 5
gelitten haben muss, und hat ihm daher in Bezug auf den immateriellen Schaden 1.500 Euro zugesprochen (siehe Randnr. 103 des Urteils der Kammer).
128. Der Beschwerdeführer hielt den Anspruch, den er in Bezug auf den immateriellen Schaden in dem Verfahren vor der Kammer geltend gemacht hatte, aufrecht. Er hielt 25.000 Euro für angemessen, stellte die Festlegung eines
angemessenen Betrags aber in das Ermessen des Gerichtshofs, wobei zu berücksichtigen sei, dass Deutschland die Konvention bewusst und immer wieder verletzt habe.
129. Die Regierung hielt die von dem Beschwerdeführer geforderte Summe für unangemessen hoch.
130. Die Große Kammer ist der Auffassung, dass dem Beschwerdeführer durch die Verletzung der Gebote der Fairness und der Entscheidung innerhalb kurzer Frist aus Artikel 5 Abs. 4 immaterieller Schaden wie Stress und
Frustration entstanden ist, der nicht allein durch die Feststellung von Konventionsverletzungen wieder gut gemacht werden kann. Der Gerichtshof setzt die Summe nach Billigkeit fest und spricht dem Beschwerdeführer unter dieser
Rubrik 3.000 Euro zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern zu.
B) Kosten und Auslagen
131. Die Kammer hat in ihrem Urteil die Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass dem Beschwerdeführer die Kosten des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht entstanden seien, um eine Verletzung seiner Rechte aus der
Konvention feststellen zu lassen und eine Entschädigung zu erhalten. Sie stellte weiterhin fest, dass die Beschwerde vor dem Gerichtshof im Wesentlichen begründet war. Aufgrund eigener Berechnung hielt sie es für angemessen, den
Betrag von 6.000 Euro zur Abgeltung aller Kosten, abzüglich der im Wege der Prozesskostenhilfe vom Europarat erhaltenen Summe (850,- Euro), also insgesamt 5.150,- Euro, einschließlich der Mehrwertsteuer, zuzusprechen (siehe
Randnrn. 106-107 des Urteils der Kammer).
132. Der Beschwerdeführer erhob dieselbe Forderung für Kosten und Auslagen wie vor der Kammer; in diesem Verfahren hatte er insgesamt 5.164,76 Euro für Kosten und Auslagen vor dem Gerichtshof (2.908,70 Euro für die
Erstellung des Schriftsatzes und 2.256,06 Euro für die Übersetzung in die englische Sprache) sowie 2.908,70 Euro für Kosten und Auslagen vor dem Bundesverfassungsgericht verlangt. Nach den vom Beschwerdeführer eingereichten
Rechnungen ist in diesen Beträgen die Mehrwertsteuer enthalten. Der Beschwerdeführer, dem für das Erscheinen seiner Anwälte in der mündlichen Verhandlung Prozesskostenhilfe gewährt wurde, forderte ferner die Erstattung der
Kosten von insgesamt 670, 51 Euro für die Übersetzung seiner Schriftsätze an die Große Kammer in die englische Sprache; in diesem Betrag war die Mehrwertsteuer enthalten. Er begründete seinen Anspruch durch Belege.
133. Die Regierung stellte die dem Beschwerdeführer für die entstandenen Kosten und Auslagen zuzusprechende Summe in das Ermessen des Gerichtshofs.
134. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs werden Kosten und Auslagen nach Artikel 41 nur erstattet, wenn nachgewiesen wird, dass sie tatsächlich und notwendigerweise entstanden sind und der Höhe nach
angemessen waren. Darüber hinaus sind Anwalts- und Gerichtskosten nur erstattungsfähig, soweit sie sich auf die festgestellte Verletzung beziehen (siehe z. B. Rechtssachen Beyeler ./. Italien (gerechte Entschädigung) [GK],
Individualbeschwerde Nr. 33202/96, Randnr. 27, 28. Mai 2002; und Sahin v. Germany [GK], Individualbeschwerde Nr. 30943/96, Randnr. 105, EGMR 2003-VIII).
135. Mit Blick auf ihre Rechtsprechung und unter Bestätigung der von der Kammer gegebenen Begründungen sieht die Große Kammer keinen Grund für eine Abweichung von der Feststellung der Kammer zu dem Betrag, der für die
vor den nationalen Gerichten und der Kammer entstandenen Kosten und Auslagen zuzusprechen ist.
136. Hinsichtlich der zusätzlichen Kosten und Auslagen in dem Verfahren vor der Großen Kammer hält sie es für angemessen, dem Beschwerdeführer für die Kosten, die durch die geforderte Übersetzung der Stellungnahme des
Beschwerdeführers in eine der Amtssprachen des Europarats entstanden sind, 500 Euro einschließlich Mehrwertsteuer zuzusprechen.
137. Daher spricht der Gerichtshof dem Beschwerdeführer für alle in dem innerstaatlichen Verfahren und dem Konventionsverfahren entstanden Kosten insgesamt 5.650 Euro einschließlich Mehrwertsteuer zu, zuzüglich der dem
Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuern.
C) Verzugszinsen
138. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF:
1. einstimmig, dass die prozessualen Einreden der Regierung zurückgewiesen werden;
2. mit neun zu acht Stimmen, dass Artikel 5 Abs. 1 der Konvention nicht verletzt worden ist;
3. einstimmig, dass Artikel 5 Abs. 4 der Konvention insoweit verletzt worden ist, als die Prüfung der Rechtmäßigkeit der gegen den Beschwerdeführer angeordneten Haft zu lange dauerte;
4. einstimmig, dass Artikel 5 Abs. 4 der Konvention insoweit verletzt worden ist, als dem Anwalt des Beschwerdeführers in dem Verfahren zur Prüfung der Rechtmäßigkeit der Haft des Beschwerdeführers Akteneinsicht versagt wurde;
5. einstimmig,
a) dass der beklagte Staat dem Beschwerdeführer binnen drei Monaten folgende Beträge zu zahlen hat:
i) 3.000 Euro (dreitausend Euro) für immateriellen Schaden, zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern;
ii) 5.650 Euro (fünftausendsechshundertfünfzig Euro) für Kosten und Auslagen, zuzüglich der dem Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuern;
b) dass nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten für die obengenannten Beträge bis zur Auszahlung einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes anfallen, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der
Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht.
6. einstimmig, dass die Forderung des Beschwerdeführers nach gerechter Entschädigung im Übrigen zurückgewiesen wird. ..." ( EGMR, Urteil vom 09.07.2009 - 11364/03)
***
In der vorliegenden Sache wird die Frage aufgeworfen, ob das Verfahren, in dem der Beschwerdeführer die Rechtmäßigkeit seiner Untersuchungshaft anfechten wollte, im Einklang mit Artikel 5 Abs. 4 MRK stand, insbesondere ob
der Beschwerdeführer, dessen Anwalt im gerichtlichen Haftprüfungsverfahren die Akteneinsicht verwehrt wurde, in den Genuss eines kontradiktorischen Verfahrens gekommen ist, in dem die Waffengleichheit zwischen den
Prozessparteien sichergestellt war. Ein Verstoß gegen Artikel 5 Abs. 4 MRK (Waffengleichheit) ist festzustellen, wenn dem Verteidiger im Haftprüfungsverfahren die Akteneinsicht versagt wurde. Der Gerichtshof hält die
vorgeschlagene Entschädigungssumme von 5.500 Euro, die den in vergleichbaren Fällen zugesprochenen Beträgen entspricht, für akzeptabel ( EGMR, Beschluss vom 02.06.2009 - 29705/05 - juris):
„... Unter Bezugnahme auf Artikel 5 Abs. 4 der Konvention behauptete der Beschwerdeführer, in dem Prüfungsverfahren sei der Grundsatz der Waffengleichheit missachtet worden, denn die Ablehnung, seinem Anwalt Akteneinsicht
zu gewähren, habe es ihm unmöglich gemacht, sich durch eine überzeugende Stellungnahme zu den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen wirksam zu verteidigen. Artikel 5 Abs. 4 lautet wie folgt: ...
Am 3. März 2009 ging beim Gerichtshof eine Erklärung der Regierung vom 16. Februar 2009 ein, die, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:
"1. Der Gerichtshof hat in diesem Verfahren einen Vorschlag zur gütlichen Einigung unterbreitet, den die Bundesregierung mit Erklärung vom 15. Dezember 2008 angenommen hat. Mit Bezugsschreiben hat der Gerichtshof nunmehr
das Schreiben des Beschwerdeführers vom 8. Januar 2009 übersandt, in dem dieser mitteilt, mit dem Abschluss des vom Gerichtshof vorgeschlagenen Vergleichs nicht einverstanden zu sein.
2. Die Bundesregierung möchte daher - durch eine einseitige Erklärung - anerkennen, dass das Verfahren, mit dem der Beschwerdeführer die Rechtmäßigkeit der gegen ihn angeordneten Untersuchungshaft angefochten hat, nicht im
Einklang mit Art. 5 Abs. 4 der Konvention stand, da dem Rechtsanwalt des Beschwerdeführers nicht in der erforderlichen Weise Akteneinsicht gewährt wurde.
3. Die Bundesregierung ist bereit, im Falle der Streichung dieses Individualbeschwerdeverfahrens durch den Gerichtshof die Entschädigungsforderungen des Beschwerdeführers in Höhe von 5.500,00 € anzuerkennen. Mit diesem
Betrag in Höhe von 5.500,00 € würden sämtliche Ansprüche des Beschwerdeführers im Zusammenhang mit der o. g. Individualbeschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland und des Landes Rheinland-Pfalz, insbesondere die
Entschädigung des Beschwerdeführers (auch für Nichtvermögensschäden), Kosten und Auslagen, als abgegolten gelten. Einen Betrag von 5.500,00 € hält die Bundesregierung im Hinblick auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs in
vergleichbaren Fällen für angemessen.
4. Die Bundesregierung beantragt daher, dass dieses Individualbeschwerdeverfahren gemäß Art. 37 Abs. 1c) EMRK aus dem Register gestrichen wird.
Die Anerkennung der Verletzung von Art. 5 Abs. 4 der Konvention sowie der Entschädigungsforderung in Höhe von 5.500,00 € durch die Bundesregierung stellt einen „anderen Grund" im Sinne dieser Vorschrift dar."
In seiner schriftlichen Erwiderung vom 9. März 2009 äußerte der Beschwerdeführer unter Bezugnahme auf sein Schreiben vom 8. Januar 2009 die Ansicht, dass ihn die in der Erklärung der Bundesregierung genannte Summe nicht
angemessen für den körperlichen, seelischen und finanziellen Schaden entschädige, den er dadurch erlitten habe, dass seinem Anwalt im April 2005 Akteneinsicht versagt worden sei; er forderte eine Entschädigung in Höhe von
50.000 €. Hätten die Staatsanwaltschaft und das Amtsgericht Kaiserslautern die vollständige Akteneinsicht am 18. bzw. 26 April 2005 nicht versagt, so der Beschwerdeführer, wäre seine Freilassung wahrscheinlich Mitte Mai 2005
statt am 13. Dezember 2005 angeordnet worden. Er forderte eine Entschädigung von mindestens 250 € für jeden Tag dieses Zeitraums, d.h. 210 Tage, in Bezug auf den materiellen und immateriellen Schaden. Der Beschwerdeführer
verwies in diesem Zusammenhang auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Januar 2006 in dem Parallelverfahren betreffend den dinglichen Arrest in sein Vermögen und wies darauf hin, dass das
Bundesverfassungsgericht den Streitwert auf 50.000 € festgesetzt habe. Der Beschwerdeführer führte aus, diese Summe könne auch in Bezug auf den Wert des von ihm im vorliegenden Fall erlittenen Schaden als angemessene
Richtschnur betrachtet werden.
Der Gerichtshof stellt eingangs fest, dass die Parteien nicht in der Lage waren, sich in der vorliegenden Rechtssache über die Bedingungen eines Vergleichs zu einigen. Er erinnert daran, dass Verfahren zur Erzielung einer gütlichen
Einigung nach Artikel 38 Abs. 2 der Konvention vertraulich sind und Artikel 62 Abs. 2 der Verfahrensordnung darüber hinaus bestimmt, dass im Rahmen dieser Verhandlungen geäußerte schriftliche oder mündliche Mitteilungen,
Angebote oder Eingeständnisse im streitigen Verfahren nicht erwähnt oder geltend gemacht werden dürfen. Die oben wiedergegebene Erklärung wurde von der Regierung am 16. Februar 2009 jedoch außerhalb der Verhandlungen
über eine gütliche Einigung abgegeben, weshalb der Gerichtshof sein weiteres Vorgehen auf diese Erklärung stützt.
Der Gerichtshof erinnert daran, dass er nach Artikel 37 der Konvention jederzeit während des Verfahrens entscheiden kann, eine Beschwerde in seinem Register zu streichen, wenn die Umstände Grund zu einer der in Absatz 1
Buchstabe a, b oder c genannten Annahmen geben. Insbesondere kann der Gerichtshof nach Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c eine Rechtssache in seinem Register streichen, wenn:
„eine weitere Prüfung der Beschwerde aus anderen vom Gerichtshof festgestellten Gründen nicht gerechtfertigt ist."
Artikel 37 Abs. 1 in fine enthält folgende Maßgabe:
„Der Gerichtshof setzt jedoch die Prüfung der Beschwerde fort, wenn die Achtung der Menschenrechte, wie sie in dieser Konvention und den Protokollen dazu anerkannt sind, dies erfordert."
Der Gerichtshof erinnert daran, dass er unter bestimmten Umständen eine Beschwerde nach Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c der Konvention auch dann aufgrund einer einseitigen Erklärung einer beschwerdegegnerischen Regierung
streichen kann, wenn der Beschwerdeführer die weitere Prüfung der Rechtssache wünscht. Zu diesem Zweck prüft der Gerichtshof die Erklärung sorgfältig im Lichte der Kriterien, die sich aus seiner Rechtsprechung ergeben (siehe
Tahsin Acar ./. Türkei [GK], Individualbeschwerde Nr. 26307/95, Rdnr. 75-77, ECHR 2003-VI; und ebenfalls Haran ./. Türkei , Individualbeschwerde Nr. 25754/94, Rdnr. 23, Urteil vom 26. März 2002, Akman ./. Türkei
(Streichung), Individualbeschwerde Nr. 37453/97, Rdnr. 30-31, ECHR 2001-VI, Meriakri ./. Republik Moldau (Streichung), Individualbeschwerde Nr. 53487/99, Rdnr. 30-32, 1. März 2005; MacDonald ./. Vereinigtes Königreich
(Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 301/04, 6. Februar 2007 und O. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 31384/02, 11. September 2007).
Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass in der vorliegenden Sache die Frage aufgeworfen wird, ob das Verfahren, in dem der Beschwerdeführer die Rechtmäßigkeit seiner Untersuchungshaft anfechten wollte, im Einklang mit Artikel 5
Abs. 4 der Konvention stand, insbesondere ob der Beschwerdeführer, dessen Anwalt im gerichtlichen Haftprüfungs-verfahren die Akteneinsicht verwehrt wurde, in den Genuss eines kontradiktorischen Verfahrens gekommen ist, in
dem die Waffengleichheit zwischen den Prozessparteien sichergestellt war.
Der Gerichtshof ruft in diesem Zusammenhang in Erinnerung, dass er bereits in mehreren Fällen einen Verstoß gegen Artikel 5 Abs. 4 der Konvention festgestellt hat, wenn dem Verteidiger im Haftprüfungsverfahren die
Akteneinsicht versagt wurde (siehe S. ./. Deutschland , Individualbeschwerde Nr. 25116/94, ECHR 2001-I ; L. ./. Deutschland , Individualbeschwerde Nr. 24479/94, ECHR 2001-I; G. A. ./. Deutschland , Individualbeschwerde Nr.
23541/94, 13. Februar 2001; und ?aszkiewicz ./. Polen , Individualbeschwerde Nr. 28481/03, 15. Januar 2008).
Die Bundesregierung erkennt in ihrer Erklärung an, dass das Verfahren, mit dem der Beschwerdeführer die Rechtmäßigkeit der gegen ihn angeordneten Untersuchungshaft angefochten hat, nicht im Einklang mit Art. 5 Abs. 4 der
Konvention stand, da dem Rechtsanwalt des Beschwerdeführers nicht in der erforderlichen Weise Akteneinsicht gewährt wurde. Ferner hält der Gerichtshof die vorgeschlagene Entschädigungssumme, die den in vergleichbaren Fällen
zugesprochenen Beträgen entspricht, für akzeptabel.
Im Hinblick auf die vorstehenden Erwägungen und die besonderen Umstände der Rechtssache ist der Gerichtshof der Auffassung, dass eine weitere Prüfung der Beschwerde nicht länger gerechtfertigt ist (Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c
der Konvention). Der Gerichtshof ist überzeugt, dass die Achtung der Menschenrechte, wie sie in der Konvention und den Protokollen dazu definiert sind, keine weitere Prüfung der Beschwerde erfordert (Artikel 37 Abs. 1 in fine der Konvention).
Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof einstimmig, die Beschwerde in seinem Register zu streichen. ..."
***
Art. 6 EMRK Recht auf ein faires Verfahren
(1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen,
auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Das Urteil muss öffentlich verkündet werden; Presse und Öffentlichkeit können jedoch während des ganzen oder
eines Teiles des Verfahrens ausgeschlossen werden, wenn dies im Interesse der Moral, der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit in einer demokratischen Gesellschaft liegt, wenn die Interessen von Jugendlichen oder der
Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen oder - soweit das Gericht es für unbedingt erforderlich hält - wenn unter besonderen Umständen eine öffentliche Verhandlung die Interessen der Rechtspflege beeinträchtigen würde.
(2) Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.
(3) Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte:
a) innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden;
b) ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;
c) sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der
Rechtspflege erforderlich ist;
d) Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten;
e) unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht.
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Leitsätze/Entscheidungen:
Die Unschuldsvermutung kann auch durch ein freisprechendes Urteil verletzt werden. Es kommt nicht nur auf den Tenor der freisprechenden Entscheidung, sondern auch auf die Urteilsbegründung an. Eine Verletzung des Art. 6 Abs.
2 EMRK liegt - wie hier - vor, wenn die Urteilsgründe die Haltung des Gerichts zum Ausdruck bringen, dass der Angeklagte tatsächlich schuldig ist. Eine Verletzung scheidet aus, wenn das Strafgericht lediglich einen nach der
Beweiserhebung bestehenden Tatverdacht äußert. Es kommt insoweit entscheidend auf die gebrauchten Formulierungen an, die in den Kontext des konkreten nationalen Verfahrens einzubetten sind. Hierbei müssen die Strafgerichte
besonders zurückhaltend formulieren, wenn absehbar gerichtliche Folgeverfahren (hier: familienrechtliche Verfahren) von ihren Äußerungen beeinflusst werden können. Zum Einzelfall einer Verletzung durch Äußerungen, nach denen
der freigesprochene Angeklagte sexuelle Übergriffe auf seine Tochter begangen habe, dem Gericht wegen einer unzureichenden Zeugenaussage indes die hinreichende Gewissheit hinsichtlich eines bestimmten, für die Verurteilung
erforderlichen Tatherganges fehlte. Der Schutz der Unschuldsvermutung reicht über anhängige Strafverfahren hinaus. Er schützt den Freigesprochenen oder von einer Einstellung Betroffenen auch davor, dass staatliche Stellen ihn so
behandeln, als habe er die Tat tatsächlich begangen. Dies gilt auch für familienrechtliche Sorgerechtsverfahren. Auch in diesen ist der freisprechende Tenor des Strafurteils zu beachten.(EGMR, Urteil vom 15.01.2015 - 48144/09 -
zitiert nach HRRS-Newsletter - Ausgabe der HRRS Mai 2015 online - Text in englischer Sprache unter http://www.hrr-strafrecht.de/hrr/egmr/09/48144-09.php)
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„... DAS VERFAHREN
1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 48144/09) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, C. (‚der Beschwerdeführer'), am 7. September 2009 nach Artikel 34 der
Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (‚die Konvention') beim Gerichtshof eingereicht hatte.
2. Der Beschwerdeführer wurde von Herrn R., Rechtsanwalt in G., vertreten. Die deutsche Regierung (‚die Regierung') wurde durch ihre zwei Verfahrensbevollmächtigten, Herrn Behrens und Frau Behr vom Bundesministerium der
Justiz, vertreten.
3. Der Beschwerdeführer machte geltend, dass die Ausführungen des Landgerichts in den Gründen seines ihn freisprechenden Urteils einer Schuldfeststellung gleichkämen, wodurch der in Artikel 6 Abs. 2 der Konvention verankerte
Grundsatz der Unschuldsvermutung verletzt werde.
4. Am 14. Oktober 2013 wurde die Beschwerde der Regierung übermittelt.
SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE
5. Der Beschwerdeführer wurde 19.. geboren und lebt in X.
A. Hintergrund der Rechtssache
6. 1994 wurde A., die Tochter des Beschwerdeführers, geboren. Seit ihrer Trennung im September 1994 führten der Beschwerdeführer und A.s Mutter, Frau J., Auseinandersetzungen über das Sorgerecht für A. und Umgangskontakte
mit ihr. Das Kind lebte ursprünglich bei der Mutter. 2004 wurde A. in einer Heimeinrichtung untergebracht.
7. Am 9. November 2006 erstattete Frau J. bei der Polizei Anzeige gegen den Beschwerdeführer und gab an, dass die gemeinsame Tochter seit 1998 von ihm vergewaltigt werde. Da A. beharrlich erklärte, dass sie nicht zu einer
Aussage bei der Polizei bereit sei, wurde das Verfahren zunächst eingestellt. Nach einem Besuch von A. bei ihrer Mutter teilte diese der Polizei mit, dass A. nunmehr zu einer Aussage bereit sei. Im Mai 2007 wurde A. zwei Mal
polizeilich vernommen. Am 5. November 2007 legte die psychologische Sachverständige K. ein Gutachten über die Glaubhaftigkeit von A.s Aussage vor.
8. Am 18. Januar 2008 erhob die Staatsanwaltschaft Münster Anklage gegen den Beschwerdeführer wegen fünfzehnfachen schweren sexuellen Missbrauchs (§ 176a StGB, siehe Rdnr. 19) und sexuellen Missbrauchs einer
Schutzbefohlenen (§ 174 StGB, siehe Rdnr. 20), seiner Tochter A., begangen im Zeitraum von Anfang 2002 bis zum Sommer 2004 meist in S. und Umgebung. Dem Beschwerdeführer wurde vorgeworfen, A. nach der Trennung der
Eltern bei seinen Wochenendtreffen mit ihr sowie im Urlaub in dreizehn Fällen in seinem Auto und in zwei Fällen in einem Urlaubsappartement vergewaltigt zu haben.
9. Der Beschwerdeführer befand sich vom 14. Februar 2008 bis zur Außervollzugsetzung des Haftbefehls am 26. Februar 2008 in Untersuchungshaft.
B. Das Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten
1. Das Verfahren vor dem Landgericht
10. Am 17. September 2008 sprach das Landgericht Münster den Beschwerdeführer nach fünf Hauptverhandlungsterminen aufgrund unzureichender Beweislage frei. Es entschied ferner, dass die Kosten des Verfahrens und die
notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers der Staatskasse auferlegt würden und der Beschwerdeführer für die Untersuchungshaft vom 14. bis 26. Februar 2008 zu entschädigen sei.
11. Unter Berücksichtigung der Aussagen mehrerer Zeugen und der (divergierenden) Gutachten der beiden psychologischen Sachverständigen K. und B. zur Glaubhaftigkeit von A.s Aussage befand das Landgericht, dass die gegen
den Beschwerdeführer erhobenen Vorwürfe nicht mit der für eine strafrechtliche Verurteilung erforderlichen Sicherheit belegbar seien. Es stellte fest, dass der Beschwerdeführer die Vorwürfe bestritten habe. Er werde allein durch A.s
Aussage belastet. A.s Zeugenaussage in der Hauptverhandlung habe das Landgericht nicht von der vollständigen Richtigkeit der Anklagevorwürfe überzeugen können, insbesondere hinsichtlich einer klaren Bestimmung der Taten und
ihrer zeitlichen Einordnung.
12. Unter Berücksichtigung der Zeugenaussagen zweier Erzieherinnen, denen Anzeichen für sexuellen Missbrauch an A.s Verhalten aufgefallen seien, zweier Psychologinnen, die A. behandelt hätten, und einer Freundin von A. sei
das Landgericht nicht davon überzeugt, dass A. von Dritten, einschließlich ihrer Mutter, dahingehend beeinflusst worden sei, dass sie ihren Vater belaste.
13. Das Landgericht führte in seinem Urteil sodann aus:
‚[...] Zusammengefasst sind Anhaltspunkte einer Suggestion für die Kammer nicht ersichtlich.
So geht die Kammer im Ergebnis davon aus, dass das von der Zeugin geschilderte Kerngeschehen einen realen Hintergrund hat, nämlich dass es tatsächlich zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten zu Lasten seiner Tochter in seinem
Auto gekommen ist. Die Taten ließen sich aber dennoch weder ihrer Intensität noch ihrer zeitlichen Einordnung nach in einer für eine Verurteilung hinreichenden Art und Weise konkretisieren. Die Inkonstanzen in den Aussagen der
Zeugin waren so gravierend, dass konkrete Feststellungen nicht getroffen werden konnten.'
14. Das Landgericht berücksichtigte bei seiner Entscheidungsfindung, dass die Zeugin A. einen authentischen Eindruck gemacht habe. Zwar sei ihre Aussage knapp gewesen und sie habe relativ unbeteiligt gewirkt. Allerdings hätten
sieben Zeugen, die A. zum Teil über einen längeren Zeitraum gekannt hätten, bekundet, dass dies ihrem allgemeinen Sprachgebrauch und Verhalten entspreche und sie Probleme nicht in Einzelheiten bespreche.
15. Das Landgericht stellte allerdings fest, dass selbst unter Berücksichtigung dessen die Unstimmigkeiten in A.s Bekundungen in einem Maße überwögen, dass es keine Feststellungen zu konkreten Taten treffen könne. Die Aussage
der Zeugin enthalte Unstimmigkeiten in Bezug auf die Anzahl der von ihr beschriebenen Handlungen (zwischen 25 und 50), den Ort ihrer Begehung (insbesondere im Hinblick auf Handlungen in einem Urlaubsappartement, die die
Zeugin erst später zur Sprache gebracht habe) und die Tatzeiträume (beginnend im Alter von vier bis acht Jahren und bis zur Unterbringung im Heim oder auch noch während des Heimaufenthalts). Überdies sei A. in der
Hauptverhandlung hinsichtlich der genauen Ausführung der von ihr beschriebenen Handlungen in dem Auto unsicher gewesen und habe zu mehreren Punkten keine genauen Erinnerungen gehabt. So habe A. in der Hauptverhandlung
erhebliche Unsicherheiten zum Beispiel dahingehend gezeigt, ob der Beschwerdeführer innerhalb des Autos zu ihr auf den Beifahrersitz gekommen, oder zunächst ausgestiegen und um das Auto herumgegangen sei. Außerdem habe A.
in der Hauptverhandlung mehrfach angegeben, sie habe keine genaue Erinnerung an die Geschehnisse mehr.
16. Das Urteil wurde dem Rechtsanwalt des Beschwerdeführers am 11. November 2008 zugestellt und wurde anschließend rechtskräftig.
2. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht
17. Am 9. Dezember 2008 erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Er machte geltend, die Feststellung des Landgerichts, ‚dass das von der Zeugin geschilderte Kerngeschehen einen
realen Hintergrund hat, nämlich dass es tatsächlich zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten zu Lasten seiner Tochter in seinem Auto gekommen ist', habe sein Grundrecht auf ein faires Verfahren, seine Persönlichkeitsrechte und
seine menschliche Würde verletzt.
18. Am 10. März 2009 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 2499/08). Die Entscheidung wurde dem Rechtsanwalt des
Beschwerdeführers am 19. März 2009 zugestellt.
II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT UND EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS
A. Die Vorschriften des Strafgesetzbuchs
19. § 176a StGB regelt den schweren sexuellen Missbrauch von Kindern, d. h. Personen unter 14 Jahren. In der vor dem 1. April 2004 geltenden Fassung besagte die Bestimmung insbesondere, dass der sexuelle Missbrauch von
Kindern mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft wird, wenn eine Person über achtzehn Jahren mit dem Kind den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an ihm vornimmt oder an sich von ihm vornehmen
lässt, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind. Seit 1. April 2004 wird der gleiche Straftatbestand mit Freiheitsstrafe von nicht weniger als zwei Jahren bestraft.
20. § 174 StGB betrifft den sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen. In der vor dem 1. April 2004 geltenden Fassung sah die Bestimmung insbesondere vor, dass mit Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft
wird, wer sexuelle Handlungen an einer Person unter achtzehn Jahren, die sein leiblicher oder rechtlicher Abkömmling ist, vornimmt oder an sich von dem Schutzbefohlenen vornehmen lässt. Seit 1. April 2004 wird der gleiche
Straftatbestand mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.
B. Bestimmungen der Strafprozessordnung
21. § 203 StPO sieht vor, dass das Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens beschließt, wenn nach den Ergebnissen des vorbereitenden Verfahrens der Angeschuldigte einer Straftat hinreichend verdächtig erscheint.
22. Nach § 244 Abs. 2 StPO hat das Gericht zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.
23. Nach § 261 StPO entscheidet das Gericht über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung. Überzeugung in diesem Sinne bedeutet ein nach der
Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, die zu vernünftigen Zweifeln in einer für den Schuldspruch relevanten Frage keinen Anlass gibt (siehe Bundesgerichtshof, 2 StR 551/87, Urteil vom 8. Januar 1988, Rdnr. 4).
C. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
24. Das Bundesverfassungsgericht weist in seiner ständigen Rechtsprechung wiederholt darauf hin, dass die Unschuldsvermutung eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips sei und damit Verfassungsrang habe. Kraft des
Artikels 6 Abs. 2 der Konvention sei sie auch Bestandteil des positiven Rechts der Bundesrepublik Deutschland und habe den Rang von Bundesrecht. Sie schütze den Beschuldigten vor Nachteilen, die Schuldspruch oder Strafe
gleichkämen, denen aber kein rechtsstaatliches Verfahren zur Schuldfeststellung vorausgegangen sei (siehe u. a. Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 254/88 und 2 BvR 1343/88, Beschluss vom 29. Mai 1990, Rdnr. 33 mit weiteren
Verweisen; 2 BvR 1590/89, Beschluss vom 16. Dezember 1991, Rdnr. 24; 2 BvR 878/05, Beschluss vom 17. November 2005, Rdnr. 18; und 2 BvR 1975/06, Beschluss vom 14. Januar 2008, Rdnr. 9).
25. Das Bundesverfassungsgericht stellte weiterhin fest, dass Schuldfeststellungen in den Gründen eines vor Abschluss der Hauptverhandlung ergangenen Einstellungsbeschlusses zu einer Verletzung des Grundsatzes der
Unschuldsvermutung führen könnten. In aller Regel könne sich eine Grundrechtsbeschwer zwar nur aus dem Tenor einer Entscheidung ergeben, weil dieser allein deren Rechtsfolgen verbindlich bestimme. In einzelnen Ausführungen
der Gründe könne aber eine Verletzung der Unschuldsvermutung liegen, wenn durch diese eine strafrechtliche Schuld attestiert werde, obwohl das Verfahren vor Abschluss der Hauptverhandlung eingestellt worden sei. Im Gegensatz
dazu könne in den Ausführungen der Entscheidungsgründe keine Verletzung der Unschuldsvermutung liegen, wenn die Hauptverhandlung abgeschlossen und die Sache daher reif für eine Entscheidung des Gerichts über die Schuld
des Beschuldigten gewesen sei (siehe u. a. Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 254/88 und 2 BvR 1343/88, a. a. O., Rdnrn. 39-40; 2 BvR 2588/93, Beschluss vom 6. Februar 1995, Rdnr. 9).
26. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schließt die Unschuldsvermutung nicht aus, in einer das Strafverfahren ohne förmlichen Schuldspruch beendenden Entscheidung einen verbleibenden Tatverdacht
festzustellen. Allerdings müsse dabei aus den Gründen deutlich hervorgehen, dass es sich nicht um eine gerichtliche Schuldfeststellung handele, sondern nur um die Beschreibung einer Verdachtslage. Die Frage, ob das Gericht diese
Standards erfüllt hat, sei im Sinnzusammenhang der gesamten Entscheidungsgründe zu würdigen (siehe u. a. Bundesverfassungsgericht, 2 BvR 254/88 und 2 BvR 1343/88, a. a. O., Rdnrn. 41-42 und 2 BvR 878/05, a. a. O., Rdnr. 20
[beide im Zusammenhang mit Beschwerden über Strafverfahren, die wegen einer allenfalls geringfügigen Schuld des Beschuldigten eingestellt wurden]; und 2 BvR 1590/89, a. a. O., Rdnr. 25 [im Zusammenhang mit einer
Beschwerde über ein Strafverfahren, das wegen eines Verfahrenshindernisses eingestellt wurde]).
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABS. 2 DER KONVENTION
27. Der Beschwerdeführer rügte, dass die Ausführungen des Landgerichts in den Gründen des ihn freisprechenden Urteils einer Schuldfeststellung gleichkämen und sein Recht auf ein faires Verfahren sowie den in Artikel 6 Abs. 1
und 2 der Konvention verankerten Grundsatz der Unschuldsvermutung verletzten.
28. Der Gerichtshof wird die Rüge des Beschwerdeführers allein nach Artikel 6 Abs. 2 prüfen und zwar im Hinblick auf die Tatsache, dass der in Artikel 6 Abs. 2 verankerte Grundsatz der Unschuldsvermutung eines der Merkmale
eines fairen Strafverfahrens nach Artikel 6 Abs. 1 darstellt (siehe u. a. Allenet de Ribemont ./. Frankreich, 10. Februar 1995, Rdnr. 35, Serie A Band 308; Vassilios Stavropoulos ./. Griechenland, Individualbeschwerde Nr. 35522/04,
Rdnr. 35, 27. September 2007; und Virabyan ./. Armenien, Individualbeschwerde Nr. 40094/05, Rdnr. 185, 2. Oktober 2012), das in ersterer Bestimmung konkret genannt wird. Artikel 6 Abs. 2 lautet wie folgt:
‚2. Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.'
29. Die Regierung bestritt das Vorbringen des Beschwerdeführers.
A. Zulässigkeit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
(a) Die Regierung
30. Die Regierung vertrat die Auffassung, dass die Unschuldsvermutung nach Artikel 6 Abs. 2 der Konvention nicht auf die Urteilsbegründung eines Tatgerichts anzuwenden sei. Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts (insbesondere auf dessen Beschluss vom 29. Mai 1990, siehe Rdnrn. 24-26) brachte die Regierung vor, dass die Unschuldsvermutung nach Artikel 6 Abs. 2 einen rein formalen Charakter habe. Sei der
gegen den Angeklagten bestehende Verdacht nach Abschluss der Hauptverhandlung, in der dieser seine Verteidigungsrechte habe ausüben können, nicht ausgeräumt, könne aber auch nicht gesetzlich bewiesen werden, so ergebe sich
ein Anspruch auf eine freisprechende Urteilsformel. Im Gegensatz dazu habe der Angeklagte im Hinblick auf die Urteilsbegründung des innerstaatlichen Gerichts keine weiteren Ansprüche. Ein Freispruch aus Mangel an Beweisen
wie im vorliegenden Fall könne ergehen, auch wenn erhebliche Verdachtsmomente gegen den Angeklagten bestehen blieben. Ein solcher Freispruch sei daher rein prozessual-formaler Natur, und zwar in dem Sinne, dass die
prozessualen Voraussetzungen für eine Verurteilung nicht erfüllt waren. Im Gegensatz zu einem Freispruch wegen erwiesener Unschuld rehabilitiere er den Angeklagten, der kein Recht nach Artikel 6 Abs. 2 habe, von allen
Verdachtsmomenten befreit zu werden, nicht auf der ethisch-moralischen Ebene.
(b) Der Beschwerdeführer
31. Dem Vorbringen des Beschwerdeführers zufolge ist das Recht auf Achtung der Unschuldsvermutung nach Artikel 6 Abs. 2 der Konvention auf die Urteilsgründe anzuwenden. Es schütze den Angeklagten vor Ausführungen eines
Strafgerichts, die über die reine Beschreibung verbleibender Zweifel hinausgingen und einen Freispruch relativierten und es anderen staatlichen Stellen und der Öffentlichkeit daher nahelegten, den Angeklagten der ihm zur Last
gelegten Taten für schuldig zu halten.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
(a) Zusammenfassung der einschlägigen Grundsätze
32. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die in Artikel 6 Abs. 2 verankerte Unschuldsvermutung verletzt wird, wenn eine Gerichtsentscheidung, die eine einer Straftat angeklagte Person betrifft, die Auffassung widerspiegelt,
diese sei schuldig, bevor der gesetzliche Beweis ihrer Schuld erbracht worden ist (siehe u. a., Allenet de Ribemont, a. a. O., Rdnr. 35; Rushiti ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 28389/95, Rdnr. 31, 21. März 2000; Vassilios
Stavropoulos, a. a. O., Rdnr. 35; und Tendam ./. Spanien, Individualbeschwerde Nr. 25720/05, Rdnr. 35, 13. Juli 2010).
33. Im Hinblick auf die Geltungsdauer der Unschuldsvermutung weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass Artikel 6 Abs. 2 für ‚jede Person, die einer Straftat angeklagt ist', gilt. Wird die Unschuldsvermutung als
verfahrensrechtliche Garantie im Zusammenhang mit einem Strafverfahren an sich betrachtet, ergeben sich Anforderungen im Hinblick u. a. auf die Beweislast, gesetzliche Vermutungen zu Sach- und Rechtsfragen, das Recht auf
Selbstbelastungsfreiheit, Öffentlichkeit im Vorfeld des Prozesses (‚pre-trial publicity') und vorzeitige Äußerungen zur Schuld des Angeklagten durch das Strafgericht oder andere Amtsträger (siehe Allen ./. Vereinigtes Königreich
[GK], Individualbeschwerde Nr. 25424/09, Rdnr. 93, ECHR 2013, mit zahlreichen Verweisen).
34. In Fällen, in denen ein Strafgericht eine Anklage ablehnte und den Beschuldigten freisprach oder das Verfahren gegen ihn einstellte, haben sowohl der Gerichtshof als auch die Kommission unterstrichen, dass die Gründe einer
innerstaatlichen Gerichtsentscheidung mit dem Tenor ein Ganzes bilden und sich nicht von diesem trennen lassen. Daher hatten die Konventionsorgane die Gründe der innerstaatlichen Gerichtsentscheidungen im Lichte des
Grundsatzes der Unschuldsvermutung zu prüfen, auch wenn die Anklage abgelehnt worden war (siehe Adolf ./. Österreich, 26. März 1982, Rdnrn. 38-39, Serie A Band 49, im Hinblick auf die Gründe einer Entscheidung über die
Einstellung des Strafverfahrens wegen geringfügiger Schuld des Beschuldigten; und T.H. ./. Schweden, Individualbeschwerde Nr. 15260/89, Kommissionsentscheidung vom 29. Juni 1992, im Hinblick auf die Gründe eines den
Angeklagten freisprechenden Urteils).
35. Entsprechend der Notwendigkeit, sicherzustellen, dass das in Artikel 6 Abs. 2 garantierte Recht praktisch und wirksam ist, findet der Grundsatz der Unschuldsvermutung darüber hinaus nicht nur im Zusammenhang mit
anhängigen Strafverfahren Anwendung. Er schützt Personen, die von einer strafrechtlichen Anklage freigesprochen wurden oder deren Strafverfahren eingestellt wurden, auch davor, dass sie von Amtsträgern oder staatlichen Stellen
behandelt werden, als wären sie der ihnen vorgeworfenen Taten tatsächlich schuldig (siehe Allen, a. a. O., Rdnr. 94). Auch der Ruf der betroffenen Person und die Art ihrer Wahrnehmung in der Öffentlichkeit stehen nach Abschluss
des Strafverfahrens auf dem Spiel. Bis zu einem gewissen Grad kann sich der nach Artikel 6 Abs. 2 in diesem Zusammenhang gewährte Schutz mit dem nach Artikel 8 gewährten Schutz überschneiden (siehe Allen, a. a. O., Rdnr. 94
mit weiteren Verweisen).
36. Der Gerichtshof ist daher der Auffassung, dass nach einem rechtskräftigen Freispruch (und sei es ein Freispruch, bei dem die Zweifel nach Artikel 6 Abs. 2 zugunsten des Angeklagten gewertet wurden) das Äußern eines
Schuldverdachts gegen den Betroffenen - einschließlich der in den Gründen für den Freispruch geäußerten Verdächtigungen - mit dem Grundsatz der Unschuldsvermutung unvereinbar ist (siehe Rushiti, a. a. O., Rdnr. 31; Vostic ./.
Österreich, Individualbeschwerde Nr. 38549/97, Rdnr. 19, 17. Oktober 2002; Vassilios Stavropoulos, a. a. O., Rdnr. 38; und Tendam, a. a. O., Rdnrn. 36, 39). Der Tenor eines freisprechenden Urteils ist von allen staatlichen Stellen,
die direkt oder indirekt auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit der betroffenen Person Bezug nehmen, zu achten (siehe Vassilios Stavropoulos, a. a. O., Rdnr. 39; und Tendam, a. a. O., Rdnr. 37).
37. Der durch den Grundsatz der Unschuldsvermutung gewährleistete Schutz erlischt, sobald der Angeklagte der ihm vorgeworfenen Straftat ordnungsgemäß für schuldig erklärt wurde (siehe Phillips ./. Vereinigtes Königreich,
Individualbeschwerde Nr. 41087/98, Rdnr. 35, ECHR 2001-VII; und Allen, a. a. O., Rdnr. 106). Artikel 6 Abs. 2 kann nicht im Zusammenhang mit Feststellungen über den Charakter und das Verhalten des Angeklagten angewendet
werden, solange diese Feststellungen nach ihrer Natur oder ihrem Gewicht nicht zu einer neuen ‚Anklage' werden (siehe Phillips, ebenda).
(b) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache
38. Der Gerichtshof stellt fest, dass die vorliegende Rechtssache eine Rüge betrifft, der zufolge die Gründe, die das innerstaatliche Strafgericht nach Abschluss der gegen den angeklagten Beschwerdeführer geführten
Hauptverhandlung wegen Sexualstraftaten in seinem Urteil angeführt hat, in dem der Beschwerdeführer aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurde, den Grundsatz der Unschuldsvermutung nach Artikel 6 Abs. 2 verletzten.
39. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass der Beschwerdeführer zu dem Zeitpunkt, als das Tatgericht sein Urteil erließ, ‚einer Straftat angeklagt' war, namentlich des schweren sexuellen Missbrauchs und sexuellen Missbrauchs
einer Schutzbefohlenen, seiner Tochter A., wie es für die Anwendung des Artikels 6 Abs. 2 erforderlich ist. Dies ist zwischen den Parteien unstreitig.
40. Der Gerichtshof nimmt ferner das Vorbringen der Regierung zur Kenntnis, wonach die Unschuldsvermutung nach Artikel 6 Abs. 2 der Konvention nicht auf die Gründe anzuwenden sei, die ein Tatgericht in einem den
Angeklagten freisprechenden Urteil angeführt habe. Er erkennt an, dass die große Mehrzahl der Individualbeschwerden, mit denen eine Frage nach Artikel 6 Abs. 2 aufgeworfen wird, entweder den Anwendungsbereich des
Grundsatzes der Unschuldsvermutung vor der Beurteilung der Schuld des Angeklagten durch das Tatgericht betrifft, oder den durch diese Bestimmung gewährten Schutz nach einem endgültigen Freispruch oder der Einstellung des
Verfahrens (siehe Rdnrn. 33 und 35-36).
41. Im Gegensatz dazu betrifft die vorliegende Rechtssache eine mutmaßliche Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung durch ein innerstaatliches Gericht zu einem Zeitpunkt, als es nach Abschluss der Hauptverhandlung
unter Würdigung aller ihm vorliegenden Beweismittel eine Entscheidung über die Schuld oder Unschuld des Beschwerdeführers zu treffen und diese zu begründen hatte. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs (siehe Rdnr. 36)
ergibt sich, dass der Grundsatz der Unschuldsvermutung das Tatgericht in diesem Verfahrensstadium nicht daran hindert, einen verbleibenden Verdacht gegen den Angeklagten zu äußern, wenn es diesen wegen Mangels an Beweisen
von den Vorwürfen freispricht. Dies lässt sich aus dem Verbot des Äußerns eines Schuldverdachts gegen den Betroffenen - einschließlich der in den Gründen für den Freispruch geäußerten Verdächtigungen (Hervorhebung nicht im
Original) - nach einem rechtskräftigen Freispruch ableiten (ebenda). Allerdings erlischt der durch den Grundsatz der Unschuldsvermutung gewährleistete Schutz nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs erst dann, wenn der
Angeklagte der ihm vorgeworfenen Straftat ordnungsgemäß für schuldig erklärt wurde (siehe Rdnr. 37), was bei einem Freispruch niemals der Fall ist. Folglich ist der Grundsatz der Unschuldsvermutung auf die Gründe anzuwenden,
die in einem Urteil angeführt werden, in dessen Tenor - von dem sich diese Gründe nicht trennen lassen - der Angeklagte freigesprochen wird (siehe insbesondere T.H. ./. Schweden, a. a. O.; und vgl. Adolf, a. a. O., Rdnrn. 38-39,
beide in Rdnr. 34 in Bezug genommen). Er kann verletzt sein, wenn die Gründe die Auffassung widerspiegeln, dass der Angeklagte tatsächlich schuldig ist (siehe Rdnr. 32).
42. Der Gerichtshof kommt daher zu dem Ergebnis, dass Artikel 6 Abs. 2 der Konvention Anwendung findet. Die diesbezügliche Einwendung der Regierung ist daher zurückzuweisen.
43. Der Gerichtshof stellt weiterhin fest, dass die Beschwerde nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für
zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
(a) Der Beschwerdeführer
44. Der Beschwerdeführer brachte vor, die Gründe des landgerichtlichen Urteils hätten den Grundsatz der Unschuldsvermutung nach Artikel 6 Abs. 2 der Konvention verletzt. Er betonte, das Landgericht habe in seinem schriftlichen
Urteil die Auffassung vertreten, ‚dass das von der Zeugin geschilderte Kerngeschehen einen realen Hintergrund hat, nämlich dass es tatsächlich zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten zu Lasten seiner Tochter in seinem Auto
gekommen ist'. Er war der Auffassung, diese Ausführungen kämen einer Schuldfeststellung gleich, obwohl ihn das Landgericht in seinem Urteil aufgrund unzureichender Beweislage freigesprochen habe.
45. Der Beschwerdeführer erkannte an, dass das Landgericht ihn aus Mangel an Beweisen freisprechen könne, wenn der gegen ihn bestehende Verdacht nicht vollständig ausgeräumt werden könne. In seinem Fall zeigten die
beanstandeten Ausführungen des innerstaatlichen Gerichts jedoch, dass es von seiner Schuld überzeugt gewesen sei, was dem Tenor des ihn freisprechenden Urteils widerspreche und ihn daher willkürlich moralisch verurteile. Unter
Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs (u. a. auf die Rechtssachen Rushiti, a. a. O., und Vostic, a. a. O.) brachte er vor, dass Prognosen zur Schuld eines Angeklagten, die einer Schuldfeststellung gleichkämen, gegen
Artikel 6 Abs. 2 verstießen.
46. Der Beschwerdeführer vertrat die Auffassung, das Landgericht habe in seinem Urteil entgegen seiner Verpflichtungen aus den §§ 244 Abs. 2 und 261 StPO (siehe Rdnrn. 22-23) nicht alle Faktoren dargelegt, die für die
Entscheidung von Bedeutung seien. Das Landgericht habe es insbesondere versäumt, in seinen Entscheidungsgründen anzugeben, dass der psychologische Sachverständige B., den das Gericht auf Initiative des Beschwerdeführers
angehört habe, davon ausgegangen sei, dass A.s Aussagen keinen realen Hintergrund hätten, sondern das Ergebnis einer Suggestion durch Dritte seien. Dies sei darüber hinaus von einem anderen Sachverständigen bestätigt worden,
der in dem anschließend von ihm gegen den Sachverständigen K. angestrengten zivilrechtlichen Schadenersatzverfahren angehört worden sei. Die Tatsache, dass das Landgericht die beanstandeten Ausführungen gemacht habe, statt
sich mit der zentralen Frage der Suggestion zu befassen, zeige, dass es den Grundsatz der Unschuldsvermutung missachtet habe.
47. Der Beschwerdeführer betonte, dass die beanstandeten Ausführungen des Landgerichts, dem sein langjähriger Kampf um Umgang mit A., seiner einzigen Tochter, bekannt gewesen sei, insofern eine Außenwirkung gehabt hätten
(und wohl auch haben sollten), als das Familiengericht in einem späteren Verfahren jeglichen Umgang mit seiner Tochter ausgeschlossen habe. Darüber hinaus habe die Staatsanwaltschaft bei der Einstellung des vom
Beschwerdeführer gegen Frau J. angestrengten Strafverfahrens auf die beanstandeten Ausführungen Bezug genommen. Der Beschwerdeführer war der Auffassung, dass er als Ergebnis der beanstandeten Ausführungen in der
Öffentlichkeit dauerhaft stigmatisiert sei.
(b) Die Regierung
48. Die Regierung vertrat die Auffassung, dass das Recht des Beschwerdeführers auf Vermutung der Unschuld bis zum gesetzlichen Beweis der Schuld nach Artikel 6 Abs. 2 der Konvention durch die beanstandeten Ausführungen
des Landgerichts nicht verletzt worden sei. Vielmehr könnten die Entscheidungsgründe des Landgerichts als Beleg dafür herangezogen werden, dass es seine aus dem Grundsatz der Unschuldsvermutung resultierenden Pflichten ernst
genommen habe. Trotz der aufgrund beruflicher Erfahrung und unmittelbarer Wahrnehmung des Beschwerdeführers und der Zeugen in der Hauptverhandlung gewonnenen Auffassung, dass die gegen den Beschwerdeführer erhobenen
Vorwürfe im Kern berechtigt seien, hätten die Richter des Landgerichts die Zweifel zugunsten des Beschwerdeführers ausgewertet und die Beweise ohne Vorverurteilung gewürdigt. Angesichts der verbleibenden Zweifel bezüglich
Faktoren wie Intensität, Zeit und genaue Umstände der Tathandlungen sowie angesichts der strengen strafprozessualen Beweiswürdigung habe ihn das Landgericht unter Anwendung des aus Artikel 6 Abs. 2 resultierenden
Grundsatzes ‚in dubio pro reo' freigesprochen. Entgegen dem Vorbringen des Beschwerdeführers habe es daher nicht kundgetan, dass es von der Schuld des Beschwerdeführers überzeugt sei.
49. Dem Vorbringen der Regierung zufolge hat das Landgericht den Beschwerdeführer auch nicht entgegen des Grundsatzes der Unschuldsvermutung vorverurteilt. Es habe seine Bewertung der Schuld des Beschwerdeführers erst im
Urteil, also mit Abschluss der Hauptverhandlung, vorgenommen. Zu diesem Zeitpunkt habe sich das Gericht zur Schuld des Beschwerdeführers äußern müssen.
50. Die Regierung unterstrich, dass die Strafgerichte nach § 244 Abs. 2 und § 261 StPO (siehe Rdnrn. 22-23) verpflichtet seien, die Überlegungen, die für die Urteilsfindung maßgeblich gewesen seien, wiederzugeben, um eine
Überprüfung in einem rechtsstaatlichen Verfahren zu ermöglichen. Im Falle eines Freispruchs aus Mangel an Beweisen gehörten zu diesen Überlegungen auch Erklärungen dazu, warum der gegen den Angeklagten gerichtete
Tatverdacht nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung zwar nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Gewissheit habe festgestellt werden können, sich andererseits aber auch nicht habe ausräumen lassen. Belastende Indizien
müssten gegen die entlastenden Umstände abgewogen werden.
51. Die Regierung erkannte an, dass staatliche Stellen, die nachfolgend auf Basis des beanstandeten Urteils des Landgerichts Entscheidungen hinsichtlich des Beschwerdeführers zu treffen hätten, sich ausschließlich am Tenor des den
Beschwerdeführer freisprechenden Urteils zu orientieren hätten. Der Grundsatz der Unschuldsvermutung hindere sie daran, die in den Urteilsgründen enthaltenen Ausführungen des Landgerichts zur Schuld des Beschwerdeführers
heranzuziehen. Im Gegensatz dazu sei das erkennende Landgericht nicht daran gehindert gewesen, selbst entsprechende Erwägungen in den Gründen festzuhalten (die Regierung verwies zur Stützung seiner Auffassung auf die
Rechtssache Tendam, a. a. O., Rdnr. 36). Soweit der Beschwerdeführer geltend mache, das Familiengericht habe ihm in einem nachfolgenden Verfahren unter Verweis auf die Gründe des Landgerichts das Umgangsrecht mit seiner
Tochter verwehrt, habe er jedoch versäumt, gegen diese Entscheidung vorzugehen.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
(a) Zusammenfassung der einschlägigen Grundsätze
52. Der Grundsatz ‚in dubio pro reo' ist eine konkrete Ausprägung der Unschuldsvermutung (siehe Vassilios Stavropoulos, a. a. O., Rdnr. 39; und Tendam, . a. O., Rdnr. 37).
53. In Fällen, in denen es um eine Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung durch eine Gerichtsentscheidung geht, die die Auffassung widerspiegelt, dass eine einer Straftat angeklagte Person schuldig sei, ohne dass der
gesetzliche Beweis ihrer Schuld erbracht worden ist, hat der Gerichtshof festgestellt, dass eine gerichtliche Entscheidung diese Auffassung auch ohne formellen Schuldspruch widerspiegeln darf; es reicht aus, dass es Anhaltspunkte
dafür gibt, dass das Gericht den Angeklagten für schuldig hält (siehe Minelli ./. Schweiz, 25. März 1983, Rdnr. 37, Serie A Band 62; Baars ./. Niederlande, Individualbeschwerde Nr. 44320/98, Rdnr. 26, 28. Oktober 2003; Petyo
Petkov ./. Bulgarien, Individualbeschwerde Nr. 32130/03, Rdnr. 90, 7. Januar 2010; und Tendam, a. a. O., Rdnr. 35). Eine Schuldfeststellung ohne rechtskräftige Verurteilung ist in diesem Zusammenhang von der Beschreibung einer
‚Verdachtslage' zu unterscheiden. Während ersteres den Grundsatz der Unschuldsvermutung verletzt, galt letzteres in zahlreichen vom Gerichtshof geprüften Situationen als nicht zu beanstanden (vgl. L. ./. Deutschland, 25. August
1987, Rdnr. 62, Serie A Band 123; E. ./. Deutschland, 25. August 1987, Rdnr. 39, Serie A Band 123; N. ./. Deutschland, 25. August 1987, Rdnr. 39, Serie A Band 123; und Virabyan, a. a. O., Rdnr. 186).
54. Der Gerichtshof weist ferner erneut darauf hin, dass in Fällen, in denen es um die Einhaltung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung geht, die von der entscheidenden Person verwendete Sprache bei der Beurteilung der Frage,
ob die Entscheidung und ihre Gründe mit Artikel 6 Abs. 2 vereinbar sind, von wesentlicher Bedeutung ist (vgl. Petyo Petkov, a. a. O., Rdnr. 90; und Allen, a. a. O., Rdnr. 126).
55. In dem Zusammenhang sind die Art und der Kontext des betreffenden Verfahrens, in dem die beanstandeten Ausführungen gemacht wurden, zu berücksichtigen. Der Gerichtshof hat den eigentlichen Sinn der beanstandeten
Ausführungen zu untersuchen, wobei er die besonderen Umstände, unter denen sie gemacht wurden, zu berücksichtigen hat (vgl. Petyo Petkov, a. a. O., Rdnr. 90). Je nach den Umständen kann demnach auch festgestellt werden, dass
selbst ein unglücklicher Sprachgebrauch Artikel 6 Abs. 2 nicht verletzt (vgl. L., a. a. O., Rdnrn. 62 und 64; E., a. a. O., Rdnrn. 39 und 41; N., a. a. O., Rdnrn. 39 und 41; und Allen, a. a. O., Rdnrn. 121 und 126).
(b) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache
56. Der Gerichtshof hat im Lichte der oben genannten Grundsätze zu entscheiden, ob die beanstandeten Ausführungen des Landgerichts in dem den Beschwerdeführer freisprechenden Urteil, ‚dass das von der Zeugin geschilderte
Kerngeschehen einen realen Hintergrund hat, nämlich dass es tatsächlich zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten zu Lasten seiner Tochter in seinem Auto gekommen ist', mit dem Recht des Beschwerdeführers auf Vermutung der
Unschuld bis zum gesetzlichen Beweis der Schuld vereinbar waren.
57. Bei der Entscheidung darüber, ob die Ausführungen des Landgerichts als Schuldfeststellung oder lediglich als Beschreibung einer Verdachtslage zu bewerten sind, wobei letzteres in den Gründen eines freisprechenden Urteils
erlaubt wäre (siehe Rdnrn. 36 und 41), kommt der Gerichtshof nicht umhin festzustellen, dass die beanstandeten Ausführungen an sich bei isolierter Betrachtung darauf hinzudeuten scheinen, dass das Landgericht den
Beschwerdeführer des sexuellen Missbrauchs an A. für schuldig hielt. Bei der Entscheidung darüber, ob die Ausführungen den Grundsatz der Unschuldsvermutung verletzten, muss der Gerichtshof jedoch die Art des betreffenden
Verfahrens, in dem die Ausführungen gemacht wurden, sowie deren wahre Bedeutung in diesem Zusammenhang berücksichtigen.
58. Der Gerichtshof stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die beanstandeten Ausführungen in den Gründen eines strafgerichtlichen Urteils gemacht wurden, in dem der Beschwerdeführer von den Vorwürfen des schweren
sexuellen Missbrauchs von A. aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurde. Beim Erlass seines Urteils hatte das Landgericht nach dem innerstaatlichen Recht sowohl belastende als auch entlastende Beweismittel zu würdigen. Es
hatte zu prüfen, ob nicht nur hinreichende Gründe für den Verdacht vorlagen, dass der Beschwerdeführer die ihm vorgeworfenen Sexualstraftaten begangen hat, wie es für die Eröffnung des Hauptverfahrens erforderlich ist (siehe §
203 StPO, Rdnr. 21), sondern auch, ob es nach Prüfung aller ihm vorliegenden Beweise über jeden vernünftigen Zweifel hinaus davon überzeugt war, dass der Beschwerdeführer die in Rede stehenden Straftaten begangen hat.
59. Der Gerichtshof bemerkt, dass das Landgericht in seinen Gründen für den Freispruch aus Mangel an Beweisen einerseits festgestellt hat, dass die konkreten gegen den Beschwerdeführer erhobenen Tatvorwürfe nicht mit der für
eine strafrechtliche Verurteilung erforderlichen Sicherheit belegbar seien. Das Landgericht legte dar, dass A.s Zeugenaussage in der Hauptverhandlung es nicht von der vollständigen Richtigkeit der Anklagevorwürfe habe überzeugen
können, insbesondere hinsichtlich einer klaren Bestimmung der Taten und ihrer zeitlichen Einordnung. Aufgrund der Inkonstanzen in A.s Aussagen hätten konkrete Feststellungen nicht getroffen werden können, und zwar
insbesondere im Hinblick auf die Intensität der Handlungen des Beschwerdeführers, wie es für ihre Einstufung als Straftat notwendig wäre, aber auch im Hinblick auf die Anzahl der Handlungen sowie den Ort der Begehung und die
Tatzeiträume. Das Landgericht war daher der Auffassung, dass der gesetzliche Beweis der Schuld des Beschwerdeführers in Bezug auf die ihm zur Last gelegten Straftaten im Sinne des Strafgesetzbuchs nicht erbracht worden sei.
Andererseits - und trotz dieser Erkenntnisse - hat das Landgericht, das der Auffassung war, dass A. nicht durch Dritte beeinflusst worden sei, seine beanstandeten Ausführungen gemacht, wonach das vom Opfer geschilderte
Kerngeschehen einen realen Hintergrund habe und es tatsächlich zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten zu Lasten seiner Tochter in seinem Auto gekommen sei.
60. Darüber hinaus hat der Gerichtshof bei der Entscheidung über die wahre Bedeutung der beanstandeten Ausführungen den Sprachgebrauch des Landgerichts zu berücksichtigen. Er stellt fest, dass das Landgericht mit ‚sexuellen
Übergriffen' einen allgemeinen, nicht-juristischen Begriff gewählt hat, der in den Definitionen der Tatbestände des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und des sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen, derer der
Beschwerdeführer angeklagt war, nicht enthalten ist (siehe Rdnrn. 19-20). Es trifft zwar zu, dass dieser Begriff an sich daher keine rechtliche Konkretisierung der strafrechtlichen (im Gegensatz zur moralischen) Bedeutung der
Handlungen des Beschwerdeführers beinhaltet.
61. Allerdings ist die Feststellung des Landgerichts, ‚dass es tatsächlich zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten zu Lasten seiner Tochter in seinem Auto gekommen ist', klar und vorbehaltslos formuliert. Wird sie im
Zusammenhang mit dem Vorwurf gegen den Beschwerdeführer, seine Tochter vornehmlich in seinem Auto schwer sexuell missbraucht zu haben, gelesen, vermittelt sie dem Leser des Urteils zwangsläufig, dass der Beschwerdeführer
des sexuellen Missbrauchs seiner Tochter tatsächlich schuldig war.
62. Der Gerichtshof nimmt ferner das Vorbringen des Beschwerdeführers zur Kenntnis, wonach die beanstandeten Ausführungen des Landgerichts negative Auswirkungen gehabt hätten, insbesondere da das Familiengericht in einem
späteren Verfahren jeglichen Umgang mit seiner Tochter ausgeschlossen habe. Er verweist in diesem Zusammenhang auf seine oben genannte Rechtsprechung, nach der das Äußern von Verdächtigungen hinsichtlich der Schuld des
Betroffenen - einschließlich der in den Gründen für den Freispruch geäußerten Verdächtigungen - nach einem rechtskräftigen Freispruch mit dem Grundsatz der Unschuldsvermutung unvereinbar ist. Jede staatliche Stelle, die direkt
oder indirekt auf seine strafrechtliche Verantwortlichkeit hinsichtlich der ihm zur Last gelegten Straftaten Bezug nimmt, hat den Tenor des ihn freisprechenden Urteils des Landgerichts zu achten (vgl. Rdnr. 36).
63. Es trifft zwar zu, dass das Verfahren vor dem Familiengericht, zu dem der Beschwerdeführer keine Entscheidungskopien vorgelegt und - wie die Regierung zu Recht angemerkt hat - nicht belegt hat, dass er die innerstaatlichen
Rechtsbehelfe erschöpft habe, nicht Gegenstand der vorliegenden Individualbeschwerde ist. Allerdings ist es angesichts der potentiellen Relevanz der Gründe eines strafgerichtlichen Urteils für spätere Gerichtsverfahren von
entscheidender Bedeutung, in diesem Urteil Begründungen zu vermeiden, die nahelegen, dass das Gericht den Angeklagten für schuldig hält, obwohl kein formeller Schuldspruch ergangen ist. Nur so wird der durch den in Artikel 6
Abs. 2 verankerten Grundsatz der Unschuldsvermutung garantierte Schutz praktisch und wirksam (vgl. hinsichtlich der einschlägigen Rechtsprechung u. a. Allen ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 25424/09,
Rdnr. 92, ECHR 2013 mit weiteren Verweisen).
64. Angesichts dieser Faktoren ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die beanstandeten Ausführungen des Landgerichts durch einen unglücklichen Sprachgebrauch über eine reine Beschreibung einer (verbleibenden)
Verdachtslage hinausgingen. Unter den gegebenen Umständen muss festgestellt werden, dass die Ausführungen dem Freispruch des Beschwerdeführers widersprachen oder diesen ‚aufhoben' (vgl. Orr ./. Norwegen,
Individualbeschwerde Nr. 31283/04, Rdnr. 53, 15. Mai 2008), da sie einer Feststellung gleichkamen, dass der Beschwerdeführer der ihm vorgeworfenen Straftaten schuldig sei.
65. In Anbetracht der vorstehenden Überlegungen kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass Artikel 6 Abs. 2 der Konvention verletzt worden ist.
II. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION
66. Artikel 41 der Konvention lautet:
‚Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser
Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.'
A. Schaden
67. Der Beschwerdeführer forderte 100.000 Euro (EUR) in Bezug auf den immateriellen Schaden. Er machte geltend, dass er als Folge der beanstandeten Ausführungen den gleichen Schaden erlitten habe, den eine unschuldig
verurteilte Person erlitten hätte.
68. Die Regierung trug vor, dass es für die Zuerkennung von Schadenersatz keinen Grund gebe, da die Konvention nicht verletzt worden sei.
69. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass der Beschwerdeführer infolge der Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung durch die beanstandeten Ausführungen gelitten haben muss. Der Gerichtshof setzt die Summe
nach Billigkeit fest und spricht dem Beschwerdeführer diesbezüglich 5.000 EUR zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern zu.
B. Kosten und Auslagen
70. Der Beschwerdeführer forderte außerdem 1.213,80 EUR brutto für die in dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht entstandenen Kosten und Auslagen (zum Nachweis legte er seiner Individualbeschwerde eine Rechnung
bei, auf die er später Bezug nahm). Ferner forderte er 9.520 EUR brutto (berechnet auf der Grundlage von 40 Arbeitsstunden bei einem Stundensatz von 200 EUR zzgl. Mehrwertsteuer) für die in dem Verfahren vor dem Gerichtshof
entstandenen Kosten und Auslagen.
71. Die Regierung trat der Berechnung der in dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht entstandenen Kosten wegen fehlenden Nachweises entgegen. Ferner hielt sie die im Verfahren vor dem Gerichtshof entstandenen
Kosten für nicht angemessen.
72. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur soweit Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese tatsächlich und notwendigerweise entstanden sind, und wenn
sie der Höhe nach angemessen sind. Im vorliegenden Fall hält der Gerichtshof es in Anbetracht der ihm vorliegenden Unterlagen und der vorgenannten Kriterien für angebracht, 5.000 EUR (netto) zur Deckung der unter allen Rubriken
entstandenen Kosten und Auslagen zuzüglich der dem Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuern zuzusprechen.
C. Verzugszinsen
73. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Der Einwand der Regierung, dass Artikel 6 Abs. 2 der Konvention nicht anwendbar sei, wird zurückgewiesen;
2. die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;
3. Artikel 6 Abs. 2 der Konvention ist verletzt worden;
4. (a) der beschwerdegegnerische Staat hat dem Beschwerdeführer binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig wird, folgende Beträge zu zahlen:
(i) 5.000 EUR (fünftausend Euro) für immateriellen Schaden, zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern;
(ii) 5.000 EUR (fünftausend Euro) für Kosten und Auslagen, zuzüglich der dem Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuern;
(b) nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten fallen für die oben genannten Beträge bis zur Auszahlung einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der
Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;
5. im Übrigen wird die Forderung des Beschwerdeführers nach gerechter Entschädigung zurückgewiesen. ..." (EGMR, Urteil vom 15.01.2015 - 48144/09)
***
„... SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE
6. Der 19.. geborene Beschwerdeführer ist derzeit in der Justizvollzugsanstalt R. inhaftiert.
A. Das Verfahren vor den Strafgerichten
7. Am 3. Februar 2003 verurteilte das Amtsgericht Köln den Beschwerdeführer nach mündlicher Verhandlung, bei der der Beschwerdeführer und sein Anwalt anwesend waren und Zeugen gehört wurden, wegen Körperverletzung zu
einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu je 15 Euro. Der Beschwerdeführer hatte Freispruch beantragt.
8. Der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer legte Berufung gegen dieses Urteil ein.
9. Am 11. Juni 2003 fand eine mündliche Verhandlung beim Landgericht Köln statt, bei welcher der Anwalt des Beschwerdeführers anwesend war, der Beschwerdeführer selbst jedoch nicht persönlich erschien. Auch mehrere Zeugen
waren geladen worden. Der Anwalt des Beschwerdeführers erklärte, dass in einer anderen Sache ein Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer erlassen worden sei. Der Beschwerdeführer habe daher entschieden, nicht persönlich zu der
Verhandlung zu erscheinen, sich aber durch seinen Anwalt vertreten zu lassen. Er machte geltend, dass nach Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c der Konvention ein Angeklagter in einem Berufungsverfahren durch einen Anwalt vertreten
werden dürfe.
10. Mit Urteil vom selben Tag verwarf das Landgericht die Berufung des Beschwerdeführers und entsprach damit dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Es befand, dass der Beschwerdeführer seine Berufung zwar rechtzeitig eingelegt
habe. Allerdings sei er ungeachtet der Ladung und ohne genügende Entschuldigung zu der Verhandlung vor dem Landgericht nicht erschienen. Er habe sich auch nicht durch einen Anwalt vertreten lassen können. Seine Berufung sei
deshalb nach § 329 Absatz 1 Satz 1 StPO (siehe Rdnr. 25) zu verwerfen gewesen.
11. Am 26. September 2003 verwarf das Oberlandesgericht Köln die Revision des Beschwerdeführers, in der er sich auf seine Verteidigungsrechte nach Artikel 6 der Konvention berufen hatte, als unbegründet, da das Urteil des
Landgerichts keinen Rechtsfehler erkennen lasse.
B. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht
12. Am 22. Oktober 2003 legte der Beschwerdeführer beim Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde ein. Er trug vor, dass die vom Oberlandesgericht bestätigte Entscheidung des Landgerichts, über seine Berufung nicht zur
Sache zu verhandeln, weil er nicht zu der Verhandlung erschienen sei, sein Recht auf Zugang zu den Gerichten, sein Recht auf rechtliches Gehör und sein Recht, sich durch einen Anwalt verteidigen zu lassen, die allesamt durch das
Grundgesetz gewährleistet seien, verletzt habe.
13. Am 27. Dezember 2006 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers (2 BvR 1872/03) zur Entscheidung anzunehmen, da sie unbegründet sei. Die Entscheidung wurde dem
Anwalt des Beschwerdeführers am 23. Januar 2007 zugestellt.
14. Das Bundesverfassungsgericht befand, dass das Recht des Beschwerdeführers auf effektive Verteidigung als Ausprägung seines Anspruchs auf ein faires Verfahren nach dem Grundgesetz nicht verletzt worden sei. Um zu diesem
Schluss zu gelangen, berücksichtigte das Gericht auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Artikel 6 Absatz 1 und Absatz 3 Buchstabe c der Konvention. Es betonte, dass kein Präzedenzfall
existiere, in dem der Gerichtshof eine Anwendung von § 329 Absatz 1 StPO als Verstoß gegen Artikel 6 der Konvention gewertet habe.
1. Das Recht, sich durch einen Anwalt verteidigen zu lassen, nach dem Grundgesetz
15. Das Bundesverfassungsgericht hat betont, dass das Recht des Beschwerdeführers auf effektive Verteidigung im Zusammenhang mit dem Rechtsmittelsystem der Strafprozessordnung und weiteren Grundrechten wie dem Recht auf
rechtliches Gehör und dem Unmittelbarkeitsgrundsatz zu betrachten sei. Nach einer Berufung führe das Berufungsgericht ein neues Verfahren im Hinblick auf Sach- und Rechtsfragen durch und entscheide in eigener Verantwortung
nach durchgeführter Beweisaufnahme. Die Prinzipien der Mündlichkeit, der Öffentlichkeit und der Unmittelbarkeit gälten auch für Verfahren vor den Berufungsgerichten. Nach den Vorschriften der Strafprozessordnung könnten
Strafverfahren regelmäßig nicht in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführt werden, auch nicht vor einem Berufungsgericht. Deshalb finde in den Fällen nach § 329 Absatz 1 Satz 1 StPO keine Verhandlung zur Sache statt, sondern
das vom erstinstanzlichen Gericht in Anwesenheit des Angeklagten erlassene Urteil werde aufrechterhalten.
16. Das Bundesverfassungsgericht führte zur Begründung weiter aus, dass das Recht auf effektive Verteidigung nicht unabhängig von anderen Rechten und Prinzipien des Grundgesetzes und der Strafprozessordnung geltend gemacht
werden könne. § 329 Absatz 1 Satz 1 StPO solle nicht nur verhindern, dass ein Angeklagter das Verfahren gegen ihn durch sein Nichterscheinen verzögere, sondern auch seine Anwesenheit in der Verhandlung gewährleisten, welche
zugleich Recht und Pflicht sei. Die Vorschrift baue auf dem Gedanken auf, dass ein Gericht seiner Pflicht zur Erforschung der Wahrheit und zu einer gerechten Strafzumessung nur dann genüge, wenn es den Angeklagten vor sich
gesehen und ihn mit seiner Verteidigung gehört habe. Sowohl nach Artikel 14 Absatz 3 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte als auch nach der Europäischen Konvention für Menschrechte folge aus dem
Recht auf Verteidigung das Recht auf Anwesenheit. Dieses Recht sichere eine uneingeschränkte Verteidigung, sei aber gleichzeitig eine Pflicht, die der Wahrheitsfindung dienen solle, für die das Auftreten und die Einlassungen des
Angeklagten sowie selbst sein Schweigen dienlich sein könnten. Von der Regel, nicht in Abwesenheit des Angeklagten zu verhandeln, gebe es nur sehr begrenzte Ausnahmen (§§ 231 Absatz 2, 231a, 231b, 231c, 232, 233, 247, 329
Absatz 2, 350 Absatz 2, 387 Absatz 1, 411 StPO; siehe Rdnrn. 25-30).
17. Das Anwesenheitsrecht und die Anwesenheitspflicht seien auf die Grundsätze der Unmittelbarkeit und der Mündlichkeit des Verfahrens bezogen, die der Herstellung einer sicheren Entscheidungsgrundlage dienten und zugleich
eine Ausprägung des rechtlichen Gehörs des Angeklagten darstellten. Da die Anwesenheit des Angeklagten nicht ausschließlich seiner Rechtsposition diene, könne er auf sein Anwesenheitsrecht nicht verzichten oder es auf seinen
Verteidiger delegieren.
18. Der Gesetzgeber habe entschieden, Strafverfahren in Abwesenheit des Angeklagten nicht zuzulassen. Deshalb schränke § 329 Absatz 1 Satz 1 StPO das Recht des Angeklagten, über die Art und Weise der Ausübung seines
rechtlichen Gehörs und seines Rechts, sich durch einen Anwalt verteidigen zu lassen, zu bestimmen, in verhältnismäßiger Weise ein. Im Hinblick auf die Strukturprinzipien des deutschen Strafprozesses verpflichte das Recht auf ein
faires Verfahren den Gesetzgeber oder die Gerichte nicht, die Vertretung eines ausgebliebenen Angeklagten durch seinen Verteidiger zuzulassen.
2. Das Recht, sich durch einen Anwalt verteidigen zu lassen, nach Artikel 6 Absatz 1 und Absatz 3 Buchstabe c der Konvention
19. Das Bundesverfassungsgericht hat weiter festgestellt, dass die deutschen Gerichte bei der Gesetzesauslegung zur Berücksichtigung der Vorschriften der Konvention und der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung der anwendbaren deutschen Gesetze verpflichtet seien. Im Hinblick auf § 329 Absatz 1 StPO, dem zufolge es nicht zulässig sei, dass ein Angeklagter ausbleibe und sich
in der Hauptverhandlung durch seinen Verteidiger vertreten lasse, existiere kein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in dem ein Konventionsverstoß festgestellt worden sei. Allerdings habe der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte gegen andere Vertragsstaaten der Konvention Urteile erlassen, welche die Konstellation des Ausbleibens eines Angeklagten bei Anwesenheit eines verteidigungsbereiten Anwalts in der
Hauptverhandlung zum Gegenstand hatten (siehe Poitrimol ./. Frankreich, 23. November 1993, Serie A Band 277-A; Lala ./. Niederlande, 22. September 1994, Serie A Band 297-A; Pelladoah ./. Niederlande, 22. September 1994,
Serie A Band 297-B; Van Geyseghem ./. Belgien [GK], Individualbeschwerde Nr. 26103/95, ECHR 1999-I; und Krombach ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 29731/96, ECHR 2001-II). Der Gerichtshof habe in diesen Fällen
entschieden, dass ein Ausbleiben des Angeklagten trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht rechtfertige, ihm das Recht zu entziehen, sich nach Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c der Konvention durch einen Anwalt verteidigen zu lassen.
20. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts kann es dahinstehen, ob die Grundsätze der Rechtsprechung in diesen Fällen wegen der Verschiedenheit der zu Grunde liegenden Sachverhalte und nationalen Rechtsordnungen auf
den vorliegenden Fall vollständig übertragbar seien. Insbesondere habe in einigen der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entschiedenen Fälle der Angeklagte rechtliche Argumente nicht zu Gehör bringen können, die
im deutschen Strafprozess grundsätzlich von Amts wegen zu berücksichtigen seien. Jedenfalls werde § 329 Absatz 1 Satz 1 StPO Artikel 6 der Konvention gerecht. Er betreffe allein die Abwesenheit des Angeklagten in der
Hauptverhandlung vor dem Berufungsgericht. Dass über seine Sache nicht erneut verhandelt werde, sei Folge seiner eigenen Entscheidung, der Verhandlung ohne hinreichenden Grund fernzubleiben, und bedeute keinen Verstoß gegen
seine Rechte nach Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c, wenn, wie im Regelfall, eine erstinstanzliche Hauptverhandlung in seiner Anwesenheit vorausgegangen sei. Liege ein Haftbefehl in anderer Sache vor, sei es Sache des Angeklagten,
diesen Konflikt so aufzulösen, wie es ihm günstig erscheine. Es sei nicht geboten, diesen Konflikt für ihn dadurch zu lösen, dass er sich in der Berufungshauptverhandlung durch seinen Verteidiger vertreten lassen könne. Dass der
Verteidiger in einem solchen Fall keine Verhandlung verlangen könne, bedeute überdies keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Waffengleichheit. Dieser Grundsatz gelte für eine Verhandlung zur Sache, die im Verfahren nach § 329
Absatz 1 StPO nicht stattfinde. Der Beistand des Verteidigers im Sinne von Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c werde dem Angeklagten durch oben genannte Vorschrift auch nicht vorenthalten. Der Verteidiger könne vor Gericht geltend
machen, dass die Voraussetzungen des § 329 StPO nicht gegeben seien. Andernfalls wären Abwesenheitsverfahren de facto zugelassen.
21. Das Bundesverfassungsgericht legte weiter dar, dass das Gericht nach § 329 Absatz 4 StPO (siehe Rdnr. 25) auch die Verhaftung des Angeklagten anordnen könne, um seine Anwesenheit in der Hauptverhandlung sicherzustellen,
statt die Berufung ohne Verhandlung zur Sache zu verwerfen. Eine solche Anordnung sei aber kein geeignetes Mittel, um das eigene Interesse des Angeklagten durchzusetzen, vor allem, wenn keinerlei Hinweise auf seine Bereitschaft
vorlägen, zur Verhandlung zu erscheinen.
22. Das Bundesverfassungsgericht befand des Weiteren, dass das Recht des Angeklagten auf Zugang zu den Gerichten, selbst unter der Annahme, dass der Angeklagte diese Rüge hinreichend begründet habe, aus den genannten
Gründe nicht verletzt worden sei.
II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT
A. Regel: Keine Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten
23. Die deutsche Strafprozessordnung sieht vor, dass regelmäßig keine Verhandlung gegen einen ausgebliebenen Angeklagten stattfinden darf (§ 230 Absatz 1 StPO).
24. Erscheint der Angeklagte zur erstinstanzlichen Hauptverhandlung nicht, so sieht § 230 Absatz 2 StPO für den Fall, dass das Ausbleiben des Angeklagten nicht genügend entschuldigt ist, die Anordnung einer Vorführung oder den
Erlass eines Haftbefehls vor.
25. Erscheint der Angeklagte nicht zur Hauptverhandlung vor dem Berufungsgericht, so sieht § 329 StPO Folgendes vor:
‚(1) Ist bei Beginn einer Hauptverhandlung weder der Angeklagte noch in den Fällen, in denen dies zulässig ist, ein Vertreter des Angeklagten erschienen und das Ausbleiben nicht genügend entschuldigt, so hat das Gericht eine
Berufung des Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache zu verwerfen. [...]
(2) Unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 Satz 1 kann auf eine Berufung der Staatsanwaltschaft auch ohne den Angeklagten verhandelt werden. [...]
(3) Der Angeklagte kann binnen einer Woche nach der Zustellung des Urteils die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unter den in den §§ 44 und 45 bezeichneten Voraussetzungen beanspruchen.
(4) Sofern nicht nach Absatz 1 oder 2 verfahren wird, ist die Vorführung oder Verhaftung des Angeklagten anzuordnen. Hiervon ist abzusehen, wenn zu erwarten ist, dass er in der neu anzuberaumenden Hauptverhandlung ohne
Zwangsmaßnahmen erscheinen wird."
B. Ausnahmen von der Regel
26. Die Strafprozessordnung sieht einige Ausnahmen von der oben genannten Regel vor. Eine Hauptverhandlung darf in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführt (und ein Urteil in der Hauptsache erlassen) werden, wenn der
Angeklagte sich aus einer Hauptverhandlung entfernt hat und über die Anklage schon vernommen war (§ 231 Absatz 2), wenn er sich vorsätzlich in einen seine Verhandlungsfähigkeit ausschließenden Zustand versetzt hat (§ 231a),
oder wenn er wegen ordnungswidrigen Benehmens aus dem Sitzungszimmer entfernt wurde (§ 231b), es sei denn, das Gericht hält seine Anwesenheit für unerlässlich. In Verfahren gegen mehrere Angeklagte kann das Gericht einem
Angeklagten gestatten, sich während einzelner Teile der Verhandlung, die ihn nicht betreffen, zu entfernen (§ 231c).
27. Des Weiteren kann eine Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführt werden, wenn nur Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen zu erwarten ist und der Angeklagte ordnungsgemäß geladen und in der Ladung darauf
hingewiesen worden ist, dass in seiner Abwesenheit verhandelt werden kann (§ 232). Der Angeklagte kann auch auf seinen Antrag von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung entbunden werden, wenn nur
Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen zu erwarten ist (§ 233).
28. Soweit die Hauptverhandlung nach den genannten Vorschriften in Abwesenheit des Angeklagten stattfinden kann, ist er befugt, sich durch einen mit schriftlicher Vollmacht versehenen Verteidiger vertreten zu lassen (§ 234).
29. Des Weiteren können die Strafgerichte anordnen, dass sich der Angeklagte im Interesse der Wahrheitsfindung oder zum Schutz der Gesundheit eines Zeugen oder des Angeklagten während einer Vernehmung eines Mitangeklagten
oder eines Zeugen aus dem Sitzungszimmer entfernt (§ 247).
30. Darüber hinaus kann der Angeklagte einer Hauptverhandlung im Revisionsverfahren fernbleiben und sich durch einen Verteidiger vertreten lassen (§ 350 Absatz 2); das Gleiche gilt für eine Hauptverhandlung in einem Verfahren
auf erhobene Privatklage (§ 387 Absatz 1) und für eine Hauptverhandlung in Folge seines Einspruchs gegen einen Strafbefehl (§ 411 Absatz 2).
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 DER KONVENTION
31. Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c der Konvention, dass das Berufungsgericht in dem gegen ihn geführten Strafverfahren aufgrund seiner Abwesenheit nicht zur Sache verhandelt habe, obwohl sein
Anwalt anwesend und bereit gewesen sei, ihn zu verteidigen. Er machte geltend, dass dadurch sein Recht auf Zugang zu den Gerichten, sein Recht auf rechtliches Gehör und sein Recht, sich durch einen Anwalt verteidigen zu lassen,
verletzt worden sei. Artikel 6 der Konvention, soweit maßgeblich, lautet wie folgt:
‚1. Jede Person hat ein Recht darauf, dass [...] über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem [...] Gericht in einem fairen Verfahren [...] verhandelt wird.
3. Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte: ...
c) sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen [...]'
32. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.
A. Zulässigkeit
33. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerde nicht im Sinne von Artikel 35 Absatz 3 Buchstabe a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu
erklären.
B. Begründetheit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
a) Der Beschwerdeführer
34. Nach Auffassung des Beschwerdeführers ist in dem Verfahren vor dem Landgericht Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c der Konvention verletzt worden. Ihm sei das Recht entzogen worden, sich vor diesem Gericht durch einen
Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen. Er habe die Vernehmung von Zeugen beantragen und weitere Beweisanträge stellen wollen, um darzulegen, dass das erstinstanzliche Urteil falsch gewesen sei, und um einen Freispruch
zu erwirken. Die fünf zur Berufungshauptverhandlung geladenen Zeugen seien vom Landgericht jedoch nicht gehört worden.
35. Der Beschwerdeführer brachte vor, der Umstand, dass das Landgericht in Übereinstimmung mit den geltenden Bestimmungen der StPO in seinem Fall nicht zur Sache verhandelt habe, widerspreche der ständigen Rechtsprechung
des Gerichtshofs. Weder das Bundesverfassungsgericht noch die Regierung hätten dargelegt, dass sich der in Rede stehende Sachverhalt der vorliegenden Individualbeschwerde von den bereits vom Gerichtshof entschiedenen
Konstellationen, z. B. in den Rechtssachen Poitrimol ./. Frankreich (23. November 1993, Serie A Band 277-A), Lala ./. Niederlande (22. September 1994, Serie A Band 297-A), Van Geyseghem ./. Belgien ([GK],
Individualbeschwerde Nr. 26103/95, ECHR 1999-I), Krombach ./. Frankreich (Individualbeschwerde Nr. 29731/96, ECHR 2001-II) und Kari-Pekka Pietiläinen ./. Finnland (Individualbeschwerde Nr. 13566/06, 22. September 2009)
unterscheide, in denen der Gerichtshof einen Verstoß gegen Artikel 6 Absatz 1 und Absatz 3 Buchstabe c der Konvention festgestellt habe.
36. In der Rechtssache Van Geyseghem (a. a. O.) beispielsweise sei die Beschwerdeführerin in erster Instanz verurteilt worden, der Berufungshauptverhandlung aber ferngeblieben. Ihr Verteidiger sei anwesend und bereit gewesen, sie
vor dem Berufungsgericht zu verteidigen, was ihm jedoch von dem Gericht verwehrt worden sei. Der Gerichtshof habe Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c verletzt gesehen und festgestellt, dass das Recht jeder einer Straftat angeklagten
Person, sich effektiv durch einen Anwalt verteidigen zu lassen, eines der grundlegenden Elemente eines fairen Verfahrens darstelle. Ein Angeklagter verliere dieses Recht nicht, nur weil er an einer Gerichtsverhandlung nicht
teilnehme. Gleiches gelte auch im vorliegenden Fall.
37. Der Beschwerdeführer betonte außerdem, dass für die Rechte aus Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c im Berufungsverfahren keine Einschränkungen bestehen würden. Freilich sehe das deutsche Recht nicht in allen Strafverfahren das
Recht auf eine zweite Instanz vor. Da es jedoch aufgrund der Umstände in seinem Fall eine zweite Instanz und eine erneute Prüfung der einschlägigen Beweise vorschreibe, hätten die Gerichte auch in dieser Instanz die nach der
Konvention garantierten Rechte beachten müssen. Da die deutschen Strafgerichte im Berufungsverfahren die entscheidungserheblichen Tatsachen erneut feststellen müssten, und zwar auf die selbe Weise wie das Gericht erster Instanz,
gebe es keine überzeugende Rechtfertigung dafür, im Berufungsverfahren Einschränkungen der Verteidigungsrechte zuzulassen, die in erster Instanz nicht zulässig seien. Die Pflicht des Gerichts, von Amts wegen die formalen
Voraussetzungen für die Durchführung des Strafverfahrens beziehungsweise das Vorliegen von Verfahrenshindernissen zu prüfen, gälten für erstinstanzliche Verfahren und Berufungsverfahren gleichermaßen. Ungeachtet dieser
Pflicht müsse das Gericht außerdem die Rechte der Verteidigung wahren, so auch das Recht, Beweisanträge und Anträge auf Zeugenvernehmung nicht nur persönlich, sondern durch einen Verteidiger zu stellen.
b) Die Regierung
38. Die Regierung vertrat die Ansicht, dass Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c der Konvention nicht verletzt worden ist. Sie unterstrich zunächst, dass die geltenden Vorschriften der Strafprozessordnung die Vertretung des Angeklagten
durch einen Verteidiger in dem Berufungsverfahren vor dem Landgericht Köln, zu dem er ordnungsgemäß geladen worden sei, nicht vorsähen. Nach § 329 Absatz 1 Satz 1 StPO habe das Landgericht die Berufung des
Beschwerdeführers ohne Verhandlung zur Sache verwerfen müssen. Ein Ausnahmetatbestand sei nicht gegeben gewesen. Insbesondere sei keine Ladung des Beschwerdeführers nach § 232 StPO (siehe Rdnr. 27) mit dem Hinweis
erfolgt, dass in seiner Abwesenheit verhandelt werden könne. Vielmehr sei er in der Ladung darauf hingewiesen worden, dass die von ihm eingelegte Berufung ohne Verhandlung zur Sache verworfen werde, wenn er ohne genügende
Entschuldigung ausbleibe.
39. Die Regierung trug vor, dass das Recht des Angeklagten, den Beistand eines Verteidigers seiner Wahl zu erhalten, durch die Vorschrift des § 329 Absatz 1 StPO allenfalls am Rande berührt werde.
Es sei zu beachten, dass der Verteidiger im Berufungsverfahren das Recht gehabt habe, auf fehlende Voraussetzungen für die Anwendung dieser Vorschrift, fehlende Prozessvoraussetzungen oder vorliegende Verfahrenshindernisse hinzuweisen.
40. Ferner verwies die Regierung auf die Begründung des Bundesverfassungsgerichts bei seiner Feststellung, dass ein Verstoß gegen die Verteidigungsrechte des Beschwerdeführers nach Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c nicht
vorgelegen habe. Sie betonte, dass in Deutschland bei einer Berufung in einem Strafverfahren das Berufungsgericht nicht die Aufgabe habe, lediglich etwaige Fehler des erstinstanzlichen Verfahrens zu finden, sondern in einer
erneuten öffentlichen mündlichen Verhandlung mit den Parteien eine eigene Beweisaufnahme durchzuführen. Die Anwesenheit des Beschwerdeführers bei dieser Verhandlung sei nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht. Das
Berufungsgericht könne seine Aufgabe der Wahrheitserforschung nicht erfüllen, wenn es keinen persönlichen Eindruck von dem Angeklagten gewonnen habe. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus dem Umstand, dass der
Beschwerdeführer seine Verhaftung aufgrund eines Haftbefehls in einer anderen Sache befürchtet habe. Es sei Sache des Angeklagten, diesen Konflikt so aufzulösen, wie es ihm günstig erscheine.
41. Außerdem führte die Regierung aus, dass den Urteilen des Gerichtshofs zu der Frage, ob die Verweigerung einer Verhandlung zur Sache in Abwesenheit des Angeklagten trotz Anwesenheit seines Anwalts mit Artikel 6 vereinbar
sei, die Gegenstand etlicher Individualbeschwerden gegen andere Vertragsparteien der Konvention gewesen sei, andere Fallkonstellationen zugrunde gelegen hätten als der hier vorliegenden Rechtssache. Diese Fälle seien daher von
der vorliegenden Individualbeschwerde zu unterscheiden.
42. Namentlich in den Rechtssachen Poitrimol (a. a. O.), Krombach (a. a. O.) und Lala (a. a. O.) sei gegen die Beschwerdeführer ein erstinstanzliches Abwesenheitsurteil ergangen, bevor ihre Berufung ohne Prüfung in der Sache
verworfen worden sei. Im Unterschied dazu sei der Beschwerdeführer in der vorliegenden Sache in seinem erstinstanzlichen Verfahren vor dem Amtsgericht anwesend gewesen und habe sich persönlich verteidigen können. In der
Rechtssache Poitrimol (a. a. O., Rdnr. 38) habe der Gerichtshof ferner die Unzulässigkeit eines Rechtsmittels aus Gründen, die mit der Flucht des Beschwerdeführers zusammenhingen, als eine unverhältnismäßige Sanktion angesehen.
Im Gegensatz dazu stehe die Vorschrift des § 329 Absatz 1 StPO in keinem Zusammenhang mit der Flucht eines Angeklagten. Überdies erlaube die Strafprozessordnung dem Angeklagten, die Gründe für sein unentschuldigtes
Ausbleiben im Wege der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 329 Absatz 3 StPO (siehe Rdnr. 25) oder im Wege der Revision überprüfen zu lassen.
43. Ferner betonte die Regierung, dass sich die vorliegende Rechtssache von den Fällen Van Geyseghem (a. a. O.) und Krombach (a. a. O.) darin unterscheide, dass nach deutschem Recht die Voraussetzungen beziehungsweise
Hindernisse für das Strafverfahren von Amts wegen zu berücksichtigen seien, so dass kein entsprechender Antrag und kein entsprechendes Vorbringen eines Anwalts erforderlich sei. Anderenfalls könne ein Angeklagter gegen die
Verwerfung seiner Berufung nach § 329 Absatz 1 StPO Revision einlegen.
44. Die Rechtssache Kari-Pekka Pietiläinen (a. a. O.) schließlich sei ebenso nicht mit der vorliegenden Rechtssache vergleichbar. In jener Rechtssache habe der Gerichtshof den Verstoß gegen Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c aus den
Besonderheiten des Falles hergeleitet. Insbesondere habe der Gerichtshof festgestellt, dass der Angeklagte nicht darauf hingewiesen worden sei, dass sein Fehlen an nur einem Verhandlungstag, an dem überdies keine Notwendigkeit
seiner Anwesenheit erkennbar gewesen sei, als Fehlen bei der gesamten Verhandlung gewertet werden würde. Nur aufgrund dieser Umstände habe der Gerichtshof in der Tatsache, dass das Verfahren des Beschwerdeführers trotz der
Anwesenheit seines Anwalts nicht weiterverhandelt wurde, eine unangemessene Sanktion gesehen. Im Gegensatz dazu habe es sich bei der vorliegenden Rechtssache um eine auf einen Tag anberaumte Sitzung gehandelt, bei der die
Vernehmung aller Zeugen vorgesehen gewesen sei, und der Beschwerdeführer sei in seiner Ladung auf die Folgen seines Ausbleibens hingewiesen worden.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
a) Zusammenfassung der einschlägigen Grundsätze
45. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Erfordernisse nach Artikel 6 Absatz 3 als Teilaspekte des Rechts auf ein faires Verfahren nach Absatz 1 anzusehen sind. Rügen im Hinblick auf diese Rechte prüft der Gerichtshof
daher zusammengefasst nach beiden Bestimmungen (siehe u. a. Poitrimol ./. Frankreich, 23. November 1993, Rdnr. 29, Serie A Band 277-A; und Krombach ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 29731/96, Rdnr. 82, ECHR 2001-II).
46. Der Gerichtshof hatte sich wiederholt mit der Frage auseinanderzusetzen, ob ein Angeklagter, der ordnungsgemäß geladen wurde und bewusst auf sein persönliches Erscheinen bei der Verhandlung verzichtet hat, ohne eine als
genügend anerkannte Entschuldigung für seine Abwesenheit vorzulegen, nach wie vor beanspruchen kann, sich im Sinne von Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c ‚durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen'.
47. In seiner Rechtsprechung hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass im Interesse eines fairen Strafverfahrens das Erscheinen eines Angeklagten von größter Bedeutung ist, und zwar sowohl aufgrund seines Rechts auf Gehör als
auch wegen der Notwendigkeit, den Wahrheitsgehalt seiner Aussagen zu prüfen und mit denen des Opfers, dessen Interessen zu schützen sind, und der Zeugen zu vergleichen (siehe u. a. Poitrimol, a. a. O., Rdnr. 35; und Krombach, a.
a. O., Rdnr. 86). Dies gilt grundsätzlich auch bei einer Neuverhandlung im Berufungsrechtszug (siehe u. a. Lala ./. Niederlande, 22. September 1994, Rdnr. 33, Serie A Band 297-A; und Pelladoah ./. Niederlande, 22. September 1994,
Rdnr. 40, Serie A Band 297-B). Der Gesetzgeber muss dementsprechend in der Lage sein, ungerechtfertigten Abwesenheiten entgegenzuwirken (siehe u. a. Poitrimol, a. a. O., Rdnr. 35; Van Geyseghem ./. Belgien [GK],
Individualbeschwerde Nr. 26103/95, Rdnr. 33, ECHR 1999-I; und Van Pelt ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 31070/96, Rdnr. 66, 23. Mai 2000).
48. Der Gerichtshof hat allerdings betont, dass es für die Fairness eines Strafrechtssystems ebenfalls von entscheidender Bedeutung ist, dass der Angeklagte angemessen verteidigt wird, und zwar sowohl in der ersten Instanz als auch
im Berufungsverfahren (siehe u. a. Lala, a. a. O., Rdnr. 33; Pelladoah, a. a. O., Rdnr. 40; Van Pelt, a. a. O., Rdnr. 66; und Kari-Pekka Pietiläinen ./. Finnland, Individualbeschwerde Nr. 13566/06, Rdnr. 31, 22. September 2009).
49. Der Gerichtshof hat stets festgestellt, dass letzteres Interesse hierbei Vorrang hat und demnach das Ausbleiben des Angeklagten trotz ordnungsgemäßer Ladung es auch dann, wenn er keine Entschuldigung dafür hat, nicht
rechtfertigt, ihm das Recht zu entziehen, sich nach Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c der Konvention durch einen Anwalt verteidigen zu lassen (siehe Lala, a. a. O., Rdnr. 33; Pelladoah, a. a. O., Rdnr. 40; Van Geyseghem, a. a. O., Rdnr.
33; Van Pelt, a. a. O., Rdnr. 66; Harizi ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 59480/00, Rdnr. 49, 29. März 2005; und Kari-Pekka Pietiläinen, a. a. O., Rdnr. 31).
50. Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang betont, dass das Recht jeder einer Straftat angeklagten Person auf wirksame Verteidigung durch einen Rechtsanwalt, gegebenenfalls durch einen Pflichtverteidiger, zwar kein
absolutes Recht ist, jedoch eines der wesentlichen Elemente eines fairen Verfahrens darstellt. Eine Person, die einer Straftat angeklagt ist, verliert dieses Recht nicht allein aufgrund ihrer Abwesenheit bei der Verhandlung (siehe
Poitrimol, a. a. O., Rdnr. 34; Van Geyseghem, a. a. O., Rdnr. 34; Stroek ./. Belgien, Individualbeschwerden Nr. 36449/97 und 36467/97, Rdnr. 23, 20. März 2001; Goedhart ./. Belgien, Individualbeschwerde Nr. 34989/97, Rdnr. 26,
20. März 2001; und Kari-Pekka Pietiläinen, a. a. O., Rdnr. 32).
51. Obwohl der Gesetzgeber in der Lage sein muss, unberechtigtem Fernbleiben entgegenzuwirken, kann er ein solches Fernbleiben nicht bestrafen, indem er Ausnahmen vom Recht auf anwaltlichen Beistand schafft. Der berechtigten
Forderung nach Anwesenheit des Angeklagten bei der gerichtlichen Verhandlung kann mit anderen Mitteln als durch die Entziehung des Rechts auf Verteidigung Nachdruck verliehen werden (siehe Van Geyseghem, a. a. O., Rdnr. 34;
Van Pelt, a. a. O., Rdnr. 67; und Kari-Pekka Pietiläinen, a. a. O., Rdnr. 32). Es ist Aufgabe der Gerichte, sicherzustellen, dass ein Verfahren fair ist und dass dementsprechend ein Rechtsanwalt, der offensichtlich an der Verhandlung
teilnimmt, um einen abwesenden Angeklagten zu vertreten, die Gelegenheit erhält, dies zu tun (siehe u. a. Van Geyseghem, a. a. O., Rdnr. 33; und Kari-Pekka Pietiläinen, a. a. O., Rdnr. 31).
b) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache
52. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer in der vorliegenden Rechtssache rügte, dass er in seinem Recht auf Zugang zu den Gerichten, seinem Recht auf rechtliches Gehör und seinem Recht, sich durch einen
Verteidiger verteidigen zu lassen, verletzt worden sei, da ihn sein Anwalt in seiner Abwesenheit nicht habe verteidigen dürfen und die Berufung in seinem Strafverfahren ohne Verhandlung zur Sache verworfen worden sei. Der
Gerichtshof ist der Ansicht, dass die Individualbeschwerde im Wesentlichen eine Frage im Hinblick auf das Recht des Beschwerdeführers, sich durch einen Anwalt verteidigen zu lassen, aufwirft. Da sich die innerstaatlichen Gerichte
geweigert haben, dem Anwalt des Beschwerdeführers die Verteidigung desselben in seiner Abwesenheit zu gestatten, wirft die Rechtssache ferner eine Frage im Hinblick auf den Zugang des Beschwerdeführers zu den Gerichten und
die Fairness des Verfahrens auf. Der Gerichtshof prüft daher die Rügen nach Artikel 6 Absatz 1 i. V. m. Absatz 3 Buchstabe c (siehe auch Rdnr. 45).
53. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die vorliegende Rechtssache die Neuverhandlung der Strafsache eines Angeklagten im Berufungsrechtszug betrifft. Nach dem innerstaatlichen Recht war diese Berufungsverhandlung die
letzte Instanz, in der die Rechtssache umfassend in Tatsachen- und Rechtsfragen geprüft werden konnte. Dem Anwalt des Beschwerdeführers wurde jedoch nicht gestattet, den Beschwerdeführer in seiner Abwesenheit, für die keine als
genügend anerkannte Entschuldigung vorlag, zu vertreten. Die in Rede stehenden Umstände sind folglich vergleichbar mit denen der Rechtssachen Poitrimol (a. a. O., Rdnrn. 28, 32), Lala (a. a. O., Rdnr. 31), Pelladoah (a. a. O., Rdnr.
38), Van Geyseghem (a. a. O., Rdnr. 29), Van Pelt (a. a. O., Rdnrn. 62, 65), Goedhart (a. a. O., Rdnr. 24), Stroek (a. a. O., Rdnr. 21), Harizi (a. a. O., Rdnr. 51) und Kari-Pekka Pietiläinen (a. a. O., Rdnr. 25). In der Rechtssache
Krombach durfte sich überdies der Beschwerdeführer in seiner Abwesenheit bei der erstinstanzlichen Hauptverhandlung nicht anwaltlich vertreten lassen. Der Gerichtshof hat diesen Fall im Hinblick auf die in den vorgenannten
Rechtssachen aufgeworfenen Fragen dennoch für vergleichbar erachtet, da der Beschwerdeführer gleichermaßen nicht zu einer Verhandlung erschienen war, zu der er ordnungsgemäß geladen wurde (a. a. O., Rdnrn. 83, 86).
54. In diesen Rechtssachen, die vier verschiedene Vertragsparteien der Konvention betrafen, hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Verteidigungsrechte des jeweiligen Beschwerdeführers dem Interesse der Allgemeinheit und des
Opfers, dem Fernbleiben des Beschwerdeführers von der Hauptverhandlung entgegenzuwirken, vorgingen. Der berechtigten Forderung nach der Anwesenheit eines Angeklagten bei seiner gerichtlichen Verhandlung müsse daher mit
anderen Mitteln als durch die Entziehung des Rechts auf Verteidigung Nachdruck verliehen werden (siehe insbesondere Rdnrn. 49 und 51). Der Gerichtshof hat folglich in allen genannten Rechtssachen eine Verletzung von Artikel 6
Absatz 1 und Absatz 3 Buchstabe c festgestellt.
55. Der Gerichtshof nimmt in diesem Zusammenhang die Argumentation der Regierung und des Bundesverfassungsgerichts zur Kenntnis, dass im deutschen Strafprozessrecht die Anwesenheit des Angeklagten nicht nur sein Recht,
sondern auch seine Pflicht sei, und er daher auf sein Anwesenheitsrecht bei der Verhandlung nicht verzichten könne. Die Anwesenheit und das Auftreten des Beschwerdeführers seien, selbst wenn er von seinem Recht zu schweigen
Gebrauch mache, für die Strafgerichte wichtig, um ihrer Pflicht zur Erforschung der Wahrheit und der gerechten Strafzumessung zu genügen.
56. Der Gerichtshof stellt fest, dass er sich bereits mit vergleichbaren Vorbringen beschwerdegegnerischer Staaten auseinandergesetzt hat. In der Rechtssache Van Geyseghem war beispielsweise von der beschwerdegegnerischen
Regierung vorgetragen worden, dass die Anwesenheit des Angeklagten die geordnete Rechtspflege fördere und eine Abstimmung der Strafe auf den Einzelfall ermögliche (a. a. O., Rdnr. 31). Der Gerichtshof hat diese Argumentation
gebilligt und betont, wie wichtig das Erscheinen eines Angeklagten für eine faire Rechtspflege sei. Er war jedoch der Ansicht, dass die berechtigte Forderung nach der Anwesenheit des Angeklagten bei der Hauptverhandlung mit
anderen Mitteln als durch eine Entziehung seiner Verteidigungsrechte erfüllt werden müsse (a. a. O., Rdnrn. 33, 34).
57. Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass die Regierung vorgetragen hat, die vorgenannten Rechtssachen seien von dem hier vorliegenden Fall zu unterscheiden, da bei ihnen eine andere Sach- oder Rechtslage gegeben gewesen sei.
58. Die Regierung hat zunächst vorgebracht, die den Fällen Poitrimol, Krombach und Lala (alle a. a. O.) zugrunde liegenden Sachverhalte wichen von dem hier in Rede stehenden Sachverhalt ab. Die Beschwerdeführer jener Fälle
seien bereits erstinstanzlich in Abwesenheit verurteilt worden. Im Unterschied dazu sei der Beschwerdeführer in der vorliegenden Sache in dem erstinstanzlichen Verfahren vor dem Amtsgericht anwesend gewesen, bevor seine
Berufung vom Landgericht ohne weitere Prüfung in der Sache verworfen worden sei.
59. Der Gerichtshof stellt fest, dass in den von der Regierung zitierten Fällen die Verhandlungen gegen die Beschwerdeführer vor den jeweiligen erstinstanzlichen Gerichten in der Tat aus unterschiedlichen Gründen in Abwesenheit
der Beschwerdeführer stattfanden. In den anderen oben genannten Fällen erfolgte jedoch die Verhandlung und die Verurteilung durch die erstinstanzlichen Gerichte in Anwesenheit der Beschwerdeführer (siehe insbesondere
Pelladoah, a. a. O., Rdnrn. 10-11; Van Geyseghem, a. a. O., Rdnr. 12; Van Pelt, a. a. O., Rdnrn. 14-18; und Kari-Pekka Pietiläinen, a. a. O., Rdnr. 6). Folglich ist dieser Unterschied in den Sachverhalten im Hinblick auf die
Schlussfolgerung des Gerichtshofs in den obigen Fällen nicht ausschlaggebend gewesen.
60. Der Gerichtshof nimmt weiter das Vorbringen der Regierung zur Kenntnis, dass sich die vorliegende Rechtssache von den Fällen Van Geyseghem und Krombach (a. a. O.) unterscheide, da nach deutschem Recht die
Voraussetzungen beziehungsweise Hindernisse für das Strafverfahren von den Gerichten von Amts wegen zu berücksichtigen seien, so dass kein entsprechender Antrag und kein entsprechendes Vorbringen eines Anwalts erforderlich sei.
61. Der Gerichtshof verweist jedoch auf seine Feststellungen in der Rechtssache Van Geyseghem, denen zufolge das Berufungsgericht in diesem Fall von Amts wegen z. B. die Frage der Verjährung - ein mögliches Prozesshindernis -
zu prüfen habe (a. a. O., Rdnrn. 31 und 35). Gleichwohl hat der Gerichtshof in diesem Zusammenhang betont, dass der Beistand eines Verteidigers zur Lösung von Streitigkeiten dennoch unabdingbar und sein Auftreten zur
Wahrnehmung der Verteidigungsrechte notwendig sei (a. a. O., Rdnr. 35). In der Rechtssache Krombach ist der Gerichtshof ebenfalls der Auffassung gewesen, dass das innerstaatliche Gericht den Anwälten des Beschwerdeführers
hätte Gelegenheit geben müssen, ihre Argumente im Hinblick auf eine Rechtsfrage (die eingetretene Rechtskraft und den Grundsatz des `ne bis in idem´ - weitere Hindernisse für das Strafverfahren) vorzutragen, für deren Prüfung es
zuständig gewesen wäre (a. a. O., Rdnr. 90). Daraus folgt, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ausschlaggebend war, dass die Anwälte der Beschwerdeführer ihre Argumente zu deren Verteidigung - einschließlich
rechtlicher Erwägungen beispielsweise zum Vorliegen von Prozesshindernissen - nicht vortragen konnten, unabhängig von der Frage, ob die innerstaatlichen Gerichte diese schon allein von Amts wegen hätten prüfen müssen.
62. Die Regierung hat außerdem vorgebracht, dass es im Gegensatz zu anderen Rechtsordnungen nach der deutschen Strafprozessordnung einem Angeklagten im Wege der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder im Wege der
Revision möglich sei, die Gründe für sein unentschuldigtes Ausbleiben oder von den Gerichten nicht von Amts wegen berücksichtigte Prozessvoraussetzungen bzw. -hindernisse überprüfen zu lassen.
63. Der Gerichtshof stellt fest, dass in dieser Hinsicht offenbar gewisse Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen der beschwerdegegnerischen Staaten in den obigen Fällen bestehen. Zumindest in einigen dieser Staaten sah das
Gesetz jedoch, wenn ein Angeklagter eine genügende Entschuldigung für sein Fernbleiben hatte, ohne dies rechtzeitig mitteilen zu können, ein Recht auf Wiederaufnahme (siehe z. B. Kari-Pekka Pietiläinen, a. a. O., Rdnr. 11), oder,
unter bestimmten Voraussetzungen, auf Revision (siehe z. B. Lala, a. a. O., Rdnrn. 12-13; und Van Geyseghem, a. a. O., Rdnrn. 18-20) vor. Der Gerichtshof ist daher der Auffassung, dass gewisse Unterschiede in dieser Hinsicht
ebenfalls keine ausschlaggebende Rolle bei der Feststellung einer Verletzung von Artikel 6 Absatz 1 und Absatz 3 Buchstabe c in seiner bisherigen Rechtsprechung gespielt haben.
64. Ferner trägt das Vorbringen der Regierung, der Gerichtshof habe in der Rechtssache Kari-Pekka Pietiläinen nur aufgrund der besonderen Umstände dieses Falles einen Verstoß gegen Artikel 6 Absatz 1 und Absatz 3 Buchstabe c
der Konvention festgestellt, nicht. Der Gerichtshof hat in dieser Rechtssache festgestellt, dass die in den oben genannten Fällen festgelegten Grundsätze auf diese Rechtssache anwendbar seien und das innerstaatliche Berufungsgericht
verpflichtet gewesen wäre, dem Rechtsanwalt des Beschwerdeführers zu erlauben, diesen zu verteidigen, und zwar auch in seiner Abwesenheit. Seine weitergehenden Ausführungen dahingehend, warum das in diesem Fall ‚umso mehr
gelte', stellen lediglich eine Bestätigung und Bekräftigung der festgestellten Verletzung dar (a. a. O., Rdnr. 34).
65. Letztlich sind in der dargestellten Rechtsprechung die Schlussfolgerungen des Gerichtshofs im Hinblick auf den Verfahrensgegenstand nicht von der Frage abhängig gewesen, ob die Unzulässigkeit der Berufung nach
innerstaatlichem Recht als eine dem Angeklagten wegen seiner Flucht auferlegte Sanktion gelten musste. Der Gerichtshof merkt jedoch an, dass in einigen der von ihm geprüften Individualbeschwerden gegen die Beschwerdeführer -
wie im vorliegenden Fall - vor der Verhandlung, zu der sie nicht erschienen sind, ein Haftbefehl erlassen worden war (siehe z. B. Poitrimol, a. a. O., Rdnr. 20; Lala, a. a. O., Rdnr. 10; und Goedhart, a. a. O., Rdnr. 10). Auch dieser
Umstand ist für die Erwägungen des Gerichtshofs nicht ausschlaggebend gewesen. In diesem Zusammenhang soll auch wiederholt werden, dass ein Angeklagter nicht verpflichtet ist, sich zu stellen, um sich das Recht auf eine
(erneute) Verhandlung, die den Voraussetzungen von Artikel 6 der Konvention entspricht, zu sichern (siehe Krombach, a. a. O., Rdnr. 87).
66. Demzufolge sind die in der dargestellten Rechtsprechung des Gerichtshofs (siehe Rdnrn. 45-51) festgelegten Grundsätze auf die hier vorliegende Rechtssache anwendbar, die aufgrund der Sachlage oder der Unterschiede im
innerstaatlichen Strafrecht nicht von den genannten früheren Fällen unterschieden werden kann.
67. Folglich ist Artikel 6 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c der Konvention verletzt worden.
II. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION
68. Artikel 41 der Konvention lautet:
‚Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser
Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.'
A. Schaden
69. Der Beschwerdeführer forderte 1.500 EUR in Bezug auf den materiellen Schaden. Infolge seiner Verurteilung im Berufungsverfahren habe er diesen Betrag, der die ihm im Berufungsurteil auferlegte Geldstrafe und die
Gerichtskosten umfasse, zahlen müssen. Er verlangte überdies 2.000 EUR in Bezug auf den immateriellen Schaden. Der Umstand, dass er keine Möglichkeit zur Korrektur des erstinstanzlichen Urteils gehabt habe, habe ihn belastet.
70. Die Regierung war der Auffassung, dass der Beschwerdeführer keine Entschädigung fordern könne, da er nicht in seinen Rechten aus der Konvention verletzt worden sei.
71. Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass er keine Mutmaßungen darüber anstellen kann, wie das Verfahren vor dem Landgericht ausgegangen wäre, wenn dieses dem Beschwerdeführer gestattet hätte, sich anwaltlich vertreten zu
lassen. Folglich weist er die Forderung des Beschwerdeführers in Bezug auf den materiellen Schaden zurück.
72. Der Gerichtshof erkennt ferner an, dass die Nichteinhaltung der Erfordernisse von Artikel 6 durch die innerstaatlichen Gerichte im vorliegenden Fall durch die bloße Feststellung einer Verletzung nicht wiedergutgemacht werden
kann. Unter Berücksichtigung seiner Rechtsprechung setzt der Gerichtshof daher die Summe nach Billigkeit fest und spricht dem Beschwerdeführer als Entschädigung für den immateriellen Schaden 1.000 EUR zuzüglich
gegebenenfalls zu berechnender Steuern zu.
B. Kosten und Auslagen
73. Der Beschwerdeführer forderte außerdem insgesamt 4.500 EUR plus Mehrwertsteuer in Höhe von 19 Prozent für die in den Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten entstandenen Kosten und Auslagen. Dieser Betrag setze
sich zusammen aus 2.000 EUR für die Rechtsanwaltsgebühren, die in dem Verfahren vor dem Amtsgericht angefallen seien, 1.000 EUR für die Rechtsanwaltsgebühren, die in dem Verfahren vor dem Landgericht angefallen seien,
sowie 1.500 EUR für die Rechtsanwaltsgebühren, die in den Verfahren vor dem Bundesgerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht angefallen seien. Zu diesen Beträgen sei die Mehrwertsteuer hinzuzurechnen. Er verlangte
außerdem 2.000 EUR plus Mehrwertsteuer für Kosten und Auslagen vor dem Gerichtshof.
74. Die Regierung hat zu diesen Forderungen nicht Stellung genommen.
75. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur insoweit Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese tatsächlich und notwendigerweise entstanden und der Höhe
nach angemessen sind. Im vorliegenden Fall hält der Gerichtshof es in Anbetracht der ihm vorliegenden Unterlagen und der vorgenannten Kriterien für angebracht, dem Beschwerdeführer 3.500 EUR zuzüglich der ihm gegebenenfalls
zu berechnenden Steuern zur Deckung der unter allen Rubriken entstandenen Kosten zuzusprechen.
C. Verzugszinsen
76. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;
2. Artikel 6 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c der Konvention ist verletzt worden;
3. a) Der beschwerdegegnerische Staat hat dem Beschwerdeführer binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Absatz 2 der Konvention endgültig wird, folgende Beträge zu zahlen:
i) 1.000 EUR (eintausend Euro) für immateriellen Schaden, zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern;
ii) 3.500 EUR (dreitausendfünfhundert Euro) für Kosten und Auslagen, zuzüglich der dem Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuern;
b) Nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten bis zur Auszahlung fallen für die oben genannten Beträge einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der
Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;
4. Im Übrigen wird die Forderung des Beschwerdeführers nach gerechter Entschädigung zurückgewiesen.
Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 8. November 2012 nach Artikel 77 Absätze 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs. ...
Abweichende Meinung
Gemäß Artikel 45 Absatz 2 der Konvention und Artikel 74 Absatz 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist diesem Urteil die abweichende Meinung der Richterinnen Power-Forde und Nußberger beigefügt. ...
GEMEINSAME ÜBEREINSTIMMENDE MEINUNG DER RICHTERINNEN POWER-FORDE UND NUSSBERGER
Wir haben uns bei der Feststellung einer Verletzung der Mehrheit angeschlossen, halten es dessen ungeachtet jedoch für angebracht, die häufig kritisierte und umstrittene Rechtsprechung des Gerichtshofs1 zu Artikel 6 Absatz 3
Buchstabe c der Konvention zu überdenken, durch die unserer Meinung nach Staaten zur Einleitung von Strafprozessreformen verpflichtet werden, die weder notwendig noch zweckdienlich sind.
Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c der Konvention legt als Mindeststandard im Strafprozess fest, dass jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, das Recht hat, ‚sich selbst zu verteidigen [oder] sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl
verteidigen zu lassen'.
Während das Recht auf ‚einen Verteidiger' offensichtlich darauf abzielt, einem Angeklagten den Beistand eines Rechtsanwalts zuzusichern, hat der Gerichtshof diese Vorschrift als das Recht des Angeklagten ausgelegt, dem Prozess
fernzubleiben und durch einen Anwalt ersetzt zu werden. Dies mag im Hinblick auf Rechtsordnungen, in denen das Strafprozessrecht Verfahren in Abwesenheit zulässt und folglich dem Angeklagten nicht das Recht auf rechtliches
Gehör zusichert, vertretbar sein, aber dieser Ansatz kann nicht auf Rechtsordnungen übertragen werden, die Verfahren in Abwesenheit nicht zulassen, aber die unentschuldigte Abwesenheit eines Angeklagten bei Verfahren zweiter
Instanz mit bestimmten Konsequenzen oder Sanktionen verknüpfen, nachdem die Rechtssache vor dem erstinstanzlichen Gericht bereits umfassend verhandelt worden ist.
Zugegebenermaßen ist es eines der grundlegendsten Elemente der Garantien nach Artikel 6 der Konvention, dass der Angeklagte angehört wird. Auf der anderen Seite muss sich jedoch auch der Angeklagte über die an ihn gerichteten
Fragen hinaus auch die Anklage, die Ausführungen der Zeugen und Sachverständigen und - insbesondere - die Darstellungen der Leiden des Opfers anhören. Die persönliche Konfrontation des Angeklagten mit seiner Tat und seiner
Schuld und das Bewusstsein der öffentlichen Diskussion darüber muss als Grundvoraussetzung für die wirksame Rehabilitation und Wiedereingliederung in die Gesellschaft gelten, die das grundlegende Ziel der Bestrafung ist. Der
Rechtsanwalt ist zwar in der Lage, in dem Prozess Argumente zur Verteidigung des Angeklagten vorzutragen, aber er kann seinen Mandanten nicht ersetzen. Nimmt der Angeklagte nicht an der Hauptverhandlung teil, in der alle Sach-
und Rechtsfragen erörtert werden, geht der Hauptzweck des Prozesses verloren.
Der Gerichtshof hat daher stets betont, dass ‚das Erscheinen eines Angeklagten vor Gericht von größter Bedeutung ist, und zwar sowohl aufgrund seines Rechts auf Gehör als auch wegen der Notwendigkeit, den Wahrheitsgehalt seiner
Aussagen zu prüfen und mit denen des Opfers, dessen Interessen zu schützen sind, und der Zeugen zu vergleichen. Der Gesetzgeber muss dementsprechend in der Lage sein, ungerechtfertigten Abwesenheiten entgegenzuwirken' (siehe
Poitrimol ./. Frankreich, 23. November 1993, Rdnr. 35, Serie A Band 277-A).
Wir sind jedoch der Meinung, dass es nicht richtig ist, diese Pflicht des Gesetzgebers, ungerechtfertigten Abwesenheiten entgegenzuwirken, und das Recht des Angeklagten auf angemessene Verteidigung gegeneinander abzuwägen.
Dies hieße, keinen Unterschied zwischen dem Recht auf anwaltlichen Beistand und dem Recht auf Abwesenheit von dem Prozess zu machen. Es ist unbestritten, dass der Angeklagte, wäre er zur Hauptverhandlung erschienen, das
Recht gehabt hätte, sich ‚durch einen Verteidiger' verteidigen zu lassen. Folglich teilen wir die Auffassung des Gerichtshofs, der Angeklagte habe sein Recht auf anwaltlichen Beistand nach Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c der
Konvention verloren, nicht. Ihm wird lediglich das Recht verwehrt, sich durch einen Anwalt ersetzen zu lassen - ein Recht, das nicht von der Konvention garantiert wird.
Die Rechtsprechung des Gerichtshofs verblüfft: Aufgrund der vom Angeklagten gewünschten erneuten Verhandlung haben alle zu erscheinen und Zeugen können sogar zur Teilnahme an der Verhandlung verpflichtet werden, während
der Angeklagte selbst abwesend sein darf. Es ist schwer vorstellbar, inwiefern eine Wiederholung der vollständigen sachlichen und rechtlichen Prüfung der Rechtssache in zweiter Instanz in Abwesenheit des Angeklagten der
Erforschung der Wahrheit und einer gerechten Strafzumessung besser dienen könnte als die gleiche Prüfung in erster Instanz im Beisein des Angeklagten. ..." (EGMR, Urteil vom 08.11.2012 - 30804/07)
***
„... 6. Der 19... geborene Beschwerdeführer lebt in B. Als sich die hier in Rede stehenden Vorfälle im September 2003 ereigneten, lebte er in B. in R., wo er Maschinenbau studierte.
7. Am 26. November 2003 zeigten die Mutter, der Bruder und die Schwester des Beschwerdeführers („die Zeugen") bei der Polizei einen Vorfall an, der sich in der Nacht vom 2. auf den 3. September 2003 im Elternhaus des
Beschwerdeführers in W. ereignet hatte. Die Zeugen sagten aus, der Beschwerdeführer, der sich nicht an den Vorfall erinnern könne, habe seine Schwester gewürgt und seinen Bruder mit einem Beil angegriffen, bis er von seinen
Eltern überwältigt worden sei. Der Vater des Beschwerdeführers erstattete keine Strafanzeige und sagte nicht gegen den Beschwerdeführer aus.
8. Die Staatsanwaltschaft Coburg leitete ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen versuchten Mordes gegen den Beschwerdeführer ein. Am 8. Dezember 2003 wiederholten die Zeugen ihre Aussagen vor dem Ermittlungsrichter
am Amtsgericht Kronach im Beisein eines Polizeibeamten. Der Beschwerdeführer wurde von der ermittlungsrichterlichen Vernehmung nicht benachrichtigt. Ein Verteidiger wurde ihm nicht bestellt.
9. Am 16. Dezember 2003 erließ das Amtsgericht Kronach Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer. Der Beschwerdeführer wurde am 19. Dezember 2003 festgenommen und in Untersuchungshaft genommen. Mit Beschluss des
Landgerichts Coburg vom 6. Oktober 2004 wurde der Beschwerdeführer einstweilig in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht.
10. Am 28. Februar 2005 ordnete das Landgericht Coburg die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB an (siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige
innerstaatliche Praxis").
Das Landgericht sah es als erwiesen an, dass der Beschwerdeführer am Abend des 2. September 2003 von B. zum Haus seiner Eltern nach W. fuhr. Er betrat das Haus mit seinem eigenen Schlüssel, ohne seine Eltern oder Geschwister
von seinem Eintreffen benachrichtigt zu haben. Während der Nacht ging er in das Schlafzimmer seiner Schwester und würgte sie; anschließend griff er seinen Bruder mit einer Axt an und fügte ihm Verletzungen am Kopf sowie an
den Händen, Armen und Beinen zu. Nachdem der Beschwerdeführer von seinen Eltern überwältigt worden war, versammelte sich die gesamte Familie in der Küche. Die Schwester fuhr den stark blutenden Bruder des
Beschwerdeführers ins Krankenhaus, wo zwei seiner Wunden genäht wurden. Der Beschwerdeführer hielt sich bis Ende September 2003 bei seiner Familie im Haus seiner Eltern auf. Er wurde in dieser Zeit von einem im Ort
praktizierenden Arzt behandelt, der bei ihm diagnostizierte, er habe einen epileptischen Anfall erlitten. Der Beschwerdeführer kehrte dann nach B. zurück, tauchte aber am 21. November 2003 erneut unangekündigt zu einem Besuch
im Haus seiner Eltern auf. Die Mutter, der Bruder und die Schwester des Beschwerdeführers, die Angst vor einem weiteren Übergriff des Beschwerdeführers hatten, beschlossen nach diesem Besuch, den Vorfall in der Nacht vom 2.
auf den 3. September 2003 bei der Polizei anzuzeigen und erstatteten am 26. November 2003 Strafanzeige (siehe Rdnr. 7).
11. Das Landgericht würdigte den Sachverhalt als gefährliche Körperverletzung in zwei tatmehrheitlichen Fällen. Auf der Grundlage von Sachverständigengutachten stellte es ferner fest, dass bei dem Beschwerdeführer bei
Tatbegehung entweder ein epileptischer Dämmerzustand oder ein Schub paranoider Schizophrenie vorgelegen habe und er deshalb schuldunfähig im Sinne von § 20 StGB gewesen sei (siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht und
einschlägige innerstaatliche Praxis").
12. Bei der Tatsachenfeststellung wies das Landgericht darauf hin, dass der Beschwerdeführer keine Erinnerung an die Geschehnisse in der Nacht vom 2. auf den 3. September 2003 habe und die einzigen unmittelbaren Zeugen, die zur
Verfügung stünden, nämlich Mutter, Bruder und Schwester des Beschwerdeführers, von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO (siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis")
Gebrauch gemacht hätten. Der Vater des Beschwerdeführers habe auf eine Strafanzeige verzichtet und sich an dem Verfahren nicht beteiligt (siehe Rdnr. 7). Der Sachverhalt stehe jedoch aufgrund der Aussage des Ermittlungsrichters
fest, der die Zeugen am 8. Dezember 2003 vernommen und ihre im Vorverfahren gemachten Angaben vor Gericht wiederholt habe. Das Landgericht vertrat die Auffassung, dass es den Ermittlungsrichter als Zeugen habe vernehmen
und dessen Aussagen bezüglich der von den Zeugen im Vorverfahren gemachten Angaben berücksichtigen können.
13. Das Landgericht stellte fest, dass die Staatsanwaltschaft es unterlassen habe, dem Beschwerdeführer nach § 140 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. § 141 Abs. 3 StPO in der Auslegung durch den BGH im Hinblick auf die Anforderungen aus
Artikel 6 Abs. 3 Buchstabe d der Konvention vor der ermittlungsrichterlichen Vernehmung der Zeugen einen Verteidiger zu bestellen. Außerdem sei der nicht vertretene Beschwerdeführer von der ermittlungsrichterlichen
Vernehmung nicht nach § 168c Absätze 3 und 5 StPO benachrichtigt worden, dabei hätten keine Gründe vorgelegen, einen Verteidiger gegebenenfalls von der Vernehmung auszuschließen (siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht
und einschlägige innerstaatliche Praxis").
14. Das Landgericht erinnerte daran, dass die Unterlassung der Verteidigerbestellung nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht zwingend zu einem Verwertungsverbot der Aussagen des Ermittlungsrichters führe. Das
Landgericht müsse seine Aussagen jedoch besonders kritisch würdigen, da weder dem Beschuldigten noch einem Verteidiger die Möglichkeit gegeben gewesen sei, die Zeugen unmittelbar zu befragen. Die Sachverhaltsfeststellung
könne nur dann allein auf die Aussagen des Ermittlungsrichters gestützt werden, wenn diese durch andere wichtige Gesichtspunkte bestätigt würden.
15. Das Landgericht berücksichtigte mehrere Beweismittel als Bestätigung der Aussagen des Ermittlungsrichters. Es wies zunächst darauf hin, dass ihm zur Feststellung des Sachverhalts nicht nur die ermittlungsrichterliche Aussage,
sondern auch drei miteinander harmonisierende Zeugenaussagen vorgelegen hätten, die ein stimmiges Bild des fraglichen Geschehens ergeben hätten. Nach Aussage des Ermittlungsrichters seien Anhaltspunkte dafür, dass die Zeugen
nicht die Wahrheit gesagt oder versucht hätten, den Beschwerdeführer zu belasten, nicht vorhanden gewesen; die Zeugen hätten ausgesagt, weil sie wegen der Gesundheit des Beschwerdeführers besorgt gewesen seien und neue
Übergriffe des Beschwerdeführers befürchtet hätten. Der Polizeihauptkommissar, der die von den Zeugen erstattete Strafanzeige am 26. November 2011 [sic] aufgenommen habe, habe auch ausgesagt, dass ihm die Zeugen bei dieser
Gelegenheit - vor ihrer anschließenden Befragung - spontan berichtet hätten, dass der Beschwerdeführer seine Familienangehörigen mit einem Beil angegriffen habe. Das Landgericht betonte, dass diese spontanen Äußerungen im
Gegensatz zu den anschließenden Aussagen der Zeugen gegenüber der Polizei nicht nach § 252 StPO von der Verwertung in der Hauptverhandlung ausgeschlossen, sondern zulässige Beweismittel seien. Darüber hinaus habe ein
weiterer Polizeibeamter ausgesagt, dass ihn die Mutter des Beschwerdeführers am 3. Dezember 2003 spontan angerufen und gefragt habe, was nun wegen der Strafanzeige weiter geschehen werde, um einen erneuten unangemeldeten
Besuch und Übergriffe des Beschwerdeführers zu verhindern. Das Landgericht sah diese spontanen Äußerungen als Beleg für die Angaben der Zeugen zu dem Geschehen in der Nacht vom 2. auf den 3. September 2003 an.
Außerdem habe der Arzt, der die Schnittverletzungen des Bruders des Beschwerdeführers am 3. September 2003 im Krankenhaus behandelt habe, ausgesagt, dass ihm damals die Erklärung des Bruders, nämlich dass er in eine
Glasscheibe gestürzt sei, verdächtig vorgekommen sei. Das Landgericht stellte ferner fest, dass der Bruder des Beschwerdeführers später von sich aus ein Beil bei der Polizei abgegeben habe und dass der Polizeibeamte, der das
Werkzeug entgegengenommen habe, ausgesagt habe, dass der Bruder erklärt habe, bei dem Beil handele es sich um das Tatwerkzeug. Der Beschwerdeführer selbst habe sich schließlich dahingehend eingelassen, dass er sich erinnern
könne, seinen Bruder am Morgen des 3. September 2003 stark blutend gesehen zu haben, als die Familie sich in der Küche versammelt habe, und dass seine Familienangehörigen ihm erklärt hätten, er habe seine Geschwister in der
Nacht attackiert. Er selbst habe vorgeschlagen, noch am selben Vormittag zur Polizei zu gehen, was seine Familie jedoch abgelehnt habe. Er erinnere sich auch daran, dass seine Schwester seinen Bruder ins Krankenhaus gebracht habe.
16. Der Beschwerdeführer legte Revision ein und rügte, dass die ermittlungsrichterliche Aussage in der Hauptverhandlung nicht hätte verwertet werden dürfen.
17. Die Staatsanwaltschaft Coburg legte Revision mit der Begründung ein, der Angriff auf die Zeugen hätte als versuchter Totschlag in zwei Fällen jeweils zusammentreffend mit gefährlicher Körperverletzung gewürdigt werden müssen.
18. Am 25. Mai 2005 beantragte der Generalbundesanwalt, die Revision des Beschwerdeführers zu verwerfen, weil das Landgericht in Übereinstimmung mit der Begründung in dem entsprechenden Leiturteil des Bundesgerichtshofs
dargelegt habe, dass die Aussage des Ermittlungsrichters durch andere wichtige Gesichtspunkte bestätigt worden sei, und weil die Entscheidung des Landgerichts rechtsfehlerfrei sei.
19. Am 24. August 2005 verwarf der Bundesgerichtshof die Revision des Beschwerdeführers als unbegründet. Mit Beschluss vom 31. August 2005 entschied der Bundesgerichtshof, dass die Staatskasse die Kosten der von der
Staatsanwaltschaft eingelegten und zurückgenommenen Revision zu tragen habe. Diese Entscheidungen wurden dem Beschwerdeführer am 9. beziehungsweise 16. September 2005 zugestellt.
20. Am 1. April 2006 erhob der Beschwerdeführer seine erste Individualbeschwerde zum Gerichtshof (Nr. 14678/06); sie wurde am 5. September 2006 von einem Ausschuss mit drei Richtern wegen Nichterschöpfung des
innerstaatlichen Rechtswegs für unzulässig erklärt.
21. Am 16. Oktober 2006 beantragte der Beschwerdeführer die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, was die Einhaltung der Monatsfrist zur Einlegung einer Verfassungsbeschwerde anging, und erhob Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht.
22. Am 20. März 2007 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen, und stellte fest, dass über den Antrag des Beschwerdeführers auf
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht entschieden zu werden brauche (2 BvR 225/07). ...
37. Der Gerichtshof erinnert daran, dass die Garantien in Artikel 6 Abs. 3 Buchstabe d besondere Aspekte des in Artikel 6 Abs. 1 vorgesehenen Rechts auf ein faires Verfahren sind, die bei jeder Einschätzung der Fairness
eines Verfahrens in Betracht zu ziehen sind. Darüber hinaus geht es dem Gerichtshof bei Artikel 6 Abs. 1 in erster Linie darum, die Fairness des Strafverfahrens in seiner Gesamtheit einzuschätzen (siehe aktuell hierzu Al-Khawaja
und Tahery ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerden Nrn. 26766/05 und 22228/06, Rdnr. 118, ECHR 2011, mit weiteren Nachweisen). Der Gerichtshof wird bei dieser Würdigung das Verfahren in seiner Gesamtheit
betrachten und dabei die Rechte der Verteidigung, aber auch die Interessen der Allgemeinheit und der Opfer an einer ordnungsgemäßen Strafverfolgung (siehe G. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 22978/05, Rdnr. 175,
ECHR 2010-....) und gegebenenfalls die Rechte der Zeugen berücksichtigen (siehe u. v. a. Doorson ./. Niederlande, 26. März 1996, Rdnr. 70, Urteils- und Entscheidungssammlung 1996-II).
38. In Artikel 6 Abs. 3 Buchstabe d ist der Grundsatz verankert, dass vor einer Verurteilung eines Beschuldigten alle ihn belastenden Beweismittel grundsätzlich während einer öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem
Beschuldigten beigebracht werden müssen, um eine kontradiktorische Befragung zu ermöglichen. Das zugrunde liegende Prinzip ist, dass der Angeklagte in einem Strafprozess eine wirkungsvolle Gelegenheit haben soll, die gegen ihn
vorgebrachten Beweise anzufechten. Ausnahmen hiervon sind möglich, dürfen aber die Rechte der Verteidigung nicht verletzen; diese Rechte erfordern in der Regel nicht nur, dass der Angeklagte weiß, wer ihn beschuldigt, damit er
die Redlichkeit und Glaubwürdigkeit der betreffenden Personen in Zweifel ziehen kann, sondern auch, dass ihm in angemessener und hinreichender Weise Gelegenheit gegeben wird, einen Belastungszeugen entweder während dessen
Zeugenaussage oder zu einem späteren Verfahrenszeitpunkt zu konfrontieren und zu befragen (siehe Lucà ./. Italien, Individualbeschwerde Nr. 33354/96, Rdnr. 39, ECHR 2001-II und Solakov ./. "die ehemalige jugoslawische
Republik Mazedonien", Individualbeschwerde Nr. 47023/99, Rdnr. 57, ECHR 2001-X).
39. Eine Zeugenaussage muss nicht stets vor Gericht und öffentlich abgegeben werden, um als Beweismittel zulässig zu sein; in bestimmten Fällen kann sich dies nämlich als unmöglich erweisen (siehe Asch ./. Österreich, 26. April
1991, Serie A Band 203). In jedem Fall sind die Vertragsstaaten nach Artikel 6 Abs. 1 i. V. m. Abs. 3 verpflichtet, positive Schritte zu unternehmen, um dem Beschuldigten insbesondere zu ermöglichen, Belastungszeugen zu befragen
oder befragen zu lassen. Solche Maßnahmen machen einen Teil der Sorgfaltspflicht aus, der die Vertragsstaaten nachkommen müssen, um eine wirksame Ausübung der in Artikel 6 garantierten Rechte sicherzustellen (siehe D. ./.
Finnland, Individualbeschwerde Nr. 30542/04, Rdnr. 41, 7. Juli 2009 und Sadak u. a. ./. Türkei, Individualbeschwerden Nrn. 29900/96, 29901/96, 29902/96 und 29903/96, Rdnr. 67, ECHR 2001-VIII).
40. Der Gerichtshof erinnert in diesem Zusammenhang ferner daran, dass sich die Zulässigkeit von Beweismitteln nach dem innerstaatlichen Recht richtet und Sache der nationalen Gerichte ist und dass der Gerichtshof nur zu prüfen
hat, ob das Verfahren fair geführt wurde und insbesondere die Rechte des Angeklagten nicht unzumutbar eingeschränkt waren und der bzw. die Angeklagte an dem Verfahren effektiv mitwirken konnte (siehe T. ./. Vereinigtes
Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 24724/94, Rdnr. 83, 16. Dezember 1999 und Stanford ./. Vereinigtes Königreich, 23. Februar 1994, Rdnr. 26, Serie A Band 282-A).
41. Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass es bei der vorliegenden Individualbeschwerde, wie auch der Beschwerdeführer ausgeführt hat, nicht um Zeugen geht, deren Identität oder Aufenthalt dem Beschuldigten nicht
bekannt ist. Im vorliegenden Fall standen als Augenzeugen der in Rede stehenden Geschehnisse nur die Mutter, der Bruder und die Schwester des Beschwerdeführers zur Verfügung (der Vater des Beschwerdeführers hatte sich an dem
Verfahren nicht beteiligt, siehe Rdnrn. 7 und 12); sie alle verweigerten in der Hauptverhandlung die Aussage, wozu sie als Familienangehörige des Beschuldigten nach § 52 StPO berechtigt waren. Sie konnten folglich weder vom
Tatgericht vernommen noch von der Staatsanwaltschaft bzw. der Verteidigung in der Hauptverhandlung befragt werden. Der Gerichtshof erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass Bestimmungen, mit denen Familienangehörigen
des Beschuldigten vor Gericht ein Zeugnisverweigerungsrecht eingeräumt wird, um sie davor zu schützen, in ein moralisches Dilemma zu geraten, im innerstaatlichen Recht mehrerer Mitgliedstaaten des Europarats zu finden sind und
an sich nicht im Widerspruch stehen zu Artikel 6 Absätze 1 und 3 Buchstabe d der Konvention (siehe Unterpertinger ./. Österreich, 24. November 1986, Rdnr. 30, Serie A Band 110).
42. Außerdem weist der Gerichtshof im Hinblick auf die Tatsache, dass das Landgericht den Ermittlungsrichter anhörte, der über die von den Zeugen im Vorverfahren am 8. Dezember 2003 gemachten Angaben berichtete, erneut
darauf hin, dass die Verwertung von im Ermittlungsstadium erlangten Aussagen als Beweismittel an sich nicht im Widerspruch zu Artikel 6 Absätze 1 und 3 Buchstabe d steht, vorausgesetzt, dem Angeklagten wurde angemessene
Gelegenheit gegeben, die Aussagen in dem Zeitpunkt, in dem sie gemacht wurden, oder in einem späteren Stadium in Zweifel zu ziehen (siehe u. a. Isgrò ./. Italien, Urteil vom 19. Februar 1991, Rdnr. 34, Serie A Band 194-A; Lucà, a.
a. O., Rdnr. 40 und Gossa ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 47986/99, Rdnr. 54, 9. Januar 2007). Dies bedeutet, dass bei der Verwertung von Beweismitteln, die vom Tatgericht zugelassen wurden, die Rechte der Verteidigung
gewahrt werden müssen, besonders wenn der Angeklagte in keinem Stadium des Verfahrens zuvor Gelegenheit hatte, die Personen zu befragen, deren Aussagen in den Prozess eingeführt werden (siehe sinngemäß Unterpertinger, a. a.
O., Rdnr. 31), und diese Aussagen das alleinige oder entscheidende Beweismittel für eine Verurteilung durch das Tatgericht oder eine damit verbundene Entscheidung dieses Gerichts darstellen (sieh Al-Khawaja und Tahery, a. a. O.,
Rdnr. 119). Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang festgestellt, dass, wenn eine Verurteilung allein oder entscheidend auf Aussagen einer Person gestützt wird, die der Beschuldigte weder im Ermittlungsverfahren noch in der
Hauptverhandlung Gelegenheit hatte zu befragen oder befragen zu lassen, die Rechte der Verteidigung in einem Maß eingeschränkt sein können, das mit den nach Artikel 6 vorgesehenen Garantien nicht vereinbar ist (die sogenannte
„allein-oder-entscheidend"-Regel, a. a. O.).
43. Der Gerichtshof stellt fest, dass zwischen den Parteien unbestritten ist, dass der Beschwerdeführer keine Gelegenheit hatte, in der Hauptverhandlung seine Mutter, seinen Bruder und seine Schwester zu befragen. Außerdem
bestreitet die Regierung nicht, dass die Staatsanwaltschaft es unterlassen hat, gemäß dem innerstaatlichen Recht, so wie der Bundesgerichtshof es ausgelegt hat, vor der Zeugenvernehmung durch den Ermittlungsrichter die Bestellung
eines Verteidigers zu beantragen, und dass es somit den nationalen Behörden zuzurechnen ist, dass der Verteidiger keine Gelegenheit hatte, die Zeugen im Vorverfahren zu befragen.
44. Was die Bedeutung der nicht hinterfragten Zeugenaussagen für den Strafprozess angeht, so lässt der Gerichtshof das Vorbringen der Regierung gelten, dass die im Vorverfahren gemachten Zeugenaussagen vom 8. Dezember 2003,
die durch die Aussage des Ermittlungsrichters in den Prozess eingeführt wurden, nicht die alleinigen Beweismittel vor dem Landgericht waren. Das Gericht nahm u. a. auch Bezug auf Angaben der Zeugen, die diese vor ihren
förmlichen Zeugenaussagen gegenüber dem Polizeibeamten gemacht hatten, der die Strafanzeige gegen den Beschwerdeführer am 26. November 2003 aufgenommen hatte, sowie auf die Nachfrage der Mutter des Beschwerdeführers
vom 3. Dezember 2003, welche weiteren Maßnahmen die Polizei aufgrund der Strafanzeige ergreifen werde. Es berücksichtigte außerdem die Verletzungen des Bruders des Beschwerdeführers, die Äußerungen des Arztes, der seine
Wunden im Krankenhaus behandelt hatte, und das Tatwerkzeug, das der Bruder bei der Polizei abgegeben hatte. Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass diese bestätigenden Beweise entweder selbst vom Hörensagen oder
Indizienbeweise sind und das Landgericht anscheinend sogar darin bestärkt haben, sich auf die Aussagen der Zeugen zu stützen, die der Beschwerdeführer nicht befragen konnte. Was die Erinnerungen des Beschwerdeführers an das
Nachtatgeschehen angeht, so stellt der Gerichtshof fest, dass diese die Behauptung, der Beschwerdeführer habe seine Schwester und seinen Bruder angegriffen, allenfalls mittelbar stützen könnten.
Die einzigen schlüssigen Beweise dafür, dass der Beschwerdeführer die Tat begangen hat, waren folglich die Aussagen der Zeugen im Vorverfahren. In seinem Urteil vom 28. Februar 2005 betonte das Landgericht in der Tat, dass es
sich bei der Feststellung des Sachverhalts nicht nur auf die ermittlungsrichterliche Aussage, sondern auch auf drei miteinander harmonisierende Zeugenaussagen gestützt habe, die ein stimmiges Bild des fraglichen Geschehens ergeben
hätten und glaubhaft gewesen seien. Das Landgericht scheint sich demnach bei seinen Feststellungen zumindest in einem nicht unerheblichen Umfang auf die vom Hörensagen wiedergegebenen Aussagen der einzigen unmittelbaren
Zeugen des fraglichen Geschehens gestützt zu haben, die weder von der Verteidigung noch vom Tatgericht befragt werden konnten. Diese Aussagen waren offenbar Beweismittel von großem Gewicht, und der Gerichtshof kommt
deshalb zu dem Ergebnis, dass die Zeugenaussagen der Mutter, des Bruders und der Schwester des Beschwerdeführers im Vorverfahren für die Entscheidung des Tatgerichts ausschlaggebend waren (siehe Al-Khawaja und Tahery, a. a.
O., Rdnr. 131).
45. Der Gerichtshof hat in seiner aktuellen Rechtsprechung betont, dass sich aus der Zulassung von Aussagen vom Hörensagen als Beweismittel in der Hauptverhandlung in Fällen, in denen diese Aussagen das alleinige oder
entscheidende Beweismittel gegen einen Angeklagten sind, nicht ohne Weiteres eine Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 ergibt. Der Gerichtshof hat gleichzeitig festgestellt, dass er in Fällen, in denen eine Verurteilung allein oder
entscheidend auf den Aussagen nicht anwesender Zeugen beruht, das Verfahren mit größtmöglicher Gründlichkeit prüfen muss. Die Frage ist in jedem Fall, ob hinreichende kompensierende Faktoren vorliegen, einschließlich
Maßnahmen, die eine faire und angemessene Einschätzung der Verlässlichkeit dieser Aussagen ermöglichen. Danach könnte eine Verurteilung nur dann auf solche Aussagen gestützt werden, wenn sie in Anbetracht ihrer Bedeutung
für die Sache hinreichend verlässlich sind (siehe Al-Khawaja und Tahery, a. a. O., Rdnr. 147). Der Gerichtshof stellt fest, dass sich ähnliche Erwägungen im Urteil des Landgerichts vom 28. Februar 2005 finden; dort heißt es unter
Bezugnahme auf die einschlägige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass das Tatgericht die Aussage des Ermittlungsrichters besonders kritisch zu würdigen habe, da weder dem Beschuldigten noch dem Verteidiger die
Möglichkeit gegeben worden sei, die Belastungszeugen zu befragen, und dass das Gericht seine Entscheidung auf diese Aussage nur dann stützen könne, wenn sie durch andere wichtige Gesichtspunkte bestätigt werde.
46. Der Gerichtshof hat daher zu prüfen, ob das Landgericht hinreichende kompensierende Faktoren eingeführt und eine faire und angemessene Einschätzung der Verlässlichkeit der vorliegenden Beweismittel vorgenommen hat. Der
Gerichtshof stellt fest, dass die von der Regierung angeführten kompensierenden Faktoren im Wesentlichen darin zu sehen sind, dass das Tatgericht die erwähnten bestätigenden Beweismittel (siehe Rdnr. 44) bei seiner
Entscheidungsfindung berücksichtigt hat. Die Regierung wies ferner darauf hin, dass der Beschwerdeführer bzw. sein Verteidiger in der Lage gewesen seien, das Auftreten des Ermittlungsrichters sowie der genannten Polizeibeamten
und des Arztes bei ihrer Aussage vor Gericht zu beobachten, und Gelegenheit gehabt hätten, diesen Zeugen Fragen zu stellen. Somit hätten sie die Möglichkeit gehabt, sich einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit dieser
Zeugen zu verschaffen. Nach der Aussage des Ermittlungsrichters habe es auch keine Anhaltspunkte dafür gegeben, dass die Zeugen bei ihrer Vernehmung im Ermittlungsverfahren nicht die Wahrheit gesagt oder versucht hätten, den
Beschwerdeführer übermäßig zu belasten.
47. Unter Berücksichtigung dieser Argumente und in der Erkenntnis, dass dem Tatgericht bewusst war, dass der Beweiswert der ermittlungsrichterlichen Aussage kritisch zu würdigen war, prüft der Gerichtshof nunmehr, ob die von
der Regierung angeführten Faktoren jeweils für sich allein oder in Verbindung miteinander eine hinreichende Kompensation des Nachteils waren, unter dem die Verteidigung zu leiden hatte, nachdem die ermittlungsrichterlichen
Angaben über die Aussagen der Zeugen im Vorverfahren als Beweismittel zugelassen worden waren.
48. Der Gerichtshof erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass dem Beschwerdeführer unter Verstoß gegen innerstaatliches Recht vor der Vernehmung der Zeugen durch den Ermittlungsrichter im Vorverfahren kein Verteidiger
bestellt wurde. Dem Beschwerdeführer wurde folglich eine Verfahrensgarantie vorenthalten, die im innerstaatlichen Recht nach Auslegung durch die innerstaatlichen Gerichte vorgesehen ist, um der Verteidigung Gelegenheit zu
geben, wichtigen Belastungszeugen im Vorverfahren Fragen zu stellen. Der Gerichtshof teilt die Auffassung der Regierung, dass dieser Verfahrensfehler im Ermittlungsstadium auch die Fairness des Hauptverfahrens berührt hat. Das
Vorbringen der Regierung, das Landgericht Coburg habe die damit verbundenen Einschränkungen für die Verteidigung im Verlauf der Hauptverhandlung hinreichend kompensiert, überzeugt den Gerichtshof hingegen nicht.
49. Was die vom Landgericht angeführten und von der Regierung in Bezug genommenen Beweismittel zur Bestätigung der Zeugenaussagen angeht, so weist der Gerichtshof erneut auf seine Feststellung hin, dass solche Beweismittel
die Behauptung, der Beschwerdeführer habe seine Schwester und seinen Bruder angegriffen, allenfalls mittelbar stützen und dass die Aussagen der Familienangehörigen des Beschwerdeführers die einzigen schlüssigen Beweise in
dieser Hinsicht sind.
50. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die Aussagen dieser Zeugen und die Umstände, unter denen sie gemacht wurden, teilweise widersprüchlich oder zumindest unstimmig waren. Er weist z. B. darauf hin, dass der Bruder, die
Mutter und die Schwester des Beschwerdeführers erst am 26. November 2003, nahezu drei Monate nach dem Geschehen, Strafanzeige gegen den Beschwerdeführer erstatteten. Es ist daher fraglich, ob Angaben, die an diesem Tag
oder danach gegenüber dem Polizeibeamten gemacht wurden, wie vom Tatgericht angenommen, noch als spontane Äußerungen angesehen werden können. Es überrascht auch nicht, dass die Zeugen nach diesem längeren Zeitraum, in
dem sie reichlich Gelegenheit hatten, ihre Erinnerungen an die Geschehnisse zu vergleichen, den angeblichen Angriff bei ihrer Vernehmung durch den Ermittlungsrichter in ähnlicher Weise und stimmig schilderten. In Bezug auf die
Verletzungen, die der Bruder des Beschwerdeführers erlitten hat, stellt der Gerichtshof fest, dass der Bruder selbst gegenüber dem Arzt, der ihn am 2. September 2003 im Krankenhaus behandelte und später in der Hauptverhandlung
gegen den Beschwerdeführer als Zeuge aussagte, angegeben hat, er sei in eine Glasscheibe gestürzt. Dieser Arzt hat bei seiner Vernehmung in der Hauptverhandlung die genannte Verletzungsursache zwar angezweifelt, aber es findet
sich in seiner Aussage nichts dazu, dass die Verletzungen grundsätzlich nicht Folge eines solchen Unfalls gewesen sein konnten oder dass sie tatsächlich durch die Axt, die das Tatwerkzeug gewesen sein soll, verursacht wurden. Der
Gerichtshof kann außerdem nicht umhin festzustellen, dass die Schwester ihren Bruder zwar zweifelsohne ins Krankenhaus gebracht hat, aber selbst nicht von einem Arzt untersucht wurde, und dass es für Verletzungen bei ihr, wie z.
B. Würgemale, keine Indizienbeweise gibt.
51. Diese Unstimmigkeiten, die das Landgericht in seinem Urteil vom 28. Februar 2005 nicht anspricht, konnten weder vom Beschwerdeführer noch vom Tatgericht durch Kreuzverhör der Zeugen geklärt werden. Außerdem waren
weder das Tatgericht noch die Staatsanwaltschaft oder der Beschuldigte bzw. sein Verteidiger in der Lage, das Auftreten der unmittelbaren Tatzeugen während der Vernehmung zu beobachten und sich einen eigenen Eindruck von
ihrer Redlichkeit und Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Das Vorbringen der Regierung, dass der Beschwerdeführer sowie dessen Verteidiger in der Lage gewesen seien, das Auftreten des Ermittlungsrichters sowie der genannten
Polizeibeamten und des Arztes bei deren Aussage vor Gericht zu beobachten, lässt der Gerichtshof zwar gelten, ist aber der Auffassung, dass diese Möglichkeit keine Kompensation für die mangelnde Gelegenheit darstellt, die
Richtigkeit und Verlässlichkeit der im vorliegenden Fall entscheidenden Beweismittel, nämlich der Zeugenaussagen im Vorverfahren, zu hinterfragen.
Der Gerichtshof ist ferner der Auffassung, dass kaum davon auszugehen ist, dass die ermittlungsrichterliche Beurteilung, die Zeugenaussagen aus dem Vorverfahren seien glaubhaft gewesen und es gebe keine Anhaltspunkte dafür,
dass sie versucht hätten, den Beschuldigten übermäßig zu belasten, die Möglichkeit der Verteidigung oder des Tatgerichts, die Zeugen in Anwesenheit zu befragen und sich selbst ein Urteil über deren Auftreten und
Vertrauenswürdigkeit zu bilden, angemessen ersetzen kann (siehe Van Mechelen u. a. ./. Niederlande, 23. April 1997, Rdnr. 62, Urteils- und Entscheidungssammlung 1997-III und Kostovski ./. Niederlande, 20. November 1989, Rdnr.
43, Serie A Bd. 166).
52. Nach alledem stellt der Gerichtshof daher fest, dass die Behörden keine angemessenen Verfahren eingeleitet haben, um die Schwierigkeiten zu kompensieren, denen sich die Verteidigung gegenübersah, und dass nicht erkennbar
ist, dass dem Beschwerdeführer eine hinreichende und angemessene Gelegenheit gegeben wurde, die einzigen unmittelbaren Belastungszeugen zu konfrontieren und zu befragen. Dies ist umso mehr anzunehmen, wenn man
berücksichtigt, dass der Beschwerdeführer wegen des epileptischen Anfalls, den er erlitten hatte, unbestritten selbst keine Erinnerung an die in Rede stehenden Geschehnisse hatte und daher nicht einmal in der Lage war, mit einer
Aussage dazu die Tatvorwürfe zu bestreiten. Der Gerichtshof erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass ein Angeklagter nicht in eine Lage gebracht werden darf, in der ihm eine konkrete Verteidigungsmöglichkeit effektiv
entzogen ist, weil er die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen nicht bestreiten kann (siehe T. ./. Vereinigtes Königreich [GK], a. a. O., Rdnr. 83 und Stanford ./. Vereinigtes Königreich, a. a. O., Rdnr. 26).
53. Der Gerichtshof ist daher der Auffassung, dass der entscheidende Stellenwert der Zeugenaussagen, die durch die ermittlungsrichterliche Aussage eingeführt wurden, ohne dass eindeutige bestätigende Beweisanzeichen vorlagen,
bedeutete, dass das Tatgericht in der vorliegenden Rechtssache keine faire und angemessene Einschätzung der Verlässlichkeit dieser Beweismittel vornehmen konnte. Bei der Prüfung der Fairness des Verfahrens insgesamt kommt der
Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass keine hinreichenden kompensierenden Faktoren gegeben waren, um die aus der Zulassung der ermittlungsrichterlichen Aussage resultierenden Schwierigkeiten der Verteidigung auszugleichen.
Der Gerichtshof stellt somit fest, dass Artikel 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 3 Buchstabe d der Konvention verletzt wurde. ...
54. Artikel 41 der Konvention lautet: ...
A. Schaden
55. Der Beschwerdeführer hat keine Entschädigung für materiellen Schaden geltend gemacht. Er trug vor, dass er mit seiner Individualbeschwerde eine neue Hauptverhandlung vor den innerstaatlichen Gerichten erreichen wolle, sollte
der Gerichtshof in der Zulassung der ermittlungsrichterlichen Aussage in der Hauptverhandlung vor dem Landgericht Coburg einen Konventionsverstoß sehen. Die Regierung hat sich zu dieser Frage nicht geäußert.
56. Der Gerichtshof spricht folglich keine Entschädigung für materiellen Schaden zu. Was die vom Beschwerdeführer als Ausgleich verlangte konkrete Maßnahme angeht, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass in Fällen wie dem
vorliegenden, in dem eine Person Opfer eines Verfahrens geworden ist, in dem gegen Artikel 6 der Konvention verstoßen wurde, eine neue Hauptverhandlung bzw. eine Wiederaufnahme des Verfahrens, sofern die betroffene Person
dies wünscht, grundsätzlich eine angemessene Möglichkeit der Wiedergutmachung der Konventionsverletzung darstellt (siehe Cudak ./. Litauen [GK], Individualbeschwerde Nr. 15869/02, Rdnr. 79, ECHR 2010 und Sejdovic ./.
Italien [GK], Individualbeschwerde Nr. 56581/00, Rdnr. 126, ECHR 2006-II).
57. Der Beschwerdeführer forderte 10.000 EUR für immateriellen Schaden. Die Regierung stellte die Frage in das Ermessen des Gerichtshofs.
58. Der Gerichtshof erkennt an, dass dem Beschwerdeführer durch die Nichtgewährung der nach Artikel 6 der Konvention garantierten Rechte ein immaterieller Schaden entstanden ist, der durch die bloße Feststellung einer
Verletzung nicht geheilt wird. Er entscheidet nach Billigkeit und spricht ihm unter dieser Rubrik 10.000 EUR zu.
B. Kosten und Auslagen
59. Der Beschwerdeführer, dem Prozesskostenhilfe gewährt worden war, machte Kosten und Auslagen für im Verfahren vor dem Gerichtshof entstandene Anwaltsgebühren in einer geschätzten Gesamthöhe von 6.000 EUR geltend.
Außerdem machte er vor den innerstaatlichen Gerichten entstandene Kosten und Auslagen in einer geschätzten Gesamthöhe von 15.000 EUR geltend. Für Kopien und Porto machte er einen weiteren Betrag in Höhe von ca. 30 bis 40
EUR geltend, ohne im Einzelnen darzulegen, zu welchen Teilen diese Gesamtsumme in den Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten bzw. vor dem Gerichtshof entstanden ist.
60. Die Regierung brachte vor, dass die in dem Verfahren vor dem Landgericht Coburg angefallenen Kosten und Auslagen nicht entstanden seien, um eine Verletzung der Konventionsrechte des Beschwerdeführers zu verhindern oder
ihr abzuhelfen. Außerdem seien die Kosten und Auslagen, die der Beschwerdeführer für die Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichte geltend mache, von ihm geschätzt und nicht konkret dargestellt worden. Die Entscheidung über
die Angemessenheit der Anwaltskosten, die der Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Gerichtshof geltend gemacht hat, stellte die Regierung dem Ermessen des Gerichtshofs anheim.
61. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur insoweit Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese tatsächlich und notwendigerweise entstanden und der Höhe
nach angemessen sind. In der vorliegenden Rechtssache hält es der Gerichtshof unter Berücksichtigung der ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und der oben genannten Kriterien für angemessen, 5.000 EUR für Kosten und
Auslagen in dem Verfahren vor dem Gerichtshof abzüglich 850 EUR Prozesskostenhilfe, die vom Europarat gewährt wurden, also insgesamt 4.150 EUR zuzüglich der dem Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuern zuzusprechen.
C. Verzugszinsen
62. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinssatzes den Spitzenrefinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Artikel 6 Abs. 1 in Verbindung mit Artikel 6 Abs. 3 Buchstabe d der Konvention ist verletzt worden.
2. a) Der beschwerdegegnerische Staat hat dem Beschwerdeführer binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig wird, folgende Beträge zu zahlen:
i) 10.000 EUR (zehntausend Euro) für immateriellen Schaden, zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern;
ii) 4.150 EUR (viertausendeinhundertfünfzig Euro) für Kosten und Auslagen, zuzüglich der dem Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuern;
b) nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten bis zur Auszahlung fallen für die obengenannten Beträge einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der
Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht.
3. Im Übrigen wird die Forderung des Beschwerdeführers nach gerechter Entschädigung zurückgewiesen. ..." (EGMR, Urteil vom 19.07.2012 - 26171/07 zu §§ 52 I 1 Nr 3, 140 I, 141 III, 168c II, 252 StPO)
***
„... SACHVERHALTBei den Beschwerdeführern handelt es sich um neun natürliche Personen, deren Personalien im Anhang aufgeführt sind. Die deutsche Regierung (‚die Regierung') wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigten,
Frau Ministerialdirigentin A. Wittling-Vogel, Herrn Ministerialrat H. J. Behrens und Frau Regierungsdirektorin K. Behr vom Bundesministerium der Justiz, vertreten. Die von den Parteien vorgebrachten Sachverhalte lassen sich wie
folgt zusammenfassen:
A. Die Umstände der Rechtssachen
Alle Individualbeschwerden betreffen die Dauer zivil- oder strafrechtlicher Verfahren, an denen die Beschwerdeführer beteiligt waren; diese reichte von über drei Jahren in einer Instanz bis zu fast 18 Jahren in vier Instanzen.
Am 7. Dezember 2011 teilte die Regierung dem Gerichtshof mit, dass ein Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, mit dem das Piloturteil in der Rechtssache R. ./.
Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 46344/06, 2. September 2010) umgesetzt werde, im Bundesgesetzblatt veröffentlicht und am 3. Dezember 2011 in Kraft getreten sei.
Im Dezember 2011 informierte der Gerichtshof die Beschwerdeführer in der vorliegenden Rechtssache über die gesetzliche Einführung des neuen Rechtsbehelfs und machte sie auf die Übergangsbestimmung des Rechtsschutzgesetzes
aufmerksam. Unter Bezugnahme auf die Rechtssache Brusco ./. Italien ((Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 69789/01, ECHR 2001-IX) bat der Gerichtshof die Beschwerdeführer, ihm mitzuteilen, ob sie beabsichtigten, innerhalb der
in der Übergangsvorschrift des Gesetzes festgelegten Frist von dem neuen Rechtsbehelf Gebrauch zu machen.Sieben Beschwerdeführer antworteten dem Gerichtshof dahingehend, dass sie von dem neuen Rechtsbehelf keinen
Gebrauch machen wollten, und zwei Beschwerdeführer ließen offen, ob sie von dem Rechtsbehelf Gebrauch machen würden.
B. Das einschlägige innerstaatliche Recht
Eine Beschreibung des einschlägigen innerstaatlichen Rechts ist den Entscheidungen T. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 53126/07, Rdnrn. 18-29, 29. Mai 2012, und G../. Deutschland (Entsch.),
Individualbeschwerde Nr. 19488/09, Rdnrn. 26-38, 29. Mai 2012, zu entnehmen.
RÜGEN
Unter Berufung auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention rügten die Beschwerdeführer die Dauer der innerstaatlichen Verfahren. Einige Beschwerdeführer rügten nach Artikel 13 der Konvention auch die mangelnde Verfügbarkeit eines
diesbezüglichen wirksamen Rechtsbehelfs.Zusätzlich erhoben einige Beschwerdeführer verschiedene andere Rügen bezüglich derselben Verfahrenskomplexe.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
Angesichts des ähnlichen Gegenstands der Individualbeschwerden hält es der Gerichtshof für angemessen, diese zu verbinden.
A. Rügen nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention hinsichtlich der Verfahrensdauer
Nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention rügten die Beschwerdeführer die Dauer der zivil- oder strafrechtlichen Verfahren. Die genannte Vorschrift hat folgenden Wortlaut:
‚Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem ... Gericht ... innerhalb angemessener
Frist verhandelt wird.'
In T. ./. Deutschland ((Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 53126/07, Rdnrn. 40ff, 29. Mai 2012) - einer Rechtssache, bei der der Beschwerdeführer wie die Beschwerdeführer in dem hier vorliegenden Verfahren erklärte, von dem
neuen innerstaatlichen Rechtsbehelf keinen Gebrauch machen zu wollen - stellte der Gerichtshof fest:
‚40. [Das Gericht erkennt an], dass das Rechtsschutzgesetz verabschiedet wurde, um das Problem der überlangen Dauer innerstaatlicher Verfahren in wirksamer und sinnvoller Weise unter Berücksichtigung der Anforderungen der
Konvention anzugehen. Es trifft zu, dass die innerstaatlichen Gerichte nicht in der Lage gewesen sind, in den wenigen Monaten seit seinem Inkrafttreten eine Rechtsprechung zu entwickeln. Der Gerichtshof sieht zu diesem
Zeitpunkt jedoch keinen Grund für die Annahme, der neue Rechtsbehelf werde dem Beschwerdeführer nicht die Möglichkeit bieten, angemessene und hinreichende Entschädigung für seine berechtigten Klagen zu
erhalten, oder ihm keine hinreichende Erfolgssaussichten bieten. Bloße Zweifel daran, dass mit dem neuen Rechtsbehelf eine angemessene Entschädigung erwirkt werden kann, können an der Schlussfolgerung des
Gerichtshofs nichts ändern.
41. Darüber hinaus weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass die Staaten im Hinblick darauf, wie der innerstaatliche Rechtsbehelf bezüglich der Erfordernis der ‚angemessenen Frist' ausgestaltet werden soll, einen gewissen
Beurteilungsspielraum genießen (siehe Scordino ./. Italien (Nr. 1) [GK], Individualbeschwerde Nr. 36813/97, Rdnrn. 188- 189, ECHR 2006-V, Fakhretdinov u. a. ./. Russland, a.a.O., und Žunic( ./. Slowenien (Entsch.),
Individualbeschwerde Nr. 24342/04, 18. Oktober 2007). Daher hält der Gerichtshof es nicht für angemessen, zu diesem Zeitpunkt, zu dem er keinen Grund zu der Annahme hat, dass das Rechtsschutzgesetz die Zwecke, zu
denen es geschaffen wurde, nicht erfüllen wird, jede einzelne Bestimmung des Rechtsschutzgesetzes abstrakt zu prüfen.
42. Schließlich lässt der Gerichtshof nicht außer Acht, dass der neue Rechtsbehelf erst verfügbar wurde, nachdem die vorliegende Individualbeschwerde erhoben worden war, und dass nur außergewöhnliche Umstände
den Beschwerdeführer zwingen können, von einem solchen Rechtsbehelf Gebrauch zu machen (siehe Rdnr. 36). Er stellt fest, dass in mehreren die Verfahrensdauer betreffenden Fällen festgestellt wurde, dass solche
außergewöhnlichen Umstände vorlagen (see Brusco ./. Italien, a.a.O.; Nogolica ./. Kroatien, a.a.O.; Andrášik u. a. ./. Slowakei (Entsch.), Individualbeschwerden Nrn. 57984/00 et al., ECHR 2002-IX; Michalak ./. Polen (Entsch.),
Individualbeschwerde Nr. 24549/03, Rdnrn. 41-43, 1. März 2005; and Korenjak ./. Slowenien, Individualbeschwerde Nr. 463/03, Rdnrn. 63-71, 15. Mai 2007, Fakhretdinov u. a. ./. Russland, a.a.O.). Der Gerichtshof betont, dass die
Art des Rechtsmittels und der Zusammenhang, in dem es eingeführt wurde, bei seiner Beurteilung, ob eine solche Ausnahme vorliegt, eine gewichtige Rolle spielt (siehe Scordino (Nr. 1), a.a.O., Rdnr. 144).
43. Wie in den oben erwähnten Fällen hält der Gerichtshof es auch unter den Umständen des vorliegenden Falles für angemessen und gerechtfertigt, den Beschwerdeführer zu verpflichten, von dem durch das Rechtsschutzgesetz
eingeführten neuen innerstaatlichen Rechtsbehelf Gebrauch zu machen. Erstens wäre, wie er in der Rechtssache Kud?a ./. Polen ([GK], Individualbeschwerde Nr. 30210/96, Rdnr. 152, ECHR 2000-XI) festgestellt hat, das Recht
auf Verhandlung innerhalb angemessener Frist weniger effektiv, wenn es nicht die Möglichkeit gäbe, Ansprüche nach der Konvention zunächst einer nationalen Behörde vorzulegen. Ist ein innerstaatlicher kompensatorischer
Rechtsbehelf eingeführt worden, wird es besonders wichtig, dass solche Beschwerden an erster Stelle und ohne Verzögerung von den nationalen Behörden geprüft werden, die besser in der Lage und besser gerüstet sind, den
entscheidungserheblichen Sachverhalt festzustellen und die finanzielle Entschädigung zu berechnen (siehe sinngemäß Demopoulos u. a. (Entsch.) [GK], a.a.O., Rdnr. 69). Zweitens misst der Gerichtshof der Tatsache besondere
Bedeutung bei, dass der Beschwerdeführer berechtigt ist, seine Ansprüche gemäß den Übergangsbestimmungen des Rechtsschutzgesetzes vor den innerstaatlichen Gerichten geltend zu machen, was den Willen des deutschen
Gesetzgebers widerspiegelt, den Personen, die bereits vor Inkrafttreten des Rechtsschutzgesetzes Beschwerde vor dem Gerichtshof erhoben hatten, auf innerstaatlicher Ebene Wiedergutmachung zu leisten (vgl. Brusco,
a.a.O.). Er weist erneut darauf hin, dass er seine in Artikel 19 der Konvention definierte Aufgabe weder dadurch, dass er an Stelle der innerstaatlichen Gerichte in diesen Fällen ein Urteil fällt, noch dadurch, dass er sie parallel zu dem
innerstaatlichen Verfahren prüft, optimal erfüllen würde (siehe sinngemäß E.G. ./. Polen (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 50425/99, Rdnr. 27, 23. September 2008). Darüber hinaus hält der Gerichtshof es nicht für
unzumutbar, den Beschwerdeführer an die innerstaatlichen Gerichte zu verweisen, da das Rechtsschutzgesetz lediglich ein Verfahren in zwei Instanzen vorsieht.
44. Aus Gründen der Fairness und Effizienz sieht der Gerichtshof keine Notwendigkeit, bei ihm anhängige Verfahren anders zu behandeln und nur bei nach dem Piloturteil eingelegten Individualbeschwerden von den
Beschwerdeführern zu verlangen, von diesem neuen Rechtsbehelf Gebrauch zu machen (R., a.a.O.). Nach dem Urteil in der Rechtssache S. ./. Deutschland ([GK], Individualbeschwerde Nr. 75529/01, ECHR 2006-VII, 8. Juni 2006)
war klar geworden, dass die bestehenden Rechtsvorschriften in Deutschland nicht ausreichten, um Verfahren zu beschleunigen und eine Entschädigung für überlange Verfahren zu gewährleisten. Seither hat der deutsche Gesetzgeber
auf verschiedene Weise versucht, die Anforderungen der Konvention zu erfüllen, was schließlich zu dem oben erwähnten Rechtsschutzgesetz führte.
45. Die Position des Gerichtshofs kann jedoch in der Zukunft der Überprüfung unterliegen, was insbesondere von der Fähigkeit der innerstaatlichen Gerichte abhängen wird, im Hinblick auf das Rechtsschutzgesetz eine
konsistente und den Erfordernissen der Konvention entsprechende Rechtsprechung zu etablieren. Darüber hinaus wird die Beweislast hinsichtlich der Wirksamkeit des neuen Rechtsbehelfs in der Praxis bei der
beschwerdegegnerischen Regierung liegen.
46. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer nach Artikel 35 Abs. 1 der Konvention verpflichtet ist, durch Fortführung des innerstaatlichen Verfahrens von
dem neuen innerstaatlichen Rechtsbehelf Gebrauch zu machen.'
In den vorliegenden Fällen sieht der Gerichtshof keinen Grund, zu einer anderen Schlussfolgerung zu kommen.
Daraus folgt, dass diese Rüge nach Artikel 35 Abs. 1 und 4 der Konvention wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs zurückzuweisen ist.
B. Rüge nach Artikel 13 hinsichtlich des Fehlens eines wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelfs
Da die nach Artikel 6 erhobene Rüge der Beschwerdeführer wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe zurückgewiesen worden ist, ist die damit im Zusammenhang stehende Rüge nach Artikel 13 offensichtlich
unbegründet und muss nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und 4 der Konvention zurückgewiesen werden.
C. Weitere Rügen
Unter Bezugnahme auf andere Artikel der Konvention und ihrer Protokolle rügten die Beschwerdeführer weitere Aspekte im Zusammenhang mit den oben genannten Verfahren.
Unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und soweit die Rügen unter seine Zuständigkeit fallen, stellt der Gerichtshof fest, dass es diesbezüglich keine Anzeichen für eine Verletzung der in diesen
Bestimmungen bezeichneten Rechte und Freiheiten gibt. Daraus folgt, dass dieser Teil der Individualbeschwerden nach Artikel 35 Abs. 1, 3 Buchstabe a und 4 der Konvention als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen ist.
Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof einstimmig, die Individualbeschwerden zu verbinden und für unzulässig zu erklären. ..." (EGMR, Entscheidung vom 10.07.2012 - 23056/09)
***
„... SACHVERHALT
Bei den Beschwerdeführern handelt es sich um dreizehn natürliche Personen und eine juristische Person; nähere Angaben zu ihnen sind im Anhang aufgeführt.
Die deutsche Regierung („die Regierung") wird durch ihre Verfahrensbevollmächtigten, Frau Ministerialdirigentin A. Wittling-Vogel, Herrn Ministerialrat H. J. Behrens und Frau Regierungsdirektorin K. Behr vom Bundesministerium
der Justiz, vertreten.
Die von den Parteien vorgebrachten Sachverhalte lassen sich wie folgt zusammenfassen.
A. Die Umstände der Rechtssachen
Alle Individualbeschwerden betreffen die Dauer zivil- oder strafrechtlicher Verfahren, an denen die Beschwerdeführer beteiligt waren; diese reichte von über drei Jahren in einer Instanz bis zu fast 14 Jahren in zwei Instanzen.
Am 7. Dezember 2011 teilte die Regierung dem Gerichtshof mit, dass ein Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, mit dem das Piloturteil in der Rechtssache R. ./.
Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 46344/06, 2. September 2010) umgesetzt werde, im Bundesgesetzblatt veröffentlicht und am 3. Dezember 2011 in Kraft getreten sei.
Im Dezember 2011 informierte der Gerichtshof die Beschwerdeführer in der vorliegenden Rechtssache über die gesetzliche Einführung des neuen Rechtsbehelfs und machte sie auf die Übergangsbestimmung des Gesetzes
aufmerksam. Unter Bezugnahme auf die Rechtssache Brusco ./. Italien ((Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 69789/01, ECHR 2001-IX) bat der Gerichtshof die Beschwerdeführer, ihm mitzuteilen, ob sie beabsichtigten, innerhalb der
in der Übergangsvorschrift des Gesetzes festgelegten Frist von dem neuen Rechtsbehelf Gebrauch zu machen.
Die Beschwerdeführer antworteten dem Gerichtshof dahingehend, dass sie beabsichtigten, von dem neuen Rechtsbehelf Gebrauch machen zu wollen, baten aber dennoch, ihre Beschwerden vor dem Gerichtshof aufrechtzuerhalten.
B. Das einschlägige innerstaatliche Recht
Eine Beschreibung des einschlägigen innerstaatlichen Rechts ist den Entscheidungen T. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 53126/07, Rdnrn. 18-29, 29. Mai 2012, und G. ./. Deutschland (Entsch.),
Individualbeschwerde Nr. 19488/09, Rdnrn. 26-38, 29. Mai 2012, zu entnehmen.
RÜGEN
Unter Berufung auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention rügten die Beschwerdeführer die Dauer der innerstaatlichen Verfahren. Einige Beschwerdeführer rügten nach Artikel 13 der Konvention auch die mangelnde Verfügbarkeit eines
diesbezüglichen wirksamen Rechtsbehelfs. Zusätzlich erhoben einige Beschwerdeführer verschiedene andere Rügen bezüglich derselben Verfahrenskomplexe.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
Angesichts des ähnlichen Gegenstands der Individualbeschwerden hält es der Gerichtshof für angemessen, diese zu verbinden.
A. Rügen nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention hinsichtlich der Verfahrensdauer
Nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention rügten die Beschwerdeführer die Dauer der zivil- oder strafrechtlichen Verfahren. Die genannte Vorschrift hat folgenden Wortlaut:
„Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem ... Gericht ... innerhalb angemessener
Frist verhandelt wird."
In G. ./. Deutschland ((Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 19488/07, Rdnrn. 46ff, 29. Mai 2012) - einer Rechtssache, bei der der Beschwerdeführer wie die Beschwerdeführer in dem hier vorliegenden Verfahren erklärte, von dem
neuen innerstaatlichen Rechtsbehelf Gebrauch machen zu wollen - stellte der Gerichtshof fest:
„46. Das Gericht sieht keinen Grund, daran zu zweifeln, dass der Beschwerdeführer berechtigt ist, bei dem zuständigen innerstaatlichen Gericht einen Entschädigungsanspruch gemäß Artikel 23 des Rechtsschutzgesetzes geltend zu
machen. (...)
47. In Anbetracht dieses Merkmals erkennt das Gericht an, dass das Rechtsschutzgesetz verabschiedet wurde, um das Problem der überlangen Dauer innerstaatlicher Verfahren in wirksamer und sinnvoller Weise unter
Berücksichtigung der Anforderungen der Konvention anzugehen. Der Gerichtshof sieht zu diesem Zeitpunkt keinen Grund für die Annahme, der neue Rechtsbehelf werde dem Beschwerdeführer nicht die Möglichkeit bieten,
angemessene und hinreichende Entschädigung für seine berechtigten Klagen zu erhalten, oder ihm keine hinreichende Erfolgssaussichten bieten.
48. Die Position des Gerichtshofs kann in der Zukunft der Überprüfung unterliegen, was von der Fähigkeit der innerstaatlichen Gerichte abhängen wird, im Hinblick auf das Rechtsschutzgesetz eine konsistente und den Erfordernissen
der Konvention entsprechende Rechtsprechung zu etablieren (siehe Korenjak, a.a.O., Rdnr. 73)
49. Daher stellt der Gerichtshof fest, dass die Rüge des Beschwerdeführers verfrüht ist."
In den vorliegenden Fällen sieht der Gerichtshof keinen Grund, zu einer anderen Schlussfolgerung zu gelangen. Er stellt daher fest, dass die Rügen der Beschwerdeführer verfrüht sind.
Daraus folgt, dass diese Rüge nach Artikel 35 Abs. 1 und 4 der Konvention wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs zurückzuweisen ist.
B. Rüge nach Artikel 13 hinsichtlich des Fehlens eines wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelfs
Da die nach Artikel 6 erhobene Rüge der Beschwerdeführer wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe zurückgewiesen worden ist, ist die damit im Zusammenhang stehende Rüge nach Artikel 13 offensichtlich
unbegründet und muss nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und 4 der Konvention zurückgewiesen werden.
C. Weitere Rügen
Unter Bezugnahme auf andere Artikel der Konvention und ihrer Protokolle rügten die Beschwerdeführer weitere Aspekte im Zusammenhang mit den oben genannten Verfahren.
Unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und soweit die Rügen unter seine Zuständigkeit fallen, stellt der Gerichtshof fest, dass es diesbezüglich keine Anzeichen für eine Verletzung der in diesen
Bestimmungen bezeichneten Rechte und Freiheiten gibt. Daraus folgt, dass dieser Teil der Individualbeschwerden nach Artikel 35 Abs. 1, 3 Buchstabe a und 4 der Konvention als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen ist.
Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof einstimmig, die Individualbeschwerden zu verbinden und für unzulässig zu erklären. ..." (EGMR, Entscheidung vom 10.07.2012 - 27366/07)
***
„... II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT UND EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS
A. Die Strafprozessordnung (StPO)
18. Die maßgeblichen Bestimmungen:
§ 44
„War jemand ohne Verschulden verhindert, eine Frist einzuhalten, so ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. ..."
§ 45
„(1) Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist binnen einer Woche nach Wegfall des Hindernisses bei dem Gericht zu stellen, bei dem die Frist wahrzunehmen gewesen wäre. Zur Wahrung der Frist genügt es, wenn
der Antrag rechtzeitig bei dem Gericht gestellt wird, das über den Antrag entscheidet.
..."
§ 257c
„(1) Das Gericht kann sich in geeigneten Fällen mit den Verfahrensbeteiligten nach Maßgabe der folgenden Absätze über den weiteren Fortgang und das Ergebnis des Verfahrens verständigen. … ...
(2) Gegenstand dieser Verständigung dürfen nur die Rechtsfolgen sein, die Inhalt des Urteils und der dazugehörigen Beschlüsse sein können, sonstige verfahrensbezogene Maßnahmen im zugrundeliegenden Erkenntnisverfahren sowie
das Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten. Der Schuldspruch sowie Maßregeln der Besserung und Sicherung dürfen nicht Gegenstand einer Verständigung sein.
(3) Das Gericht gibt bekannt, welchen Inhalt die Verständigung haben könnte. Es kann dabei […] auch eine Ober- und Untergrenze der Strafe angeben.
..."
§ 302 (alte Fassung)
„(1)" Die Zurücknahme eines Rechtsmittels sowie der Verzicht auf die Einlegung eines Rechtsmittels können auch vor Ablauf der Frist zu seiner Einlegung wirksam erfolgen. ...
(2) Der Verteidiger bedarf zur Zurücknahme einer ausdrücklichen Ermächtigung."
§ 302 (neue Fassung)
„(1) Die Zurücknahme eines Rechtsmittels sowie der Verzicht auf die Einlegung eines Rechtsmittels können auch vor Ablauf der Frist zu seiner Einlegung wirksam erfolgen. Ist dem Urteil eine Verständigung (§ 257c)
vorausgegangen, ist ein Verzicht ausgeschlossen. ...
(2) Der Verteidiger bedarf zur Zurücknahme einer ausdrücklichen Ermächtigung."
§ 341
Die Revision muss bei dem Gericht, dessen Urteil angefochten wird, binnen einer Woche nach Verkündung des Urteils zu Protokoll der Geschäftsstelle oder schriftlich eingelegt werden.
B. Unterschiedliche Rechtsprechung der verschiedenen Strafsenate des Bundesgerichtshofs zum Zeitpunkt des Urteils in der vorliegenden Rechtssache
19. Die Strafsenate des Bundesgerichtshofs waren sich stets einig darüber, dass verfahrensbeendende Absprachen nicht per se unzulässig seien. Es wurde auch akzeptiert, dass im Rahmen einer solchen Absprache nicht über einen
Rechtsmittelverzicht verhandelt werden sollte und ein derartiger Verzicht für den Angeklagten rechtlich nicht bindend ist. Allerdings vertraten die Strafsenate unterschiedliche Ansichten hinsichtlich der Rechtsfolgen, die sich ergeben,
wenn ein Angeklagter den Verzicht trotzdem versprochen und erklärt hat, ihn vor dem erkennenden Gericht auszusprechen.
Der 1. und der 2. Strafsenat waren der Auffassung, ein Rechtsmittelverzicht sei nicht unwirksam, nur weil er - wenn auch unzulässigerweise - Bestandteil einer Absprache zwischen dem Gericht, der Staatsanwaltschaft und der
Verteidigung gewesen sei. Er sei vielmehr nur dann unwirksam, wenn der Verfahrensmangel zu einer unzulässigen Beeinflussung zum Zeitpunkt der Verzichtserklärung geführt habe.
Der 3., 4. und seit 2003 der 5. Strafsenat vertraten die Ansicht, ein Rechtsmittelverzicht, der Bestandteil einer verfahrensbeendenden Absprache gewesen sei, sei immer unwirksam. Sie waren der Auffassung, ein vor Urteilsverkündung
abgegebenes Versprechen eines Rechtsmittelsverzichts stelle, wenn es auch nicht rechtlich bindend sei, immer eine unzulässige Willensbeeinflussung des Angeklagten dar.
C. Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs
20. In seiner Leitsatzentscheidung vom 3. März 2005 legte der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs die Grundsätze für die Wirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts im Rahmen von verfahrensbeendenden Absprachen
fest (Az. GSSt 1/04). Er war der Ansicht, dass Absprachen, in denen die Strafgerichte als Gegenleistung dafür, dass der Angeklagte hinsichtlich (eines Teils) der ihm vorgeworfenen Straftaten ein Geständnis ablege, eine verbindliche
Zusage zur Strafobergrenze träfen, unter bestimmten Bedingungen mit der Strafprozessordnung und dem Grundgesetz vereinbar seien.
21. Insbesondere seien alle Verfahrensbeteiligten (d.h. Richter und Schöffen, die Staatsanwaltschaft, der Verteidiger und der Angeklagte) in die Verständigung einzubeziehen; das Ergebnis der Absprache sei in der Verhandlung
offenzulegen und im Protokoll der Hauptverhandlung festzuhalten. Ein gemäß der Absprache abgelegtes Geständnis des Angeklagten sei auf seine Glaubhaftigkeit hin zu überprüfen. Die Absprache dürfe nicht die rechtliche
Würdigung der dem Angeklagten vorgeworfenen Straftaten zum Gegenstand haben. Die vom Gericht vorgeschlagene Strafe müsse noch schuldangemessen sein, und die Strafe, die dem Gericht zufolge für den Fall, dass kein
Geständnis abgegeben werde, erwartet werden könne, dürfe nicht unverhältnismäßig schwer sein, damit der Angeklagte nicht einem unzulässigen Druck ausgesetzt werde, ein Geständnis abzulegen. Das Gericht dürfe ausschließlich
eine Strafobergrenze, nicht aber eine konkrete Strafhöhe, versprechen und dürfe diese nur überschreiten, wenn relevante tatsächliche oder rechtliche Aspekte übersehen worden seien und das Gericht den Angeklagten zuvor in der
Hauptverhandlung auf seine Absicht hingewiesen habe, eine höhere Strafe festzusetzen. Der Bundesgerichtshof stellte fest, dass angesichts der hohen Arbeitsbelastung der Gerichte eine funktionstüchtige Strafjustiz und die
Vermeidung von Verfahrensverzögerungen nicht möglich wären, wenn den Gerichten solche Absprachen untersagt wären.
22. Der Bundesgerichtshof stellte weiterhin fest, dass solche Absprachen in der Vergangenheit oft das Versprechen des Angeklagten, auf Rechtsmittel gegen das Urteil zu verzichten, oder zumindest die Anregung des
Rechtsmittelverzichts durch das Gericht, beinhaltet hätten. Die Strafgerichte seien jedoch nicht befugt, im Rahmen solcher Absprachen einen Rechtsmittelverzicht zu vereinbaren. Eine verfahrensbeendende Absprache dürfe die
effektive Überprüfung der fachgerichtlichen Urteile durch die Revisionsgerichte nicht verhindern. Nach Verkündung eines Urteils, dem eine Absprache vorausgegangen sei, müsse das Gericht - unabhängig davon, ob ein
Rechtsmittelverzicht vereinbart oder erörtert worden sei - den Angeklagten daher nicht nur über seine Rechtsmittel, sondern auch darüber belehren, dass es ihm unbeschadet der Absprache frei stehe, Rechtsmittel einzulegen (so
genannte qualifizierte Belehrung). Unterbleibe eine solche qualifizierte Belehrung, sei der Rechtsmittelverzicht des Angeklagten unwirksam.
23. Diese Leitsätze des Bundesgerichtshofs haben mittlerweile Eingang in §§ 257c und 302 StPO (siehe Rdnr. 18, oben) gefunden.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. RÜGE DER EINSCHRÄNKUNG DES ZUGANGS ZU DEN RECHTSMITTELGERICHTEN.
24. Der Beschwerdeführer rügte, dass sein Recht auf Zugang zu den Rechtsmittelgerichten infolge des - angeblich unwirksamen - Rechtsmittelverzichts eingeschränkt gewesen sei. Er berief sich auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention,
der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:
„Jede Person hat ein Recht darauf, dass ... über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem ... Gericht in einem fairen Verfahren ... verhandelt wird."
25. Die Regierung bestritt dieses Vorbringen.
A. Zulässigkeit
1. Die Vorbringen der Regierung
26. Nach Auffassung der Regierung ist die Beschwerde unzulässig, weil die Sechsmonatsfrist versäumt worden sei (Artikel 35 Abs. 1 der Konvention). Die Sechsmonatsfrist, von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an
gerechnet, habe am 4. Juni 2004 geendet. Demnach wäre die Beschwerde fristgerecht erhoben worden, wenn das Datum auf dem Beschwerdeformular vom 14. Mai 2004 akzeptiert würde. Die Regierung merkte jedoch an, dass laut
Sachverhaltsdarstellung des Gerichtshofs die Einreichung der Individualbeschwerde auf den 12. Juli 2006 datiert. Sollte die Diskrepanz zwischen dem Datum des Beschwerdeformulars und der Datumsangabe in der
Sachverhaltsdarstellung auf einer Nachlässigkeit des Beschwerdeführers beruhen, sei davon auszugehen, dass dieser die Frist versäumt hat.
27. Die Regierung vertrat ferner die Auffassung, dass der Beschwerdeführer den innerstaatlichen Rechtsweg im Sinne des Artikels 35 Abs. 1 der Konvention nicht erschöpft habe. Unter Berufung auf die Rechtsprechung des
Gerichtshofs, insbesondere in der Rechtssache F. ./. Deutschland (Entscheidung), Individualbeschwerde Nr. 50215/99, 9. Februar 2006, trug die Regierung vor, dass die vorliegende Beschwerde unzulässig sei, weil der
Beschwerdeführer innerhalb der maßgeblichen gesetzlichen Frist weder Revision eingelegt noch den Wiedereinsetzungsantrag gestellt habe.
2. Die Vorbringen des Beschwerdeführers
28. Der Beschwerdeführer wies diese Argumente zurück. Er trug vor, er habe seine Beschwerde dem Gerichtshof auf dem Postweg fristgerecht übersandt und ihm alle erforderlichen Unterlagen am 6. August 2004 übermittelt.
29. Er sei auch daran gehindert worden, innerhalb der gesetzlichen Frist Revision einzulegen, weil sein früherer Bevollmächtigter ihm wider besseren Wissens immer wieder mitgeteilt habe, dass ein Recht auf Rechtsmitteleinlegung
nicht gegeben sei. Darüber hinaus sei er von dem erkennenden Gericht absichtlich getäuscht worden. Er habe erst am 10. April 2001 über seinen neuen Bevollmächtigten erfahren, dass der Rechtsmittelverzicht unwirksam gewesen sei.
3. Würdigung durch den Gerichtshof
30. Der Gerichtshof stellt fest, dass die endgültige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts dem Bevollmächtigten des Beschwerdeführers am 4. Dezember 2003 zugestellt wurde. Der Beschwerdeführer reichte das
Beschwerdeformular am 14. Mai 2004 und somit innerhalb der Sechsmonatsfrist ein. Darüber hinaus legte er alle von dem Gerichtshof am 6. August 2006 erbetenen Unterlagen vor; dies wird durch den Eingansstempel des
Gerichtshofs belegt. Folglich ist diese Beschwerde nicht wegen Erhebung außerhalb der Sechsmonatsfrist unzulässig.
31. Mit Blick auf den Einwand der Regierung in Bezug auf die Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs stellt der Gerichtshof fest, dass der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss vom 11. Juni 2001 die Revision des
Beschwerdeführers nicht verworfen hat, weil die gesetzlich vorgesehene Frist versäumt worden war, sondern weil das Urteil infolge des Rechtsmittelverzichts des Beschwerdeführers in Rechtskraft erwachsen war. Aus denselben
Gründen wies der Bundesgerichtshof den Antrag des Beschwerdeführers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurück. Der Beschwerdeführer stellte diese Feststellungen vor dem Bundesverfassungsgericht in Frage und machte
geltend, dass der Rechtsmittelverzicht unwirksam gewesen sei. In seiner Beschwerde zum Gerichtshof erhob der Beschwerdeführer dieselbe Rüge nach Artikel 6 der Konvention. Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass der
Beschwerdeführer den innerstaatlichen Rechtsweg insoweit nicht erschöpft hat.
32. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass diese Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a der Konvention offensichtlich unbegründet und auch aus anderen Gründen nicht unzulässig ist. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Die Vorbringen des Beschwerdeführers
33. Der Beschwerdeführer trug vor, das erkennende Gericht habe unzulässigen Druck auf ihn ausgeübt, um ihn zum Rechtsmittelverzicht zu bewegen. Das Gericht habe insbesondere erklärt, es werde ihn zu einer Freiheitsstrafe von
vierzehn Jahren verurteilen, wenn er sich nicht an die Absprache halte, nach der ein Rechtsmittelverzicht vereinbart worden sei. Die zwischen ihm, der Staatsanwaltschaft und dem Landgericht getroffene Absprache sei unwirksam
gewesen, da sie nicht den Erfordernissen der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entsprochen habe. Sie habe unter anderem gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit des Verfahrens verstoßen, weil sie außerhalb der
Hauptverhandlung getroffen, ihr Inhalt nicht vor Gericht verlesen und sie nicht im Protokoll der Hauptverhandlung festgehalten worden sei. Mit Bezug auf zahlreiche Unterlagen, die in dem nach Beendigung des maßgeblichen
Strafverfahrens angestrengten Verfahren vorgelegt worden waren, machte der Beschwerdeführer geltend, dass die Staatsanwaltschaft an den Absprache-verhandlungen teilgenommen habe und die Einlassungen der Regierung zu den
geführten Verhandlungen widersprüchlich seien.
34. Diese Absprache sei unwirksam. Der Beschwerdeführer habe kein Geständnis ablegen und seine Verurteilung nicht anerkennen wollen, sondern habe nur reagiert, weil ihm eine Freiheitsstrafe von vierzehn Jahren angedroht
worden sei. Er habe erst mit seinem Bevollmächtigten sprechen können, nachdem dieser den Rechtsmittelverzicht des Beschwerdeführers erklärt hatte. Das Landgericht und die Staatsanwaltschaft hätten den Beschwerdeführer
hinsichtlich der rechtlichen Wirkungen des Verzichts auf die beschlagnahmten Vermögenswerte absichtlich getäuscht. Überdies habe der Verteidiger des Beschwerdeführers nicht auf die Rechte von dessen Ehefrau an den
beschlagnahmten Vermögenswerten verzichten dürfen. Der Verzicht auf die Vermögenswerte sei unverhältnismäßig gewesen, weil der Wert der beschlagnahmten Gegenstände über dem von dem Beschwerdeführer angeblich
verursachten Schaden lag. Entgegen der Zusicherungen der Staatsanwaltschaft seien die Vermögenswerte nicht für die Wiedergutmachung des verursachten Schadens sondern zur Deckung der Verfahrenskosten verwendet worden.
2. Die Vorbringen der Regierung
35. Die Regierung bestritt diese Vorbringen. Gemäß den Ausführungen der zuständigen Richter des Landgerichts habe der Bevollmächtigte des Beschwerdeführers angeboten, dass der Beschwerdeführer und seine Ehefrau auf die
beschlagnahmten Gegenstände verzichteten, wenn im Gegenzug dazu eine Freiheitsstrafe von weniger als zehn Jahren verhängt werde. In einer 2010 abgegebenen Stellungnahme erklärten die Richter, dass sie sich nicht an die
Aushandlung eines Rechtsmittelverzichts erinnern könnten. Das Landgericht habe nicht die Absicht bekundet, den Beschwerdeführer zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jahren zu verurteilen, wenn er keine Absprache treffe. Überdies
hätten sie die Behauptung zurückgewiesen, dass die Absprache einen Verzicht des Beschwerdeführers auf die Fortführung der Beweisaufnahme beinhaltet habe. Jedenfalls hat der Beschwerdeführer laut Vorbringen der Regierung
diese Punkte nicht in seiner Verfassungsbeschwerde gerügt.
36. Die Regierung ist der Auffassung, dass der Beschwerdeführer den Rechtsmittel-verzicht in freier Willensentschließung erklärt habe. Nach der Urteilsverkündung und vor der Erklärung des Rechtsmittelverzichts sei der
Beschwerdeführer ausdrücklich über sein Recht zur Rechtsmitteleinlegung belehrt worden. Er habe somit selbst bestimmen können, ob er Rechtsmittel einlegen wollte. Es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass das Gericht
unzulässigen Druck auf den Beschwerdeführer ausgeübt, ihn getäuscht oder bewusst irregeführt habe. Aus der Tatsache dass der Bundesgerichtshof und der Gesetzgeber die Bestimmungen zur Rechtsgültigkeit eines
Rechtsmittelverzichts in Strafverfahren, dem eine Absprache vorausgegangen ist, zu einem späteren Zeitpunkt geändert hätten, könne nicht abgeleitet werden, dass der Beschwerdeführer durch die frühere Praxis in seinen Rechten aus
der Konvention verletzt worden sei.
3. Würdigung durch den Gerichtshof
37. Gestützt auf die sich aus seiner Rechtsprechung ergebenden Grundsätze (siehe Rechtssachen T. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 16771/06, 23. März 2010; Transado-Transportes Fluviais Do Sado S.A. ./.
Portugal (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 35943/02, EGMR 2003-XII; Pfeifer und Plankl ./. Österreich, 25. Februar 1992, Serie A Bd. 227; und Z. L. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 59624/00, EGMR
2005-XIII) weist der Gerichtshofs erneut darauf hin, dass der Verzicht auf ein Verfahrensrecht - soweit er nach der Konvention zulässig ist - auf eindeutige Weise erfolgt sein muss. Damit ein derartiger Verzicht im Sinne der
Konvention wirksam ist, müssen darüber hinaus seiner Bedeutung angemessene Mindestgarantien erfüllt sein. Der Gerichtshof ist überdies der Auffassung, dass ein Rechtsmittelverzicht grundsätzlich zulässig ist, wenn die
vorgenannten Grundsätze eingehalten werden.
38. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass offenbar gemeinsames Merkmal der europäischen Strafrechtspflege ist, dass einem Angeklagten als Gegenleistung für ein Geständnis vor der Hauptverhandlung oder substantielle
Zusammenarbeit mit der Polizei oder Staatsanwaltschaft Strafmilderung gewährt wird (für Beispiele aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs siehe Bezugnahmen in den Rechtssachen Babar Ahmad u. a. ./. Vereinigtes Königreich
(Entsch.), Individualbeschwerden Nrn. 24027/07, 119494/08 und 36742/08, Rdnr. 168, 6. Juli 2010). Der Gerichtshof hat bereits erkannt, dass an diesem Verfahren nichts Unrechtmäßiges oder Unzulässiges erkennbar ist, das für sich
genommen eine Frage nach der Konvention aufwerfen würde (siehe Rechtssache Babar Ahmad, a. a. O.). Der Gerichtshof ist ferner der Auffassung, dass es nicht seine Aufgabe ist, in diesem Zusammenhang zu prüfen, ob die
Absprache die Voraussetzungen nach innerstaatlichem Recht erfüllt hat, weil in erster Linie die nationalen Gerichte für die Einhaltung ihrer Verfahrensvorschriften zuständig sind.
39. Im Hinblick auf die Umstände der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass der Bevollmächtigte des Beschwerdeführers nach der Urteilsverkündung und Belehrung über das Recht zur Rechtsmitteleinlegung den
Rechtsmittelverzicht des Beschwerdeführers erklärt hat. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerde-führer, der bei der Erklärung des Rechtsmittelverzichts anwesend war, daran gehindert worden wäre, vor der Erklärung
mit seinem Bevollmächtigten Rücksprache zu halten, wenn er dies gewollt hätte. Daher deutet nichts darauf hin, dass die Verzichtserklärung selbst eine Frage nach Artikel 6 aufgeworfen hat.
40. Es bleibt noch festzustellen, ob die Verhandlungen, die vor dem letzten Hauptverhandlungstag stattgefunden haben, die Rechtsgültigkeit des Verzichts aus konventionsrechtlicher Sicht in Frage stellen. Zwar stimmen beide
Parteien dahingehend überein, dass zwischen dem Bevollmächtigten des Beschwerdeführers, der Staatsanwaltschaft und dem Gericht Gespräche stattgefunden haben, der genaue Inhalt dieser Verhandlungen ist zwischen den Parteien
aber strittig. Beide Parteien trugen übereinstimmend vor, dass der Beschwerdeführer und seine Ehefrau versprochen hätten, auf ihre beschlagnahmten Vermögenswerte zu verzichten, wenn im Gegenzug dazu eine Freiheitsstrafe von
weniger als zehn Jahren verhängt werde. Die Regierung bestritt jedoch die Behauptungen des Beschwerdeführers, Gegenstand der Absprache sei auch die Verpflichtung des Beschwerdeführers gewesen, auf die Fortführung der
Beweisaufnahme und sein Recht zur Rechtsmitteleinlegung zu verzichten. Darüber hinaus trug der Beschwerdeführer dem Gerichtshof vor, dass das Landgericht Verhandlungen aufgenommen habe, als es ihm mitgeteilt habe, dass ihm
eine Freiheitsstrafe von nicht unter vierzehn Jahren drohe, wenn er keine Absprache treffe; die Regierung brachte dagegen vor, dass Verhandlungen auf Betreiben des Bevollmächtigten des Beschwerdeführers in Angriff genommen
worden seien.
41. Der Gerichtshof merkt an, dass der Beschwerdeführer in seinem Vorbringen vor dem Bundesgerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht nicht vorgetragen hat, dass das Landgericht Fulda ihm für den Fall, dass er sich weigere,
die ihm angeblich von dem Gericht vorgeschlagene Vereinbarung zu akzeptieren, eine Mindestfreiheitsstrafe von vierzehn Jahren angedroht habe. In einer dem Bundesgerichtshof vorgelegten Erklärung hatte der Beschwerdeführer
lediglich ausgeführt, dass sein vormaliger Bevollmächtigter ihm mitgeteilt habe, dass er mit diesem Verfahrensausgang zu rechnen habe, wenn keine Absprache getroffen werde; dies impliziert nicht zwingend, dass die Richter des
Landgerichts sich in dieser Weise geäußert haben. Überdies stellt der Gerichthof fest, dass der Beschwerdeführer vor dem Bundesgerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht nicht erwähnte, dass die Verpflichtung zum Verzicht
auf Fortführung der Beweisaufnahme Gegenstand der Absprache gewesen sei.
42. Der Gerichtshof merkt ferner an, dass die Richter des Landgerichts laut ihren von der Regierung in vorliegendem Verfahren vorgelegten schriftlichen Stellungnahmen sich nicht erinnern können, ob die Absprache ein Versprechen
des Beschwerdeführers enthielt, auf Rechtsmittel zu verzichten. Der Gerichtshof nimmt zur Kenntnis, dass der Beschwerdeführer zur Glaubhaftmachung seiner Behauptungen zahlreiche Unterlagen aus nachfolgenden innerstaatlichen
Gerichtsverfahren beigebracht hat. Jedoch ist keine dieser Unterlagen dem Bundesgerichtshof oder dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt worden.
43. In Ermangelung einer schriftlichen Fassung der Vereinbarung und in Anbetracht der seit den entscheidungserheblichen Tatsachen verstrichenen Zeit sieht sich der Gerichtshof nicht in der Lage, den genauen Inhalt der zwischen den
Parteien getroffenen Absprache nachzuvollziehen. Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass der Beschwerdeführer den nationalen Gerichten nicht ausdrücklich vorgetragen hat, dass das Landgericht ihm mitgeteilt habe, dass ihm, wenn
keine Absprache getroffen werde, eine Mindestfreiheitsstrafe von vierzehn Jahren drohe, oder dass die Vereinbarung die Verpflichtung zum Verzicht auf Fortführung der Beweisaufnahme beinhaltet habe. Der Gerichtshof merkt an,
dass der Bundesgerichtshof in seinem Beschluss über die Revision des Beschwerdeführers davon ausging, dass der Rechtsmittelverzicht Teil der zwischen den Parteien getroffenen Absprache gewesen sei.
44. Im Hinblick auf die vorstehenden Erwägungen wird der Gerichtshof bei der weiteren Prüfung davon ausgehen, dass die Verpflichtung des Beschwerdeführers zum Verzicht auf beschlagnahmte Vermögenswerte und zum
Rechtsmittelverzicht Gegenstand der Absprache war, diese aber keine Verpflichtung zum Verzicht auf die Fortführung der Beweisaufnahme enthielt. Hingegen berücksichtigt der Gerichtshof nicht die Behauptung des
Beschwerde-führers, das Landgericht habe ihm für den Fall, dass er keine Absprache treffe, eine Mindeststrafe von vierzehn Jahren angedroht, weil die nationalen Gerichte mit diesen Vorwürfen nicht befasst worden sind.
45. Der Gerichtshof merkt an, dass der Bevollmächtigte des Beschwerdeführers den Rechtsmittelverzicht nach Beendigung der Verhandlungen und nach der Urteilsverkündung durch das Landgericht in Anwesenheit des
Beschwerdeführers und in dessen Namen erklärt hat. Folglich war dem Beschwerdeführer die gegen ihn verhängte Strafe vor der Verzichtserklärung bekannt. Überdies lässt sich nicht konkret belegen, dass der Beschwerdeführer
hinsichtlich der rechtlichen Wirkungen des Rechtsmittelverzichts getäuscht worden ist.
46. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die strafrechtliche Verurteilung nicht auf ein Geständnis des Beschwerdeführers, sondern auf die Beweise gestützt war, die das Landgericht vor der Aufnahme von Verhandlungen über eine
Absprache erhoben hatte. Der Beschwerdeführer hat den nationalen Gerichten seine Absicht, die Fortführung der Beweisaufnahme zu beantragen, nicht zur Kenntnis gebracht. Darüber hinaus war der Beschwerdeführer von dem
erkennenden Gericht mündlich über sein Recht, Rechtsmittel einzulegen, belehrt worden, obwohl er offenbar nicht darauf hingewiesen wurde, dass es ihm unbeschadet der Absprache frei stehe, Rechtsmittel einzulegen (wie nach der
Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 3. März 2005 erforderlich, siehe Rdnr. 20. oben).
47. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass der Beschwerdeführer bei der Erklärung des Rechtsmittelverzichts und während des gesamten Verfahrens von einem Prozessbevollmächtigten seiner Wahl vertreten war. Er merkt überdies an,
dass nach der bereits damals geltenden Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs das in Verhandlungen gegebene Versprechen, auf Rechtsmittel zu verzichten, für den Angeklagten rechtlich nicht bindend war. Es gibt keinen
erkennbaren Grund, warum dem Verteidiger des Beschwerde-führers diese Rechtsprechung bei der Erklärung des Rechtsmittelverzichts nicht bekannt gewesen sein sollte. Die Regierung kann nicht für Fehler des Bevollmächtigten des
Beschwerdeführers verantwortlich gemacht werden (vgl. Rechtssache Sejdovic ./. Italien [GK], Individualbeschwerde Nr. 56581/00, Rdnr. 95, EGMR 2006-II).
48. Die vorstehenden Erwägungen sind für den Gerichtshof ausreichend für die Schlussfolgerung, dass hinreichende Verfahrensgarantien gegeben waren, um zu gewährleisten, dass der Beschwerdeführer bei seinem
Rechtsmittelverzicht nicht unzulässig beeinflusst wurde.
49. Folglich ist Artikel 6 der Konvention nicht verletzt worden.
II. RÜGE DER DAUER DES STRAFVERFAHRENS
50. Der Beschwerdeführer rügte, dass die Verfahrensdauer mit dem Gebot der „angemessenen Frist" nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention unvereinbar gewesen sei, der wie folgt lautet:
„Jede Person hat ein Recht darauf, dass ... über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem ... Gericht ... innerhalb angemessener Frist verhandelt wird."
51. Der zu berücksichtigende Zeitraum begann am 23. Februar 2000 mit der Festnahme des Beschwerdeführers und endete am 4. Dezember 2003 mit der Zustellung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an den
Beschwerdeführer. Das Verfahren dauerte somit drei Jahre und neun Monate, wobei drei Instanzen durchlaufen wurde. Der Gerichtshof ist in Anbetracht der in seiner Rechtsprechung festgelegten Kriterien (siehe u. v. a. Rechtssache
Pélissier und Sassi ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 25444/94, Rdnr. 67, EGMR 1999-II) der Auffassung, dass die Gesamtdauer des Verfahrens als angemessen angesehen werden kann. Daraus folgt, dass diese
Beschwerde offensichtlich unbegründet ist und nach Artikel 35 Absätze 3 Buchstabe a und 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
III. ANDERE BEHAUPTETE KONVENTIONSVERLETZUNGEN
52. Der Beschwerdeführer rügte ferner die fehlende Begründung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und die fehlende Öffentlichkeit im Zusammenhang mit der Aushandlung der verfahrensbeendenden Absprache. Er
machte auch geltend, dass der Verzicht auf die beschlagnahmten Vermögenswerte die Unschuldsvermutung verletzt habe (Artikel 6 Abs. 2). Nach Artikel 14 rügte er, dass sein Rechtsmittelverzicht als unwirksam gegolten hätte, wenn
seine Revision von einem anderen Strafsenat des Bundesgerichtshofs geprüft worden wäre. Unter Berufung auf Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 zur Konvention beanstandete der Beschwerdeführer auch den angeblichen Inhalt der
Absprache und den Verzicht seiner Ehefrau auf die beschlagnahmten Vermögenswerte.
53. Der Beschwerdeführer trug vor, dass das Verfahren insgesamt als unfair angesehen werden müsse, weil das Landgericht gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit des Verfahrens, des Vertraulichkeitsschutzes und der gerichtlichen
Pflicht, den erheblichen Sachverhalt von sich aus zu prüfen, verstoßen habe. Das Urteil des Landgerichts beruhe auf unzureichenden und nicht schlüssigen Beweisen, die nicht ordnungsgemäß in das Verfahren eingeführt worden seien;
dies habe er erst später erfahren, als ihm Akteneinsicht gewährt worden sei. Darüber hinaus habe die Staatsanwaltschaft es unterlassen, maßgebliche Beweise in das Verfahren einzuführen, und damit den Grundsatz der
Waffengleichheit verletzt.
54. Unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und soweit die gerügten Angelegenheiten unter seine Zuständigkeit fallen, stellt der Gerichtshof aber fest, dass hier keine Anzeichen für eine Verletzung der
in der Konvention oder den Protokollen dazu bezeichneten Rechte und Freiheiten ersichtlich sind.
Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet ist und nach Artikel 35 Absätze 3 Buchstabe a und 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Rüge wegen des eingeschränkten Zugangs zu den Rechtsmittelgerichten wird für zulässig und die Individualbeschwerde im Übrigen für unzulässig erklärt;
2. Artikel 6 Absatz 1 der Konvention ist nicht verletzt worden.
Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 3. November 2011 nach Artikel 77 Absätze 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs. ..." (EGMR, Urteil vom 03.11.2011 - 29090/06)
***
Polizeiliche Vernehmung im Ausland aufgrund eines Rechtshilfeersuchens ohne anwaltlichen Beistand (EGMR, Urteil vom 27.10.2011 - 25303/08):
„... [37] Nach Art. 1 EMRK sichern die Konventionsstaaten allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in der Konvention und den Protokollen bestimmten Rechte und Freiheiten zu. Diese Verpflichtung kann auch dann
gelten, wenn es um Handlungen der Organe eines Konventionsstaats geht, die Wirkungen außerhalb seines Territoriums entfalten (s. u.a. EGMR, 1992, Serie A, Bd. 240, S. 29 Nr. 91 - Drozd u. Janousek/Frankreich u. Spanien;
EGMR, Entsch. v. 4.7.2001 - 48787/99 - Ilascu/Moldau u. Russland).
a) Zulässigkeit der Beschwerde gegen Belgien
[38] Der Bf. unterstand zweifellos der Hoheitsgewalt Belgiens i.S. von Art. 1 EMRK. Nach Art. 3 des Europäischen Übereinkommens über Rechtshilfeersuchen in Strafsachen vom 2.4.1959, das damals in Kraft war, war Belgien als
ersuchter Staat verpflichtet, das den Bf. betreffende Rechtshilfeersuchen in der in den belgischen Rechtsvorschriften vorgesehenen Form erledigen zu lassen. Das ist geschehen, wobei festzuhalten ist, dass der Bf. nach belgischem
Recht keinen Anspruch auf anwaltlichen Beistand während der Vernehmung im Rahmen des Rechtshilfeersuchens hatte. Insoweit geht der angebliche Verstoß gegen Art. 6 III EMRK auf die belgische Gesetzgebung zurück.
[39] Doch hat es später kein Strafverfahren gegen den Bf. in Belgien gegeben, und der Bf. selbst ist nicht gegen die belgischen Behörden wegen seiner Vernehmung und fehlenden Rechtsbeistands vorgegangen. Daher lässt sich die
behauptetet Verletzung nicht als Ergebnis einer fortdauernden Situation ansehen. Sie ist vielmehr ein einmaliges Ereignis, zu dem es am 11. und 12.3.2004 gekommen ist. Das aber liegt mehr als sechs Monate vor Registrierung der
Beschwerde an den Gerichtshof, die daher, soweit sie gegen Belgien gerichtet ist, jedenfalls als verspätet zurückgewiesen werden muss.
[40] Damit, und selbst angenommen, der Bf. habe seinen Anwalt beauftragt, Beschwerde gegen Belgien zu erheben, ist sie nach Art. 35 I, IV EMRK wegen Nichteinhaltung der Sechsmonatsfrist für unzulässig zu erklären.
b) Zulässigkeit der Beschwerde gegen Frankreich
[41] Der Bf. wurde auf Ersuchen der französischen Strafverfolgungsbehörden im Rahmen eines in Frankreich laufenden Strafverfahrens vernommen. Die belgischen Behörden konnten das Rechtshilfeersuchen des französischen
Untersuchungsrichters ablehnen oder annehmen. Insoweit, und wenngleich sie ihre eigenen Verfahrensvorschriften zu beachten hatten, haben sie den Bf. auf Ersuchen der französischen Behörden vernommen. Dass bei der
Vernehmung durch die belgische Polizei der zuständige französische Untersuchungsrichter sowie ein Vertreter der französischen StA zugegen waren, ohne allerdins aktiv zu werden, ist insoweit bezeichnend. Vor allem aber haben die
Aussagen des Bf. zu einem Verfahren gegen ihn vor den französischen Gerichten geführt, ob nun im Rahmen des Ausgangsverfahrens oder als Folge sich anschließender weiterer Ermittlungen. Natürlich war es nicht Aufgabe des
französischen Untersuchungsrichters, den Ablauf der im Rahmen seines Rechtshilfeersuchens durchgeführten Vernehmung des Bf. wirklich zu kontrollieren. Doch war es seine Pflicht, die für die Vernehmung Verantwortlichen in
Belgien darauf hinzuweisen, dass er die Anwesenheit eines Anwalts für den Bf. vorgeschrieben hatte. Das zu tun war er umso mehr gehalten, als der Bf. gleich zu Beginn der Vernehmung um Beistand durch einen französischen
Anwalt („avocat de justice française") gebeten hatte, ein Antrag, der unbeachtet geblieben ist. Auch im Nachhinein hätten die französischen Behörden und Gerichte prüfen müssen, welche Wirkung die Erledigung des
Rechtshilfeersuchens für die Rechtmäßigkeit des bei ihnen anhängigen Verfahrens hatte. Der französische Untersuchungsrichter hatte außerdem um die Vernehmung des Bf. als „unterstützter Zeuge" („témoin assisté") ersucht, was
bedeutet, dass er nach § 113 III französische StPO Anspruch auf anwaltlichen Beistand hatte. Doch erst am 29.10.2004, also mehr als sieben Monate nach der Vernehmung in Belgien, bat der französische Untersuchungsrichterden
Vorsitzenden der Anwaltskammer, dem Bf. einen Pflichtverteidiger beizuordnen.
[42] Aus diesen Gründen ist die Beschwerde gegen Frankreich mit der Konvention ratione personae vereinbar.
[43] Sie ist insoweit auch nicht offensichtlich unbegründet i.S. von Art. 35 III lit. a EMRK und auch aus keinem anderen Grund unzulässig. Die Beschwerde gegen Frankreich ist daher für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Vortrag der Parteien
a) Der Bf. (zusammengefasst)
[44-45] Der Bf. meint, bei seiner Vernehmung sei es nicht um einfache, dringliche Überprüfungen eines neuerlich zu Tage getretenen Geschehens gegangen, Anlass dafür sei vielmehr gewesen, dass es Anhaltspunkte für seine
Beteiligung an einer Straftat gegeben hätte. Deshalb habe der französische Untersuchungsrichter um seine Vernehmung als „unterstützter Zeuge" ersucht und deshalb habe er Anspruch auf Beistand durch einen belgischen oder
französischen Anwalt gehabt, wie er ausdrücklich beantragt habe. So aber habe er vor der belgischen Polizei Aussagen gemacht und die allein hätten zu seiner strafrechtlichen Verurteilung geführt, obwohl er sie später vor dem
Untersuchungsrichter nicht wiederholt habe. Im Interesse der Rechtspflege liege es nicht, eine Anklage auf Beweise zu stützen, die durch Zwang oder Druck gegen den Willen des Betroffenen erlangt würden. Daher hätte ihm nach Art.
6 III lit. c EMRK für seine Vernehmung in Belgien ein Anwalt beigeordnet werden müssen.
b) Die französische Regierung (zusammengefasst)
[46-48] Die französische Regierung meint, die Vernehmung des Bf. habe unter den gegebenen Umständen nicht gegen Art. 6 III lit. c EMRK verstoßen. Es sei dabei lediglich um dringliche Überprüfungen eines neuen Sachverhalts
gegangen. Außerdem seien es die belgischen Behörden gewesen, die das Rechtshilfeersuchen erledigt hätten. Der Antrag des Bf. auf Beiordnung eines französischen Anwalts habe daher nur das nachfolgende Verfahren in Frankreich
betreffen können. Der Bf. habe seine Beteiligung an den ihm zur Last gelegten Straftaten vor dem Geschworenengericht von Savoyen gestanden, daher könne er jetzt nicht behaupten, seine Aussagen in Belgien seien für seine
Verurteilung entscheidend gewesen.
2. Beurteilung durch den Gerichtshof
[49] Die Erfordernisse des Art. 6 III EMRK zählen zu den wesentlichen Elementen eines fairen Verfahrens i.S. von Art. 6 I EMRK. Das Recht jedes Beschuldigten, sich wirksam durch einen Anwalt verteidigen zu lassen, gehört somit
zu den Grundbestandteilen des fairen Verfahrens (s. u.a. EGMR, NJW 2009, 3707 (3708) Nr. 51 - Salduz/Türkei; EGMR, 1993, Serie A, Bd. 277, S.14 f. Nr. 34 = ÖJZ 1994, 467 - Poitrimol/Frankreich). Allerdings regelt Art. 6 III lit.
c EMRK die Ausübung dieses Rechts nicht näher. Er lässt den Konventionsstaaten die Wahl der Mittel, mit denen sie in ihrem Rechtssystem ermöglichen, das Recht zu gewährleisten. Der Gerichtshof muss prüfen, ob der von ihnen
eingeschlagene Weg mit den Anforderungen an ein faires Verfahren i.S. des Art. 6 I EMRK übereinstimmt. Er prüft also die Beschwerde insoweit unter dem Gesichtspunkt beider Vorschriften zusammengenommen (s. u.a. EGMR,
Slg. 2001-II Nr. 82 = NJW 2001, 2387 (2390) - Krombach/Frankreich). In diesem Zusammenhang darf nicht vergessen werden, dass die Konvention „nicht theoretische und scheinbare Rechte schützen will, sondern praktische und
wirksame", und dass die Bestellung eines Verteidigers allein nicht die Wirksamkeit des Beistands sicherstellt, den er dem Beschuldigten gewähren will (s. EGMR, NJW 2009, 3707 (3708) Nr. 51 - Salduz/Türkei; EGMR, 1993, Serie
A, Bd. 275, S. 13 f. Nr. 38 = ÖJZ 1994, 517 - Imbrioscia/Schweiz).
[50] Damit das in Art. 6 I EMRK garantierte Recht auf ein faires Verfahren ausreichend „praktisch und wirksam" bleibt, ist es grundsätzlich notwendig, dass dem Beschuldigten schon von der ersten Vernehmung durch die Polizei an
Zugang zu einem Anwalt gewährt wird, es sei denn, es würde nachgewiesen, dass unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Falls zwingende Gründe für eine Beschränkung dieses Rechts sprechen. Selbst wenn solche
Gründe in Ausnahmefällen die Verweigerung des Zugangs zu einem Anwalt rechtfertigen können, darf eine solche Beschränkung - aus welchen Gründen auch immer sie gerechtfertigt ist - in die Rechte des Beschuldigten aus Art. 6
EMRK nicht unangemessen eingreifen. In der Regel werden die Rechte der Verteidigung auf nicht wiedergutzumachende Weise verletzt, wenn eine Verurteilung auf belastende Aussagen während der polizeilichen Vernehmung des
Beschuldigten ohne Beistand eines Anwalts gestützt wird (s. EGMR, NJW 2009, 3707 (3708) Nr. 55 - Salduz/Türkei).Das folgt insbesondere aus der Notwendigkeit, den Beschuldigten vor unzulässigem Zwang durch die Behörden zu
schützen. Das heißt, dass die Anklage versuchen muss, ihre Behauptungen in einer Strafsache zu beweisen, ohne auf Beweise zurückzugreifen, die durch Zwang oder Druck gegen den Willen des Beschuldigten erlangt wurden (s. u.a.
EGMR, Slg. 2006-IX Nr. 100 = NJW 2006, 3117 (3123)- Jalloh/Deutschland). Das Vorhandensein angemessener Verfahrensgarantien ist also ein Element, das Recht des Beschuldigten zu sichern, sich nicht selbst zu beschuldigen (s.
EGMR, Slg. 2006-IX Nr. 101 = NJW 2006, 3117 (3123) - Jalloh/Deutschland).
[51] Die Vernehmung des Bf. erfolgte nach den Verfahrensvorschriften des belgischen Rechts, das nicht nach der Stellung des Betroffenen unterscheidet und insbesondere nicht danach, ob gegen ihn ein Tatverdacht besteht oder nicht.
Sie erfolgte allerdings ausschließlich aufgrund eines internationalen Rechtshilfeersuchens im Rahmen von Ermittlungen in Frankreich. In seinem Ersuchen hatte der Untersuchungsrichter ausdrücklich vermerkt, der Bf. sei als
„unterstützter Zeuge" zu vernehmen. Wenngleich das angesichts des damals anwendbaren Völkerrechts ... für die Vernehmung des Bf. nicht zum Tragen kommen konnte, zeigte das Ersuchen doch, dass es, wie es das französische
Recht verlangt, Anhaltspunkte dafür gab, dass der Bf. an der Straftat, wegen der ermittelt wurde, beteiligt gewesen war. Diese Anhaltspunkte waren ihm außerdem vor seiner Vernehmung zur Kenntnis gebracht worden. Seine weiteren
Aussagen hat er zwar nicht im Rahmen der ursprünglichen Einschaltung des Untersuchungsrichters gemacht. Doch haben sie offensichtlich zur Einleitung neuer Ermittlungen geführt, die später mit dem ersten Verfahren verbunden
wurden. Sie hatten dann die Anklage des Bf. vor dem Geschworenengericht von Savoyen zur Folge.
[52] Insofern hatte die Vernehmung des Bf. erhebliche Auswirkungen auf seine Lage, so dass er zum „Angeklagten" i.S. von Art. 6 EMRK wurde und ihm damit die Garantien des Art. 6 I, III EMRK zustanden (s. u.a. EGMR, Slg.
2002-VII Nr. 91 - Janosevic/Schweden; EGMR, 1982, Serie A, Bd. 51, S. 33 Nr. 73 = EGMR-E 2, 105 - Eckle/Deutschland; EGMR, 1980, Serie A, Bd. 35, S. 22 Nr. 42 = EGMR-E 1, 463 - Deweer/Belgien).
[53] Auch die Lage des Bf. bei seiner Vernehmung ist in Betracht zu nehmen. Wie bereits in anderem Zusammenhang betont, ist ein Beschuldigter in diesem Stadium des Verfahrens oft in einer besonders verletzbaren Lage, was
dadurch verstärkt wird, dass das Strafprozessrecht immer komplexer wird, insbesondere bei den Vorschriften über die Erhebung und Verwertung von Beweisen (s. EGMR, NJW 2009, 3707 (3708) Nr. 54 - Salduz/Türkei). Wenngleich
gegen den Bf. in dem Verfahren, um das es hier geht, keine freiheitsbeschränkende oder -entziehende Maßnahme verhängt wurde, wurde er vernommen, nachdem man ihn aus dem Gefängnis geholt hatte, wo er wegen einer anderen
Straftat einsaß. Außerdem wurden ihm gleichzeitig die belgischen Rechtsvorschriften mitgeteilt, welche die Beiordnung eines Anwalts nicht vorsehen, und seine Stellung als „unterstützter Zeuge" sowie die Rechte, die daraus folgen,
nämlich das Recht, von der ersten Vernehmung an den Beistand eines Anwalts seiner Wahl oder eines Pflichtverteidigers zu erhalten, das Recht, über die Vernehmung im Vorhinein informiert zu werden, und das Recht auf
Akteneinsicht innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Fristen. Der Bf. wurde schließlich erfolgte in Anwesenheit des französischen Untersuchungsrichters vernommen, der beantragt hatte, den Bf. als „unterstützten Zeugen" zu
vernehmen. Das alles war dazu angetan, beim Bf. zu einer gewissen Verwirrung zu führen.
[54] Der Bf. hat sich zwar anscheinend freiwillig gegenüber den Ermittlern geoffenbart. Doch dafür, weshalb er das tat, obwohl er damit zu seiner eigenen Beschuldigung beigetragen hat, gibt es keine eindeutige Erklärung. Gewiss,
man hat ihn über die Rechtsvorschriften informiert, wonach seine Aussagen als Beweis in einem Gerichtsverfahren verwertet werden können. Doch abgesehen davon, dass er nicht ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dass er
schweigen könne, hat er sich zur Aussage entschlossen, ohne den Beistand eines Anwalts gehabt zu haben (s. EGMR, Urt. v. 14.10.2010 - 1466/07 Nr. 54 - Brusco/Frankreich). Doch hatte er weder auf sein Recht zu schweigen noch
auf sein Recht auf Rechtsbeistand eindeutig verzichtet (s. EGMR, NJW 2009, 3707 (3708) Nr. 56 - Salduz/Türkei; EGMR, Slg. 2006-II Nr. 86 -Sejdovic/Italien; EGMR, 1993, Serie A, Bd. 277, S. 13 f. Nr. 31 = ÖJZ 1994, 467 -
Poitrimol/Frankreich). Sein Antrag auf Beiordnung eines französischen Anwalts hat sich nach Auffassung der französischen Regierung nur auf das anschließende Verfahren vor den Gerichten in Frankreich bezogen, lässt sich aber
keinesfalls einem eindeutigen Verzicht auf Rechtsbeistand während der Vernehmung durch die belgische Polizei gleichsetzen.
[55] Zwar waren für jene Einschränkungen ursprünglich nicht die französischen Behörden verantwortlich, doch hätten sie, falls ein zwingender Grund dafür nicht bestand, darauf achten müssen, dass sie die Fairness des bei ihnen
anhängigen Verfahrens nicht beeinträchtigten. Das Argument, sie ergäben sich aus der Anwendung der geltenden gesetzlichen Vorschriften, schlägt hier nicht durch, und das genügt bereits, einen Verstoß gegen Art. 6 EMRK
festzustellen (s. u.a. EGMR, NJW 2009, 3707 (3708) Nr. 56 - Salduz/Türkei; mutatis mutandis EGMR, Urt. v. 9.2.2010 - 2039/04 Nr. 35 - Boz/Türkei). Im Übrigen wurden die anwendbaren Regeln des Völkerrechts, wonach die
ersuchte Partei Rechtshilfeersuchen in der in ihren gesetzlichen Vorschriften vorgesehenen Form erledigen lässt ..., kurze Zeit später geändert ... .Jedenfalls enthob der rechtliche Rahmen der Vernehmung des Bf. die französischen
Behörden und Gerichte nicht der Verpflichtung, anschließend zu überprüfen, ob die Vernehmung in Übereinstimmung mit den Grundsätzen erfolgt war, die sich aus dem Recht auf ein faires Verfahren ergeben, und gegebenenfalls
Abhilfe zu schaffen. Die rechtlichen Voraussetzungen, unter denen der Bf. vernommen wurde, sind zweifellos nicht den französischen Behörden und Gerichten anzulasten: für sie galten entsprechend ihren völkerrechtlichen
Verpflichtungen die belgischen Rechtsvorschriften. Doch nach Art. 1 EMRK, wonach die Konventionsstaaten „allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in Abschnitt 1 (der Konvention) bestimmten Rechte und Freiheiten
zu(sichern)", ist deren Durchsetzung in erster Linie Aufgabe der staatlichen Behörden und Gerichte (s. EGMR, Slg. 2006-V Nr. 140 = NJW 2007, 1259 (dort allerdings nicht wiedergegeben) - Scordino/Italien Nr. 1). Daher hatten sich
die französischen Gerichte zu vergewissern, dass die Ermittlungshandlungen in Belgien nicht unter Verstoß gegen die Rechte der Verteidigung vorgenommen worden waren, und so auf Einhaltung der Fairness des bei ihnen
anhängigen Verfahrens zu achten, der für das Verfahren insgesamt gilt (s. u.a. EGMR, Slg. 1999-II Nr. 46 = NJW 1999, 3545 - Pélissier u. Sassi/Frankreich; EGMR, Slg. 1996-IV, S. 1388 Nr. 43 = ÖJZ 1997, 396 -
Miailhe/Frankreich; EGMR, 1993, Serie A, Bd. 275, S. 14 Nr. 38 = ÖJZ 1994, 517 - Imbrioscia/Schweiz).
[56] Das aber ist nicht geschehen. Die französischen Gerichte habenden Verstoß gegen die Rechte der Verteidigung nicht behoben, obwohl das Rechtshilfeersuchen an die belgischen Behörden festgehalten hatte, dass der Bf. in
Anwesenheit seines Anwalts vernommen werden solle, und er selbst den Beistand eines Anwalts beantragt hatte ... . So haben seine ersten Aussagen aufgrund des Ersuchens des französischen Untersuchungsrichters und zwar in dessen
Gegenwart und in Anwesenheit eines Vertreters der französischen StA zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen ihn geführt und dann zu seiner Anklage vor dem Geschworenengericht von Savoyen, obwohl er später vor dem
Untersuchungsrichter zu den Vorwürfen gegen ihn geschwiegen hat. Das aber waren unverzichtbare Abschnitte des Strafverfahrens und damit der Verurteilung des Bf. Dass er später, nachdem er einen Verteidiger hatte, vor dem
Geschworenengericht alle ihm zur Last gelegten Taten eingeräumt hat, kann daher nicht ausreichen, den zu Beginn begangenen Verstoß gegen seine Rechte zu beheben, umso weniger, als er zu dem Zeitpunkt nicht mehr in der Lage
war, die Gültigkeit der umstrittenen Vernehmung anzufechten ... .
[57] Daher kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass Art. 6 III lit. c EMRK i.V. mit Art. 6 I EMRK im vorliegenden Fall verletzt ist. ..."
***
„... 4. Der 1946 geborene Beschwerdeführer ist in L. wohnhaft.
5. Am 27. August 2003 lehnte es die HBG Holzberufsgenossenschaft ab, die Atemwegserkrankungen des Beschwerdeführers als Berufskrankheit anzuerkennen.
6. Am 26. September 2003 legte der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer Widerspruch gegen die vorgenannte Entscheidung ein. Der Widerspruch wurde am 23. Dezember 2003 zurückgewiesen.
7. Am 14. Januar 2004 erhob der Beschwerdeführer Klage beim Sozialgericht Cottbus.
8. Am 11. März 2004 übersandte die Beklagte die Klageerwiderung sowie die Leistungsakten.
9. Am 14. Juni 2004 forderte das Sozialgericht u. a. Befundberichte von 19 Ärzten, die der Beschwerdeführer vor dem Verfahren konsultiert hatte, sowie Krankenunterlagen über fünf frühere Krankenhausaufenthalte des
Beschwerdeführers an. Drei Monate später waren alle diese Unterlagen eingegangen, und das Sozialgericht übersandte sie den Parteien.
10. Am 8. November 2004 und 13. Januar 2005 forderte das Sozialgericht den Beschwerdeführer auf, das Klagebegehren zu konkretisieren. Am 7. Februar 2005 trug der Beschwerdeführer vor, dass die Klage darauf gerichtet sei,
feststellen zu lassen, dass er an einer Berufskrankheit leide.
11. Am 2. Mai 2005 beschloss das Sozialgericht, ein erstes Sachverständigengutachten zu 12 konkreten Fragen einzuholen, und benannte einen Sachverständigen (Herrn W. M.). Aufgrund einer Erkrankung sagte der Beschwerdeführer
den ersten, für den 29. Juni 2005 angesetzten Untersuchungstermin ab. Am 10. August 2005 wurde der Beschwerdeführer von dem Sachverständigen untersucht. Am 13. Oktober 2005 erstattete der Sachverständige sein 19-seitiges
Gutachten, in dem er u. a. feststellte, dass ein weiteres Sachverständigengutachten erforderlich sei.
12. Am 23. März 2006 beschloss das Sozialgericht, ein weiteres Sachverständigengutachten zu unterschiedlichen Gesichtspunkten der 12 Fragen einzuholen, und benannte eine Sachverständige (Frau P. H.). Die Sachverständige
erklärte sich bereit, die Begutachtung durchzuführen.
13. Im April 2006 wechselte der Beschwerdeführer seinen Rechtsanwalt.
14. Am 24. Mai 2006 teilte die Sachverständige Frau P. H. dem Sozialgericht mit, dass der Beschwerdeführer zunächst von einer anderen Sachverständigen (Frau U. R.) untersucht werden solle. Am 4. Juli 2006 stellte der
Beschwerdeführer gegen die letztgenannte Sachverständige einen Befangenheitsantrag. Mit Schreiben vom 7. Juli 2006 wies das Sozialgericht diesen Befangenheitsantrag zurück und teilte dem Beschwerdeführer mit, dass es die
Untersuchung für erforderlich halte. Am 19. Oktober 2006 teilte der Beschwerdeführer dem Sozialgericht mit, dass er mitwirkungsbereit sei.
15. Am 7. Februar 2007 erstattete die Sachverständige, Frau U. R., ihr 11-seitiges Gutachten. Am 29. März 2007 übersandte das Sozialgericht der Sachverständigen, Frau P. H., die Akten zwecks Vornahme der erbetenen
Begutachtung. Am 17. April 2007 teilte Frau P. H. dem Sozialgericht mit, dass sie die Begutachtung nicht vornehmen könne.
16. Am 17. August 2007 änderte das Sozialgericht seinen Beschluss vom 23. März 2006 ab und benannte einen anderen Sachverständigen (Herrn D. A.). Am 31. August 2007 teilte Herr D. A. dem Sozialgericht mit, dass er die
Begutachtung nicht zeitnah vornehmen könne.
17. Am 26. September 2007 änderte das Sozialgericht seinen Beschluss vom 23. März 2006 erneut ab und benannte einen anderen Sachverständigen (Herrn Sch.). Am 10. Oktober 2007 wurde dem Sozialgericht mitgeteilt, dass Herr
Sch. im Ruhestand sei.
18. Am 10. Oktober 2007 änderte das Sozialgericht seinen Beschluss vom 23. März 2006 erneut ab und benannte einen anderen Sachverständigen (Herrn V. Z.). Am 5. Dezember 2007 teilte Herr V. Z. dem Sozialgericht mit, dass er
die Begutachtung nicht zeitnah vornehmen könne.
19. Am 11. Dezember 2007 änderte das Sozialgericht seinen Beschluss vom 23. März 2006 erneut ab und benannte einen anderen Sachverständigen (Herrn E. M.). Am 29. Januar 2008 teilte dieser dem Sozialgericht mit, dass er die
Begutachtung nicht vornehmen könne.
20. Am 12. November 2008 erließ das Sozialgericht einen neuen Beschluss zur Einholung eines Sachständigengutachtens und benannte einen Sachverständigen (Herrn H. L.). Am 2. Dezember 2008 wurde dem Sozialgericht
mitgeteilt, dass Herr H. L. im Ruhestand sei.
21. Am 11. Februar 2009 änderte das Sozialgericht seinen Beschluss vom 12. November 2008 ab und benannte einen anderen Sachverständigen (Herrn C. S.). Am 20. Februar 2009 teilte Herr C. S. dem Sozialgericht mit, dass er die
Begutachtung nicht vornehmen könne.
22. Im Februar 2009 wechselte der Beschwerdeführer seinen Rechtsanwalt. Im April 2009 legte der neue Rechtsanwalt das Mandat nieder. Im Juni 2009 nahm eine frühere Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers ihr Mandat
wieder auf.
23. Am 28. Mai 2009 änderte das Sozialgericht seinen Beschluss vom 12. November 2008 erneut ab und benannte einen anderen Sachverständigen (Herrn H. S.). Am 11. Juni 2008 wurde dem Sozialgericht mitgeteilt, dass der
Sachverständige im Ruhestand sei.
24. Am 18. Juni 2009 änderte das Sozialgericht seinen Beschluss vom 12. November 2008 erneut ab und benannte einen anderen Sachverständigen (Herrn H. E.). Am 11. November 2009 legte der Sachverständige sein 13-seitiges
Gutachten vor. Am 18. Januar 2010 ergänzte der Sachverständige sein Gutachten.
25. Am 21. Januar 2010 wurde das Gutachten an die Beteiligten zur Stellungnahme übersandt.
26. Am 25. März 2010 terminierte das Sozialgericht eine mündliche Verhandlung auf den 14. April 2010.
27. Am 14. April 2010 führte das Sozialgericht eine mündliche Verhandlung durch und wies die Klage des Beschwerdeführers ab. Das schriftliche Urteil wurde dem Anwalt des Beschwerdeführers am 7. Juni 2010 zugestellt.
28. Am 7. Juli 2010 legte der Beschwerdeführer gegen das Urteil Berufung ein.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABS. 1 DER KONVENTION
29. Der Beschwerdeführer rügte im Wesentlichen, dass die Dauer des Verfahrens vor dem Sozialgericht mit dem Gebot der „angemessenen Frist" nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention nicht vereinbar gewesen sei; Artikel 6 Abs. 1
lautet wie folgt:
„Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen ... von einem ... Gericht in einem ... Verfahren ... innerhalb angemessener Frist verhandelt wird."
30. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen. Sie trug vor, dass es sich bei dem Verfahren um ein in tatsächlicher Hinsicht komplexes Verfahren gehandelt habe. Dazu verwies sie auf die zahlreichen ärztlichen Befundberichte
aus der Zeit vor dem Verfahren, auf die Komplexität der von den Sachverständigen in ihren Gutachten zu behandelnden medizinischen Fragen mit jeweils unterschiedlichen Gesichtspunkten bei einem Dutzend konkreter Fragen sowie
auf die Tatsache, dass die drei Sachverständigengutachten nicht parallel hätten angefordert werden können, weil sich die Notwendigkeit eines ergänzenden Gutachtens stets erst aus dem jeweils zuvor angeforderten Gutachten ergeben
habe. Außerdem habe es sich nicht um Gutachten über den bloßen Gesundheitszustand des Beschwerdeführers, sondern durchweg um Gutachten über den möglichen Ursachenzusammenhang zwischen seiner früheren Berufstätigkeit
und seinen Atemwegserkrankungen gehandelt; diese hätten daher weit mehr erfordert. Die Regierung brachte ferner vor, dass der Beschwerdeführer sein Klagebegehren erst im Februar 2005 genau mitgeteilt und seine
Prozessvertretung mehrfach gewechselt habe. Gleichwohl räumte die Regierung ein, dass die Verzögerung in der Zeit von Mai 2007 bis Juni 2009 dem Sozialgericht zuzurechnen sein dürfte. Schließlich wies sie darauf hin, dass es
sich bei dem Verfahren, auch wenn es für den Beschwerdeführer ohne Zweifel belastend gewesen sei, nicht um eine Art von Verfahren handele, in denen eine besonders rasche Bearbeitung verlangt werde.
31. Der zu berücksichtigende Zeitraum begann am 26. September 2003, als der Beschwerdeführer Widerspruch einlegte (siehe beispielsweise J. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 23959/94, Rdnr. 40, 20. Dezember 2001)
und endete im ersten Rechtszug am 7. Juni 2010, als das Urteil der Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers zugestellt wurde. Er betrug somit in einem Rechtszug sechs Jahre, acht Monate und 12 Tage. Im Juli 2010 legte
der Beschwerdeführer gegen das Urteil Berufung ein. Das Berufungsverfahren ist noch nicht abgeschlossen.
A. Zulässigkeit
32. Der Gerichtshof stellt fest, dass Artikel 6 der Konvention auf das vorliegende sozialgerichtliche Verfahren anwendbar ist, weil es in der Rechtssache um die Anerkennung einer Berufskrankheit und somit um mögliche
Rentenansprüche ging (siehe sinngemäß J., a. a. O., Rdnr. 32). Die Rüge wegen der Dauer dieses Verfahrens ist im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a der Konvention nicht offensichtlich unbegründet. Der Gerichtshof stellt
weiter fest, dass sie auch nicht aus anderen Gründen unzulässig ist. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
33. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Angemessenheit der Verfahrensdauer im Lichte der Umstände des Falls sowie unter Berücksichtigung folgender Kriterien zu beurteilen ist: Komplexität der Rechtssache, Verhalten
des Beschwerdeführers sowie der zuständigen Behörden und Bedeutung des Rechtsstreits für den Beschwerdeführer (siehe u. v. a. Frydlender ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 30979/96, Rdnr. 43, ECHR 2000-VII).
34. Der Gerichtshof hat in Fällen, die ähnliche Fragen wie der vorliegende aufwerfen, bereits häufig Verstöße gegen Artikel 6 Abs. 1 der Konvention festgestellt (siehe Frydlender, a. a. O.).
35. Der Gerichtshof ist nach Prüfung sämtlicher ihm vorgelegter Unterlagen der Auffassung, dass die Regierung keine Tatsachen oder Argumente vorgetragen hat, die ihn überzeugen können, im vorliegenden Fall zu einer anderen
Schlussfolgerung zu gelangen. Der Gerichtshof stimmt der Regierung zu, dass die Rechtssache in tatsächlicher Hinsicht komplex war und schwierige medizinische Fragen aufwarf. Dennoch ist der Gerichtshof der Auffassung, dass mit
der Komplexität der vorliegenden Rechtssache allein nicht die gesamte Dauer von nahezu sieben Jahren in einem Rechtszug gerechtfertigt werden kann. Die Verfahrensverzögerungen hatten überdies weit weniger mit der Komplexität
des Verfahrensgegenstands als vielmehr z. B. damit zu tun, wie das Sozialgericht versucht hat, einen Sachverständigen für die dritte Begutachtung zu finden. Des Weiteren weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass für
Verzögerungen aufgrund von Sachverständigengutachten letztlich in erster Linie der Staat verantwortlich ist (siehe z. B. Dojs ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 47402/99, Rdnr. 38, 2. November 2004). Abschließend stellt der
Gerichtshof fest, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass das Verhalten des Beschwerdeführers, selbst wenn einige Verzögerungen ihm zuzurechnen sind, maßgeblich zur gesamten Verfahrensdauer beigetragen hat. Der
Gerichtshof ist im Hinblick auf seine einschlägige Rechtsprechung deshalb der Auffassung, dass die Verfahrensdauer in der vorliegenden Rechtssache überlang war und dem Erfordernis der „angemessenen Frist" nicht entsprach.
Folglich ist Artikel 6 Absatz 1 verletzt worden.
II. DIE ÜBRIGEN RÜGEN DES BESCHWERDEFÜHRERS
36. Der Beschwerdeführer rügte ferner, dass eine der Sachverständigen befangen gewesen sei.
37. Der Gerichtshof stellt diesbezüglich fest, dass der Beschwerdeführer gegen das Urteil des Sozialgerichts Cottbus Berufung eingelegt hat und dass das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist.
38. Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde verfrüht und in jedem Fall nach Artikel 35 Absätze 1 und 4 der Konvention wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe zurückzuweisen ist.
III. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION
39. Artikel 41 der Konvention lautet:
„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser
Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist."
A. Schaden
40. Der Beschwerdeführer verlangte 190.000 Euro (EUR) in Bezug auf den materiellen Schaden wegen seines Gesundheitszustands und fehlender Entschädigung durch die nationalen Behörden infolge der Nichtanerkennung seiner
Berufskrankheit. Er verlangte überdies 210.000 EUR für immateriellen Schaden.
41. Die Regierung bestritt den vom Beschwerdeführer geltend gemachten materiellen Schaden und brachte vor, dass der behauptete Schaden nicht unmittelbar durch die Dauer des Verfahrens verursacht worden sei.
Im Hinblick auf den immateriellen Schaden trug die Regierung vor, dass angesichts der Umstände der Rechtssache die Feststellung einer Konventionsverletzung an sich eine ausreichende Kompensation für den immateriellen Schaden
darstelle. Sollte der Gerichtshof eine gerechte Entschädigung zuerkennen, so müsse auf jedem Fall der Beitrag des Beschwerdeführers zur langen Verfahrensdauer berücksichtigt werden.
42. Der Gerichtshof kann keinen Kausalzusammenhang zwischen der festgestellten Verletzung und dem behaupteten materiellen Schaden erkennen und weist diese Forderung daher zurück.
Er ist jedoch der Ansicht, dass der Beschwerdeführer einen immateriellen Schaden erlitten haben muss. Er entscheidet nach Billigkeit und spricht ihm unter dieser Rubrik 6.000 EUR zu.
B. Kosten und Auslagen
43. Der Beschwerdeführer stellte keinen spezifizierten Antrag auf Kostenerstattung, sondern bat den Gerichtshof lediglich, alle Kosten und Auslagen dem beschwerdegegnerischen Staat aufzuerlegen.
44. Die Regierung hat sich zu der Angelegenheit nicht geäußert.
45. Da eine spezifizierte Forderung nicht vorliegt, weist der Gerichtshof, der über die Kosten und Auslagen des Beschwerdeführers nicht spekulieren kann, die Forderung nach Erstattung der Kosten und Auslagen für das
innerstaatliche Verfahren sowie für das Verfahren vor dem Gerichtshof zurück.
C. Verzugszinsen
46. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank zuzüglich 3 Prozentpunkten zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Rüge wegen der überlangen Verfahrensdauer wird für zulässig und die Individualbeschwerde im Übrigen für unzulässig erklärt;
2. Artikel 6 Abs. 1 der Konvention ist verletzt worden;
3. a) der beschwerdegegnerische Staat hat dem Beschwerdeführer binnen drei Monaten in Bezug auf den materiellen Schaden 6.000 (sechstausend) EUR zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern zu zahlen;
b) nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten bis zur Auszahlung fallen für den oben genannten Betrag einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der
Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;
4. im Übrigen wird die Forderung des Beschwerdeführers nach gerechter Entschädigung zurückgewiesen...."(EGMR, Urteil vom 20.10.2011 - 53550/09)
***
„... 7. Der Beschwerdeführer wurde 1955 geboren und ist in M. wohnhaft.
1. Der Hintergrund der Sache
8. Am 16. März 1983 nahm der Beschwerdeführer eine Arbeit als Redakteur beim amerikanischen Rundfunksender Radio Free Europe/Radio Liberty (nachstehend als „RFE/RL" bezeichnet) auf. Nach der gegen den Beschwerdeführer
ergangenen Kündigung erhob dieser im Jahr 1988 vor dem Arbeitsgericht München eine Kündigungsschutzklage (Geschäftszeichen 22 Ca 2079/88). Im Zuge des Verfahrens beantragte RFE/RL die gerichtliche Auflösung des
Arbeitsverhältnisses des Betroffenen; dies wurde vom Bundesarbeitsgericht am 7. März 2002 im letzten Rechtszug zurückgewiesen. Die Kündigung war vom Landesarbeitsgericht am 25. September 1998 endgültig aufgehoben
worden. Die Dauer dieses Verfahrens lag dem Urteil M. ./. Deutschland (Nr. 422505/98, 18. Oktober 2001) zugrunde, mit dem der Gerichtshof eine Verletzung des Artikels 6 Absatz 1 der Konvention festgestellt und dem
Beschwerdeführer 15.000 DM (ca. 7.500 EUR) wegen immateriellen Schadens zugesprochen hat.
2. Das streitige Verfahren
9. Am 23. Mai 1990 erhob der Beschwerdeführer vor dem Arbeitsgericht München eine Klage auf Weiterbeschäftigung. Dem Verfahren wurde das Geschäftszeichen 22 Ca 6244/90 zugeordnet.
10. Am 30. August 1990 reichte der Beschwerdeführer eine Klageerweiterung ein und forderte die Zahlung seiner Gehälter durch den Arbeitgeber für den Zeitraum vom 1. August 1988 bis zum 31. August 1990. Er machte ebenfalls
Forderungen in Bezug auf seine Rentenansprüche für den Zeitraum vom 1. August 1988 bis zum 30. November 1990 geltend.
11. Das Arbeitsgericht erließ am 10. Oktober 1990 ein Teilurteil, mit dem es die Klage des Beschwerdeführers auf Weiterbeschäftigung abwies.
Was die Klagen wegen Gehälterzahlung und die Forderungen in Bezug auf die Rentenansprüche anbelangte (Rdnr. 10 oben), hat das Arbeitsgericht den Rechtsstreit am 19. Juni 1991 ausgesetzt, um den Ausgang des
Kündigungsschutzverfahrens abzuwarten (Rdnr. 8 oben); es erließ sodann am 21. Oktober 2002 ein Teilanerkenntnisurteil. Dieses Verfahren liegt dem Urteil M. ./. Deutschland (Nr. 2) (Nr. 71972/01 vom 11. Juni 2009) zugrunde.
12. Am 7. Dezember 1990 legte der Beschwerdeführer Berufung gegen das Teilurteil vom 10. Oktober 1990 (Geschäftszeichen 6(9) Sa 868/90) ein.
13. Auf Antrag von RFE/RL und mit Zustimmung des Beschwerdeführers setzte das Landesarbeitsgericht das Verfahren am 26. September 1991 aus, um den Ausgang des Kündigungsschutzverfahrens abzuwarten (Rdnr. 8 oben).
14. Am 4. Oktober 1999 beraumte das Landesarbeitsgericht einen Termin für den 9. November 1999 an. Am 31. Oktober 1999 teilte der Beschwerdeführer dem Landesarbeitsgericht mit, dass sein Rechtsbeistand sein Mandat
niedergelegt habe und beantragte die Beiordnung eines neuen Rechtsbeistandes. Am 2. November 1999 hob das Landesarbeitsgericht den Verhandlungstermin auf. Am 19. Oktober 2000 drängte der Beschwerdeführer erneut beim
Landesarbeitsgericht auf eine Entscheidung bezüglich seines Antrags vom 31. Oktober 1999. Am 24. Oktober 2000 ordnete ihm das Landesarbeitsgericht einen neuen Rechtsbeistand bei.
15. Am 15. Mai 2001 formulierte der Beschwerdeführer seine Anträge neu und begehrte neben der Aufhebung des Teilurteils des Arbeitsgerichts vom 10. Oktober 1990 Gehaltsnachzahlungen für den Zeitraum vom 1. Dezember 1990
bis 31. Dezember 1993 sowie eine Entschädigung für den Fall, dass sich RFE/RL weigern würde, ihm eine Stelle zu verschaffen, die seinem Status als Redakteur mit 18 Berufsjahren entspricht. Ferner beantragte er beim
Landesarbeitsgericht, falls dieses seinen Anträgen nicht stattgeben sollte, die Verweisung der Sache zur Vorabentscheidung an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften.
16. Am 26. Juni 2001 setzte das Landesarbeitsgericht das Verfahren erneut bis zum Abschluss des Verfahrens bezüglich der gerichtlichen Auflösung des Arbeitsverhältnisses aus (Rdnr. 8 oben), dessen Ausgang für das vorliegende
Verfahren entscheidend war.
17. Am 1. November 2001 rief der Beschwerdeführer das Bundesverfassungsgericht an und rügte insbesondere die Untätigkeit des Landesarbeitsgerichts und die überlange Verfahrensdauer (1 BvR 1870/01). Das
Bundesverfassungsgericht nahm diese Beschwerde am 12. März 2004 nicht zur Entscheidung an. Es legte unter anderem dar, dass die Verfassungsbeschwerde, soweit sie gegen den Aussetzungsbeschluss des Landearbeitsgerichts vom
18.Mai 2001 und dessen Untätigkeit gerichtet war, unzulässig geworden sei, weil das Landesarbeitsgericht mittlerweile durch das angegriffene Urteil vom 3. Dezember 2002 in der Sache entschieden habe. Es führte weiter aus, der
Beschwerdeführer habe keinen Anspruch auf die Feststellung einer Verletzung des Grundgesetzes durch eine überlange Dauer des Verfahrens im Nachhinein, weil nach dem Verfassungsrecht keine Rechtsgrundlage bestehe, die es
ermögliche, die Entscheidung eines Gerichts wegen überlanger Verfahrensdauer im Nachhinein aufzuheben oder Schadensersatz aus diesem Grunde zuzuerkennen. Die Aufhebung des Urteils des Landesarbeitsgerichts vom 3.
Dezember 2002 habe den Verfassungsverstoß der überlangen Verfahrensdauer nicht beseitigt, sondern das Verfahren weiter verzögert.
18. Am 26. November 2002 präzisierte der Beschwerdeführer seine Anträge beim Landesarbeitsgericht. Er begehrte nunmehr auch Entschädigungsleistungen für die Aussetzung seines Arbeitsverhältnisses von März 1988 bis
Dezember 1994 und für die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sowie Gehaltsnachzahlungen für den Zeitraum vom 1. Januar 1991 bis 31. Dezember 1994 (ca. 235.500 Euro).
19. Mit Urteil vom 3. Dezember 2002 wies das Landesarbeitsgericht die Berufung des Beschwerdeführers zurück. Es vertrat insbesondere die Auffassung, dass die weiteren Anträge des Beschwerdeführers im Hinblick auf
Entschädigungsleistungen, Schadenersatz und Gehaltsnachzahlungen, denen RFE/RL im Übrigen nicht zugestimmt habe, nicht zulässig seien, weil sie einen neuen Streitgegenstand darstellten, bezüglich dessen die Ergebnisse des
vorliegenden Verfahrens (Weiterbeschäftigung) nicht verwendet werden könnten. Das Landesarbeitsgericht ließ die Revision nicht zu. Das Urteil wurde dem Beschwerdeführer am 25. April 2003 zugestellt.
20. Am 25. Juni 2003 erhob der Beschwerdeführer vor dem Bundesarbeitsgericht Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision.
21. Mit Beschluss vom 3. November 2004 wies das Bundesarbeitsgericht die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen die Nichtzulassung der Revision mit der Begründung zurück, eine Divergenz zwischen dem angegriffenen Urteil
des Landesarbeitsgericht und seiner eigenen Rechtsprechung bzw. der des Bundesverfassungsgerichts liege nicht vor.
22. Am 1. Juli 2005 lehnte das Bundesverfassungsgericht es ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers gegen diesen Beschluss zur Entscheidung anzunehmen, weil sie unzulässig sei (1 BvR 2789/04). Es führte aus, dass
von einer Begründung abgesehen werde.
RECHTCHE WÜRDIGUNG
I. DIE BEHAUPTETE VERLETZUNG DES ARTIKELS 6 ABSATZ 1 DER KONVENTION
23. Der Beschwerdeführer behauptet, die Dauer des Verfahrens habe den Grundsatz der „angemessenen Frist" im Sinne des Artikels 6 Absatz 1 der Konvention mit folgendem Wortlaut verletzt:
„Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen (...) von einem (...) Gericht (...) innerhalb angemessener Frist verhandelt wird".
24. Die Regierung räumt ein, dass dieser Artikel verletzt worden ist. Sie unterstreicht jedoch, dass die Sache eine gewisse Komplexität aufwies und im Zusammenhang mit den anderen vom Beschwerdeführer parallel angestrengten
Verfahren zu sehen sei. Dieser habe zudem in erheblichem Maße zur Dauer des Verfahrens beigetragen, indem er eine Vielzahl von Beschwerden erhoben habe, u.a. ein Ablehnungsgesuch und vier Verfassungsbeschwerden. Die
Regierung ist der Ansicht, dass die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts, das Verfahren auszusetzen und den Ausgang des Verfahrens hinsichtlich der Kündigung und der gerichtlichen Vertragsauflösung abzuwarten, sinnvoll war.
Sie behauptet schließlich, das vorliegende Verfahren sei zwar Teil einer arbeitsgerichtlichen Streitigkeit, die Klage des Beschwerdeführers auf Weiterbeschäftigung würde aber nicht dieselbe Eile gebieten wie ein Rechtsstreit, in dem
es um das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses geht.
25. Der Gerichtshof stellt fest, dass der zu berücksichtigende Zeitraum am 23. Mai 1990 begann und am 1. Juli 2005 endete, als die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erging. Er hat demnach etwas mehr als fünfzehn
Jahre für vier Rechtszüge gedauert.
A. Zur Zulässigkeit
26. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht offensichtlich unbegründet im Sinne von Artikel 35 Absatz 3 Buchstabe a der Konvention ist. Er weist außerdem darauf hin, dass in Bezug auf die Rüge kein anderer
Unzulässigkeitsgrund vorliegt. Sie ist daher für zulässig zu erklären.
B. Zur Hauptsache
27. Der Gerichtshof ruft in Erinnerung, dass die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens entsprechend den Umständen der Rechtssache und unter Berücksichtigung der in seiner Rechtsprechung verankerten Kriterien, insbesondere
der Komplexität des Falles, des Verhaltens des Beschwerdeführers und des Verhaltens der zuständigen Behörden sowie der Bedeutung des Rechtsstreits für die Betroffenen zu beurteilen ist (siehe unter vielen anderen Frydlender ./.
Frankreich [GK], Nr. 30979/96, Rdnr. 43, CEDH 2000-VII). 28. Der Gerichtshof hat mehrfach Rechtssachen behandelt, die ähnliche Fragen wie im vorliegenden Fall betreffen, und eine Verletzung des Artikels 6 Absatz 1 der
Konvention festgestellt (o.a. Rechtssache M., Dostál ./. Tschechische Republik, Nr. 52859/99, 25. Mai 2004, o.a. Rechtssache M. Nr. 2 und K. ./. Deutschland, Nr. 21061/06, 22. Dezember 2009).
29. Nach Prüfung aller ihm vorgetragenen Umstände ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die Dauer des Verfahrens seit seiner Wiederaufnahme im Jahr 2002 bis zum Abschluss am 1. Juli 2005 an sich zwar nicht als unangemessen zu
betrachten ist, die Gesamtdauer des streitigen Verfahrens aber übermäßig lang ist und dem Erfordernis einer „angemessenen Frist" nicht entspricht. Er ruft hierbei in Erinnerung, dass die Tatsache, dass die Dauer dieses Verfahrens
größtenteils durch den Beschluss bedingt ist, die Prüfung der Sache in Erwartung des Ausgangs des Verfahrens hinsichtlich der Kündigung und der gerichtlichen Vertragsauflösung auszusetzen (Rdnr. 8 oben), nicht deren
unverhältnismäßigen Charakter entkräftet, sondern im Rahmen des Artikels 41 der Konvention zu berücksichtigen ist (o.a. Rechtssache M. Nr. 2, Rdnr. 45).
30. Demnach ist Artikel 6 Absatz 1 verletzt worden.
II. DIE BEHAUPTETE VERLETZUNG DES ARTIKELS 13 DER KONVENTION
31. Der Beschwerdeführer rügt auch die Tatsache, es gäbe in Deutschland kein Gericht, an das man sich wenden könne, um sich über die übermäßige Verfahrensdauer zu beschweren. Er beruft sich auf Artikel 13 der Konvention, der
wie folgt lautet:
„Jede Person, die in ihren in dieser Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, hat das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben, auch wenn die Verletzung von Personen
begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben."
32. Die Regierung räumt ein, dass dem Beschwerdeführer kein wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung stand, um sich über die Dauer des streitigen Verfahrens zu beschweren. Sie weist auf den Gesetzentwurf hin, mit dem ein neuer
Entschädigungsanspruch im deutschen Recht eingeführt wird.
A. Zur Zulässigkeit
33. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht offensichtlich unbegründet im Sinne von Artikel 35 Absatz 3 Buchstabe a der Konvention ist. Er weist außerdem darauf hin, dass in Bezug auf die Rüge kein anderer
Unzulässigkeitsgrund vorliegt. Sie ist daher für zulässig zu erklären.
B. Zur Hauptsache
34. Der Gerichtshof erinnert daran, dass er wiederholt das Fehlen eines wirksamen Rechtsbehelfs im deutschen Recht festgestellt hat, um sich wegen der Dauer eines Zivilverfahrens im Sinne des Artikels 6 der Konvention zu
beschweren (S. ./. Deutschland [GK], Nr. 75529/01, Rdnrn. 115-116, CEDH 2006-VII, H. ./. Deutschland, Nr. 20027/02, Rdnrn. 65-68, 11. Januar 2007, und R. ./. Deutschland, Nr. 46344/06, Rdnr. 52, 2. September 2010).
35. Daher ist Artikel 13 der Konvention verletzt worden.
III. DIE ANDEREN VORGEBRACHTEN RÜGEN
36. Insoweit der Beschwerdeführer neue Rügen auf der Grundlage von Artikel 6 Absatz 1 der Konvention und des Protokolls Nr. 1 vorzubringen scheint, erinnert der Gerichtshof daran, dass er in seiner Teilentscheidung vom 19. Mai
2009 beschlossen hat, der Regierung nur die Rügen wegen der Verfahrensdauer und wegen des Fehlens einer wirksamen Beschwerde im Sinne des Artikels 13 der Konvention, um sich wegen der Dauer des Verfahrens zu beschweren,
zur Kenntnis zu bringen und die anderen vorgebrachten Rügen für unzulässig zu erklären. Demnach ist es nicht nötig, diese erneut zu würdigen.
IV. DIE ANWENDUNG DES ARTIKELS 41 DER KONVENTION
37. Artikel 41 der Konvention lautet wie folgt:
„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser
Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist."
A. Schaden
38. Wegen des materiellen Schadens verlangt der Beschwerdeführer 235.474,45 Euro (EUR) für den dreijährigen Verdienstausfall, mindestens 25.000 EUR wegen der Verletzung seines Grundrechts auf Beschäftigung und 6.174,98
EUR nebst Zinsen für Anwaltsgebühren der Gegenseite in dem Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten. Wegen des immateriellen Schadens, den er erlitten habe, fordert der Beschwerdeführer 63.000 EUR.
39. Was den behaupteten materiellen Schaden anbelangt, macht die Regierung geltend, es gäbe keinen Kausalzusammenhang zwischen den behaupteten Verletzungen und dem Schaden. Bezüglich des behaupteten immateriellen
Schadens hat sie sich wegen des unverhältnismäßigen Charakters der Ansprüche nicht geäußert.
40. Der Gerichtshof sieht keinen Kausalzusammenhang zwischen den festgestellten Verletzungen und dem behaupteten materiellen Schaden und weist diese Forderung zurück. Er ist hingegen der Auffassung, der Beschwerdeführer
habe mit Sicherheit einen immateriellen Schaden erlitten. Bezüglich der Verfahrensdauer ist er jedoch der Auffassung, dass die Feststellung einer Verletzung von Artikel 6 Absatz 1 eine ausreichende gerechte Entschädigung darstellt,
und zwar sowohl hinsichtlich der Dauer, die durch die Aussetzung des streitigen Verfahrens verursacht wurde (Rdnrn. 13-16 oben - siehe o.a. Rechtssache M. Nr. 2, Rdnr. 66), als auch hinsichtlich der Dauer des Verfahrens seit seiner
Wiederaufnahme bis zum Abschluss (Rdnr. 29 oben). In Bezug auf die Verletzung des Artikels 13 der Konvention billigt er dem Beschwerdeführer hierfür den Betrag von 1.000 EUR zu.
B. Kosten und Auslagen
41. Der Beschwerdeführer fordert ebenfalls 3.395,56 EUR für die Anwaltsgebühren vor dem Bundesarbeitsgericht und 4.500 EUR für die Kosten vor dem Gerichtshof sowie 1.370,85 EUR für Übersetzungskosten bezüglich des
Verfahrens vor dem Gerichtshof. Er fordert außerdem den Betrag von 2.000 EUR für eigene Kosten vor den innerstaatlichen Gerichten und vor dem Gerichtshof sowie 150 EUR bedingt durch die Ausgaben für Ablichtungen, Faxe und
Portogebühren.
42. Die Regierung hat hierzu nicht Stellung genommen.
43. Der Gerichtshof erinnert daran, dass ein Beschwerdeführer die Erstattung seiner Kosten und Auslagen nur insoweit erhalten kann, als diese tatsächlich angefallen sind und erforderlich waren, d.h. sie sich auf die festgestellte
Verletzung beziehen und im Hinblick auf ihre Höhe angemessen sind. Unter Berücksichtigung der dem Gerichtshof vorliegenden Unterlagen und angesichts seiner Rechtsprechung sowie der Tatsache, dass die Stellungnahmen des
Beschwerdeführers nicht nur die Rügen betrafen, die der Gerichtshof der Regierung zur Kenntnis gebracht hat (Rdnr. 36 oben), erachtet der Gerichtshof es für angemessen, im vorliegenden Fall den Betrag von 3.900 EUR für das
Verfahren vor dem Gerichtshof (kombinierte Kosten) und von 250 EUR für die Kosten des Beschwerdeführers zuzubilligen. Er erinnert hier daran, dass in den Fällen, in denen es sich um die Verfahrensdauer handelt, die
Verlängerung der Prüfung einer Sache über die „angemessene Frist" hinaus eine Erhöhung der Kosten zu Lasten des Betroffenen mit sich bringt (o.a. Rechtssache S., Rdnr. 148). Er billigt dem Beschwerdeführer demnach 4.150 EUR
für Kosten und Auslagen zu.
C. Verzugszinsen
44. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank zuzüglich 3 Prozentpunkte zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Er erklärt die Beschwerde für zulässig.
2. Er entscheidet, dass Artikel 6 Absatz 1 der Konvention verletzt ist.
3. Er entscheidet, dass Artikel 13 der Konvention verletzt ist.
4. Er entscheidet, dass
a) der beschwerdegegnerische Staat dem Beschwerdeführer innerhalb von drei Monaten 1.000 EUR (eintausend Euro) für den vom Beschwerdeführer erlittenen immateriellen Schaden und 4.150 EUR (viertausendeinhundertfünfzig
Euro) für Kosten und Auslagen zuzüglich der Beträge, die als Steuer möglicherweise angefallen sind, zu zahlen hat;
b) dass dieser Betrag nach Ablauf der genannten Frist und bis zur Zahlung um einfache Zinsen zu einem Satz entsprechend demjenigen der Spitzenrefinanzierungsfazilität der Europäischen Zentralbank, der in diesem Zeitraum
Gültigkeit hat, zu erhöhen ist, zuzüglich drei Prozentpunkten.
5. Er weist im Übrigen den Antrag auf gerechte Entschädigung zurück.
Ausgefertigt in französischer Sprache und anschließend am 13. Oktober 2011 gemäß Artikel 77 Absätze 2 und 3 der Verfahrensordnung schriftlich übermittelt. ..." (EGMR, Urteil vom 13.10.2011 - 3863/06)
***
„... 6. Der Beschwerdeführer wurde 1955 geboren und ist in M. wohnhaft.
1. Hintergrund der Sache
7. Am 16. März 1983 nahm der Beschwerdeführer eine Arbeit als Redakteur beim amerikanischen Rundfunksender Radio Free Europe/Radio Liberty (nachstehend „RFE/RL") auf. Nach der gegen den Beschwerdeführer ergangenen
Kündigung erhob dieser im Jahr 1988 vor dem Arbeitsgericht München eine Kündigungsschutzklage (Az. 22 Ca 2079/88). Im Zuge des Verfahrens beantragte RFE/RL die gerichtliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses des
Betroffenen; dies wurde vom Bundesarbeitsgericht am 7. März 2002 im letzten Rechtszug zurückgewiesen. Die Kündigung war am 25. September 1998 vom Landesarbeitsgericht endgültig aufgehoben worden. Die Dauer dieses
Verfahrens war Gegenstand des Urteils M. ./. Deutschland (Nr. 422505/98 vom 18. Oktober 2001), mit dem der Gerichtshof eine Verletzung von Artikel 6 Absatz 1 der Konvention festgestellt und dem Beschwerdeführer 15.000 DM
(ca. 7.500 EUR) als Entschädigung für den erlittenen immateriellen Schaden zugesprochen hat.
2. Das streitige Verfahren
8. Am 21. März 1994 ersuchte RFE/RL die zuständigen Sozialbehörden um Zustimmung zu der erneuten Kündigung des Beschwerdeführers. Am 11. Mai 1994 nahm der Beschwerdeführer hierzu Stellung. Am 6. Juni 1994 erteilten
die Sozialbehörden ihre Zustimmung zu der Kündigung. Am 22. Juni 1994 sprach RFE/RL die Kündigung aus (siehe M. ./. Deutschland, Beschwerde Nr. 32637/08, 13. Oktober 2011).
9. Am 9. Juli 1994 legte der Beschwerdeführer Widerspruch ein, der von den Sozialbehörden am 7. August 1995 zurückgewiesen wurde.
10. Am 20. September 1995 erhob der Beschwerdeführer vor dem Verwaltungsgericht München Klage gegen die ergangenen Entscheidungen (M 6b K 95.4464).
11. Am 27. August 1996 unterrichtete RFE/RL das Gericht, dass das Kündigungsschutzverfahren von 1988 noch nicht beendet sei. Am 27. Oktober 1998 beantragte der Beschwerdeführer, das Verfahren ruhen zu lassen. Am 15. Mai
1999 beantragte er die Wiederaufnahme des Verfahrens. Am 16. September 1999 ordnete das Verwaltungsgericht die Aussetzung des Verfahrens an, um den Ausgang des Kündigungsschutzverfahrens abzuwarten. Am 9. November
2000 erklärte es das Verfahren für statistisch erledigt.
12. Am 5. Juli 2002 beantragte der Beschwerdeführer, das Verfahren wieder aufzunehmen. Es erhielt ein neues Geschäftszeichen (M 15 K 02.3261).
13. Am 7. September 2002 beantragte er Prozesskostenhilfe. Am 14. Mai 2003 rief der Beschwerdeführer die Sache beim Verwaltungsgericht in Erinnerung.
14. Am 27. Juni 2003 rügte er die Untätigkeit des Verwaltungsgerichts. Mit Entscheidung vom 4. Juli 2003 wies das Verwaltungsgericht den Antrag ab. Am 8. September 2003 erklärte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die
Beschwerde des Beschwerdeführers für unzulässig. Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes und die Dauer des Verfahrens zur Prozesskostenhilfe hatte keinen Erfolg
(1 BvR 2144/03).
15. Am 2. Dezember 2003 wies das Verwaltungsgericht den Antrag auf Prozesskostenhilfe mit der Begründung zurück, der Beschwerdeführer habe seine Bedürftigkeit nicht nachgewiesen. Mit Beschluss vom 16. März 2004 wies der
Verwaltungsgerichtshof die Beschwerde des Beschwerdeführers hiergegen zurück.
16. Am 10. November 2004 wies das Verwaltungsgericht in anderer Zusammensetzung Ablehnungsanträge des Beschwerdeführers mit der Begründung zurück, es lägen keine objektiven Gründe vor, um an der Unparteilichkeit der
betreffenden Richter zu zweifeln. Die Tatsache, dass der Antrag auf Prozesskostenhilfe nicht mit der wünschenswerten Zügigkeit behandelt worden sei, sei kein Ablehnungsgrund. Am 25. Januar 2007 erklärte das
Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers gegen diese Entscheidung für unzulässig (1 BvR 2821/04).
17. Mit Urteil vom 12. Mai 2005 gab das Verwaltungsgericht der Klage des Beschwerdeführers statt und erklärte die Zustimmung der Sozialbehörden zu der erneuten Kündigung für nichtig.
18. RFE/RL legte gegen dieses Urteil Berufung ein.
19. Zwischen dem 22. März und dem 20. Juli 2006 lehnte der Beschwerdeführer vier Richter des Verwaltungsgerichtshofs ab; dieser wies die Ablehnungsgesuche zurück. Am 22. August und 4. September 2006 erklärte das
Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerden des Beschwerdeführers für unzulässig (1 BvR 1799/06 und 2047/06).
20. Mit Urteil vom 28. Juli 2006 hob der Verwaltungsgerichtshof das Urteil des Verwaltungsgerichts auf, wies den Antrag des Beschwerdeführers zurück und erlegte ihm die Zahlung der Gerichtskosten und der Auslagen von RFE/RL
auf. Die Revision wurde vom Verwaltungsgerichtshof nicht zugelassen. 21. Am 4. September und 6. Oktober 2006 setzte ein Rechtspfleger die Verfahrenskosten fest. 22. Am 13. November 2006 wies der Verwaltungsgerichtshof den
Antrag des Beschwerdeführers auf Berichtigung seines Urteils zurück. Eine dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers wurde für unzulässig erklärt (1 BvR 14/07).
23. Am 22. November 2006 wies das Verwaltungsgericht die Erinnerung des Beschwerdeführers gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss zurück.
24. Am 11. Dezember 2006 wies das Bundesverwaltungsgericht den Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Revision zurück und lehnte die Gewährung von Prozesskostenhilfe mit der Begründung ab, dass die beabsichtigte
Revision keine hinreichenden Erfolgsaussichten biete.
25. Am 14. Februar 2007 erklärte das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers gegen die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts für unzulässig (1 BvR 166/07).
26. Am 26. Februar und 20. April 2007 wies das Verwaltungsgericht die Befangenheitsanträge und eine Anhörungsrüge des Beschwerdeführers zurück. Am 27. Juni 2007 erklärte das Bundesverfassungsgericht die Beschwerde gegen
die Entscheidungen für unzulässig (1 BvR 1449/07).
27. Am 20. August 2007 wies der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts vom 22. November 2006 in der Sache der Kostenfestsetzung zurück.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. BEHAUPTETE VERLETZUNG DES ARTIKELS 6 ABSATZ 1 DER KONVENTION
28. Der Beschwerdeführer behauptet, die Dauer des Verfahrens habe den Grundsatz der „angemessenen Frist" im Sinne des Artikels 6 Absatz 1 der Konvention verletzt, wonach
„[j]ede Person ein Recht darauf [hat], dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen (...) von einem (...) Gericht (...) innerhalb angemessener Frist verhandelt wird".
29. Die Regierung räumt ein, dass dieser Artikel verletzt worden ist. Sie betont jedoch, dass es sich um einen relativ komplexen Fall handele, der im Zusammenhang mit den anderen vom Beschwerdeführer parallel hierzu
angestrengten Verfahren zu sehen sei. Der Beschwerdeführer habe im Übrigen selbst erheblich zur Dauer des Verfahrens beigetragen, wie die mindestens sieben Verfassungsbeschwerden beim Bundesverfassungsgericht und die
mehrfachen Ablehnungsanträge gegenüber fast allen mit seiner Sache befassten Richtern zeigten. Die Regierung ist der Ansicht, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts, das Verfahren bis zum Ausgang des
Kündigungsschutzverfahrens und des Verfahrens über den Auflösungsantrag auszusetzen, sinnvoll gewesen sei. Seit der Wiederaufnahme des Verfahrens sei keine Untätigkeit der Gerichte erkennbar, die Anlass zu Beanstandungen
geben konnte. Das Verfahren sei außerdem keines, bei dem besondere Eile geboten sei.
30. Der Gerichtshof stellt fest, dass der zu berücksichtigende Zeitraum mit dem Widerspruch des Beschwerdeführers vom 9. Juli 1994 einsetzte und am 20. August 2007 mit der Zurückweisung der Beschwerde des
Beschwerdeführers vom 22. November 2006 gegen die Kostenentscheidung des Verwaltungsgerichts durch den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof endete. Die Verfahrensdauer betrug somit etwas mehr als dreizehn Jahre für vier
Rechtszüge unter Einschluss des vorgeschalteten Verwaltungsverfahrens und des Verfahrens betreffend die Kosten.
A. Zur Zulässigkeit
31. Der Gerichtshof stellt fest, dass die vorliegende Rüge im Sinne von Artikel 35 Absatz 3 Buchstabe a der Konvention nicht offensichtlich unbegründet ist. Er hebt außerdem hervor, dass ein anderer Unzulässigkeitsgrund ebenfalls
nicht erkennbar sei. Die Beschwerde sei daher für zulässig zu erklären.
B. Zur Hauptsache
32. Der Gerichtshof ruft in Erinnerung, dass die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens entsprechend den Umständen der Rechtssache und unter Berücksichtigung der in seiner Rechtsprechung verankerten Kriterien, insbesondere
der Komplexität des Falles, des Verhaltens des Beschwerdeführers und des Verhaltens der zuständigen Behörden sowie der Bedeutung des Rechtsstreits für die Betroffenen zu beurteilen ist (siehe unter vielen anderen Frydlender ./.
Frankreich [GK], Nr. 30979/96, Rdnr. 43, CEDH 2000-VII). Er erinnert auch daran, dass bei arbeitsrechtlichen Streitigkeiten besondere Eile geboten ist (Ruotolo ./. Italien, Urteil vom 27. Februar 1992, Serie A Bd. 230-D, S. 39,
Rdnr. 17).
33. Der Gerichtshof hat mehrfach Rechtssachen behandelt, die ähnliche Fragen wie im vorliegenden Fall betreffen, und eine Verletzung des Artikels 6 Absatz 1 der Konvention festgestellt (o.a. Rechtssache M., Dostál ./. Tschechische
Republik, Nr. 52859/99, 25.Mai 2004, M. ./. Deutschland (Nr. 2), Nr. 71972/01, 11. Juni 2009 und K. ./. Deutschland, Nr. 21061/06, 22. Dezember 2009).
34. Nach Prüfung aller ihm vorliegenden Einzelheiten des Falles vertritt der Gerichtshof die Auffassung, dass, auch wenn man die Dauer des streitigen Verfahrens seit seiner Wideraufnahme im Jahr 2002 bis zu seinem Abschluss im
Jahr 2007 unabhängig von seiner Bedeutung für die Rechtsgültigkeit der zweiten Kündigung des Beschwerdeführers an sich nicht als überzogen betrachten kann, sich die Gesamtdauer des streitigen Verfahrens dennoch über einen
übermäßig langen Zeitraum erstreckt, der dem Erfordernis einer gerichtlichen Entscheidung innerhalb einer „angemessenen Frist" nicht gerecht wird. Er erinnert daran, dass die Tatsache, dass die Dauer des Verfahrens weitgehend
durch den Beschluss des Verwaltungsgerichts bedingt sei, die Prüfung der Sache in Erwartung des Ausgangs des Kündigungsschutzverfahrens und des Antrags auf gerichtliche Auflösung des Arbeitsvertrags auszusetzen (Rdnr. 7
oben), nicht deren unverhältnismäßigen Charakter entkräfte, sondern im Rahmen des Artikels 41 der Konvention berücksichtigt werden müsse (o.a. Rechtssache M. Nr. 2, Rdnr.45).
35. Demnach liegt eine Verletzung von Artikel 6 Absatz 1 vor.
II. BEHAUPTETE VERLETZUNG DES ARTIKELS 13 DER KONVENTION
36. Der Beschwerdeführer rügt auch die Tatsache, dass es in Deutschland keine gerichtliche Instanz gebe, an die man sich wenden könne, um sich über die übermäßige Verfahrensdauer zu beschweren. Er beruft sich dabei auf Artikel
13 der Konvention, der wie folgt lautet:
„Jede Person, die in ihren in dieser Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, hat das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben, auch wenn die Verletzung von Personen
begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben."
37. Die Regierung räumt ein, dass dem Beschwerdeführer kein wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung stand, um sich über die Dauer des streitigen Verfahrens zu beschweren. Sie verweist auf den Gesetzentwurf, der für diesen Fall
erstmals einen Entschädigungsanspruch im deutschen Recht vorsieht.
A. Zur Zulässigkeit
38. Der Gerichtshof stellt fest, dass die vorliegende Rüge nicht offensichtlich unbegründet im Sinne von Artikel 35 Absatz 3 Buchstabe a der Konvention ist. Er hebt außerdem hervor, dass ein anderer Unzulässigkeitsgrund ebenfalls
nicht erkennbar sei. Die Beschwerde sei daher für zulässig zu erklären.
B. Zur Hauptsache
39. Der Gerichtshof erinnert daran, dass er schon wiederholt das Fehlen eines wirksamen Rechtsbehelfs im deutschen Recht gegen die überlange Dauer eines Zivilverfahrens im Sinne des Artikels 6 der Konvention festgestellt
habe (S. ./. Deutschland [GK], Nr. 75529/01, Rdnrn. 115-116, CEDH 2006-VII, H. ./. Deutschland, Nr. 20027/02, Rdnrn. 65-68, 11. Januar 2007, und R. ./. Deutschland, Nr. 46344/06, Rdnr. 52, 2. September 2010).
40. Es liegt folglich eine Verletzung des Artikels 13 der Konvention vor.
III. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION
41. Artikel 41 der Konvention lautet wie folgt:
„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser
Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist."
42. Der Beschwerdeführer hat weder eine Stellungnahme abgegeben noch eine gerechte Entschädigung gefordert, sondern hat fünf Tage vor Ablauf der Frist für die Abgabe einer Stellungnahme zum Vortrag der Regierung
Prozesskostenhilfe beantragt, um seine Verteidigungsrechte wahrnehmen zu können. Der Präsident der Kammer, der die Beschwerde ursprünglich zugewiesen worden war (Rdnr. 3 oben), hat den Antrag abgewiesen. Nach Auffassung
des Gerichtshofs besteht daher keine Veranlassung, dem Beschwerdeführer hierfür einen Betrag zuzubilligen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Er erklärt die Beschwerde für zulässig.
2. Er entscheidet, dass Artikel 6 Absatz 1 der Konvention verletzt ist.
3. Er entscheidet, dass Artikel 13 der Konvention verletzt ist. ..." (EGMR, Urteil vom 13.10.2011 - 41629/07)
***
„... Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass nach seiner ständigen Rechtsprechung Verfahren, auch wenn sie vor einem Verfassungsgericht geführt werden, in den Anwendungsbereich von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention fallen
können, wenn - wie im vorliegenden Fall - das Ergebnis dieses Verfahrens den Ausgang des fachgerichtlichen Verfahrens beeinflussen kann (siehe u. a. V. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 47169/99, Rdnrn. 31-32, ECHR
2004-I (auszugsweise)). Das in Rede stehende Verfahren, in dem es um die Berechnung der Altersrente des Beschwerdeführers geht, betrifft die Klärung seiner "zivilrechtlichen Ansprüche" im Sinne von Artikel 6 Abs. 1, der somit
anwendbar ist (siehe u. a. S., a. a. O., Rdnr. 42).
Der Gerichtshof stellt fest, dass davon auszugehen ist, dass der Beschwerdeführer ausschließlich das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht rügt. Der zu prüfende Zeitraum begann am 4. Oktober 2005, als der
Beschwerdeführer seine Verfassungsbeschwerde erhob, und endete am 7. Oktober 2008, als das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde zurückwies. Er belief sich somit auf etwas mehr als drei Jahre.
Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen der Rechtssache sowie unter Berücksichtigung folgender Kriterien zu beurteilen ist: Komplexität der Rechtssache, Verhalten
des Beschwerdeführers sowie der zuständigen Behörden und Bedeutung des Rechtsstreits für den Beschwerdeführer (siehe u. v. a. Frydlender ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 30979/96, Rdnr. 43, ECHR 2000-VII).
In der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass die Verfahrensdauer im Hinblick auf das Erfordernis der "angemessenen Frist" nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention nicht überlang war. Dem Gerichtshof ist bewusst,
dass es in dem Verfahren um die Berechnung der Rentenansprüche des Beschwerdeführers und für ihn daher, auch im Hinblick auf sein Alter, um eine wichtige Angelegenheit ging (siehe S., a. a. O., Rdnr. 61, P. ./. Deutschland
(Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 901/05, 25. März 2010). Aber der Gerichtshof muss auch berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer bereits eine monatliche Rente in Höhe von 1.153,43 EUR bezog. Außerdem haben die
Instanzgerichte seine Rechtssache ohne unangemessene Verzögerung erledigt, nämlich innerhalb von weniger als vier Jahren bei drei Rechtszügen. Auch im Hinblick darauf, dass besonders ein Verfassungsgericht in seiner Rolle als
Hüter der Verfassung bisweilen andere Erwägungen als die rein chronologische Reihenfolge des Eingangs der Rechtssachen, nämlich z.B. die Natur der Sache und ihre Bedeutung in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht,
berücksichtigen muss (siehe S., a. a. O., Rdnr. 56, G. und P., Individualbeschwerde Nr. 29357/95, Rdnr. 75, und zuletzt S. und R. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 3237/06, 12. April 2011), stellt der Gerichtshof
fest, dass die Verfahrensdauer in der vorliegenden Rechtssache noch nicht als überlang angesehen werden kann. Die Rüge des Beschwerdeführers ist deshalb offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und
Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen. ...
Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass Artikel 13 auch dann anwendbar ist, wenn eine Verletzung der Konventionsrechte des Beschwerdeführers nicht vorliegt. Allerdings findet er nur dann Anwendung, wenn eine Person
"vertretbar" beanspruchen kann, in einem Recht aus der Konvention verletzt zu sein (siehe u. a. Boyle und Rice . / .Vereinigtes Königreich, 27. April 1988, Rdnr. 52, Serie A Bd. 131).Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass die
Rüge des Beschwerdeführers nach Artikel 6 Abs. 1 wegen der Verfahrensdauer offensichtlich unbegründet ist. Folglich hatte der Beschwerdeführer keinen "vertretbaren Anspruch" im Sinne von Artikel 13 (siehe beispielsweise S. ./.
Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 22367/04, 12. Februar 2008, und E. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 77151/01, 23. Juni 2005). Daraus folgt, dass diese Beschwerde ebenfalls offensichtlich
unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist. ..." (EGMR, Entscheidung vom 06.09.2011 - 24098/09)
***
Art. 10 EMRK (Freiheit der Meinungsäußerung) gilt auch am Arbeitsplatz und auch dann, wenn für das Arbeitsverhältnis Privatrecht gilt. Der Staat ist verpflichtet, dieses Recht auch im Verhältnis zwischen Privatpersonen zu
schützen. Die von den deutschen Gerichten bestätigte Kündigung der Beschwerdeführerin war ein Eingriff in ihr Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung, der gegen Art. 10 EMRK verstößt, es sei denn, er ist „gesetzlich vorgesehen",
verfolgt ein berechtigtes Ziel i.S. von Art. 10 II EMRK und ist „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig", um dieses Ziel zu erreichen. Die Kündigung war auf § BGB § 626 BGB gestützt. Für die Beschwerdeführerin war
angesichts der Rechtsprechung vorhersehbar, dass eine Strafanzeige gegen ihren Arbeitgeber ein wichtiger Grund für eine fristlose Kündigung sein konnte. Wegen der Pflicht des Arbeitnehmers zu Loyalität und Vertraulichkeit
müssen Informationen zunächst dem Vorgesetzten gegeben werden. Nur wenn das nicht möglich ist, kann der Arbeitnehmer als letztes Mittel damit an die Öffentlichkeit gehen. Bei der erforderlichen Interessenabwägung ist von
Bedeutung, ob an der Information ein öffentliches Interesse besteht und ob sie fundiert ist. Jeder, der Informationen weitergeben will, muss grundsätzlich prüfen, ob sie genau und zuverlässig sind. Außerdem müssen der mögliche
Schaden für den Arbeitgeber, die Gründe für die Information und die Art der Sanktion berücksichtigt werden. Eine Strafanzeige wegen Missständen am Arbeitsplatz kann gerechtfertigt sein, wenn vernünftigerweise nicht
erwartet werden kann, dass innerbetriebliche Beschwerden zu einer Untersuchung und Abhilfe führen. Die Anzeigen der Beschwerdeführerin hatten einen tatsächlichen Hintergrund und waren nicht wissentlich oder leichtfertig
falsch. Nach ihren Erfahrungen mit vielen ergebnislosen betriebsinternen Beschwerden konnte sie annehmen, dass die Strafanzeige das letzte Mittel zur Verbesserung der Pflegesituation sei. Das öffentliche Interesse an Informationen
über Mängel in der Altenpflege in staatlichen Pflegeheimen hat so viel Gewicht, dass es das Interesse des Unternehmens am Schutz seines guten Rufs im Geschäftsverkehr und seiner geschäftlichen Interessen überwiegt. Die fristlose
Kündigung war unverhältnismäßig hart und nicht „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig". Sie hat deswegen Art. 10 EMRK verletzt (EGMR, Urteil v. 21.07.2011 - 28274/08, NJW 2011, 3501 ff - Whistleblowing):
„... I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE
6. Die 1961 geborene Beschwerdeführerin ist in B. wohnhaft. Sie war vom 16. September 2000 bis zu ihrer Entlassung am 9. Februar 2005 als Altenpflegerin bei der auf Gesundheitspflege, Geriatrie und Altenhilfe spezialisierten
Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH (im Folgenden ‚Vivantes') beschäftigt, die sich im Mehrheitsbesitz des Landes Berlin befindet.
A. Die Vorkommnisse, die der Kündigung der Beschwerdeführerin vorausgingen
7. Ab Januar 2002 war die Beschwerdeführerin in einem von Vivantes betriebenen Altenpflegeheim tätig, dessen Bewohner teilweise bettlägerig, desorientiert und insgesamt auf besondere Unterstützung angewiesen waren. 2002
stellte der medizinische Dienst der Krankenkassen (im Folgenden ‚MDK') erhebliche, auf die geringe Personalausstattung zurückzuführende Mängel bei der dort geleisteten Pflege fest.
8. Vom 24. Januar 2003 bis zum 19. Oktober 2004 wiesen die Beschwerdeführerin und ihre Kollegen die Geschäftsleitung regelmäßig darauf hin, dass sie aufgrund des Personalmangels überlastet seien und infolgedessen
Schwierigkeiten hätten, ihren Pflichten nachzukommen. Sie benannten die konkreten Mängel bei der geleisteten Pflege und erwähnten auch, dass die Leistungen nicht ordnungsgemäß dokumentiert würden. In einer
Überlastungsanzeige vom 18. Mai 2003 erwähnte die Beschwerdeführerin darüber hinaus, dass sie nicht mehr in der Lage sei, die Verantwortung für die aus dem Personalmangel resultierenden Pflegemängel zu tragen. Ab dem 19.
Mai 2003 erkrankte die Beschwerdeführerin zudem wiederholt und war teilweise arbeitsunfähig. Ausweislich einer ärztlichen Bescheinigung war dies auf Überlastung zurückzuführen.
9. Im November 2003 stellte der MDK nach einer weiteren Prüfung schwerwiegende Mängel bei der geleisteten Pflege fest, und zwar u. a. unzureichende personelle Ausstattung, unzureichende Standards und ungenügende Pflege
sowie mangelhafte Dokumentation der Pflege; er drohte deshalb die Kündigung des Versorgungsvertrags mit der Arbeitgeberin der Beschwerdeführerin an. Anschließend fanden Umstrukturierungen statt.
10. Nach weiteren Hinweisen an ihre Vorgesetzten, insbesondere im Oktober 2004, in denen sie die Situation schilderte, erkrankte die Beschwerdeführerin erneut und wandte sich schließlich an einen Rechtsanwalt.
11. Mit Schreiben vom 9. November 2004 wandte sich der Rechtsanwalt der Beschwerdeführerin an die Geschäftsleitung von Vivantes. Er wies darauf hin, dass aufgrund des Personalmangels eine ausreichende hygienische
Grundversorgung nicht mehr gewährleistet werden könne. Er forderte die Geschäftsleitung auch auf darzulegen, wie strafrechtliche Folgen - auch für das Personal - vermieden und eine ausreichende Versorgung der Heimbewohner
sichergestellt werden könnten. Er wies die Geschäftsleitung darauf hin, dass nur auf diesem Wege die Einleitung eines staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens oder eine öffentliche Diskussion über die Situation mit all ihren
negativen Folgen vermieden werden könnten. Er setzte der Geschäftsleitung eine Frist bis zum 22. November 2004, um darauf zu antworten.
12. Am 18. November 2004 führte der MDK eine erneute unangemeldete Prüfung der Einrichtung durch. Später war zwischen den Parteien strittig, ob der MDK tatsächlich festgestellt hatte, dass die Personalsituation zwar angespannt,
jedoch nicht kritisch sei.
13. Am 22. November 2004 wies die Geschäftsleitung die Vorwürfe der Beschwerdeführerin zurück.
14. Am 7. Dezember 2004 erstattete der Rechtsanwalt der Beschwerdeführerin wegen besonders schweren Betrugs Strafanzeige gegen Vivantes und forderte die Staatsanwaltschaft dazu auf, die Umstände des Falls unter allen in
Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen. Er legte dar, dass die Strafanzeige auch das Ziel verfolge, strafrechtliche Folgen für die Beschwerdeführerin zu vermeiden, die Vivantes vielfach auf Missstände
aufmerksam gemacht habe, ohne dass dies zu einer Verbesserung der Pflege geführt habe. Er trug vor, dass ihre Arbeitgeberin aufgrund des Personalmangels und der unzureichenden Standards wissentlich nicht die in ihrer Werbung
angekündigte qualitativ hochwertige Pflege biete, somit die bezahlten Leistungen nicht erbringe und die Bewohner gefährde. Er behauptete auch, dass Vivantes systematisch versuche, die bestehenden Probleme zu vertuschen, und die
Mitarbeiter anhalte, Berichte über die erbrachten Leistungen zu fälschen. In der Anzeige wurde auf den Bericht des MDK im Anschluss an dessen Besuch im Jahr 2003 verwiesen und darauf hingewiesen, dass die Beschwerdeführerin
bereit sei, die schlechten Bedingungen in dem Pflegeheim zu bestätigen. Die Anzeige beinhaltete ferner die von der Beschwerdeführerin gestellten Überlastungsanzeigen und verwies auf ein im Rahmen einer Mitarbeiterversammlung
erstelltes Protokoll, in dem den Mitarbeitern von Vivantes geraten wurde, mit den Bewohnern und deren Verwandten nicht über Personal- und Zeitmangel zu sprechen, um disziplinarrechtliche Konsequenzen zu vermeiden. Die
Strafanzeige beinhaltete außerdem folgende Passage:
‚Die Vivantes GmbH, die finanziell angeschlagen ist und um ihren Zustand weiß, hat … Angehörige … getäuscht. Den … aufgebrachten Kosten steht keine auch nur annähernd adäquate Gegenleistung gegenüber. Die Vivantes GmbH
bereichert sich somit … und nimmt … die medizinische und hygienische Unterversorgung der Bewohner in Kauf. ... Hieran zeigt sich, ... wie diese systematisch und unter Einschüchterung ihrer Mitarbeiter versucht, die bestehenden
Probleme zu vertuschen. Die Pflegekräfte werden angehalten, Leistungen zu dokumentieren, welche so gar nicht erbracht worden sind. …auch in anderen Einrichtungen [bestehen] ähnliche Probleme …, so dass ein Schaden in
Millionenhöhe in Rede steht.'
15. Am 10. Dezember 2004 wandte sich der Rechtsanwalt der Beschwerdeführerin auch an den Verwaltungsrat ihrer Arbeitgeberin und erklärte, dass in dem Pflegeheim Personalmangel und unzureichende hygienische Verhältnisse herrschten.
16. Am 5. Januar 2005 stellte die Staatsanwaltschaft Berlin das Ermittlungsverfahren gegen Vivantes nach § 170 Abs. 2 StPO (siehe ‚Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis') ein.
17. Mit Schreiben vom 19. Januar 2005 kündigte das Pflegeheim der Beschwerdeführerin aus krankheitsbedingten Gründen mit Wirkung zum 31. März 2005. Dagegen erhob die Beschwerdeführerin Kündigungsschutzklage vor dem
Arbeitsgericht Berlin (35 Ca 3077/05).
18. Im Anschluss nahm die Beschwerdeführerin Kontakt zu Freunden und ihrer Gewerkschaft, der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di), auf. Am 27. Januar 2005 gaben sie ein Flugblatt mit folgender Überschrift heraus:
‚Vivantes will Kollegen/Innen einschüchtern!!
Nicht mit uns!
Sofortige Rücknahme der … Kündigung der Kollegin B. bei Vivantes Forum für Senioren
Einladung zur Gründung eines überparteilichen Solidaritätskreises'
In dem Flugblatt stand auch, die Beschwerdeführerin habe Strafanzeige erstattet, die jedoch nicht zur Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen geführt habe, und dass sie krankheitsbedingt entlassen worden sei. Außerdem stand
Folgendes darin:
‚Wehren wir uns endlich … Der Wahnsinn, dass private Betreiber gemeinsam mit dem Berliner SPD/PDS-Senat aus reiner Profitgier unser aller Arbeitskraft zerstören… Vivantes nutzt das soziale Engagement seines Personals
schamlos aus. ... [H]ier geht es um weit mehr als um eine Kündigung! Dies ist eine politische Disziplinierung, um [Beschäftigte] … mundtot zu machen …'
19. Am 31. Januar 2005 faxte die Beschwerdeführerin ein Flugblatt an die Einrichtung, wo dieses verteilt wurde. Erst zu diesem Zeitpunkt wurde Vivantes auf die Strafanzeige der Beschwerdeführerin aufmerksam.
20. Am 1. Februar 2005 gab die Arbeitgeberin der Beschwerdeführerin Gelegenheit, sich zu dem Flugblatt zu äußern, was sie jedoch ablehnte. Am 4. Februar 2005 setzte Vivantes den Betriebsrat von ihrer Absicht in Kenntnis, der
Beschwerdeführerin fristlos zu kündigen. Am 8. Februar 2005 erklärte der Betriebsrat, dass er der Kündigung der Beschwerdeführerin nicht zustimmen werde.
21. Am 9. Februar 2005 kündigte die Arbeitgeberin der Beschwerdeführerin wegen des Verdachts, die Erstellung und Verbreitung des Flugblatts initiiert zu haben, fristlos, hilfsweise zum 31. März 2005.
22. Im Anschluss daran wurde ein neues Flugblatt herausgegeben, in dem über die Kündigung berichtet wurde; außerdem wurde in einer Fernsehsendung sowie in zwei Artikeln, die in verschiedenen Zeitungen erschienen, darüber berichtet.
23. Am 21. Februar 2005 nahm die Staatsanwaltschaft Berlin das Ermittlungsverfahren gegen Vivantes auf Antrag der Beschwerdeführerin wieder auf.
24. Am 25. Februar 2005 reichte die Beschwerdeführerin beim Arbeitsgericht Berlin Klage gegen ihre fristlose Kündigung vom 9. Februar 2005 ein (39 Ca 4775/05).
25. Am 25. April 2005 kündigte die frühere Arbeitgeberin der Beschwerdeführerin erneut. Die Klage der Beschwerdeführerin vom 25. Februar 2005 wurde sodann entsprechend erweitert.
26. Am 12. Mai 2005 wurde die Beschwerdeführerin von der Staatsanwaltschaft als Zeugin in dem Ermittlungsverfahren gegen Vivantes vernommen. Am 26. Mai 2005 wurde das Ermittlungsverfahren erneut nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.
B. Zivilverfahren nach der fristlosen Kündigung der Beschwerdeführerin
27. Mit Urteil vom 3. August 2005 (39 Ca 4775/05) stellte das Arbeitsgericht Berlin fest, dass das Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung vom 9. Februar 2005 aufgelöst worden sei, weil sie weder nach § 626 Abs. 1 BGB, noch
nach § 1 Abs. 1 KSchG (siehe ‚Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis') gerechtfertigt sei. Es stellte insoweit fest, dass das Flugblatt - dessen Inhalt der Beschwerdeführerin zuzurechnen sei, da sie
es ohne weitere Erklärung an ihre Arbeitgeberin übermittelt habe - von ihrem Grundrecht auf Meinungsfreiheit gedeckt sei und ihre arbeitsvertraglichen Pflichten nicht verletze. Es sei zwar polemisch, basiere aber auf objektiven
Gründen und der Betriebsfrieden in dem Pflegeheim sei nicht beeinträchtigt worden.
28. Nach einer Verhandlung am 28. März 2006 hob das Landesarbeitsgericht Berlin, mit Urteil vom selben Datum, das Urteil des Arbeitsgerichts auf und stellte fest, dass die Kündigung vom 9. Februar 2005 wirksam gewesen sei, da
mit der Strafanzeige der Beschwerdeführerin der erforderliche ‚wichtige Grund' für die fristlose Kündigung nach § 626 Abs. 1 BGB vorgelegen habe und eine Fortsetzung des Dienstverhältnisses unzumutbar gewesen sei. Es stellte
fest, die Beschwerdeführerin habe ihre Strafanzeige leichtfertig auf Tatsachen gegründet, die sie im Prozess nicht habe darlegen können, weil insbesondere ihre bloße Bezugnahme auf den Personalmangel nicht ausreiche, um einen
Abrechnungsbetrug anzuzeigen, und weil die Beschwerdeführerin die behauptete Anweisung zur Fälschung von Berichten ferner nicht konkretisiert habe - was sich auch aus dem Umstand ergebe, dass die Staatsanwaltschaft keinerlei
Ermittlungen eingeleitet habe. Das Landesarbeitsgericht stellte ferner fest, dass die Strafanzeige eine unverhältnismäßige Reaktion auf die Weigerung seitens Vivantes darstelle, den von ihr behaupteten Personalmangel als bestehend
anzuerkennen, denn die Beschwerdeführerin habe bezüglich des behaupteten Abrechnungsbetrugs eine innerbetriebliche Klärung nie versucht und habe darüber hinaus beabsichtigt, durch das Hervorrufen einer öffentlichen Diskussion
unzulässigen Druck auf ihre Arbeitgeberin auszuüben. Es wies auch darauf hin, dass das Pflegeheim unter der Aufsicht des MDK stehe, der am 18. November 2004, kurz bevor die Beschwerdeführerin Strafanzeige gestellt habe, eine
weitere Prüfung in der Einrichtung durchgeführt habe. Sie hätte das Ergebnis dieses Besuchs abwarten können, weshalb ihre Strafanzeige unnötig gewesen sei. Das Gericht nahm auch auf die vom Bundesarbeitsgericht in dessen
einschlägiger Rechtsprechung niedergelegten Grundsätze (siehe ‚Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis') Bezug und kam zu dem Schluss, dass die Beschwerdeführerin nicht im Rahmen ihrer
Verfassungsrechte gehandelt und ihre Loyalitätspflicht gegenüber ihrer Arbeitgeberin verletzt habe.
29. Am 6. Juni 2007 wies das Bundesarbeitsgericht die Beschwerde der Beschwerdeführerin gegen die Nichtzulassung der Revision zurück.
30. Mit Beschluss vom 6. Dezember 2007, welcher der Beschwerdeführerin am 12. Dezember 2007 zugestellt wurde, lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, ihre Verfassungsbeschwerde zur
Entscheidung anzunehmen.
II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT UND VÖLKERRECHT SOWIE EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE UND VÖLKERRECHTLICHE PRAXIS
A. Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis
1. Kündigung eines Arbeitnehmers wegen einer Strafanzeige gegen den Arbeitgeber
31. Abgesehen von speziellen Bestimmungen für Beamte bezüglich der Meldung von Korruptionsverdachtsfällen enthält das deutsche Recht keine allgemeinen Bestimmungen für die Offenlegung von Missständen in Unternehmen
oder Einrichtungen durch einen Arbeitnehmer (sogenanntes Whistleblowing), beispielsweise bei rechtswidrigem Verhalten seitens des Arbeitgebers, und die Diskussionen über entsprechende Gesetzesentwürfe haben noch nicht zu
Ergebnissen geführt.
(a) Die einschlägigen Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs und des Kündigungsschutzgesetzes
32. Da es keine solchen speziellen Bestimmungen gibt, kann die außerordentliche Kündigung eines Arbeitnehmers wegen Erstattung einer Strafanzeige gegen den Arbeitgeber auf § 626 Abs. 1 BGB gegründet werden, der vorsieht,
dass ein Dienstverhältnis von jedem Vertragsteil aus ‚wichtigem Grund' ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden kann. Hierzu müssen Tatsachen vorliegen, auf Grund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung
aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung des Dienstverhältnisses
nicht zugemutet werden kann.
33. Nach § 1 Abs. 1 KSchG ist die Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber rechtsunwirksam, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist. Laut § 1 Abs. 2 KSchG ist die Kündigung sozial ungerechtfertigt, wenn sie nicht
durch Gründe, die in der Person oder in dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist.
(b) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts
34. In einer Entscheidung vom 2. Juli 2001 (1 BvR 2049/00) befasste sich das Bundesverfassungsgericht mit einem Fall, bei dem ein Arbeitnehmer auf Anforderung der Staatsanwaltschaft in einem Ermittlungsverfahren, das von Amts
wegen gegen seine Arbeitgeberin eingeleitet worden war, als Zeuge aussagte und Unterlagen übergab. Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass die Ausübung der Staatsbürgerpflicht, in einem Strafverfahren auszusagen, an sich
nicht zu zivilrechtlichen Nachteilen führen dürfe. Das Bundesverfassungsgericht wies ferner in einem obiter dictum darauf hin, dass selbst für den Fall, dass ein Arbeitnehmer seinen Arbeitgeber von sich aus bei der Staatsanwaltschaft
anzeige, eine solche Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte aus rechtsstaatlichen Gründen im Regelfall keine fristlose Kündigung eines Arbeitsverhältnisses rechtfertigen könne, soweit der Angestellte nicht wissentlich oder
leichtfertig falsche Angaben gemacht habe.
35. Im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ging das Bundesarbeitsgericht in einem Urteil vom 3. Juli 2003 (2 AZR 235/02) näher auf das Verhältnis zwischen der Loyalitätspflicht eines Arbeitnehmers
gegenüber seinem Arbeitgeber und der Ausübung seiner verfassungsrechtlich garantierten Rechte ein. Es wies darauf hin, dass ein Arbeitnehmer mit der Erstattung einer Strafanzeige eine nicht nur von der Rechtsordnung erlaubte und
gebilligte, sondern auch von Verfassungs wegen geforderte Möglichkeit der Rechtsverfolgung wahrnehme. Ein Arbeitnehmer, der in gutem Glauben von diesem Recht Gebrauch mache, dürfe daher keine Nachteile dadurch erleiden,
dass sich seine Behauptung im anschließenden Verfahren als unrichtig oder nicht aufklärbar erweist. Das Gericht vertrat jedoch die Auffassung, dass sich eine von einem Arbeitnehmer erstattete [Straf-]Anzeige unter Berücksichtigung
der Loyalitätspflicht des Arbeitnehmers nicht als eine unverhältnismäßige Reaktion auf ein Verhalten des Arbeitgebers darstellen dürfe. Als Indizien für eine unverhältnismäßige Reaktion des anzeigenden Arbeitnehmers könnten
sowohl die Berechtigung der Anzeige als auch die Motivation des Anzeigenden oder ein fehlender innerbetrieblicher Hinweis auf die angezeigten Missstände sprechen. In diesem Zusammenhang seien die Gründe, die den
Arbeitnehmer dazu bewogen hätten, die Anzeige zu erstatten, von besonderer Bedeutung. Erfolge die Erstattung der Anzeige ausschließlich, um den Arbeitgeber zu schädigen bzw. ‚fertig zu machen', könne - unter Berücksichtigung
des der Anzeige zugrunde liegenden Vorwurfs - eine unverhältnismäßige Reaktion vorliegen. Was die Möglichkeit einer vorherigen innerbetrieblichen Klärung angehe, müsse nach Ansicht des Gerichts im Einzelfall bestimmt werden,
ob dem Arbeitnehmer eine solche Herangehensweise ohne weiteres zumutbar sei. Sie sei unzumutbar, wenn der Arbeitnehmer Kenntnis von Straftaten erhalte, durch deren Nichtanzeige er sich selbst einer Strafverfolgung aussetzen
würde, oder die schwerwiegend oder vom Arbeitgeber selbst begangenen seien. Weiter sei eine vorherige innerbetriebliche Klärung auch dann nicht erforderlich, wenn Abhilfe berechtigterweise nicht zu erwarten sei. Falls der
Arbeitgeber nicht für Abhilfe sorge, obwohl der Arbeitnehmer ihn zuvor auf die gesetzeswidrige Praxis im Unternehmen hingewiesen habe, bestehe auch keine weitere vertragliche Loyalitätspflicht mehr.
2. Strafprozessordnung
36. § 170 StPO sieht für den Ausgang des Ermittlungsverfahrens folgende Möglichkeiten vor:
‚(1) Bieten die Ermittlungen genügenden Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage, so erhebt die Staatsanwaltschaft sie durch Einreichung einer Anklageschrift bei dem zuständigen Gericht.
(2) Andernfalls stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein. Hiervon setzt sie den Beschuldigten in Kenntnis, wenn er als solcher vernommen worden ist oder ein Haftbefehl gegen ihn erlassen war; dasselbe gilt, wenn er um einen
Bescheid gebeten hat oder wenn ein besonderes Interesse an der Bekanntgabe ersichtlich ist.'
B. Das einschlägige Völkerrecht und die einschlägige völkerrechtliche Praxis
37. In ihrer Entschließung 1729 (2010) über ‚den Schutz von Informanten' unterstrich die Parlamentarische Versammlung des Europarats die Bedeutung des ‚Whistleblowing' (bei dem betroffene Personen Alarm schlagen, um ein
Fehlverhalten zu beenden, das andere Personen gefährdet) als Möglichkeit zur Stärkung der Verantwortlichkeit und des Kampfes gegen Korruption und Missmanagement im öffentlichen und privaten Sektor. Sie forderte alle
Mitgliedstaaten dazu auf, ihre gesetzlichen Bestimmungen über den Schutz von ‚Whistleblowern' unter Berücksichtigung der folgenden Grundsätze zu überprüfen:
6.1.1. Die Definition geschützter Enthüllungen umfasst alle in gutem Glauben geäußerten Warnungen vor verschiedenen Arten rechtswidriger Handlungen, u. a. sämtliche schweren Menschenrechtsverletzungen, die das Leben, die
Gesundheit, die Freiheit oder sonstige berechtigte Interessen Einzelner als Subjekte der öffentlichen Verwaltung oder als Steuerzahler, Anteilseigner, Arbeitnehmer oder Kunden von Privatunternehmen beeinträchtigen oder bedrohen;
6.1.2. die gesetzlichen Bestimmungen sollten daher für Whistleblower im öffentlichen und im privaten Sektor gelten ..., und
6.1.3. sie sollten relevante Fragen aus folgenden Rechtsbereichen kodifizieren:
6.1.3.1. Arbeitsrecht - insbesondere der Schutz vor ungerechtfertigten Kündigungen und anderen Arten arbeitsbezogener Vergeltungsmaßnahmen; …
6.2.2. Die gesetzlichen Bestimmungen sollten eine Person, die in gutem Glauben bestehende innerbetriebliche Whistleblowing-Kanäle nutzt, vor Vergeltungsmaßnahmen jeder Art (ungerechtfertigte Kündigung, Schikanierung oder
andere strafende oder diskriminierende Behandlung) schützen.
6.2.3. Gibt es keine innerbetrieblichen Kanäle, haben diese nicht funktioniert, oder kann, aufgrund der Art des vom Whistleblower aufgeworfenen Problems, nicht vernünftigerweise davon ausgegangen werden, dass sie funktionieren,
sollte das externe Whistleblowing, auch über die Medien, ebenfalls geschützt werden.
6.2.4. Es wird bei jedem Whistleblower davon ausgegangen, dass er in gutem Glauben gehandelt hat, soweit er vernünftige Gründe für die Annahme hatte, dass die offengelegten Informationen wahr waren, selbst wenn sich später
herausstellt, dass dies nicht der Fall war, und vorausgesetzt, dass er keine rechtswidrigen oder unethischen Ziele verfolgt hat.
Auf die oben genannten Leitlinien wurde auch in der Entschließung 1916 (2010) der Parlamentarischen Versammlung Bezug genommen.
38. Artikel 24 der revidierten Europäischen Sozialcharta lautet wie folgt:
‚Um die wirksame Ausübung des Rechts auf Schutz bei Kündigung zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien: ...
a) das Recht der Arbeitnehmer, nicht ohne einen triftigen Grund gekündigt zu werden, der mit ihrer Fähigkeit oder ihrem Verhalten zusammenhängt oder auf den Erfordernissen der Tätigkeit des Unternehmens, des Betriebs oder des
Dienstes beruht;
…
anzuerkennen.'
Im Anhang zu Artikel 24 heißt es:
‚3. Für die Zwecke dieses Artikels gelten insbesondere nicht als triftige Gründe für eine Kündigung: ...
c) die Tatsache, dass jemand wegen einer behaupteten Verletzung von Rechtsvorschriften eine Klage gegen den Arbeitgeber einreicht, an einem Verfahren gegen ihn beteiligt ist oder die zuständigen Verwaltungsbehörden anruft; …'
Artikel 24 der revidierten Europäischen Sozialcharta wurde von 24 Mitgliedstaaten des Europarats ratifiziert. Deutschland hat die revidierte Europäische Sozialcharta unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert.
39. Artikel 5 des Übereinkommens der Internationalen Arbeitsorganisation über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber (IAO-Übereinkommen Nr. 158 vom 22. Juni 1982) sieht vor:
‚Für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses gelten insbesondere nicht als triftige Gründe: ...
c) der Umstand, dass jemand wegen einer behaupteten Verletzung von Gesetzesvorschriften gegen den Arbeitgeber eine Klage eingebracht oder sich an einem Verfahren gegen ihn beteiligt oder die zuständigen Verwaltungsbehörden
angerufen hat;…'
Deutschland hat das IAO-Übereinkommen Nr. 158 nicht ratifiziert.
40. Eine Reihe anderer völkerrechtlicher Übereinkünfte befassen sich mit dem Schutz von Whistleblowern in bestimmten Situationen, insbesondere im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Korruption, z.B. das Strafrechts- und
das Zivilrechtsübereinkommen des Europarates über Korruption oder das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 10 DER KONVENTION
41. Die Beschwerdeführerin rügte, dass ihre fristlose Kündigung wegen der Erstattung einer Strafanzeige gegen ihre Arbeitgeberin und die Weigerung der innerstaatlichen Gerichte in dem anschließenden Kündigungsschutzverfahren,
ihre Weiterbeschäftigung anzuordnen, ihr in Artikel 10 der Konvention verankertes Recht auf freie Meinungsäußerung verletzten; dieser lautet wie folgt:
‚(1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen
und weiterzugeben. Dieser Artikel hindert die Staaten nicht, für Hörfunk-, Fernseh- oder Kinounternehmen eine Genehmigung vorzuschreiben.
(2) Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer
demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der
Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung.'
A. Zulässigkeit
42. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Gab es einen Eingriff?
43. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass zwischen den Parteien nicht strittig war, dass es sich bei der von der Beschwerdeführerin erstatteten Strafanzeige um Whistleblowing im Hinblick auf das behauptete rechtswidrige
Verhalten der Arbeitgeberin handelte, das unter Artikel 10 der Konvention fällt. Es war ferner unstreitig, dass die daraus folgende Kündigung der Beschwerdeführerin und die entsprechenden Entscheidungen der innerstaatlichen
Gerichte einen Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin auf freie Meinungsäußerung darstellten.
44. Der Gerichtshof ruft in diesem Zusammenhang in Erinnerung, dass er in mehreren Fällen, bei denen es um die freie Meinungsäußerung von Beamten oder Angestellten des öffentlichen Dienstes ging, festgestellt hat, dass Artikel
10 für das Arbeitsleben allgemein gilt (siehe z.B. Kudeshkina ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 29492/05, Rdnr. 85, 26. Februar 2009, und V. ./. Deutschland, 26. September 1995, Rdnr. 53, Serie A Band 323). Er hat ferner
befunden, dass Artikel 10 der Konvention auch anwendbar ist, wenn das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, wie im vorliegenden Fall, privatrechtlich geregelt ist, und dass der Staat auch im Verhältnis von einzelnen
Personen untereinander eine positive Verpflichtung zum Schutz des Rechts auf freie Meinungsäußerung hat (siehe Fuentes Bobo ./. Spanien, Individualbeschwerde Nr. 39293/98, Rdnr. 38, 29. Februar 2000).
45. Der Gerichtshof ist daher der Auffassung, dass die von den deutschen Gerichten bestätigte Kündigung der Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Strafanzeige gegen ihre Arbeitgeberin einen Eingriff in ihr in Artikel 10 Abs. 1 der
Konvention garantiertes Recht auf freie Meinungsäußerung darstellte.
46. Ein solcher Eingriff verstößt gegen Artikel 10, wenn er nicht ‚gesetzlich vorgesehen' ist, ein legitimes Ziel nach Absatz 2 verfolgt und ‚in einer demokratischen Gesellschaft' zur Erreichung dieses Ziels oder dieser Ziele
‚notwendig' ist.
2. War der Eingriff ‚gesetzlich vorgesehen' und hat er ein legitimes Ziel verfolgt?
47. Die Beschwerdeführerin räumte zwar ein, dass die fristlose Kündigung eines Arbeitsverhältnisses nach § 626 Abs. 1 BGB das legitime Ziel verfolgen könne, das Ansehen oder die Rechte anderer, und somit auch die geschäftliche
Reputation und die Interessen von Vivantes, zu schützen, brachte aber vor, dass die genannte Vorschrift keine Kriterien für eine rechtmäßige Entlassung für den Fall vorsehe, dass ein Arbeitnehmer Whistleblowing betreibe. Die
diesbezüglichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 2. Juli 2001 und des Bundesarbeitsgerichts vom 3. Juli 2003 (siehe ‚Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis') stellten in diesem
Zusammenhang keine umfassende und gefestigte Rechtsprechung dar. Die Bedingungen für eine fristlose Kündigung wegen der Erstattung einer Strafanzeige durch den Arbeitnehmer gegen seinen Arbeitergeber seien nicht
hinreichend vorhersehbar und der daraus folgende Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin auf freie Meinungsäußerung sei demnach nicht im Sinne von Artikel 10 Abs. 2 ‚gesetzlich vorgesehen' gewesen.
48. Der Gerichtshof stellt in diesem Zusammenhang fest, dass § 626 Abs. 1 BGB jedem Vertragsteil die fristlose Kündigung eines Arbeitsvertrags gestattet, wenn dem Kündigenden die Fortsetzung des Dienstverhältnisses aus einem
‚wichtigen Grund' nicht zugemutet werden kann. Er stellt ferner fest, dass eine Strafanzeige gegen einen Arbeitgeber laut den Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte in der vorliegenden Rechtssache und laut den von den
Parteien angeführten Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts eine Kündigung nach dieser Bestimmung rechtfertigen könne, wenn sie eine ‚erhebliche Verletzung' der Loyalitätspflicht des
Arbeitnehmers darstellt. Auch wenn die innerstaatlichen Gerichte im Lichte der Umstände eines jeden Einzelfalls prüfen müssen, ob die Loyalitätspflicht eines Arbeitnehmers erheblich verletzt wurde, ist der Gerichtshof der
Auffassung, dass es für einen Arbeitnehmer dennoch vorhersehbar ist, dass eine Strafanzeige gegen seinen Arbeitgeber grundsätzlich einen wichtigen Grund für eine Kündigung nach der genannten Bestimmung darstellen kann. Der
Gerichtshof weist in diesem Zusammenhang erneut darauf hin, dass von den innerstaatlichen Rechtsvorschriften nicht erwartet werden kann, dass sie jede Eventualität regeln, und die Tatsache, dass es mehr als eine Fallkonstellation
für eine Rechtsvorschrift gibt, für sich genommen nicht bedeutet, dass diese das durch den Begriff ‚gesetzlich vorgesehen' implizierte Erfordernis nicht erfüllt (siehe V. ./. Deutschland, 26. September 1995, Rdnr. 48, Serie A Band 323).
49. Der Gerichtshof teilt daher die Auffassung der Regierung, dass der Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin auf freie Meinungsäußerung ‚gesetzlich vorgesehen' war. Er stellt ferner fest, dass zwischen den Parteien unstreitig
war, dass der Eingriff das legitime Ziel verfolgte, das Ansehen und die Rechte anderer, nämlich das geschäftliche Ansehen und die Interessen von Vivantes, zu schützen (siehe Steel und Morris ./. Vereinigtes Königreich,
Individualbeschwerde Nr. 68416/01, Rdnr. 94, ECHR 2005-II).
50. Der Gerichtshof muss daher prüfen, ob der Eingriff ‚in einer demokratischen Gesellschaft notwendig' war, und insbesondere, ob zwischen dem Eingriff und dem verfolgten Ziel ein angemessenes Verhältnis bestand.
3. War der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig?
(a) Die Stellungnahmen der Parteien
(i) Die Regierung
51. Die Regierung brachte vor, der Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin auf freie Meinungsäußerung in der vorliegenden Rechtssache sei nach Artikel 10 Abs. 2 gerechtfertigt gewesen, da ihre fristlose Kündigung ein
notwendiges und angemessenes Mittel gewesen sei, um das Ansehen und die Rechte ihrer Arbeitgeberin zu schützen.
52. Bei ihrer Bewertung der Situation hätten die innerstaatlichen Gerichte unter anderem berücksichtigt, dass die Beschwerdeführerin ihre Behauptung, die Dokumentation der erbrachten Pflegeleistungen sei gefälscht worden, nicht
zunächst innerbetrieblich bei ihrer Arbeitgeberin vorgebracht habe. In den Überlastungsanzeigen und in dem Schreiben ihres Anwalts an die Geschäftsleitung von Vivantes vom 9. November 2004 habe sie weder auf eine solche Praxis
hingewiesen, noch den Vorwurf des Betrugs gegen ihre Arbeitgeberin erhoben. Die Betrugsvorwürfe habe sie erstmals in ihrer Strafanzeige vom 7. Dezember 2004 erhoben.
53. Zudem seien die innerstaatlichen Gerichte zu dem Ergebnis gekommen, dass die Beschwerdeführerin ihre Strafanzeige leichtfertig auf Tatsachen gegründet habe, die im anschließenden Verfahren nicht hätten dargelegt werden
können. Ihrer Strafanzeige hätten hinreichend konkrete Anhaltspunkte gefehlt, die es erlaubt hätten, ihre Behauptungen zu überprüfen, weshalb die zuständige Staatsanwaltschaft das Verfahren mangels Anfangsverdacht eingestellt
habe. Als die Staatsanwaltschaft nach der Wiederaufnahme des Ermittlungsverfahrens auf Antrag der Beschwerdeführerin diese als Zeugin vernommen habe, habe sie sich geweigert, ihre Angaben zu konkretisieren oder Zeugen zu
benennen. Daraufhin sei das Ermittlungsverfahren erneut eingestellt worden. Auch in dem Kündigungsschutzverfahren vor den Arbeitsgerichten habe die Beschwerdeführerin keine näheren Angaben gemacht, um ihre Behauptung zu
belegen, Pflegekräfte seien angehalten worden, Leistungen zu dokumentieren, die so nicht erbracht worden seien. Wegen der Pauschalität des geäußerten Verdachts und der Weigerung der Beschwerdeführerin, ihre Behauptungen zu
untermauern, hätten diese letztlich nicht auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden können und die innerstaatlichen Gerichte hätten die Authentizität der Behauptungen der Beschwerdeführerin demnach ermessensfehlerfrei in Frage
stellen können.
54. Die Regierung brachte schließlich vor, dass die Beschwerdeführerin nicht in gutem Glauben und im öffentlichen Interesse an der Aufdeckung einer Straftat gehandelt habe, als sie Strafanzeige gegen ihre Arbeitgeberin erhoben
habe. Vielmehr habe sie mit ihrer Strafanzeige den angeblichen Personalmangel anprangern und ihre Arbeitgeberin durch Beteiligung der Öffentlichkeit zusätzlich unter Druck setzen wollen. Der Beschwerdeführerin sei bekannt
gewesen, dass Vivantes der Heimaufsicht des Landes Berlin und der Kontrolle durch eine unabhängige Kontrollinstanz, den MDK, unterlegen habe und dass eine Strafanzeige wegen eines angeblichen Personalmangels und daraus
folgend einer Beeinträchtigung der Pflegequalität unnötig gewesen sei. Insbesondere hätte sie vor Erstattung einer Strafanzeige die Ergebnisse der Untersuchung des MDK vom 18. November 2004 abwarten können. Die Beweggründe
für ihr Handeln seien auch aus der polemischen Art und Weise ersichtlich, wie die Strafanzeige abgefasst gewesen sei, sowie aus der Tatsache, dass sie nach ihrer Kündigung Flugblätter verteilt habe, in denen sie sich über die
angebliche Geldgier ihrer Arbeitgeberin beklagt habe. Auch das Schreiben ihres Bevollmächtigten an die Vivantes-Geschäftsleitung vom 9. November 2004, in dem dieser angekündigt habe, dass eine Strafanzeige und eine ‚sicher
nicht genehme öffentliche Diskussion' nur vermieden werden könne, wenn die Arbeitgeberin dem Personalmangel abhelfe, deute darauf hin, dass sie Druck auf ihre Arbeitgeberin habe ausüben wollen.
55. Die Regierung stellte fest, dass die innerstaatlichen Gerichte die Umstände der in Rede stehenden Rechtssache geprüft hätten und unter Berücksichtigung der oben genannten Argumente eine gerechte Abwägung zwischen dem
Interesse der Allgemeinheit, über Defizite in dem sensiblen Bereich der Altenpflege informiert zu werden, einerseits, und dem Schutz des Vertrauens der Allgemeinheit in derartige Dienstleistungen sowie dem Schutz der
wirtschaftlichen Interessen und des Erfolgs der Dienstleistungsunternehmen andererseits vorgenommen hätten und zu dem Schluss gekommen seien, dass Letzterer in der vorliegenden Rechtssache überwiege. Sie brachte ferner vor,
die innerstaatlichen Gerichte hätten zwischen der Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin und ihrer Loyalitätspflicht gegenüber ihrer Arbeitgeberin abgewogen und dabei Kriterien angewendet, die denen entsprochen hätten, die der
Gerichtshof in der Rechtssache Guja (Guja ./. Moldau [GK], Individualbeschwerde Nr. 14277/04, Rdnrn. 69-78, ECHR 2008-...) festgelegt habe. Das Ergebnis ihrer Einschätzung sei daher in den Ermessensspielraum gefallen, den
Staaten bei Eingriffen in das Recht auf freie Meinungsäußerung genießen würden.
(ii) Die Beschwerdeführerin
56. Die Beschwerdeführerin bestritt das Vorbringen der Regierung, ihre Strafanzeige sei verfrüht gewesen. Sie behauptete, sie habe sich vor Erstattung der Strafanzeige gegen Vivantes über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren
kontinuierlich bemüht, die entsprechenden Abteilungen des Unternehmens über die bestehenden Missstände zu informieren. Weil sämtliche Bemühungen ihrerseits, die Geschäftsleitung auf die herrschenden Umstände aufmerksam zu
machen, umsonst gewesen seien, habe sie Grund zu der Annahme gehabt, dass weitere innerbetriebliche Beschwerden mit Blick auf die Ermittlung und Beseitigung der Pflegemängel kein wirksames Mittel darstellen würden. Aus
diesem Grund sei die Strafanzeige als letzte Möglichkeit für sie in Frage gekommen, nicht zuletzt weil sie selbst einer möglichen strafrechtlichen Verantwortlichkeit habe entgehen wollen. Dies sei auch der Grund gewesen, den ihr
Rechtsanwalt in seinem Schreiben an die Vivantes-Geschäftsleitung vom 9. November 2004 über die beabsichtigte Erstattung einer Strafanzeige genannt habe.
57. Darüber hinaus brachte die Beschwerdeführerin vor, ihre Strafanzeige sei weder leichtfertig noch unbegründet gewesen. Im Rahmen ihrer wiederholten Appelle an Vivantes habe sie alle Umstände mitgeteilt, die ihrer darauf
folgenden Strafanzeige zugrunde gelegen hätten, und zwar u. a. die Tatsache, dass Mitarbeiter angehalten worden seien, Leistungen zu dokumentieren, die so nicht erbracht worden seien. Die von ihr offenbarten Mängel habe auch der
MDK kritisiert, der nach seinen Prüfungen in den Jahren 2002 und 2003 darauf hingewiesen habe, dass Personalmangel zu Pflegemängeln führe. Ihr Anwalt habe diese Tatsachen vom rechtlichen Standpunkt aus bewertet, als er die
Strafanzeige ausgearbeitet und die Tatsachen als Tatbestandsmerkmale des Betrugs eingeordnet habe; ihr persönlich fehle es an der nötigen Kompetenz, um diese Einschätzung in Frage zu stellen. Weiterhin habe sie ihre Anzeige im
darauf folgenden Verfahren weitestgehend substantiiert, sei sich aber bewusst gewesen, dass sie mit der Offenlegung weiterer interner Informationen über das Unternehmen Gefahr laufe, sich selbst zu belasten und
Vergeltungsmaßnahmen von Vivantes ausgesetzt zu werden.
58. Die Beschwerdeführerin trug vor, der Beweggrund für ihre Anzeige sei die aus den unbefriedigenden Arbeitsbedingungen in dem Pflegeheim resultierende potenzielle Gefährdung der Gesundheit besonders schutzbedürftiger
Patienten gewesen; der Frage, ob die Begleitdokumentation fehlerfrei war, habe sie nur untergeordnete Bedeutung beigemessen. Ihrer Meinung nach war die Strafanzeige nicht, wie von der Regierung vorgebracht, angesichts der
Prüfungen durch den MDK unnötig; darüber hinaus bestritt sie das Vorbringen, dass der eigentliche Zweck ihrer Anzeige die Ausübung unzulässigen Drucks auf ihre Arbeitgeberin gewesen sei. In diesem Zusammenhang brachte sie
vor, die früheren Bemängelungen der Bedingungen im Pflegeheim durch den MDK hätten dort zu keinerlei Änderung der Arbeitsbedingungen geführt, so dass ein weiterer Besuch des MDK ihres Erachtens nach hinsichtlich der
Beseitigung der Mängel nicht als wirksame Alternative habe angesehen werden können. Jedenfalls wäre sie nicht berechtigt gewesen, an einer solchen Prüfung beteiligt oder über die Ergebnisse einer solchen Prüfung informiert zu werden.
59. Die Beschwerdeführerin wies weiter darauf hin, ihre fristlose Kündigung sei die härteste in Betracht kommende Sanktion gewesen, die nur zu rechtfertigen sei, wenn keine milderen Sanktionen zur Verfügung stünden. Sie trug vor,
dass bei Vivantes dagegen kein durch die Strafanzeige verursachter konkreter Schaden nachgewiesen worden sei.
60. Die Beschwerdeführerin kam zu dem Schluss, dass ihre fristlose Kündigung zum Schutz des Rufs oder der Rechte von Vivantes nicht notwendig und damit unverhältnismäßig gewesen sei. Die innerstaatlichen Gerichte hätten
keine gerechte Abwägung zwischen dem erheblichen Interesse der Allgemeinheit an Informationen über Defizite bei der Altenpflege auf der einen, und den Rechten des Dienstleisters auf der anderen Seite vorgenommen.
(iii) Die Drittbeteiligte
61. Die Gewerkschaft ver.di machte Angaben zur Organisation der institutionellen Altenpflege in Deutschland sowie zu den Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer in diesem Bereich, die häufig von Personalmangel geprägt seien, der
eine hohe Arbeitsbelastung und Überstunden für die Arbeitnehmer zur Folge habe. In vielen Pflegeheimen seien den einzelnen Mitarbeitern zu viele Patienten zugeteilt, weshalb diese lediglich die Grundversorgung gewährleisten
könnten. Die Kontrolle der Pflegeheime obliege im Wesentlichen dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen im Rahmen von jährlichen Prüfungen. Der MDK sei nicht verpflichtet, die Angestellten der Pflegeheime bei solchen
Kontrollbesuchen zu befragen. Dabei würden diese als erste auf die unbefriedigenden Pflegebedingungen aufmerksam. Aus diesem Grund sollten Mitarbeiter über wirksame Mittel verfügen können, um auf Pflegemängel aufmerksam
zu machen, und sie sollten Verstöße gegen die Rechte der Patienten melden können, ohne Vergeltungsmaßnahmen seitens ihrer Arbeitgeber fürchten zu müssen.
(b) Würdigung durch den Gerichtshof
(i) Die auf diese Rechtssache anwendbaren allgemeinen Grundsätze
62. Die allgemeinen Grundsätze für die Prüfung, ob ein Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung verhältnismäßig war, hat der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung fest etabliert und wie folgt zusammengefasst (siehe u. a.
Steel und Morris ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 68416/01, Rdnr. 87, ECHR 2005-II).
‚... (ii) Das Adjektiv ‚notwendig' im Sinne von Artikel 10 Abs. 2 impliziert das Bestehen eines ‚dringenden sozialen Bedürfnisses'. Die Vertragsstaaten haben einen gewissen Ermessensspielraum bei der Beurteilung der Frage, ob ein
solches Bedürfnis besteht; dieser geht jedoch Hand in Hand mit einer europäischen Überwachung, die sich sowohl auf die Gesetzgebung bezieht als auch auf die Entscheidungen, die sie anwenden, auch wenn sie von unabhängigen
Gerichten getroffen wurden. Der Gerichtshof ist daher befugt, abschließend darüber zu entscheiden, ob eine ‚Einschränkung' mit der durch Artikel 10 geschützten Meinungsfreiheit in Einklang zu bringen ist.
(iii) Aufgabe des Gerichtshofs ist es jedoch nicht, sich bei seiner Überwachung an die Stelle der zuständigen Behörden zu setzen; er hat vielmehr die von ihnen im Rahmen ihres Beurteilungsspielraums getroffenen Entscheidungen
nach Artikel 10 EMRK zu überprüfen. Das heißt nicht, dass sich die Überprüfung darauf beschränkt, ob der beschwerdegegnerische Staat seinen Beurteilungsspielraum angemessen, sorgfältig und in gutem Glauben ausgeübt hat; der
Gerichtshof muss den gerügten Eingriff unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles prüfen und entscheiden, ob er ‚zu dem verfolgten berechtigten Ziel verhältnismäßig' war und ob die zu seiner Rechtfertigung von den Behörden
angeführten Gründe ‚stichhaltig und ausreichend' sind. … Dabei muss sich der Gerichtshof davon überzeugen, dass die von den Behörden angewendeten Regeln mit den in Artikel 10 enthaltenen Grundsätzen vereinbar sind und dass
die Behörden die erheblichen Tatsachen nachvollziehbar bewertet haben. …'
63. Was die Anwendung von Artikel 10 der Konvention auf das Arbeitsleben angeht, hat der Gerichtshof festgestellt, dass Hinweise auf strafbares oder rechtswidriges Verhalten am Arbeitsplatz durch Beschäftigte des öffentlichen
Dienstes unter gewissen Umständen Schutz genießen sollten. Dies gilt insbesondere dann, wenn dem betroffenen Beschäftigten oder Beamten als einziger Person oder als Teil einer kleinen Personengruppe die Umstände am
Arbeitsplatz bekannt sind und er deshalb am besten in der Lage ist, im Interesse der Allgemeinheit zu handeln und den Arbeitgeber oder die Öffentlichkeit auf Missstände hinzuweisen (siehe Guja ./. Moldau [GK],
Individualbeschwerde Nr. 14277/04, Rdnr. 72, ECHR 2008-...., und Marchenko ./. Ukraine, Individualbeschwerde Nr. 4063/04, Rdnr. 46, 19. Februar 2009).
64. Der Gerichtshof ist sich gleichzeitig bewusst, dass Arbeitnehmer ihrem Arbeitgeber gegenüber eine Pflicht zur Loyalität, Zurückhaltung und Diskretion haben (siehe z.B. Marchenko, a.a.O., Rdnr. 45). Obgleich diese
Loyalitätspflicht bei Beamten und Beschäftigten im öffentlichen Dienst im Vergleich zu Arbeitnehmern im Privatrechtsverhältnis stärker ausgeprägt sein mag, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass sie zweifelsohne auch ein
Merkmal dieser letztgenannten Beschäftigungskategorie darstellt. Er teilt daher die Ansicht der Regierung, dass die Grundsätze und Kriterien, die der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung im Hinblick auf die Abwägung zwischen
dem Recht eines Arbeitnehmers auf freie Meinungsäußerung in Form von Hinweisen auf strafbares oder rechtswidriges Verhalten seitens des Arbeitgebers und dem Recht des Arbeitgebers auf Schutz seines Rufes und seiner
wirtschaftlichen Interessen auch für den in Rede stehenden Fall gelten. Die Art und der Umfang der Loyalität, die ein Arbeitnehmer seinem Arbeitgeber in einem bestimmten Fall schuldet, wirken sich auf die Abwägung zwischen den
Rechten des Arbeitnehmers und den widerstreitenden Interessen des Arbeitgebers aus.
65. Wegen der Pflicht zur Loyalität und zur Diskretion sollten Hinweise daher in erster Linie gegenüber Vorgesetzten oder anderen zuständigen Stellen oder Einrichtungen vorgebracht werden. Nur wenn dies eindeutig unpraktikabel
ist, darf als ultima ratio die Öffentlichkeit informiert werden. Für die Beurteilung, ob die Einschränkung der Meinungsfreiheit verhältnismäßig war, muss der Gerichtshof daher berücksichtigen, ob dem Beschwerdeführer andere
wirksame Mittel zur Verfügung standen, um etwas gegen den angeprangerten Missstand zu tun (siehe Guja, a.a.O., Rdnr. 73).
66. Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in Bezug auf das verfolgte legitime Ziel muss der Gerichtshof eine Reihe weiterer Faktoren berücksichtigen. Vor allem das öffentliche Interesse an der offengelegten
Information ist besonders zu berücksichtigen. Der Gerichtshof weist in diesem Zusammenhang erneut darauf hin, dass es nach Artikel 10 Abs. 2 der Konvention wenig Raum für Einschränkungen der öffentlichen Meinungsbildung
gibt (siehe u. a. Stoll ./. Schweiz [GK], Individualbeschwerde Nr. 69698/01, Rdnr. 106, ECHR 2007-XIV).
67. Der zweite für diese Abwägung relevante Faktor ist die Authentizität der offengelegten Informationen. Es steht den zuständigen staatlichen Behörden offen, Maßnahmen zu ergreifen, um angemessen und verhältnismäßig auf
unbegründete oder böswillig gemachte Vorwürfe zu reagieren (siehe Castells ./. Spanien, 23. April 1992, § 46, Serie A Band 236). Darüber hinaus ist die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung mit Pflichten und
Verantwortung verbunden und jede Person, die Informationen offenlegen will, muss - soweit die Umstände dies erlauben - sorgfältig prüfen, ob die Informationen zutreffend und zuverlässig sind (siehe Bladet Tromsø und Stensaas ./.
Norwegen [GK], Individualbeschwerde Nr. 21980/93, Rdnr. 65, ECHR 1999-III).
68. Auf der anderen Seite muss der Gerichtshof den Schaden bemessen, der dem Arbeitgeber durch die in Rede stehende Veröffentlichung möglicherweise entstanden ist, und prüfen, ob dieser Schaden das Interesse der Allgemeinheit
an der Information überwiegt (siehe Guja, a.a.O., Rdnr. 76).
69. Die Beweggründe des Missstände anzeigenden Arbeitnehmers sind ein weiterer entscheidender Faktor bei der Entscheidung darüber, ob eine bestimmte Offenlegung geschützt sein sollte. Beispielsweise würde eine Handlung, die
durch persönlichen Groll, persönliche Feindschaft oder die Erwartung eines persönlichen Vorteils wie eines finanziellen Gewinns motiviert ist, kein besonders hohes Schutzniveau rechtfertigen. Es ist wichtig festzustellen, dass die
Person die Offenlegung in gutem Glauben und in der Überzeugung vorgenommen hat, dass die Information wahr war, dass sie im öffentlichen Interesse lag, und dass keine anderen, diskreteren Mittel existierten, um gegen den
angeprangerten Missstand vorzugehen (siehe Guja, a.a.O., Rdnr. 77).
70. Schließlich bedarf es im Zusammenhang mit der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in Bezug auf das verfolgte legitime Ziel einer sorgfältigen Analyse der gegen den Beschwerdeführer verhängten Strafe und ihrer
Folgen (siehe Fuentes Bobo, a.a.O., Rdnr. 49).
(ii) Anwendung der genannten Grundsätze in der vorliegenden Rechtssache
(?) Das öffentliche Interesse an der offengelegten Information
71. Im Hinblick auf die Umstände der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass die von der Beschwerdeführerin offengelegte Information unbestreitbar von öffentlichem Interesse war. In Gesellschaften, in denen der
Anteil der auf institutionelle Pflege angewiesenen älteren Bevölkerung immer größer wird, ist die Veröffentlichung von Informationen über die Qualität oder die Mängel dieser Pflege für die Vermeidung von Missbrauch von größter
Bedeutung, gerade angesichts der besonderen Schutzbedürftigkeit der betroffenen Patienten, die oftmals kaum in der Lage sein dürften, von sich aus auf die Pflegemängel aufmerksam zu machen. Dies trifft umso mehr zu, wenn die
institutionelle Pflege von einem staatlichen Unternehmen erbracht wird, da es hierbei um das Vertrauen der Allgemeinheit in die angemessene Erbringung von Leistungen im Rahmen der öffentlichen Daseinsvorsorge durch den Staat geht.
(?) Hätte die Beschwerdeführerin andere Kanäle nutzen können, um die Missstände offenzulegen?
72. Was die Verfügbarkeit anderer Kanäle für die Offenlegung der Missstände und eine innerbetriebliche Klärung der Vorwürfe anbelangt, stellt der Gerichtshof fest, dass die Beschwerdeführerin nicht nur mehrmals zwischen Januar
2003 und Oktober 2004 ihren Vorgesetzten gegenüber äußerte, dass sie überlastet sei, sondern mit dem Schreiben ihres Rechtsanwalts vom 9. November 2004 auch die Geschäftsleitung vor einer möglichen Strafanzeige warnte. Es
stimmt zwar, dass die rechtliche Einordnung des Verhaltens der Arbeitgeberin als schwerer Betrug erstmals in der vom Rechtsanwalt der Beschwerdeführerin verfassten Strafanzeige vom 7. Dezember 2004 Erwähnung fand, der
Gerichtshof stellt aber fest, dass die Beschwerdeführerin in ihren früheren Beschwerden gegenüber ihrer Arbeitgeberin durchaus auf den Sachverhalt, auf dem ihre anschließende Strafanzeige basierte, und zwar einschließlich der
Tatsache, dass Leistungen nicht ordnungsgemäß dokumentiert worden seien, hingewiesen hatte. Er stellt ferner fest, dass sie die Staatsanwaltschaft in der Strafanzeige dazu aufforderte, die in der Strafanzeige dargelegten Umstände
des Falls unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen, und dass diese Prüfung demnach nicht auf Betrug beschränkt war.
73. Der Gerichtshof verweist in diesem Zusammenhang auf die oben genannte Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 3. Juli 2003 (siehe ‚Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis'), in der es
heißt, dass es einem Arbeitnehmer nicht zumutbar sei, zunächst eine innerbetriebliche Klärung der Vorwürfe anzustreben, wenn er Kenntnis von Straftaten erhalte, durch deren Nichtanzeige er sich selbst einer Strafverfolgung
aussetzen würde. Weiter sei eine vorherige innerbetriebliche Klärung auch dann nicht erforderlich, wenn Abhilfe berechtigterweise nicht zu erwarten sei. Falls der Arbeitgeber nicht für Abhilfe sorge, obwohl der Arbeitnehmer ihn auf
die gesetzeswidrige Praxis im Unternehmen hingewiesen habe, bestehe auch keine weitere vertragliche Loyalitätspflicht mehr. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die Leitsätze der Parlamentarischen Versammlung über den Schutz
von Whistleblowern (siehe ‚Einschlägiges Völkerrecht und einschlägige völkerrechtliche Praxis'), in denen es heißt, dass in Fällen, in denen nicht vernünftigerweise davon ausgegangen werden könne, dass interne Kanäle
funktionieren, auch das externe Whistleblowing geschützt sein sollte, eine ähnliche Argumentation verfolgen.
74. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass diese Überlegungen auch auf den vorliegenden Fall anwendbar sind. Die Beschwerdeführerin war der Meinung, dass keine ihrer früheren Beschwerden gegenüber ihrer Arbeitgeberin zu
einer Verbesserung der Beschäftigungs- und der Pflegesituation in dem Pflegeheim geführt hatten. Sie erwähnte ihrer Arbeitgeberin gegenüber auch, eine ihrer Sorgen sei, dass sie sich selbst einer strafrechtlichen Verfolgung aussetze,
wenn sie die Pflegemängel nicht anzeige. Der Gerichtshof ist daher der Ansicht, dass ihm nicht genügend Beweise vorgelegt wurden, die das Vorbringen der Beschwerdeführerin widerlegen würden, dass weitere innerbetriebliche
Beschwerden mit Blick auf die Ermittlung und Beseitigung der Pflegemängel kein wirksames Mittel dargestellt hätten.
75. Der Gerichtshof stellt auch fest, dass das deutsche Recht keinen speziellen Durchführungsmechanismus für die Untersuchung von Hinweisen eines Whistleblowers und für Forderungen nach entsprechender Abhilfe durch den
Arbeitgeber bereithält.
76. Im Lichte der vorstehenden Ausführungen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass eine externe Offenlegung von Missständen mittels einer Strafanzeige unter Umständen wie in dem vorliegenden Fall gerechtfertigt sein könnte.
(?) Die Authentizität der offengelegten Information
77. Ein weiterer für diese Abwägung relevanter Faktor ist die Authentizität der offengelegten Informationen. Der Gerichtshof weist in diesem Zusammenhang erneut darauf hin, dass die Meinungsfreiheit mit Pflichten und
Verantwortung verbunden ist und jede Person, die Informationen offenlegen will, soweit die Umstände dies erlauben, sorgfältig prüfen muss, ob die Informationen zutreffend und zuverlässig sind - insbesondere, wenn die Person, wie
in der vorliegenden Rechtssache, ihrem Arbeitgeber gegenüber zu Diskretion und Loyalität verpflichtet ist (siehe Handyside ./. Vereinigtes Königreich, 7. Dezember 1976, Rdnr. 49, Serie A Band 24, und Haseldine ./. Vereinigtes
Königreich, Individualbeschwerde Nr. 18957/91, Kommissionsentscheidung vom 13. Mai 1992, Entscheidungen und Berichte (DR) 73, S. 225 und 231).
78. Der Gerichtshof stellt in diesem Zusammenhang fest, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 1. Juli 2001 darauf hingewiesen hat, dass die fristlose Kündigung eines Arbeitsverhältnisses aus
rechtsstaatlichen Gründen im Regelfall selbst dann nicht gerechtfertigt sei, wenn ein Arbeitnehmer von sich aus bei der Staatsanwaltschaft Anzeige gegen seinen Arbeitgeber erstattet habe, es sei denn, der Arbeitnehmer habe
wissentlich oder leichtfertig falsche Angaben gemacht (1 BvR 2049/00). Tatsächlich hat das Landesarbeitsgericht Berlin in der vorliegenden Rechtssache befunden, dass die Beschwerdeführerin ihre Strafanzeige leichtfertig auf
Tatsachen gegründet habe, die sie in den darauf folgenden straf- und arbeitsrechtlichen Ermittlungsverfahren nicht habe darlegen können.
79. Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass die von der Beschwerdeführerin in ihrer Strafanzeige offenbarten Mängel nicht nur in ihren vorangegangenen Hinweisen gegenüber ihrer Arbeitgeberin vorgebracht worden waren, sondern
auch vom MDK nach dessen Prüfungen in den Jahren 2002 und 2003 kritisiert worden waren, der darauf hingewiesen hatte, dass Personalmangel zu Pflegemängeln führe. Den Vorwürfen der Beschwerdeführerin hat es demnach nicht
an einem sachlichen Hintergrund gefehlt und es gibt keine Gründe für die Feststellung, dass sie wissentlich oder leichtfertig falsche Angaben gemacht habe. Die sachlichen Informationen über die Pflegemängel hat die
Beschwerdeführerin in ihren schriftlichen Stellungnahmen im Kündigungsschutzverfahren vor den Arbeitsgerichten weiter ergänzt. Darüber hinaus stellt der Gerichtshof in diesem Zusammenhang fest, dass die Beschwerdeführerin
gemäß der Sachverhaltsdarstellung im Urteil des Landesarbeitsgerichts vom 28. März 2003 in der Gerichtsverhandlung vom gleichen Tag unter anderem geltend machte, dass sie und andere Mitarbeiter aufgefordert worden seien, die
Pflegedokumentation zu ergänzen, obwohl die dokumentierten Leistungen nicht wirklich erbracht worden waren. Sie verwies in diesem Zusammenhang auf die Zeugenaussagen von drei Kollegen.
80. Was das anschließende strafrechtliche Ermittlungsverfahren angeht, stellt der Gerichtshof fest, dass es in erster Linie die Aufgabe der Strafverfolgungsbehörden ist, den Wahrheitsgehalt der Vorwürfe aus einer Strafanzeige zu
prüfen, und dass von einer Person, die eine solche Anzeige in gutem Glauben erstattet hat, vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, vorherzusehen, ob die Ermittlungen zu einer Anklage oder einer Verfahrenseinstellung führen
werden. Der Gerichtshof verweist in diesem Zusammenhang auf die oben genannte Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 3. Juli 2003, in der dieses befunden hatte, dass ein Arbeitnehmer, der in gutem Glauben von seinem
verfassungsrechtlich garantierten Recht auf Erstattung von Strafanzeigen Gebrauch mache, keine Nachteile dadurch erleiden dürfe, dass sich seine Behauptung im anschließenden Verfahren als unrichtig oder nicht aufklärbar erweise.
Er stellt ferner fest, dass die Leitsätze der Parlamentarischen Versammlung auf ähnlichen Überlegungen beruhen; darin heißt es, es sollte bei jedem Whistleblower davon ausgegangen werden, dass er in gutem Glauben gehandelt hat,
soweit er vernünftige Gründe für die Annahme hatte, dass die offengelegten Informationen wahr waren, selbst wenn sich später herausstellt, dass dies nicht der Fall war, und vorausgesetzt, dass er keine rechtswidrigen oder
unethischen Ziele verfolgt hat.
81. Das Vorbringen der Regierung, die Authentizität der Behauptungen der Beschwerdeführerin in ihrer Strafanzeige seien in Frage gestellt, weil sie diese im Rahmen der Strafermittlungen gegen Vivantes nicht weiter konkretisiert
und auch keine zusätzlichen Zeugen benannt habe, überzeugt den Gerichtshof nicht. Der Gerichtshof stellt fest, dass dieses Verhalten, wie von der Beschwerdeführerin vorgebracht, mit ihrer Angst, sich selbst zu belasten, sowie der
Gefahr, Vergeltungsmaßnahmen durch Vivantes ausgesetzt zu werden, sollte sie weitere interne Informationen offenlegen, erklärt werden kann. Jedenfalls ist der Gerichtshof der Auffassung, dass ein Mangel an Beweisen zwar zur
Einstellung des Ermittlungsverfahrens führen kann, dies aber nicht unbedingt zu der Schlussfolgerung führt, dass die der Strafanzeige zugrunde liegenden Behauptungen von vornherein einer sachlichen Grundlage entbehrten oder
leichtfertig waren.
(?) Handelte die Beschwerdeführerin in gutem Glauben?
82. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die Beschwerdeführerin vorbrachte, der hauptsächliche Beweggrund für ihre Anzeige sei die aus den unbefriedigenden Arbeitsbedingungen in dem Pflegeheim resultierende potenzielle
Gefährdung der Gesundheit besonders schutzbedürftiger Patienten gewesen; die Regierung wiederum trug vor, die Beschwerdeführerin habe den angeblichen Personalmangel anprangern und ihre Arbeitgeberin durch Beteiligung der
Öffentlichkeit zusätzlich unter Druck setzen wollen.
83. Selbst unter der Annahme, eine Verbesserung ihrer eigenen Arbeitsbedingungen könnte ein zusätzlicher Beweggrund für die Beschwerdeführerin gewesen sein, hat der Gerichtshof auf der Grundlage des ihm zur Verfügung
stehenden Materials keinen Grund zu bezweifeln, dass die Beschwerdeführerin in gutem Glauben und in der Überzeugung handelte, dass es im Interesse der Allgemeinheit sei, die mutmaßlichen Rechtsverletzungen ihrer Arbeitgeberin
bei der Staatsanwaltschaft anzuzeigen, und dass ihr kein diskreteres Mittel zur Verfügung stehe, um etwas gegen die Situation zu unternehmen.
84. Das von der Regierung angeführte Argument, dass die Beschwerdeführerin angesichts der regelmäßigen Prüfungen durch die Heimaufsicht des Landes Berlin sowie durch den MDK hätte wissen müssen, dass eine Strafanzeige
unnötig sei, und dass sie vor Erstattung ihrer Strafanzeige erst den Bericht des MDK über dessen Prüfung vom 18. November 2004 hätte abwarten können, überzeugt den Gerichtshof nicht. Der Gerichtshof stellt in diesem
Zusammenhang fest, dass die früheren Bemängelungen der Bedingungen im Pflegeheim durch den MDK in der Erfahrung der Beschwerdeführerin zu keinerlei Veränderungen geführt haben und dass sie deshalb der Ansicht war, dass
ein weiterer Besuch durch den MDK nicht als wirksames Mittel angesehen werden könne, um die Mängel zu beseitigen und eine eigene strafrechtliche Verantwortlichkeit zu vermeiden. Nach ihren zahlreichen innerbetrieblichen
Beschwerden gegenüber Vivantes, die alle erfolglos waren, war sie offenbar der Ansicht, dass eine Strafanzeige das letzte Mittel zur Behebung der Pflegemängel sei. Der Gerichtshof stellt in diesem Zusammenhang fest, dass in einem
Bericht über eine 2006 vom MDK durchgeführte Prüfung darauf hingewiesen wurde, dass Pflegemängel, die bereits in den Berichten der Jahre 2002, 2003 und 2004 genannt worden seien, weiterhin vorhanden seien und ein
dringendes Handeln erforderten.
85. Was das Vorbringen der Regierung angeht, die Polemik der Strafanzeige beweise, dass der wahre Beweggrund für die Beschwerdeführerin gewesen sei, ihre Arbeitgeberin anzuprangern und Druck auf sie auszuüben, ist der
Gerichtshof der Auffassung, dass die Behauptungen der Beschwerdeführerin, selbst wenn sie in gewissem Maße übertrieb und verallgemeinerte, doch nicht gänzlich eines sachlichen Hintergrunds entbehrten (siehe Rdnr. 79) und
keinen grundlosen persönlichen Angriff gegen ihre Arbeitgeberin, sondern eine Beschreibung der erheblichen Defizite bei der Funktionsweise des Altenpflegeheims darstellten.
86. Diese Feststellung wird auch dadurch bestätigt, dass die Beschwerdeführerin, nachdem sie zu dem Schluss gekommen war, dass eine externe Offenlegung notwendig sei, sich nicht sofort an die Medien wandte oder Flugblätter
verteilte, um eine maximale öffentliche Aufmerksamkeit zu erreichen, sondern sich zunächst an die Strafverfolgungsbehörden wandte, um Ermittlungen zu veranlassen (siehe im Gegensatz dazu, Balenovic ./. Kroatien, (Entsch.),
Individualbeschwerde Nr. 28369/07, 30. September 2010). Sie ließ sich von einem Rechtsanwalt beraten und unterstützen, der den von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Sachverhalt würdigte und die Strafanzeige
dementsprechend verfasste. Die Flugblätter, in denen sie die angebliche Geldgier ihrer Arbeitgeberin beklagte und auf ihre Strafanzeige verwies, verteilte sie erst nach ihrer ordentlichen Kündigung vom 19. Januar 2005.
87. Die vorstehenden Ausführungen sind für den Gerichtshof ausreichend für die Schlussfolgerung, dass die Beschwerdeführerin in gutem Glauben handelte, als sie Strafanzeige gegen ihre Arbeitgeberin erstattete.
(?) Der Schaden für die Arbeitgeberin
88. Auf der anderen Seite ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die in der Strafanzeige aufgeworfenen Behauptungen, insbesondere wenn sie Betrugsvorwürfe enthielten, dem geschäftlichen Ruf und den wirtschaftlichen Interessen
von Vivantes mit Sicherheit abträglich waren.
89. Er weist in diesem Zusammenhang erneut darauf hin, dass ein Interesse am wirtschaftlichen Erfolg und der Lebensfähigkeit von Unternehmen nicht nur für Anteilseigner und Angestellte, sondern auch zum allgemeinen
wirtschaftlichen Nutzen besteht (siehe Steel und Morris ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 68416/01, Rdnr. 94, ECHR 2005-II). Der Gerichtshof hält es für wichtig, in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass die
Arbeitgeberin in der vorliegenden Rechtssache ein staatliches Unternehmen ist, das unter anderem Dienstleistungen im Bereich der institutionellen Altenpflege erbringt. Der Gerichtshof erkennt zwar an, dass auch staatliche
Unternehmen ein Interesse an wirtschaftlicher Lebensfähigkeit haben, weist jedoch darauf hin, dass der Schutz des Vertrauens der Allgemeinheit in die Qualität von Leistungen im Rahmen der Daseinsvorsorge, die von staatlichen
oder staatlich geführten Unternehmen erbracht werden, für das Funktionieren und die Wirtschaftlichkeit des gesamten Sektors entscheidend ist. Deshalb hat der staatliche Anteilseigner selbst ein Interesse daran, dass mutmaßliche
Mängel in diesem Bereich im Rahmen einer freien öffentlichen Debatte ermittelt und aufklärt werden.
90. Angesichts dieser Überlegungen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass das Interesse der Allgemeinheit, über Defizite bei der institutionellen Altenpflege in einem staatlichen Unternehmen informiert zu werden, in einer
demokratischen Gesellschaft so wichtig ist, dass es das Interesse am Schutz des geschäftlichen Rufs und der Interessen dieses Unternehmens überwiegt.
(?) Die Schwere der Sanktion
91. Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführerin die härteste arbeitsrechtlich mögliche Sanktion auferlegt wurde. Diese wirkte sich nicht nur negativ auf den beruflichen Werdegang der Beschwerdeführerin aus,
sondern hatte auch eine erhebliche abschreckende Wirkung für die anderen Angestellten von Vivantes, die entmutigt wurden, Mängel der institutionellen Pflege anzuzeigen. Darüber hinaus könnte die Sanktion angesichts der
Medienberichte über den Fall der Beschwerdeführerin auch eine abschreckende Wirkung für andere Arbeitnehmer im Pflegesektor haben, nicht nur für die Angestellten von Vivantes. Diese abschreckende Wirkung schadet der
Gesellschaft als Ganzes und muss daher bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit und somit auch der Rechtfertigung der Sanktionen, die der Beschwerdeführerin, die, wie der Gerichtshof oben festgestellt hat, zur
Öffentlichmachung der in Rede stehenden Angelegenheit berechtigt war, auferlegt wurden, berücksichtigt werden (siehe Kudeshkina ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 29492/05, Rdnr. 99, 26. Februar 2009). Dies gilt
insbesondere für den Bereich der Altenpflege, bei dem die Patienten oft nicht in der Lage sind, ihre Rechte selbst zu verteidigen, und die Pflegekräfte die ersten sind, denen die unbefriedigenden Pflegebedingungen auffallen, und die
deshalb am besten in der Lage sind, im Interesse der Allgemeinheit zu handeln und den Arbeitgeber oder die Öffentlichkeit auf Missstände hinzuweisen.
92. Dementsprechend kommt der Gerichtshof zu der Einschätzung, dass die fristlose Kündigung der Beschwerdeführerin in der vorliegenden Rechtssache eine unverhältnismäßig schwere Sanktion darstellte.
(iii) Schlussfolgerung
93. Der Gerichtshof ist sich der Bedeutung des Rechts auf freie Meinungsäußerung im Zusammenhang mit Fragen von allgemeinem Interesse, des Rechts von Arbeitnehmern, strafbares oder rechtswidriges Verhalten seitens des
Arbeitgebers anzuzeigen, der Pflichten und Verantwortlichkeiten von Arbeitnehmern gegenüber ihren Arbeitgebern und des Rechts von Arbeitgebern auf Mitarbeiterführung bewusst und hat die zahlreichen weiteren Interessen, die
sich auf die vorliegende Rechtssache auswirken, abgewogen; dabei ist er zu dem Schluss gekommen, dass der Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin auf freie Meinungsäußerung, insbesondere ihr Recht, Informationen
weiterzugeben, ‚in einer demokratischen Gesellschaft' nicht ‚notwendig' war.
94. Der Gerichtshof ist daher der Auffassung, dass die innerstaatlichen Gerichte in der vorliegenden Rechtssache keine gerechte Abwägung zwischen dem erforderlichen Schutz des Rufes und der Rechte des Arbeitgebers einerseits
und dem erforderlichen Schutz der Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin andererseits vorgenommen haben.
95. Folglich ist Artikel 10 der Konvention verletzt worden.
II. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABS. 1 DER KONVENTION
96. Die Beschwerdeführerin rügte darüber hinaus, das Kündigungsschutzverfahren vor den Arbeitsgerichten sei unfair gewesen. Ihrer Meinung nach hätte die Arbeitgeberin verpflichtet sein müssen, zu beweisen, dass sie ihre
Strafanzeige leichtfertig auf unwahre Behauptungen gegründet habe und diese daher einen Grund für eine fristlose Kündigung nach § 626 Abs. 1 BGB darstelle. Das Landesarbeitsgericht habe die diesbezügliche Beweislast jedoch auf
die Beschwerdeführerin verlagert. Sie berief sich auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention, der wie folgt lautet:
‚Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen ... von einem ... Gericht in einem fairen Verfahren ... verhandelt wird.'
97. Der Gerichtshof hat wiederholt festgestellt, dass Artikel 6 keine Regeln über die Zulässigkeit von Beweismitteln oder die Beweiswürdigung aufstellt. Diese Angelegenheiten sind deshalb vor allem durch innerstaatliches Recht und
innerstaatliche Gerichte zu regeln, die einen großen Ermessensspielraum haben (siehe K. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 75204/01, Rdnr. 43, 5. Oktober 2006). Er stellt fest, dass die Beschwerdeführerin in der vorliegenden
Sache, die während des gesamten Verfahrens anwaltlich vertreten wurde, in den Genuss eines kontradiktorischen Verfahrens gekommen ist und in allen Stadien des Verfahrens die Argumente vortragen konnte, die sie als
entscheidungserheblich ansah, und dies auch tat.Es gibt keine Gründe für die Feststellung, dass die Bewertung der Rechtssache durch die innerstaatlichen Gerichte willkürlich gewesen sei.
98. Daraus folgt, dass diese Rüge offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
III. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION
99. Artikel 41 der Konvention lautet:
‚Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser
Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.'
A. Schaden
100. Die Beschwerdeführerin forderte 38.498,56 EUR für entstandenen materiellen Schaden und weitere 112.135,19 EUR für zukünftigen materiellen Schaden. Was den bereits entstandenen materiellen Schaden angehe, entspreche
dem entgangenen Arbeitslohn nach ihrer fristlosen Kündigung vom 9. Februar 2005 ein Betrag in Höhe von 33.730,12 EUR. Da darüber hinaus die Einzahlungen in ihre Betriebsrente für eine volle Erwerbsminderung nach ihrer
Kündigung im Februar 2005 eingestellt worden seien, habe sie eine monatliche betriebliche Zusatzrente in Höhe von 194,63 EUR eingebüßt, die ihr ab 1. Juni 2008 zugestanden hätte. Zum Zeitpunkt ihrer Anträge auf gerechte
Entschädigung Mitte Juni 2010 habe sich der Schaden aufgrund der eingebüßten monatlichen Leistungen seit 1. Juni 2008 daher auf 4.768,44 EUR belaufen. Sie fügte ferner hinzu, dass sie bis zum Bezug einer regulären Altersrente ab
30. September 2028 Anspruch auf diese monatlichen Leistungen gehabt hätte, woraus sich bis zu diesem Datum ein zukünftiger materieller Schaden in Höhe von 47.861,27 EUR ergebe. Schließlich brachte sie vor, ihre monatliche
betriebliche Altersrente ab Juli 2028 hätte 334,76 EUR betragen. Auf der Grundlage einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 83 Jahren stelle die Einbüßung ihrer Rentenansprüche für eine Dauer von 16 Jahren (2028 bis 2044)
daher einen zukünftigen materiellen Schaden in Höhe von 64.273,92 EUR dar.
Die Beschwerdeführerin forderte darüber hinaus 10.000 EUR für immateriellen Schaden; sie machte geltend, die langen Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten hätten bei ihr zu psychischem Stress geführt und ihre Gesundheit beeinträchtigt.
101. Die Regierung trat diesen Forderungen entgegen. Was die Forderungen der Beschwerdeführerin nach Entschädigung für materiellen Schaden angeht, brachte die Regierung vor, dass es keinen Grund für die Feststellung gebe, dass
dieser Schaden durch die angebliche Konventionsverletzung entstanden sei, der die fristlose Kündigung der Beschwerdeführerin vom 9. Februar 2005 zugrunde liege. Die Regierung wies darauf hin, dass der Beschwerdeführerin
bereits mit Schreiben vom 19. Januar 2005, also vor ihrer fristlosen Kündigung vom 9. Februar 2005, aus krankheitsbedingten Gründen mit Wirkung zum 31. März 2005 gekündigt worden sei. Aus diesem Grund könne sie einen
Einkommensverlust aufgrund der fristlosen Kündigung nur für den Zeitraum vom 9. Februar bis 31. März 2005, dem Datum, an dem ihre ordentliche Kündigung wirksam geworden sei, geltend machen. Während dieser Zeit habe die
Beschwerdeführerin jedoch Krankengeld und anschließend Übergangsgeld erhalten und keinen tatsächlichen materiellen Schaden erlitten. Die Regierung brachte ferner vor, die Berechnung der Beschwerdeführerin hinsichtlich ihres
Anspruchs auf entgangene Betriebsrente zeige nicht, wie dieser Anspruch durch ein Ereignis verursacht sein könne, das jüngeren Datums sei als die ordentliche Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses mit Wirkung zum 31. März 2005.
102. Was den immateriellen Schaden angeht, stellte die Regierung die Frage zwar in das Ermessen des Gerichtshofs, hielt die von der Beschwerdeführerin geforderte Summe aber für unangemessen hoch.
103. Der Gerichtshof stellt fest, dass zwischen den Parteien nicht strittig ist, dass das Arbeitsverhältnis der Beschwerdeführerin aufgrund ihrer ordentlichen Kündigung mit Wirkung zum 31. März 2005 endete. Er stellt ferner fest, dass
die Beschwerdeführerin selbst vorbrachte, dass sie während der Zeit vom 9. Februar bis zum 31. März 2005 Kranken- bzw. Übergangsgeld als Ausgleich für ihr Gehalt erhalten habe. Der Gerichtshof ist daher der Auffassung, dass
nicht nachgewiesen wurde, dass die Beschwerdeführerin vom 9. Februar 2005 bis zum 31. März 2005 einen materiellen Schaden erlitt. Ferner kann er keinen Kausalzusammenhang zwischen der festgestellten Verletzung und dem
materiellen Schaden erkennen, der in der Zeit nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch ordentliche Kündigung mit Wirkung zum 31. März 2005 entstanden sein soll. Der Gerichtshof weist daher die Forderung der
Beschwerdeführerin in Bezug auf den materiellen Schaden zurück.
104. Er ist jedoch der Ansicht, dass die Beschwerdeführerin einen immateriellen Schaden erlitten haben muss. Er entscheidet nach Billigkeit und spricht ihr unter dieser Rubrik 10.000 EUR zu.
B. Kosten und Auslagen
105. Die Beschwerdeführerin verlangte außerdem 6.100 EUR für Kosten und Auslagen vor dem Gerichtshof.
106. Die Regierung brachte vor, dass diese Summe erheblich darüber hinausgehe, was der Gerichtshof normalerweise in Bezug auf Kosten und Auslagen zuspreche.
107. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur insoweit Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese tatsächlich und notwendigerweise entstanden sind und der
Höhe nach angemessen waren. In der vorliegenden Rechtssache hält es der Gerichtshof unter Berücksichtigung der ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und der oben genannten Kriterien für angemessen, für Kosten und Auslagen
für das Verfahren vor dem Gerichtshof 5.000 EUR zuzusprechen.
C. Verzugszinsen
108. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Rüge nach Artikel 10 der Konvention wird für zulässig und die Individualbeschwerde im Übrigen für unzulässig erklärt;
2. Artikel 10 der Konvention ist verletzt worden;
3. (a) der beschwerdegegnerische Staat hat der Beschwerdeführerin binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig wird, folgende Beträge zu zahlen:
(i) 10.000 EUR (zehntausend Euro) für immateriellen Schaden, zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern; und
(ii) 5.000 EUR (fünftausend Euro) für Kosten und Auslagen, zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern;
(b) nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten bis zur Auszahlung fallen für die oben genannten Beträge einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der
Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;
4. im Übrigen wird die Forderung der Beschwerdeführerin nach gerechter Entschädigung zurückgewiesen.
Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 21. Juli 2011 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs. ..."
***
Der im blockierten Wagen sitzende Polizist konnte berechtigterweise annehmen, dass sein Leben durch Angriffe von Demonstranten gefährdet war. Dass er nach einer Warnung einen ungezielten Schuss abgegeben hat, der einen
Demonstranten tödlich verletzt hat, war nach Art. 2 II lit. a EMRK (Recht auf Leben) gerechtfertigt, weil die Gewaltanwendung unbedingt erforderlich war, um sich und seine Kollegen gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen. Art.
2 EMRK verpflichtet die Staaten nicht nur, absichtliche ungerechtfertigte Tötungen zu unterlassen, sondern auch dazu, die notwendigen Maßnahmen zum Schutz des Lebens der Personen unter ihrer Hoheitsgewalt zu treffen. Sie
müssen einen rechtlichen und verwaltungsmäßigen Rahmen schaffen, der die Voraussetzungen begrenzt, unter denen Polizisten Gewalt anwenden und von der Schusswaffe Gebrauch machen dürfen und dabei angemessene Garantien
gegen Willkür und Missbrauch vorsieht. Die italienischen Behörden haben alles getan, was vernünftigerweise von ihnen erwartet werden konnte, um den Schutz des Lebens bei den Polizeioperationen, bei denen die Gefahr tödlicher
Gewaltanwendung bestand, zu gewährleisten. Deswegen ist Art. 2 EMRK auch nicht bei Organisation und Planung dieser Operation verletzt. Italien hat weiter die sich aus Art. 2 EMRK ergebene Pflicht, beim Tod einer Person
wirksame Ermittlungen anzustellen, nicht verletzt. Deswegen ist gegen diese Vorschrift auch nicht in ihrem verfahrensrechtlichen Aspekt verstoßen worden (EGMR, Urteil vom 24.03.2011 - 23458/02 zu Art. 2, 3, 6, 13, 38, BeckRS
2011, 21463).
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Weder Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) noch eine andere Vorschrift der Konvention garantiert einem Ausländer das Recht auf eine Aufenthaltserlaubnis in einem Konventionsstaat. Doch müssen die
Staaten ihre Ausländerpolitik so handhaben, dass sie mit den Grundrechten der Ausländer vereinbar bleibt, insbesondere mit den Rechten in Art. 8 EMRK und dem Verbot der Diskriminierung nach Art. 14 EMRK. Zum Begriff des
Familienlebens i.S. von Art. 8 I EMRK gehören jedenfalls die Beziehungen aus einer rechtmäßigen Ehe, wie sie zwischen dem Beschwerdeführer und seiner russischen Ehefrau besteht. Art. 14 EMRK verbietet eine Diskriminierung
auch wegen einer Behinderung und allgemein wegen des Gesundheitszustands einer Person einschließlich einer HIV-Infektion. Daher ist Art. 14 EMRK i.V. mit Art. 8 EMRK im vorliegenden Fall anwendbar. Behandelt ein
Konventionsstaat Einzelpersonen oder Personengruppen unterschiedlich, muss er nachweisen, dass es dafür sachliche und vernünftige Gründe gibt, er also ein berechtigtes Ziel verfolgt und die angewendeten Mittel zu diesem Ziel
verhältnismäßig sind. Dabei hat er einen Ermessensspielraum. Der ist allerdings eng, wenn es um eine besonders verletzliche Gruppe von Personen geht, die in der Vergangenheit unter erheblicher Diskriminierung gelitten hat.
HIV-Infizierte wie der Beschwerdeführer sind eine solche Gruppe. Seit dem Ausbruch der Pandemie in den 80iger Jahren haben sie verbreitet unter Stigmatisierung und Ausschluss gelitten, auch in den Mitgliedstaaten des Europarats.
Nach übereinstimmender Auffassung aller Sachkenner innerhalb und außerhalb internationaler Organisationen sind Reisebeschränkungen ein unwirksames Mittel, die Verbreitung der HIV-Infektion zu verhindern. Untersuchungen auf
HIV sind in Russland im Übrigen für Kurzzeitbesucher und Touristen nicht vorgeschrieben und auch nicht für russische Staatsbürger bei Rückkehr von einer Reise ins Ausland. HIV-infizierte Ausländer belasten dort auch nicht den
öffentlichen Gesundheitsdienst, denn Ausländer haben in Russland keinen Anspruch auf kostenlose medizinische Versorgung. Nach dem russischen AusländerG können die Behörden und Gerichte bei ihrer Entscheidung über den
Antrag eines HIV-infizierten Ausländers auf eine Aufenthaltserlaubnis auch nicht seine besondere Situation und seine familiären Bindungen in Russland berücksichtigen. Daher ist Art. 14 EMRK i.V. mit Art. 8 EMRK im
vorliegenden Fall verletzt. Der Beschwerdeführer, obwohl juristisch nicht bewandert und anwaltlich nicht vertreten, hätte die russischen Gerichte bitten können, seinen Fall nicht öffentlich zu verhandeln. Unter den gegebenen
Umständen waren die Gerichte nicht gehalten, von Gerichts wegen die Öffentlichkeit auszuschließen. Insoweit ist die auf Art. 6 I EMRK gestützte Beschwerde offensichtlich unbegründet und nach Art. 35 III lit a, IV EMRK
unzulässig (EGMR, Urteil vom 10.03.2011 - 2700/10 zu EMRK Art. 6 I, 8, 13, 14, 15, 35 III, 41, BeckRS 2011, 26127).
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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat im Fall Sporer gegen Österreich entschieden, dass der Ausschluss einer gerichtlichen Einzelfallprüfung der Sorgerechtsregelung den Vater eines unehelichen Kindes diskriminiert.
Der Beschwerdeführer Sporer ist österreichischer Staatsangehöriger, 1976 geboren, und lebt in Schalchen. Im Mai 2000 wurde sein Sohn K. unehelich geboren. Die Mutter des Kindes lebte zu diesem Zeitpunkt im selben Haus wie
Herr Sporer, der in einer anderen Wohnung mit seiner langjährigen Partnerin und ihrem gemeinsamen Sohn zusammenlebte. Im ersten Lebensjahr K.s kümmerten sich Herr Sporer und K.s Mutter abwechselnd um das Kind und
nahmen nacheinander Erziehungsurlaub. Nachdem K.s Mutter im Januar 2002 ausgezogen war, beantragte Herr Sporer beim Bezirksgericht die Übertragung des alleinigen Sorgerechts auf sich mit dem Argument, dass K.s Mutter
nicht angemessen in der Lage sei, sich um das Kind zu kümmern. K.s Mutter stellte sich der Übertragung des Sorgerechts entgegen und das Jugendamt vertrat die Auffassung, dass beide Eltern in der Lage seien, sich um das Kind zu
kümmern. In einer mündlichen Verhandlung vor dem Bezirksgericht einigten sich die Parteien zunächst, dass K. bis zu einer Entscheidung mit beiden Elternteilen jeweils die halbe Woche verbringen würde. Ein auf Antrag Herrn
Sporers vom Gericht berufener kinderpsychologischer Sachverständiger vertrat in einem Gutachten, das in einer zweiten Gerichtsverhandlung erörtert wurde, dass K.s Mutter unreif und nicht in der Lage sei, sich um das Kind zu
kümmern. Ein anschließend vom Gericht berufener zweiter Sachverständiger widersprach dieser Einschätzung. Ein dritter Sachverständiger bestätigte in einem Obergutachten die Auffassung des zweiten Gutachters und vertrat, dass
das Kindeswohl durch den Verbleib des Sorgerechts bei der Mutter nicht gefährdet sei. Herr Sporer machte nicht von der Möglichkeit Gebrauch, eine schriftliche Stellungnahme einzureichen, beantragte aber die Erörterung des
Gutachtens in einer weiteren Verhandlung.
Das Gericht lehnte den Antrag Herrn Sporers auf Übertragung des alleinigen Sorgerechts im Dezember 2002 ohne eine weitere Verhandlung ab und verwies darauf, dass das alleinige Sorgerecht nach dem Allgemeinen Bürgerlichen
Gesetzbuch automatisch der Mutter zufalle, es sei denn, das Kindeswohl würde dadurch gefährdet. Das Landesgericht Ried bestätigte die Entscheidung und der Oberste Gerichtshof lehnte die Berufung Herrn Sporers dagegen im Juni
2003 ab. K.s Mutter hat weiterhin das alleinige Sorgerecht für das Kind, während Herr Sporer Recht auf Umgang mit ihm gemäß einer vom Gericht empfohlenen Regelung hat.
Unter Berufung auf Art. 6 § 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) (Recht auf ein faires Verfahren) machte Herr Sporer geltend, dass ihm das Bezirksgericht nicht die Möglichkeit gegeben habe, in einer mündlichen
Verhandlung zu dem entscheidenden Obergutachten Stellung zu nehmen. Unter Berufung auf Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) i.V.m. Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) sah er sich zudem nach
dem Bürgerlichen Gesetzbuch als Vater eines unehelichen Kindes diskriminiert, zum einen gegenüber der Mutter, da er gegen deren Willen keine Möglichkeit habe, das gemeinsame Sorgerecht zu erhalten, und zum anderen gegenüber
verheirateten und geschiedenen Vätern, da diese nach Trennung oder Scheidung von der Kindsmutter das gemeinsame Sorgerecht behalten könnten. Die Beschwerde wurde am 12.11.2003 beim EGMR eingelegt.
Der EGMR hat eine Verletzung von Art. 14 EMRK i.V.m. Art. 8 EMRK festgestellt.
1. Nach Auffassung des Gerichtshofs liegt keine Verletzung von Art. 6 § 1 EMRK vor. Herr Sporer hatte das Recht auf eine Verhandlung, da weder außerordentliche Umstände vorgelegen haben, die den Verzicht darauf gerechtfertigt
hätten noch betraf das Verfahren lediglich formale oder rein rechtliche Fragen. Der persönliche Eindruck der Eltern in einem Sorgerechtsverfahren stelle zudem einen wichtigen Aspekt dar.
Vor dem Bezirksgericht hatten zwei Verhandlungen, eine zur Vorbereitung und eine weitere in der Sache, stattgefunden. Sie hatten es dem Gericht ermöglicht, einen persönlichen Eindruck beider Parteien zu gewinnen, und den
Parteien die Gelegenheit gegeben, die verschiedenen Gesichtspunkte des Falls zu erörtern. Der Gerichtshof zeigte sich vom Argument des Bezirksgerichts überzeugt, dass eine weitere Verhandlung nicht notwendig gewesen sei, da das
dritte Sachverständigengutachten schlüssig und alle Sach- und Rechtsfragen hinreichend geklärt gewesen seien. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass Herr Sporer nicht weitere schriftliche Stellungnahmen hätte einreichen können,
sofern er dies gewünscht hätte. Das entscheidende Obergutachten war adversatorisch auf Grundlage von Interviews und schriftlichen Stellungnahmen beider Parteien erstellt worden.
2. Es liegt eine Verletzung von Art. 14 EMRK i.V.m. Art. 8 EMRK vor. Der Gerichtshof unterstrich zunächst, dass, wie zwischen den Parteien unumstritten war, die Beziehung Herrn Sporers zu seinem Sohn angesichts der Tatsache,
dass er Erziehungsurlaub genommen und sich weiterhin regelmäßig um ihn gekümmert hatte, als "Familienleben" i.S.v. Art. 8 EMRK zu gelten hat. Im Verfahren um das Sorgerecht hatten die österreichischen Gerichte nicht darüber
zu befinden gehabt, ob ein gemeinsames Sorgerecht im Kindeswohlinteresse läge, da für die gerichtliche Prüfung dieser Frage nach dem österreichischen Bürgerlichen Gesetzbuch die Zustimmung der Mutter erforderlich war; K.s
Mutter hatte ihre Zustimmung dazu aber nicht gegeben. Die Gerichte hatten auch nicht darüber zu entscheiden, welcher Elternteil besser in der Lage wäre, das Sorgerecht auszuüben.
Sie hatten lediglich festzustellen, ob K.s Mutter das Kindeswohl gefährdete. Auf Grundlage des entscheidenden Obergutachtens hatten sie den Antrag Herrn Sporers auf Übertragung des alleinigen Sorgerechts abgelehnt. Folglich lag
hinsichtlich der Zuweisung des Sorgerechts eine Ungleichbehandlung Herrn Sporers in seiner Eigenschaft als Vater eines unehelichen Kindes gegenüber der Mutter, und zugleich gegenüber verheirateten Vätern, vor.
Im Hinblick auf die anfängliche Zuweisung des Sorgerechts für ein uneheliches Kind an dessen Mutter sah der Gerichtshof keinen Grund, zu einem anderen Schluss zu kommen als im Fall Zaunegger gegen Deutschland. In diesem
Fall hatte er befunden, dass, sofern keine gemeinsame Sorgeerklärung vorliegt, eine solche Regelung gerechtfertigt ist, um zu gewährleisten, dass das Kind ab seiner Geburt eine Person hat, die klar als gesetzlicher Vertreter handeln
kann.
Im Fall Zaunegger hatte der Gerichtshof allerdings nicht die Annahme geteilt, dass ein gemeinsames Sorgerecht gegen den Willen der Mutter grundsätzlich dem Kindeswohl zuwiderlaufe. Zwar gibt es in den Europaratsmitgliedstaaten
keine einheitliche rechtliche Herangehensweise an die Frage, ob Väter unehelicher Kinder das Recht haben, das gemeinsame Sorgerecht auch gegen den Willen der Mutter zu beantragen. In einer Mehrheit der Staaten müssen sich
Sorgerechtsentscheidungen allerdings am Kindeswohlinteresse orientieren und im Fall eines Konflikts zwischen den Eltern gerichtlich überprüft werden. Das österreichische Recht sah im Fall Herrn Sporers keinerlei gerichtliche
Prüfungsmöglichkeiten der Frage vor, ob ein gemeinsames Sorgerecht im Kindeswohlinteresse läge, oder ob ihm, falls das gemeinsame Sorgerecht diesem Interesse zuwiderliefe, besser durch die Zuweisung des Sorgerechts an die
Mutter oder den Vater gedient wäre. Die österreichische Regierung hatte keine hinreichenden Gründe angegeben, warum die Situation Herrn Sporers, der seine Rolle als K.s Vater von Anfang an angenommen hatte, weniger
gerichtliche Prüfungsmöglichkeiten zulassen sollte als diejenige von Vätern, die zunächst das Sorgerecht hatten und sich später von der Kindesmutter trennten oder scheiden ließen.
3. Der EGMR hat entschieden, dass Österreich Herrn Sporer 3.500 Euro nach Art. 41 EMRK (gerechte Entschädigung) für die entstandenen Kosten zu zahlen hat. Der Gerichtshof hat außerdem entschieden, dass die Feststellung einer
Verletzung der Konvention eine ausreichende gerechte Entschädigung für den erlittenen immateriellen Schaden darstellt (EGMR, Entscheidung vom 03.02.2011 - 35637/03 zu Art 6 § 1, Art 8 , Art 14 , Art 41 MRK).
***
Die Verurteilung der Beschwerdeführer wegen Beleidigung nach § 185 StGB war ein Eingriff in ihr nach Art. 10 EMRK garantiertes Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung. Ein solcher Eingriff ist nach Art. 10 II EMRK
gerechtfertigt, wenn er „gesetzlich vorgesehen" ist, eines der in der Vorschrift genannten berechtigten Ziele verfolgt und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" ist, um dieses Ziel zu erreichen. § 185 StGB ist ausreichend
bestimmt gefasst und damit eine ausreichende Grundlage im deutschen Recht. Die Bestrafung diente dem „Schutz des guten Rufs oder der Rechte anderer" i. S. von Art. 10 II EMRK und damit einem berechtigten Ziel. Für den
Eingriff bestand auch ein „dringendes soziales Bedürfnis". Die deutschen Gerichte haben das Recht der Beschwerdeführer auf freie Meinungsäußerung und das Persönlichkeitsrecht des Arztes angemessen gegeneinander abgewogen.
Die Dauer des Verfahrens über die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführer vor dem BVerfG von fast sechseinhalb Jahren verstößt gegen Art. 6 I EMRK (Recht auf ein faires Verfahren; EGMR, Urteil vom 13.01.2011 - 397/07,
2322/07, NJW 2011, 3353).
***
Art. 6 I EMRK garantiert das "Recht auf ein Gericht". Das Recht auf Zugang zu dem Gericht, also das Recht, eine Streitigkeit über "zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen" ("civil rights and obligations"/"droits et obligations
de caractére civil") vor ein Gericht zu bringen, ist Teil des Rechts auf ein Gericht. Diese Garantien beziehen sich allerdings nur auf solche Rechte und Verpflichtungen, von denen vertretbar behauptet werden kann, dass sie im Recht
des betroffenen Konventionsstaates anerkannt sind. Das Recht auf Zugang zu einem öffentlichen Amt ist "zivilrechtlich" i. S. von Art. 6 I EMRK, wenn es vor den Gerichten des betroffenen Konventionsstaates geltend gemacht
werden kann. Das war hier der Fall. Insoweit ist Art. 6 EMRK anwendbar. Art. 6 EMRK gilt für das Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz, wenn die einstweilige Maßnahme tatsächlich über den zivilrechtlichen Anspruch
entscheidet, um den es im Hauptverfahren geht. Das war hier der Fall, denn mit der einstweiligen Anordnung des BVerfG sollte das Justizministerium Baden-Württembergs daran gehindert werden, alle Notarstellen vor Abschluss des
Hauptverfahrens zu besetzen. Zum Recht auf ein Gericht i. S. von Art. 6 I EMRK gehört auch das Recht auf Vollzug einer endgültigen gerichtlichen Entscheidung. Kommt eine Behörde einer einstweiligen Anordnung eines Gerichts
nicht nach, kann darin ein Verstoß gegen das Recht auf Zugang zu einem Gericht liegen. Dazu muss die einstweilige Maßnahme verbindlich sein, und ihre Nichtbeachtung muss unmittelbare Auswirkungen auf das Hauptverfahren
haben. Im vorliegenden Fall hat das Justizministerium mit der Nichtbeachtung der einstweiligen Anordnung des BVerfG dem Beschwerdeführer die Möglichkeit genommen, die Begründetheit seiner Beschwerde im Hauptverfahren
prüfen zu lassen. Damit hat es sein Recht auf Zugang zu einem Gericht nach Art. 6 I EMRK verletzt. Im Hauptverfahren hat das BVerfG festgestellt, das Justizministerium habe mit seinem Einstellungsverfahren die Berufsfreiheit des
Beschwerdeführers verletzt, und dann die Sache zu erneuter Prüfung an die Fachgerichte zurückverwiesen. Ein vom Beschwerdeführer angestrengtes Amtshaftungsverfahren ist zurzeit in zweiter Instanz beim OLG Stuttgart anhängig.
Somit lässt sich nicht sagen, dass die Fachgerichte die Entscheidung des BVerfG im Hauptverfahren nicht vollzogen hätten (EGMR, Urteil vom 13.01.2011 - 32715/06, BeckRS 2011, 80448 zu MRK Art. 6 I).
***
Ein Verfahren zur Amtsenthebung des Präsidenten der Republik betrifft weder eine Entscheidung über „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen" noch über eine „strafrechtliche Anklage". Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires
Verfahren) ist deswegen nicht anwendbar. Art. 3 Zusatzprotokoll zur EMRK (Recht auf freie Wahlen) gilt nur für die Wahl der gesetzgebenden Körperschaften. Deswegen ist er auf die Wahl des Parlaments anwendbar, nicht aber auf
die Wahl des Präsidenten der Republik. Art. 17 EMRK (Verbot des Missbrauchs der Rechte) will Personen oder Gruppen mit totalitären Zielsetzungen daran hindern, die in der Konvention verankerten Grundsätze für ihre Interessen
auszunutzen. Die Vorschrift kann nur ausnahmsweise und in extremen Fällen angewendet werden, insbesondere wenn der Beschwerdeführer ein Konventionsrecht missbrauchen und für Ziele benutzen will, die Buchstaben und Geist
der Konvention widersprechen. Art. 3 Zusatzprotokoll zur EMRK enthält das Recht zu wählen und gewählt zu werden. Die Konventionsstaaten können Einzelheiten regeln und insbesondere Voraussetzungen für das aktive und
passive Wahlrecht festlegen. Sie haben dabei einen Ermessensspielraum. Der Gerichtshof prüft, ob die Einschränkungen gesetzlich vorgesehen sind, ein berechtigtes Ziel verfolgen und verhältnismäßig sind. Art. 3 Zusatzprotokoll zur
EMRK schließt nicht aus, das Wahlrecht von Personen zu beschränken, die ein öffentliches Amt in schwerwiegender Weise missbraucht haben und deren Verhalten die Rechtsstaatlichkeit oder andere demokratische Grundsätze
gefährdet hat. Bei Beurteilung der Verhältnismäßigkeit ist von besonderer Bedeutung, ob die Beschränkung des Rechts befristet ist und ob sie später geändert werden kann. Das ist in Litauen nicht der Fall, so dass Art. 3
Zusatzprotokoll zur EMRK verletzt ist. Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) verlangt nicht, dass es im staatlichen Recht einen Rechtsbehelf gibt, mit dem man geltend machen kann, ein Gesetz oder eine Entscheidung des
Verfassungsgerichts mit normativer Wirkung verstoße gegen die Konvention (EGMR, Urteil vom 06.01.2011 - 34932/04 zu EMRK Art. 6, 7, 13, 17, 35 III, IV, 41; Zusatzprotokoll zur EMRK Art. 3; Protokoll Nr. 7 zur EMRK Art. 4,
BeckRS 2011, 20426).
***
Art 6 Abs 1 MRK ist verletzt, wenn die Gesamtdauer des Verfahrens nach den Umständen der Rechtssache sowie unter Berücksichtigung der Komplexität des Falles, des Verhaltens des Beschwerdeführers (hier: Anteil des
Beschwerdeführers an Verzögerung des Verfahrens durch zahlreiche Berichtigungsanträge, Befangenheitsanträge und erfolglose Anhörungsrügen) sowie der zuständigen Behörden und der Bedeutung des Rechtsstreits für
den Beschwerdeführer, nicht als angemessen angesehen werden kann. Eine Verfassungsbeschwerde, mit der die Untätigkeit des Sozialgerichts gerügt wird, stellt keine wirksame Beschwerde gegen die überlange Dauer des Verfahrens
vor dem Sozialgericht dar. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs werden Kosten und Auslagen nach Art 41 MRK nur erstattet, wenn sie tatsächlich und notwendigerweise entstanden sind und der Höhe nach
angemessen waren. Darüber hinaus sind Anwalts- und Gerichtskosten nur erstattungsfähig, soweit sie sich auf die festgestellte Verletzung beziehen (EGMR, Urteil vom 16.12.2010 - 39778/07, 11171/08, 43336/08, 52719/08,
15895/09 u.a zu Art 6 Abs 1, Art 41 MRK).
***
„... I. DIE UMSTÄNDE DES FALLES
A. Die Entstehung der Sache
4. Der Beschwerdeführer ist 1936 geboren und in A. wohnhaft.
5. Im Jahr 1964 gründete er mit seiner Ehefrau eine Gesellschaft für Heizungsbau (im Folgenden „die Gesellschaft"). Zusammen mit einem Dritten wurden sie deren Gesellschafter, wobei der Beschwerdeführer zum Geschäftsführer
ernannt wurde. Im Jahr 1973 geriet die Gesellschaft in finanzielle Schwierigkeiten, weil das Energieversorgungsunternehmen der Stadt Emden es abgelehnt hatte, Anschlüsse zu installieren, um die von der Gesellschaft gebauten
Gasanlagen an das Gasnetz anzuschließen. Trotz der vom Beschwerdeführer angestrengten Eilverfahren verschuldete sich die Gesellschaft und im Jahr 1977 wurde ihre Auflösung angeordnet. Der Beschwerdeführer führte den
Rechtsstreit als Liquidator fort und obsiegte vor dem Landgericht Aurich. Dieses verurteilte die Stadt Emden im Jahr 1987 zur Zahlung von insgesamt ca. 750.000 EUR an die Gesellschaft (Schadensersatz nebst Zinsen).
6. Den Feststellungen des Bundesgerichtshofs zufolge (Randnummer 11 unten) hatte der Beschwerdeführer, nachdem er diese Gelder wegen Verlusts der Gesellschaft erhalten hatte, versucht, den größtmöglichen Teil davon für seine
Familie und sich selbst zu behalten. So hatte er ca. 390.000 EUR auf das Bankkonto eines Gesellschafters in den Niederlanden überwiesen, der wiederum ca. 340.000 EUR auf das Konto einer Tochter des Beschwerdeführers
transferiert hatte.
B. Das streitige Verfahren
7. Am 16. Januar 1991 leitete die Staatsanwaltschaft Aurich gegen den Beschwerdeführer ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts von Steuerstraftaten ein. Im Zuge der Ermittlungen erfolgte eine Durchsuchung am Wohnsitz
des Betroffenen und in den Räumlichkeiten einer Bank in Emmen, Niederlande, wo der Beschwerdeführer und seine Tochter ihre Bankkonten unterhielten. In Deutschland und in den Niederlanden wurde eine Reihe von Unterlagen beschlagnahmt.
8. Am 30. März 1994 erließ das Finanzamt gegen die Gesellschaft einen Steuerbescheid für das Jahr 1987 (in Höhe von ca. 440.000 EUR). Der Bescheid wurde im August 1995 abgeändert und der Betrag um ca. 100.000 EUR erhöht.
Das Finanzamt hatte in der Zwischenzeit am 7. Oktober 1994 einen Steuerbescheid gegen den Beschwerdeführer über die von der Gesellschaft fälligen ca. 460.000 EUR erlassen. Der Beschwerdeführer legte gegen diese Bescheide
Einspruch vor dem Niedersächsischen Finanzgericht ein.
9. Am 17. Mai 1994 wurde gegen den Beschwerdeführer und seinen Rechtsanwalt, der ihn derzeit vor dem Gerichtshof vertritt, Anklage wegen Steuerhinterziehung beziehungsweise Beihilfe zur Steuerhinterziehung erhoben.
10. Am 19. September 1994 verurteilte das Landgericht Aurich den Beschwerdeführer wegen Steuerhinterziehung in Tateinheit mit Untreue zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen. Der Rechtsanwalt des Beschwerdeführers wurde zu
einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung verurteilt.
11. Der Bundesgerichtshof gab den Revisionen der Angeklagten am 20. Dezember 1995 statt und hob das Urteil des Landgerichts auf. Hinsichtlich des Beschwerdeführers stellte er das Verfahren wegen des Vorwurfs der Untreue ein
und begründete dies insbesondere damit, dass dieser Punkt in der Anklageschrift nicht aufgeführt gewesen sei. Bezüglich des Vorwurfs der Steuerhinterziehung verwies er die Sache an das Amtsgericht Aurich zurück. In diesem
Zusammenhang legte er dar, dass in Anbetracht des Verfahrensstands und angesichts des verbleibenden Schuldvorwurfs die Zuständigkeit des Einzelstrafrichters für die weitere Sachbehandlung ausreichend sei. Der Rechtsanwalt des
Beschwerdeführers wurde freigesprochen.
12. Am 4. September 1996 beantragte der Beschwerdeführer angesichts der beiden vor dem Finanzgericht anhängigen Verfahren betreffend die Steuerbescheide für 1994 vor dem Amtsgericht die Aussetzung des Verfahrens. Die
Staatsanwaltschaft legte gegen die Aussetzung Einspruch ein.
13. Am 24. Januar 1997 setzte das Amtsgericht gemäß § 396 der Abgabenordnung das Verfahren bis zum Abschluss der Besteuerungsverfahren vor dem Finanzgericht aus (siehe Randnummer 19 unten). Der Beschwerdeführer bat das
Finanzgericht mehrmals darum, im Hinblick auf das anhängige Strafverfahren schnellstmöglich eine Entscheidung in seiner Sache zu erlassen.
14. Am 10. November 2004 hob das Finanzgericht den Steuerbescheid für das Jahr 1987 auf und gab dem Einspruch der Gesellschaft im Wesentlichen statt. Am 15. Februar 2006 wies der Bundesfinanzhof das Rechtsmittel der
Gesellschaft gegen dieses Urteil ab. Die Verfassungsbeschwerde der Gesellschaft hatte keinen Erfolg. Die Beschwerde, die der Beschwerdeführer in diesem Verfahren (Nr. 4447/06) vor dem Gerichtshof erhoben hat, wurde am 12.
Mai 2009 von einem mit drei Richtern besetzten Ausschuss mit der Begründung abgewiesen, das streitgegenständliche Verfahren betreffe weder eine Streitigkeit über zivilrechtliche Ansprüche oder Verpflichtungen des
Beschwerdeführers noch die Begründetheit einer gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage im Sinne des Artikels 6 der Konvention und die Beschwerde sei demnach gemäß Artikel 35 Absatz 3 ratione materiae mit den
Konventionsbestimmungen unvereinbar.
15. Im Februar 2005 wurde dem Amtsgericht Aurich das Urteil des Finanzgerichts zugestellt, das gemäß § 153a der Strafprozessordnung die Einstellung des Verfahrens vorschlug (Randnummer 19 unten). Das Finanzamt legte
hiergegen Einspruch mit der Begründung ein, das Rechtsmittel der Gesellschaft sei noch vor dem Bundesfinanzhof anhängig.
16. Das Finanzamt erklärte am 6. Juli 2007, seinen Steuerbescheid vom 7. Oktober 1994 zurücknehmen zu wollen. Der Beschwerdeführer teilte dem Amtsgericht Aurich am 30. Juli 2007 mit, das Besteuerungsverfahren sei
ausweislich der Erklärung des Finanzamts endgültig abgeschlossen und die Gründe für die Verfahrensaussetzung seien gegenstandslos geworden.
17. Danach schlug das Gericht wegen der übermäßig langen Verfahrensdauer die Einstellung des Verfahrens vor. Der Beschwerdeführer verweigerte seine Einwilligung.
18. Am 16. April 2008 erließ das Amtsgericht gemäß § 153 der Strafprozessordnung einen Einstellungsbeschluss (Randnummer 19 unten) mit der Begründung, das strafrechtliche Verschulden des Beschwerdeführers sei, sollte es
jemals erwiesen werden, auf jeden Fall geringfügig. Der Beschwerdeführer hatte der Verfahrenseinstellung zugestimmt.
II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT UND DIE EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS
19. Nach den §§ 153 und 153a der Strafprozessordnung kann ein Strafverfahren, das Vergehen zum Gegenstand hat, die mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr bedroht sind, unter bestimmten Voraussetzungen eingestellt
werden. § 153 gestattet die Einstellung, wenn die Schuld gering ist und kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht. § 153a gestattet die Einstellung, insbesondere gegen Zahlung eines Geldbetrags zugunsten einer
gemeinnützigen Einrichtung oder der Staatskasse.
Der zum Zeitpunkt der Geschehnisse gültige Wortlaut des § 396 der Abgabenordnung sah vor, dass das Strafverfahren ausgesetzt werden konnte, wenn die Beurteilung der Tat als Steuerhinterziehung vom Ausgang eines
Besteuerungsverfahrens abhing, ob ein Steueranspruch zugunsten der Staatskasse bestand, Steuern verkürzt oder nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt wurden. Über die Aussetzung entschied das Gericht. Die Aussetzung des
Verfahrens führte dazu, dass die Verjährung ruhte.
§ 305 der Strafprozessordnung führt aus, dass gerichtliche Entscheidungen, die der Urteilsfällung vorausgehen, nicht der Beschwerde unterliegen. Nach allgemeiner Auffassung unterliegt die Entscheidung des Strafgerichts, das
Verfahren nicht auszusetzen, keiner Beschwerde. Was die Entscheidung über die Verfahrensaussetzung anbelangt, so ist sie nicht anfechtbar, wenn sie der weiteren Aufklärung des Sachverhalts dient und demnach im inneren
Zusammenhang mit der Urteilsfällung steht (siehe z.B. den Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 13. Dezember 2007 (Az. 1 Ws 310/07) m.w.N.).
Die Entscheidung über die Aussetzung eines Strafverfahrens wird übrigens von Amts wegen vom Strafgericht nach pflichtgemäßem Ermessen getroffen (siehe die Urteile des Bundesgerichtshofs vom 24. Oktober 1984 (Az. 3 StR
315/84) und vom 13. Januar 1988 (Az. 3 StR 450/87) und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Oktober 1990 (Az. 2 BvR 385/87)."
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. ZUR BEHAUPTETEN VERLETZUNG DES ARTIKELS 6 ABSATZ 1 DER KONVENTION
20. Der Beschwerdeführer behauptet, die Dauer des Verfahrens habe den Grundsatz der „angemessenen Frist" nach Artikel 6 Absatz 1 der Konvention mit folgendem Wortlaut verletzt:
„(1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über (...) eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem (...) Gericht (…) innerhalb angemessener Frist verhandelt wird."
21. . Die Regierung bestreitet diese Behauptung.
22. Der zu berücksichtigende Zeitraum begann am 16. Januar 1991 und endete am 16. April 2008. Das Verfahren hat demnach in zwei Instanzen siebzehn Jahre und drei Monate gedauert, einschließlich der Verweisung der Sache
durch den Bundesgerichtshof an das Amtsgericht Aurich.
A. Zur Zulässigkeit
1. Die Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs
23. Die Regierung bringt die Einrede der Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs vor. Unter Bezugnahme auf die Entscheidung in der Rechtssache S. ./. Deutschland (Nr. 4254/02, 9. Mai 2007) bringt sie vor, der
Beschwerdeführer habe sich nicht an die Strafverfolgungsbehörden gewandt, insbesondere nicht an das Amtsgericht Aurich, um eine Einstellung des Verfahrens wegen überlanger Verfahrensdauer zu erwirken, und er sei auch nicht
auf die entsprechenden Vorschläge eingegangen, die ihm gleichwohl in den Jahren 2005 und 2007 unterbreitet worden seien. Sie behauptet ebenfalls, der Betroffene habe die Dauer des Verfahrens vor dem Finanzgericht auch nicht vor
dem Bundesverfassungsgericht gerügt.
24. Der Beschwerdeführer erwidert, dass eine Einstellung des Verfahrens nach § 153a der Strafprozessordnung das Eingeständnis eines strafrechtlichen Verschuldens zu seinen Lasten bedeutet und dem Finanzamt gestattet hätte, die
von der Gesellschaft geforderten Beträge bei ihm einzutreiben. Was das Verfahren vor den Finanzgerichten anbelangt, so behauptet er, dass eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, mit der eine überlange Verfahrensdauer
festgestellt würde, dieses nicht beschleunigt hätte.
25. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Amtsgericht das Verfahren gegen den Beschwerdeführer gemäß § 153 der Strafprozessordnung schließlich eingestellt hat, ohne sich zu dessen strafrechtlichem Verschulden zu äußern.
Angesichts seiner einschlägigen Rechtsprechung ist der Gerichtshof der Auffassung, dem Beschwerdeführer habe keine Beschwerde zur Verfügung gestanden, um sich wegen der Dauer des Strafverfahrens vor dem Amtsgericht
beschweren zu können (O. ./. Deutschland (Nr. 2), Nr. 26073/03, Rdnrn. 49 und 57-61, 13. November 2008, O. ./. Deutschland (Nr. 1), Nr. 10597/03, Rdnr. 71, 13. November 2008, und T. ./. Deutschland (Entsch.), Nr. 29752/04 und
Nr. 16771/06, 23. März 2010). Der Gerichtshof erinnert im Übrigen daran, dass die Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht keinen wirksamen Rechtsbehelf darstellt, um die Dauer eines anhängigen oder
abgeschlossenen Zivilverfahrens zu rügen (S. ./. Deutschland [GK], Nr. 75529/01, Rdnr. 108, CEDH 2006-VII, und H. ./. Deutschland, Nr. 20027/02, Rdnrn. 64-66, 11. Januar 2007). Die Einreden der Regierung sind demnach abzuweisen.
2. Die Opfereigenschaft des Beschwerdeführers
26. Die Regierung hegt außerdem Zweifel an der Opfereigenschaft des Beschwerdeführers, weil das Verfahren vor den Finanzgerichten nicht den Beschwerdeführer, sondern die in Liquidation befindliche Gesellschaft betraf, deren
Vertreter er nur war. Der Beschwerdeführer erwidert, das streitgegenständliche Strafverfahren sei gegen ihn geführt worden. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Angeklagte in dem Verfahren, das dieser Beschwerde zugrunde liegt,
durchaus der Beschwerdeführer ist. Somit ist der prozessualen Einrede der Regierung nicht stattzugeben.
27. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet im Sinne des Artikels 35 Absatz 3 der Konvention ist. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass in Bezug auf die Rüge kein anderer
Unzulässigkeitsgrund vorliegt.
B. Zur Hauptsache
1. Vorbringen der Parteien
28. Die Regierung behauptet zunächst, die Sache sei durch eine erhebliche Komplexität geprägt gewesen, insbesondere wegen der grenzüberschreitenden Untersuchungshandlungen, dem Erfordernis der Rechtshilfe mit den
niederländischen Behörden und der im Verfahren aufgeworfenen komplexen steuerrechtlichen Fragen. Die Dauer des Verfahrens vor dem Landgericht und dem Bundesgerichtshof sei nicht zu beanstanden.
29. Bezüglich der Dauer des Verfahrens vor dem Amtsgericht weist die Regierung auf die Tatsache hin, der Beschwerdeführer habe selbst beantragt, die Prüfung der Sache auszusetzen. Eine solche Aussetzung sei objektiv sinnvoll
gewesen, weil das Verfahren komplexe steuerrechtliche Fragen aufgeworfen habe, die von dem auf diesem Gebiet sachkundigen Finanzgericht zu klären gewesen seien. Da es sich bei diesem Verfahren um keine zivilrechtliche
Streitigkeit im Sinne des Artikels 6 Absatz 1 der Konvention gehandelt habe, sei dessen Dauer der Bundesrepublik Deutschland nicht unmittelbar anzulasten. Die Regierung unterstreicht ferner, das Strafgericht, welches nicht hätte
erkennen können, dass die Sache die durchschnittliche Dauer von Verfahren vor den Finanzgerichten überschreiten würde, hätte sich mehrmals an das Finanzgericht gewandt, um Auskünfte über das Fortschreiten des
finanzgerichtlichen Verfahrens zu erhalten. Der Beschwerdeführer habe das Amtsgericht im Übrigen erst im Sommer des Jahres 2007 davon unterrichtet, dass die Sache vor dem Finanzgericht abgeschlossen sei.
30. Der Beschwerdeführer bestätigt, die Aussetzung des Verfahrens sei in seinem Interesse gewesen, weil ihm daran gelegen gewesen sei, dass die Begründetheit der Vorwürfe seitens des Finanzamts von sachkundigen Richtern
geprüft werde. Er erinnert aber daran, dass es Aufgabe des Staates sei, Maßnahmen zu treffen, um den Straf- und Finanzgerichten zu gestatten, ihre Entscheidungen innerhalb einer angemessenen Frist zu fällen. Das Verfahren vor dem
Finanzgericht habe schließlich nach seiner Auffassung keinen komplexen Charakter aufgewiesen.
Was die Ablehnung des Beschwerdeführers anbelangt, der Verfahrenseinstellung zuzustimmen, so macht er geltend, dass, nachdem das Amtsgericht zum ersten Mal die Verfahrenseinstellung wegen überlanger Dauer vorgeschlagen
habe, er vor den Finanzbehörden gerade obsiegt hatte und demnach damit habe rechnen können, von sämtlichen Anklagen freigesprochen und somit rehabilitiert zu werden. Außerdem wäre angesichts dessen, dass das Finanzamt noch
im Jahr 2005 der Verfahrenseinstellung nicht zugestimmt habe, seine Einwilligung hierzu wirkungslos geblieben. Er unterstreicht, er habe der im Jahr 2008 vorgeschlagenen Einstellung deshalb nicht zugestimmt, weil er gerade einen
Herzinfarkt erlitten hatte und nicht mehr in der Lage gewesen sei, als Betroffener in einem Strafverfahren aufzutreten.
2. Die Würdigung des Gerichtshofs
31. Der Gerichtshof erinnert daran, dass die angemessene Dauer eines Verfahrens nach den Umständen der Rechtssache und unter Berücksichtigung der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs verankerten Kriterien zu würdigen ist,
insbesondere in Anbetracht der Komplexität der Sache, des Verhaltens des Beschwerdeführers und der zuständigen Behörden (s. unter zahlreichen anderen Entscheidungen die Rechtssache Pélissier und Sassi ./. Frankreich [GK], Nr.
25444/94, Rdnr. 67, CEDH 1999-II).
32. Der Gerichtshof stellt fest, dass im vorliegenden Fall das streitgegenständliche Verfahren eine gewisse Komplexität aufwies, insbesondere wegen der Untersuchungshandlungen, dass die Verfahrensdauer aber ausschließlich darauf
zurückzuführen ist, dass es mehr als zehn Jahre vor dem Amtsgericht in Erwartung des Abschlusses der vor den Finanzgerichten anhängigen Verfahren ausgesetzt worden ist.
33. Er erinnert daran, dass Artikel 6 Absatz 1 der Konvention zwar den zügigen Ablauf der Gerichtsverfahren vorschreibt, aber auch den allgemeinen Grundsatz einer ordnungsgemäßen Rechtspflege postuliert. Für das mit einer Sache
befasste Gericht kann es in der Tat angemessen sein, den Ausgang eines parallel geführten Verfahrens abzuwarten, dessen Abschluss den Ausgang des vor ihm anhängigen Verfahrens beeinflusst. Die Entscheidung jedoch, die Prüfung
einer Sache auszusetzen, muss mit dem zwischen den einzelnen Aspekten dieser Grundvoraussetzung herbeizuführenden gerechten Ausgleich vereinbar und unter Berücksichtigung der Umstände des Falles verhältnismäßig sein
(Boddaert ./. Belgien, 12. Oktober 1992, Rdnrn. 38-39, Serie A Band 235-D, Pafitis und andere ./. Griechenland, 26. Februar 1998, Rdnr. 97, Sammlung der Urteile und Entscheidungen 1998-I, und N. . / Deutschland (Nr. 2), Nr.
12852/08, Rdnr. 44, 1. April 2010). Der Gerichtshof erinnert im Übrigen daran, dass selbst bei Verfahren, in denen es den Parteien obliegt, Initiativen zu ergreifen, die Gerichte nicht von ihrer Verpflichtung entbunden sind, dafür
Sorge zu tragen, dass das Verfahren innerhalb angemessener Frist abläuft (Scopelliti ./. Italien, 23. November 1993, Rdnr. 25, Serie A Band 278, und Duclos ./. Frankreich, 17. Dezember 1996, Rdnr. 55, Sammlung 1996-VI).
34. Der Gerichtshof ruft schließlich in Erinnerung, dass Artikel 6 Absatz 1 die Vertragsparteien verpflichtet, ihr Justizsystem so zu organisieren, dass ihre Gerichte jedem Erfordernis gerecht werden können, insbesondere in Bezug auf
die angemessene Frist (o. a Sache S., Rdnr. 129). Er ist der Auffassung, dass diese Verpflichtung auch diejenige umfasst, Mechanismen vorzusehen, um zu verhindern, dass ein parallel laufendes Verfahren, das eine bestimmte Dauer
beansprucht und dessen Ausgang sich auf den Ausgang des streitgegenständlichen Verfahrens auswirken kann, den Abschluss des Letztgenannten nicht automatisch verzögert.
35. Im vorliegenden Fall räumt der Gerichtshof in Anbetracht des Gegenstands des Verfahrens vor den Finanzgerichten ein, dass die Aussetzung des Strafverfahrens zu dem Zeitpunkt als angemessen erscheinen durfte, als diese
Entscheidung getroffen wurde (siehe Randnummer 19 oben). Er ist aber der Ansicht, das Amtsgericht habe sich nach einer gewissen Zeit nicht mehr damit begnügen dürfen, sich nach dem Fortgang des finanzgerichtlichen Verfahrens
zu erkundigen (H. T. ./. Deutschland, Nr. 38073/97, Rdnr. 36, 11. Oktober 2001), dies umso weniger, als es sich um ein Strafverfahren handelte. Selbst wenn der Gerichtshof bereits die Auffassung vertreten hat, dass die Entscheidung
eines innerstaatlichen Gerichts, über einen gewissen Zeitraum den Ausgang eines parallel laufenden Verfahrens abzuwarten, angezeigt sein kann, wenn ein solches Verfahren insbesondere eine Grundsatzfrage betrifft, über die ein
oberstes Gericht oder ein Verfassungsgericht zu entscheiden hat (o. a. Sache Pafitis und andere, Rdnr. 97, K. ./. Deutschland, Nr. 19124/02, Rdnr. 43, 15. Februar 2007), so erinnert er dennoch daran, dass die Wartezeit nicht
unbegrenzt sein darf und das betroffene nationale Gericht die einschlägigen Umstände des Falles berücksichtigen muss, wie insbesondere die Dauer des streitgegenständlichen Verfahrens zu dem Zeitpunkt, zu dem der
Aussetzungsbeschluss ergangen ist (T. ./. Deutschland, Nr. 68103/01, Rdnr. 31, 4. Dezember 2003, L. . /. Deutschland, Nr. 14635/03, Rdnr. 71, 26. April 2007, und M. ./. Deutschland (Nr. 2), Nr. 71972/01, Rdnr. 46, 11. Juni 2009).
36. Aufgrund dieser Prinzipien ist der Gerichtshof nicht überzeugt davon, dass das Amtsgericht Aurich einzig die Option hatte, den Ausgang des Verfahrens vor den Finanzgerichten abzuwarten. In diesem Zusammenhang stellt er
einerseits fest, dass der Bundesgerichtshof der Meinung war, dass die Art des verbleibenden Strafverfahrens die Sachbehandlung durch das Strafgericht gestattete, und andererseits, dass das Amtsgericht das Verfahren schließlich
eingestellt hat, ohne ein strafrechtliches Verschulden des Beschwerdeführers festzustellen.
37. Angesichts des Vorstehenden ist der Gerichtshof der Auffassung, dass das streitgegenständliche Verfahren übermäßig lang ist und dem Erfordernis der „angemessenen Frist" nicht entsprochen hat. Demnach ist Artikel 6 Absatz 1
verletzt worden.
II. ZUR ANWENDUNG DES ARTIKELS 41 DER KONVENTION
38. Artikel 41 der Konvention lautet wie folgt:
„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser
Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist."
A. Schaden
39. Der Beschwerdeführer fordert Schadensersatz wegen materiellen Schadens, stellt es aber in das Ermessen des Gerichtshofs, einen angemessenen Betrag festzusetzen. Er weist jedoch daraufhin, das Strafverfahren und die
Steuerbescheide hätten ihn daran gehindert, eine neue Firma auf dem Sektor des Heizungsleasings zu gründen, die ihm mehr als zwei Millionen Euro pro Jahr an Provisionen eingebracht hätte. Der Beschwerdeführer verlangt
außerdem 20.000 EUR wegen immateriellen Schadens.
40. Die Regierung ist der Auffassung, der behauptete materielle Schaden sei nicht in der Dauer des Verfahrens vor den Strafgerichten begründet und bestreitet diese Ansprüche. Was den immateriellen Schaden anbelangt, so überlässt
sie dies dem Ermessen des Gerichtshofs.
41. Der Gerichtshof sieht keinen Kausalzusammenhang zwischen der festgestellten Verletzung und dem behaupteten materiellen Schaden und weist diese Forderung zurück. Er erinnert daran, dass es ihm nicht zusteht, Mutmaßungen
über den etwaigen Ausgang des Verfahrens anzustellen, wenn es die Erfordernisse aus Artikel 6 Absatz 1 der Konvention erfüllt hätte. Er ist hingegen der Auffassung, der Beschwerdeführer habe mit Sicherheit einen immateriellen
Schaden erlitten. Auf einer gerechten Grundlage billigt er ihm hierfür 17.000 EUR zu.
B. Kosten und Auslagen
42. Der Beschwerdeführer fordert die Rückerstattung der Kosten und Auslagen vor den innerstaatlichen Gerichten, d.h. 47.958,40 EUR in Bezug auf das Strafverfahren und 27.197,15 EUR in Bezug auf das Verfahren vor den
Finanzgerichten. Er verlangt außerdem 943,91 EUR für Kosten und Auslagen vor dem Gerichtshof, davon 289,41 EUR wegen der Übersetzung der Sachverhaltszusammenfassung durch die Kanzlei des Gerichtshofs und von zwei
Schreiben des Gerichtshofs an den Beschwerdeführer.
43. Die Regierung bestreitet insbesondere die Ansprüche in Bezug auf die innerstaatlichen Verfahren.
44. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann ein Beschwerdeführer die Erstattung seiner Kosten und Auslagen nur insoweit erhalten, als diese tatsächlich angefallen sind, d.h. sie sich auf die festgestellte Verletzung beziehen,
erforderlich waren und im Hinblick auf ihre Höhe angemessen sind. Im vorliegenden Fall und unter Berücksichtigung der dem Gerichtshof vorliegenden Unterlagen und der vorgenannten Kriterien weist er die Forderung hinsichtlich
der Kosten und Auslagen vor den innerstaatlichen Gerichten zurück, erachtet aber die Forderung hinsichtlich der Kosten und Auslagen vor dem Gerichtshof für angemessen und gibt ihr zu Gunsten des Beschwerdeführers statt.
C. Verzugszinsen
45. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für den Satz der Verzugszinsen den um drei Prozentpunkte erhöhten Zinssatz der Spitzenrefinanzierungsfazilität der Europäischen Zentralbank zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF
1. Er erklärt die Beschwerde einstimmig für zulässig;
2. Er entscheidet mit sechs zu einer Stimme, dass Artikel 6 Absatz 1 der Konvention verletzt ist.
3. Er bestimmt mit sechs zu einer Stimme,
a) dass der beschwerdegegnerische Staat dem Beschwerdeführer innerhalb von drei Monaten, nachdem das Urteil gemäß Artikel 44 Absatz 2 der Konvention endgültig geworden ist, 17.000 EUR (siebzehntausend Euro) wegen des
immateriellen Schadens und 943,91 (neunhundertdreiundvierzig Euro und einundneunzig Cent) für Kosten und Auslagen sowie jeden Betrag, der vom Beschwerdeführer als Steuer geschuldet werden kann, zu zahlen hat;
b) dass diese Beträge nach Ablauf der genannten Frist und bis zur Zahlung um einfache Zinsen zu dem Satz zu erhöhen sind, der dem in diesem Zeitraum geltenden Zinssatz der Spitzenrefinanzierungsfazilität der Europäischen
Zentralbank entspricht, zuzüglich drei Prozentpunkten.
4. Er weist den Antrag auf gerechte Entschädigung im Übrigen zurück. ..." (EGMR, Urteil vom 21.12.2010 - 974/07)
***
„... Der Beschwerdeführer S. wurde 1966 in Terstenik, Kosovo, geboren und lebt in A.. Vor dem Gerichtshof wird er von Herrn M. Reuther, Rechtsanwalt in Arnsberg, vertreten. Die beschwerdegegnerische Regierung wird von Frau
Ministerialdirigentin A. Wittling-Vogel vom Bundesministerium der Justiz vertreten.
A. Die Umstände der Rechtssache
Der von den Parteien vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.
1. Strafverfahren gegen die Mitangeklagten
Am 1. Oktober 1998 eröffnete das Landgericht Dortmund das Hauptverfahren gegen den Beschwerdeführer und andere wegen gewerbs- und bandenmäßiger Verleitung anderer zur missbräuchlichen Asylantragstellung in 29 Fällen.
Nach einem Zuständigkeitsstreit zwischen dem Landgericht und dem Oberlandesgericht ordnete der Bundesgerichtshof am 17. März 1999 die Durchführung des Verfahrens durch das Landgericht Dortmund an.
Am 20. November 2000 verurteilte die als Schwurgericht erkennende große Strafkammer des Landgerichts Dortmund mit dem Vorsitzenden Richter F., der im Jahr zuvor an das Landgericht Dortmund versetzt worden war, S.-S. und
R., zwei deutsche Mitangeklagte des Beschwerdeführers, wegen Unterstützung bei missbräuchlicher Asylantragstellung in zehn Fällen, S.-S. zudem als Mitglied einer Bande, zu der insbesondere auch der Beschwerdeführer gehörte.
Das Verfahren gegen die Mitangeklagten war abgetrennt worden, nachdem sie die Taten gestanden hatten.
Der Beschwerdeführer, der in diesem Verfahren als Zeuge geladen worden war, hatte die Aussage verweigert. Das Urteil enthielt Angaben über die Rolle des Beschwerdeführers bei den Straftaten. Die wesentlichen Passagen hierzu
lauten wie folgt:
"S. verfiel auf die Idee, Asylbewerbern gegen Zahlung eines hohen Honorars zu helfen und die Erfolgsaussichten der Asylanträge durch Vorlage unrichtiger Bescheinigungen zu erhöhen. ... S. [hatte] der Angeklagten S.-S. von einer
im Kosovo gegründeten, aber auch im europäischen Ausland und in Deutschland tätigen Geheimorganisation "Antiserbische Bewegung" ("ASB") berichtet. In dieser Organisation nahm S. nach seiner Darstellung eine hochrangige
Stellung ein. ... Die Angeklagte S.-S. hatte keinen Zweifel an der Richtigkeit der Darstellung S.s und ging von der tatsächlichen Existenz der ASB aus,… Ob die ASB tatsächlich bestand oder lediglich eine Scheinorganisation war, hat
die Kammer nicht aufgeklärt. Die Erfolgsaussichten eines Asylantrags ließen sich nach Einschätzung S.s erhöhen, wenn der Asylantrag mit der Mitgliedschaft des jeweiligen Antragstellers in der "ASB" sowie der Ausübung einer
hohen Funktion innerhalb dieser Organisation begründet wurde. ... Bescheinigungen über die Mitgliedschaft in der ASB sowie die Ausübung hochrangiger Funktionen sollten nach seinem [S.s] Plan auf Briefpapier, das dem äußeren
Anschein nach von der ASB stammte, von ihm [S.], dem anderweitig verfolgten H. sowie der Angeklagten S.-S. unterzeichnet und sodann von dem Angeklagten R. in dem Asylverfahren vorgelegt werden. Für diese Hilfeleistung im
Asylverfahren sollten die Antragsteller nach S.s Plan Honorare bis zu 20.000 DM zahlen. ... Zunächst wurde mit den Asylsuchenden ein Beratungsgespräch vereinbart. In diesem Beratungsgespräch, an dem S. und S., in einigen Fällen
auch die Angeklagte S.-S., teilnahmen, wurden dem Hilfesuchenden die Bedingungen für einen erfolgreichen Asylantrag vorgestellt. ... In den Fällen, die Gegenstand des Schuldspruchs sind, erfanden S., S. und die Angeklagte S.-S.
Posten in herausragender Stellung innerhalb der Organisation der ASB, die die Asylbewerber angeblich bekleideten. Um diese angeblichen Funktionen der Bewerber gegenüber dem Bundesamt bzw. dem Verwaltungsgericht
nachweisen zu können, entwickelte der S. - mittels Computers - ein Formular. ...
Diese Bescheinigung wurde sodann mit einem Stempel "Antiserbische Bewegung" versehen. Diesen Stempel hatte […] S. entworfen und anfertigen lassen. Die Bestätigung unterschrieb zumeist […] S.. ... Außerdem erstellte S. […]
[eine weitere] Bescheinigung [Spendenbescheinigung]. ...
Diese Bescheinigung unterschrieben entweder die Angeklagte S.-S. als Generalsekretärin oder, als die Angeklagte diese Funktion nicht mehr inne hatte, der […] S. als Generalsekretär sowie […] der gesondert Verfolgte H. Im Verlauf
des Jahres 1996 erklärte sich der Angeklagte R. auf Anfrage S.s bereit, die Mandate für die Mitglieder der ASB zu übernehmen. ... Soweit sich in Einzelfällen Rückfragen ergaben; wandte sich der Angeklagte R. nicht an die
Asylbewerber, sondern an S. und S."
In den anschließenden Zusammenfassungen der verschiedenen Fälle missbräuchlicher Asylantragstellung wurde der Beschwerdeführer im Allgemeinen als "der gesondert Verfolgte" bezeichnet. Im Hinblick auf die strafrechtliche
Verantwortlichkeit der Angeklagten S.-S. befand das Landgericht, dass sie als Bandenmitglied tätig geworden sei und sich mit den gesondert Verfolgten S. und M. S. zusammengeschlossen habe, um künftig derartige Taten zu
begehen. Im Hinblick auf die Strafe von S.-S. berücksichtigte das erkennende Gericht unter anderem, dass sie gemeinsam mit den übrigen Bandenmitgliedern "die hilflose Situation der Asylbewerber ausgenutzt" habe.
Das Urteil enthielt keine Beweiswürdigung, weil es rechtskräftig geworden war und daher nach § 267 Abs. 4 StPO abgekürzt werden konnte (siehe "B. Das einschlägige innerstaatliche Recht"). Aus den Umständen, die bei der
Strafzumessung als entscheidend angesehen wurden, ergibt sich aber, dass die beiden Mitangeklagten die ihnen vorgeworfenen Taten gestanden hatten.
2. Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer
Am 22. März 2001 wurde das Hauptverfahren gegen den Beschwerdeführer vor einer als Schwurgericht erkennenden großen Strafkammer mit dem Vorsitzenden Richter F. fortgesetzt. Während des gesamten Verfahrens stellte der
Beschwerdeführer zahlreiche Befangenheitsanträge gegen F. und andere Richter des Landgerichts Dortmund. Zwischen Mai und Oktober 2000 reichte er dreizehn Befangenheitsanträge ein. So behauptete er am 22. Januar 2001, dass
F. mit dem Urteil gegen die Mitangeklagten eine Vorwegentscheidung herbeigeführt habe, um ihn dann leichter bestrafen zu können.
Am 25. Januar 2001 verwarf die Strafkammer, der auch F. angehörte, das Gesuch als unzulässig, da die Ablehnung nicht mit Tatsachen begründet sei, aus denen sich die Befangenheit ergeben könnte.
Mit seinem Gesuch vom 17. Mai 2001 lehnte der Beschwerdeführer Richter F. u.a. als befangen ab, weil er an dem Verfahren gegen die beiden Mitangeklagten mitgewirkt habe. Am 21. Mai 2001 wurde dieses Gesuch wegen
Verspätung verworfen.
Am 17. Januar 2002 wurde der Beschwerdeführer vom Landgericht wegen gewerbs- und bandenmäßiger Verleitung zur missbräuchlichen Asylantragstellung in 13 Fällen für schuldig befunden und zu 5 Jahren Freiheitsstrafe
verurteilt. In sechs Fällen waren auch die Mitangeklagten verurteilt worden. Der Schuldspruch beruhte im Wesentlichen auf der Zeugenaussage der früheren Mitangeklagten S.-S., auf den Zeugenaussagen der jeweiligen
Asylsuchenden und auf einschlägigen Unterlagen. Der Beschwerdeführer hatte von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht. Das Urteil umfasste 99 Seiten und enthielt eine ausführliche Würdigung der vorgebrachten
Beweise, insbesondere auch hinsichtlich der Glaubwürdigkeit der Aussagen von S.-S. Was die Beschreibung der Umstände, unter denen die Straftat begangen wurde, angeht, ähnelte der Wortlaut der Sachverhaltsdarstellung
demjenigen aus dem Urteil gegen die Mitangeklagten, beziehungsweise entsprach ihm teilweise exakt.
Der Beschwerdeführer legte Revision zum Bundesgerichtshof ein und trug u.a. vor, dass F. von der Verhandlung in seiner Sache kraft Gesetzes, namentlich durch sinngemäße Anwendung von § 23 StPO (siehe "B. Das einschlägige
innerstaatliche Recht") hätte ausgeschlossen werden müssen, da er an dem Hauptverfahren gegen die Mitangeklagten als Richter mitgewirkt habe. Die Generalbundesanwaltschaft wies in ihrer Antwort darauf hin, dass § 23 StPO nicht
sinngemäß auf diese Situation angewendet werden könne. Am 3. April 2003 verwarf der Bundesgerichtshof die Revision des Beschwerdeführers als unbegründet.
3. Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers
In der Verfassungsbeschwerde vom 16. Juli 2003 schilderte der Anwalt des Beschwerdeführers das Ermittlungsverfahren und das Hauptverfahren gegen seinen Mandanten. Im Hinblick auf die Begründetheit trug er zunächst vor, dass
die dem Urteil zugrunde liegenden strafrechtlichen Bestimmungen verfassungswidrig seien. Er behauptete ferner, dass F. speziell für das Hauptverfahren gegen den Beschwerdeführer an das Landgericht Dortmund versetzt worden sei.
Darüber hinaus hätte F., nachdem er den Vorsitz über das Hauptverfahren gegen die Mitangeklagten gehabt habe, kraft Gesetzes vom Hauptverfahren gegen den Beschwerdeführer ausgeschlossen werden müssen. F. habe es ferner an
der nötigen Unparteilichkeit gefehlt. In dem Hauptverfahren gegen die Mitangeklagten, das mit dem Hauptverfahren des Beschwerdeführers in Zusammenhang stehe, habe F. eine Vorwegentscheidung herbeigeführt. Da beide
Verfahren sich mit denselben Straftaten und denselben Straftätern befassten, könne F. den Beschwerdeführer dessen Ansicht nach nicht mit der notwendigen Neutralität, Objektivität und Distanz betrachten. Schließlich brachte er vor,
dass eine lebensnahe Bewertung der Verfahrensvorschriften hinsichtlich des Ausschlusses von Richtern kraft Gesetzes unter Berücksichtigung der grundgesetzlichen Werte und gefestigter psychologischer Erkenntnisse zu der
Schlussfolgerung führe, dass die Annahme der Strafprozessordnung, dass nicht grundsätzlich Fragen der Befangenheit aufträten, wenn ein erkennender Richter zuvor an einem Verfahren mitgewirkt habe, das mit dem in Rede
stehenden Verfahren in Zusammenhang stehe, nicht mehr angemessen sei.
Der Beschwerdeführer brachte vor, dass insbesondere die Ablehnung seiner Befangenheitsanträge ein Beleg für die Befangenheit von F. sei.
Am 24. Oktober 2003 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen. Es befand, dass der Beschwerdeführer die Rüge, F. hätte kraft Gesetzes von der
Aburteilung seiner Sache ausgeschlossen werden müssen, weil er an einem mit seinem Verfahren unmittelbar im Zusammenhang stehenden Verfahren mitgewirkt habe, nicht hinreichend begründet habe. Mit seiner Behauptung, dass
F. unter Verletzung von § 23 Abs. 2 StPO (siehe " B. Das einschlägige innerstaatliche Recht") an seinem Verfahren mitgewirkt habe, habe er lediglich sein Vorbringen vor dem Bundesgerichtshof wiederholt. Das
Bundesverfassungsgericht legte ferner dar:
"... der Beschwerdeführer [zeigte] nicht auf, inwieweit die Mitwirkung des Vorsitzenden Richters, insbesondere die Auffassung, eine analoge Anwendung des eng auszulegenden §23 StPO verbiete sich, auf einer willkürlichen, d.h.
einer unter keinem denkbaren Aspekt vertretbaren […] Auslegung und Anwendung des §23 StPO beruhen könne."
Am 24. November 2004 wurde das zweite (im April 2002 vor dem Landgericht eröffnete) Verfahren gegen den Beschwerdeführer wegen Verleitung anderer zur missbräuchlichen Asylantragstellung in dreizehn weiteren Fällen
angesichts der früheren Verurteilung des Beschwerdeführers nach § 154 StPO (siehe "B. Das einschlägige innerstaatliche Recht") vorläufig eingestellt.
4. Das Haftverfahren
Der Beschwerdeführer befand sich vom 12. November 1997 bis zum 26. April 1999, als der Haftbefehl aufgehoben und er entlassen wurde, wegen des Verdachts der ihm im ersten Verfahren zur Last gelegten Straftaten nach dem
Asylverfahrensgesetz zum ersten Mal in Untersuchungshaft. Am 4. Februar 2000 befand das Bundesverfassungsgericht, dass die überlange Dauer der Haft des Beschwerdeführers, die der Bundesgerichtshof am 17. Februar 1999
angeordnet habe, ihn in seinem Freiheitsrecht verletze.
Am 19. April 2001 erließ das Landgericht, nachdem es drei Ärzte beigezogen hatte, zum zweiten Mal Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer und stellte fest, dass er seine Verhandlungsunfähigkeit durch Einnahme einer Überdosis
von Schmerzmitteln selbst bewusst herbeigeführt habe. Am 18. Oktober 2001 hob das Oberlandesgericht Hamm den Haftbefehl auf, und der Beschwerdeführer wurde aus der Haft entlassen. Das Oberlandesgericht Hamm stellte fest,
dass in Anbetracht der gesamten Haftdauer das Freiheitsrecht des Beschwerdeführers nunmehr dem Interesse des Staates an einer Sicherstellung der ordnungsgemäßen Fortführung des Verfahrens vorgehe. Am 13. Dezember 2001
lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, eine Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen.
Am 14. Januar 2002 - bis zu diesem Tag war der Beschwerdeführer noch nicht zur Hauptverhandlung erschienen - erließ das Landgericht Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer wegen Fluchtgefahr und bestätigte diesen Haftbefehl
mit einer Verurteilung am 17. Januar 2002. Am 21. März 2002 hob das Oberlandesgericht diesen Haftbefehl auf.
Am 15. Januar 2002 erließ das Amtsgericht Dortmund Haftbefehl in Bezug auf die anderen Straftaten, die dem Beschwerdeführer im zweiten Verfahren zur Last gelegt worden waren. Zur Begründung führte es aus, dass im Fall seiner
Entlassung Fluchtgefahr bestehe, da ihm bei einer Verurteilung eine erhebliche Freiheitsstrafe drohe und er schon zuvor versucht habe, sich der Hauptverhandlung durch bewusst selbst herbeigeführte Verhandlungsunfähigkeit sowie
Flucht nach Albanien zu entziehen.
Am 16. März 2002 wurde der Beschwerdeführer bei seiner Wiedereinreise nach Deutschland festgenommen und ein drittes Mal in Haft genommen.
Am 18. April 2002 entschied das Oberlandesgericht unter Bestätigung der Gründe des Amtsgerichts, den Haftbefehl vom 15. Januar 2002 aufrecht zu erhalten. Am 2. Mai und 12. Juni 2002 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab,
die diesbezüglich erhobenen Verfassungsbeschwerden des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen.
Am 25. September 2002 hob das Landgericht den Haftbefehl vom 15. Januar 2002 auf .
B. Das einschlägige innerstaatliche Recht
1. Einschlägige Bestimmungen der deutschen Strafprozessordnung
§ 23
"(1) Ein Richter, der bei einer durch ein Rechtsmittel angefochtenen Entscheidung mitgewirkt hat, ist von der Mitwirkung bei der Entscheidung in einem höheren Rechtszug kraft Gesetzes ausgeschlossen.
(2) Ein Richter, der bei einer durch einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens angefochtenen Entscheidung mitgewirkt hat, ist von der Mitwirkung bei Entscheidungen im Wiederaufnahmeverfahren kraft Gesetzes
ausgeschlossen. Ist die angefochtene Entscheidung in einem höheren Rechtszug ergangen, so ist auch der Richter ausgeschlossen, der an der ihr zugrunde liegenden Entscheidung in einem unteren Rechtszug mitgewirkt hat. Die Sätze
1 und 2 gelten entsprechend für die Mitwirkung bei Entscheidungen zur Vorbereitung eines Wiederaufnahmeverfahrens.
§ 24
"(1) Ein Richter kann sowohl in den Fällen, in denen er von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen ist, als auch wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden.
(2) Wegen Besorgnis der Befangenheit findet die Ablehnung statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen. ..."
§ 26a
"(1) Das Gericht verwirft die Ablehnung eines Richters als unzulässig, wenn
1. die Ablehnung verspätet ist,
2. ein Grund zur Ablehnung oder ein Mittel zur Glaubhaftmachung nicht angegeben wird […]
(2) Das Gericht entscheidet über die Verwerfung nach Abs. 1, ohne dass der abgelehnte Richter ausscheidet. ..."
§ 154
"...
(2) Ist die öffentliche Klage bereits erhoben, so kann das Gericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft das Verfahren in jeder Lage vorläufig einstellen.
...
(4) Ist das Verfahren mit Rücksicht auf eine wegen einer anderen Tat zu erwartende Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung vorläufig eingestellt worden, so kann es, falls nicht inzwischen Verjährung eingetreten ist, binnen
drei Monaten nach Rechtskraft des wegen der anderen Tat ergehenden Urteils wieder aufgenommen werden.
(5) Hat das Gericht das Verfahren vorläufig eingestellt, so bedarf es zur Wiederaufnahme eines Gerichtsbeschlusses."
§ 267
"...
(4) Verzichten alle zur Anfechtung Berechtigten auf Rechtsmittel oder wird innerhalb der Frist kein Rechtsmittel eingelegt, so müssen die erwiesenen Tatsachen, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden, und
das angewendete Strafgesetz angegeben werden; … Den weiteren Inhalt der Urteilsgründe bestimmt das Gericht unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nach seinem Ermessen. ..."
2. Einschlägige Bestimmungen des Gerichtsverfassungsgesetzes
§ 76
"(1) Die Strafkammern sind mit drei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Schöffen (große Strafkammer) … besetzt.
(2) Bei der Eröffnung des Hauptverfahrens beschließt die große Strafkammer, dass sie in der Hauptverhandlung mit zwei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Schöffen besetzt ist, wenn nicht die Strafkammer als
Schwurgericht zuständig ist oder nach dem Umfang oder der Schwierigkeit der Sache die Mitwirkung eines dritten Richters notwendig erscheint. …"
3. Einschlägige Bestimmungen des deutschen Grundgesetzes
Artikel 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes bestimmt, dass niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung die Frage, ob ein Richter wegen Besorgnis der
Befangenheit abzulehnen ist, stets im Rahmen des Rechts auf den gesetzlichen Richter gewürdigt.
4. Einschlägige Bestimmungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes
§ 23 Abs. 1
"Anträge, die das Verfahren einleiten, sind schriftlich beim Bundesverfassungsgericht einzureichen. Sie sind zu begründen; die erforderlichen Beweismittel sind anzugeben."
§ 92
"In der Begründung der Beschwerde sind das Recht, das verletzt sein soll, und die Handlung oder Unterlassung des Organs oder der Behörde, durch die der Beschwerdeführer sich verletzt fühlt, zu bezeichnen."
RÜGEN
1. Der Beschwerdeführer rügte nach den Artikeln 5 und 6, dass der Vorsitzende Richter F. befangen gewesen sei, weil er den Beschwerdeführer bereits vor seiner Verurteilung, nämlich in dem Urteil gegen die beiden Mitangeklagten,
als Mitglied einer kriminellen Vereinigung angesehen habe.
2. Der Beschwerdeführer rügte ferner nach Artikel 6, dass der Richter F. nur an das Landgericht Dortmund versetzt worden sei, um die Tatvorwürfe gegen den Beschwerdeführer abzuurteilen, und dass er viele prozessuale
Fehlentscheidungen getroffen habe.
3. Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 6 die Entscheidungen der deutschen Gerichte, ihn ein zweites Mal in Haft zu nehmen; diese Entscheidungen seien ergangen, ohne einen Sachverständigen zu der von ihm behaupteten
erforderlichen Schmerzmitteleinnahme anzuhören.
4. Der Beschwerdeführer rügte ferner nach Artikel 6 Abs. 3, dass ihm Akteneinsicht in dem Parallelverfahren gegen die Mitangeklagten erst sehr spät gewährt worden sei.
5. Der Beschwerdeführer rügte außerdem nach den Artikeln 5 und 6, dass er ein drittes Mal in Untersuchungshaft genommen worden sei.Er brachte vor, dass die Entscheidungen, ihn erneut in Haft zu nehmen, der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 4. Februar 2000 zuwiderliefen und die Dauer seiner Haft unverhältnismäßig gewesen sei.
6. Unter Berufung auf die Artikel 2 und 3 rügte der Beschwerdeführer, dass die deutsche Polizei zweimal versucht habe, ihn umzubringen, dass er in der Haft keine sachgemäße ärztliche Behandlung erhalten habe und dass sein
Briefverkehr kontrolliert worden sei.
7. Der Beschwerdeführer beruft sich auch auf Artikel 14 und rügt, dass er anders behandelt worden sei als seine beiden Mitangeklagten, die deutsche Staatsangehörige seien.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
1. Behauptete Verletzung des Gebots der Unparteilichkeit aus Artikel 6
Der Beschwerdeführer rügte nach den Artikeln 5 und 6 der Konvention, dass der Vorsitzende Richter in seinem Verfahren parteiisch gewesen sei, weil er zuvor den Vorsitz in dem Verfahren seiner Mitangeklagten gehabt habe. Der
Gerichtshof ist der Auffassung, dass diese Rüge allein nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention zu prüfen ist, der soweit maßgeblich, wie folgt lautet:
"Jede Person hat ein Recht darauf, dass ... über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem ... unparteiischen … Gericht in einem fairen Verfahren ... verhandelt wird."
Die Regierung machte geltend, dass der Beschwerdeführer den innerstaatlichen Rechtsweg im Hinblick auf diese Rüge nicht erschöpft habe, da das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers wegen
mangelnder Substantiierung für unzulässig erklärt habe.
Der Beschwerdeführer, der auf das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache S. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 75737/01, Rdnr. 31, 10. August 2006) Bezug nahm, bestritt dieses Vorbringen.
Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass Art. 35 Abs. 1 der Konvention zwar verhältnismäßig flexibel und ohne übermäßigen Formalismus anzuwenden ist, er aber normalerweise voraussetzt, dass die Rügen, mit denen später der
Gerichtshof befasst werden soll, zumindest ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der Anrufung der zuständigen innerstaatlichen Gerichte waren und dass die in den innerstaatlichen Bestimmungen vorgesehenen
Formerfordernisse und Fristen beachtet wurden (siehe u. v. a. Rechtssache Cardot ./. Frankreich , 19. März 1991, Rdnr. 34, Serie A, Band 200).
Im Hinblick auf die vorliegende Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde mangels Erfüllung des Substantiierungsgebots für unzulässig erachtete. Es befand insbesondere,
dass der Beschwerdeführer lediglich sein Vorbringen vor dem Bundesgerichtshof wiederholt habe, statt aufzuzeigen, inwieweit die Mitwirkung des Vorsitzenden Richters auf einer willkürlichen, d.h. einer unter keinem denkbaren
Aspekt vertretbaren Auslegung und Anwendung des § 23 StPO beruhe.
Wendet man die obigen Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache an, so ist die Rüge mangels Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs unzulässig.
Auf der anderen Seite ist sich der Gerichtshof bewusst, dass er in der Rechtssache S. (a.a.O., Rdnr. 30) festgestellt hat, dass es - unabhängig von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, mit der die Verfassungsbeschwerde
für unzulässig erklärt wurde - im Sinne von Artikel 35 Abs. 1 der Konvention ausreichte, dass der Beschwerdeführer in seiner Verfassungsbeschwerde den Verlauf der Verfahren vor den Fachgerichten vollständig dargestellt und eine
Verletzung seines durch das Grundgesetz sowie Artikel 6 Abs. 1 der Konvention garantierten Rechts auf ein faires Verfahren durch unparteiische Richter geltend gemacht hat.
Allerdings ist die vorliegende Rechtssache von der Sache S. insofern zu unterscheiden, als der Beschwerdeführer in jenem Fall die Begründung seiner Verfassungsbeschwerde nicht auf den Hinweis beschränkte, dass zwei Richter an
dem Verfahren gegen seine Mitangeklagten mitgewirkt haben. Er legte vielmehr im Detail dar, warum das Verhalten der Richter in jenem Verfahren zu sachlich gerechtfertigten Befürchtungen hinsichtlich der Befangenheit der Richter
in seinem eigenen Verfahren geführt habe (siehe S. , a.a.O., Rdnr. 20). Der Beschwerdeführer in der vorliegenden Rechtssache machte lediglich geltend, dass der Vorsitzende Richter, der zuvor das Verfahren seiner Mitangeklagten
geführt habe, kraft Gesetzes von seinem Hauptverfahren hätte ausgeschlossen werden müssen, da er die Umstände der mutmaßlichen Straftat bereits kenne.
Sein Argument ging demnach nicht über die reine Tatsache, dass der Richter F. zuvor an dem im Zusammenhang stehenden Verfahren mitgewirkt hat, hinaus. Er führte insbesondere nicht aus, warum diese Mitwirkung den Richter F.
befangen mache, oder warum genau § 23 StPO sinngemäß Anwendung finden solle. Schließlich machte der Beschwerdeführer im Gegensatz zum Beschwerdeführer in der Rechtssache S. nicht geltend, dass die Ausführungen des
ersten Urteils hinsichtlich seiner Beteiligung an der Straftat über das erforderliche Maß hinausgingen und/oder abträgliche Werturteile über ihn enthielten.
Unter diesen Umständen und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Verfassungsbeschwerde im deutschen Recht einen besonderen Rechtsbehelf und nicht lediglich eine weitere Revision darstellt, stimmt der Gerichtshof
dahingehend mit dem Bundesverfassungsgericht überein, dass der Beschwerdeführer keine besonderen verfassungsrechtlichen Argumente vorgebracht hat, um seine Behauptung zu stützen, dass die frühere Mitwirkung des Richters F.
eine Frage hinsichtlich seines Rechts auf den gesetzlichen Richter aufwerfe, und dass er seine Verfassungsbeschwerde somit nicht hinreichend substantiiert hat.
Der Gerichtshof erkennt auch keine Anzeichen dafür, dass das Bundesverfassungsgericht in der vorliegenden Rechtssache übermäßigen Formalismus angewendet habe, indem es vom anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer
verlangte, seine Beschwerde im Hinblick auf die behauptete Verletzung seiner verfassungsmäßigen Rechte zu substantiieren.
Daraus folgt, dass der Beschwerdeführer den innerstaatlichen Rechtsweg in Bezug auf seine Rüge nicht erschöpft hat und dieser Teil der Beschwerde nach Artikel 35 Abs. 1 der Konvention für unzulässig zu erklären ist.
2. Weitere behauptete Konventionsverletzungen
Der Beschwerdeführer machte auch weitere Verletzungen der Artikel 5 und 6 sowie Verletzungen der Artikel 2, 3 und 14 geltend.
Unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und soweit die gerügten Angelegenheiten in seine Zuständigkeit fallen, stellt der Gerichtshof fest, dass dieser Teil der Beschwerde keine Anzeichen für eine
Verletzung der Konvention erkennen lässt.Sie ist folglich im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 offensichtlich unbegründet und muss nach Artikel 35 Abs. 4 der Konvention zurückgewiesen werden.
Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof die Individualbeschwerde mit Stimmenmehrheit für unzulässig. ..." (EGMR, Entscheidung vom 07.12.2010 - 24376/02)
***
„... Der 1967 geborene Beschwerdeführer, Herr K., ist deutscher Staatsangehöriger und in H. wohnhaft. Vor dem Gerichtshof wird er von Frau Sylvia Schwaben, Rechtsanwältin in Pfinztal, vertreten. Die beschwerdegegnerische
Regierung wurde von ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Frau Ministerialdirigentin A. Wittling-Vogel vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.
A. Der Hintergrund der Rechtssache
Der von den Parteien vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.
1. Die Festnahme des Beschwerdeführers und das Strafverfahren gegen H.
Der Beschwerdeführer wurde am 9. Dezember 2003 unter dem Verdacht festgenommen, von H. Kokain erworben und dieses dann an unbekannte Abnehmer weiterverkauft zu haben. H. hatte das Rauschgift zuvor in den Niederlanden
erworben, wohin er zusammen mit B. und S. zu diesem Zweck gefahren war.
Im Verlauf des Ermittlungsverfahrens gegen den Drogenlieferanten H. wurden B. und S., die nur an der von H. vorgenommenen Drogeneinfuhr, nicht aber am späteren Verkauf an den Beschwerdeführer beteiligt gewesen waren, durch
den Polizeibeamten P. vernommen. Dabei machten sie vom Hörensagen u. a. Angaben über Aussagen des H. und andere Umstände, die darauf hindeuteten, dass H. einen Teil des importierten Rauschgifts danach an den
Beschwerdeführer verkauft habe.
Am 14. Mai 2004 verurteilte eine Kammer des Landgerichts Mosbach - unter Vorsitz von Richter G. - H. wegen Drogenhandels zu elf Jahren Freiheitsstrafe und ordnete seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt an. Das Urteil
basierte im Wesentlichen auf einem vollständigen Geständnis, das H. nach einer nicht protokollierten Absprache mit dem Gericht abgegeben hatte, die im Gegenzug zum Geständnis eine Milderung der Strafe vorsah, die H. zu
erwarten hatte. Die Wahrheit des Geständnisses wurde durch die Zeugenaussage des Polizeibeamten P. bestätigt, welche die Angaben zum Gegenstand hatte, die B. und S. zuvor bei polizeilichen Vernehmungen gemacht hatten.
In dem Urteil werden die Kunden aufgeführt, an die H. bei verschiedenen Gelegenheiten Rauschgift verkauft hatte, unter ihnen eine Person namens "K.", an den er dreimal Kokain verkauft hatte. Die entsprechenden Passagen aus dem
Urteil, in denen der Sachverhalt, soweit er sich auf den Beschwerdeführer bezieht, festgestellt wird, lauten:
"... [H.] verbrachte das Rauschgift nach Wertheim und veräußerte es dort wie folgt:
- an K. zumindest 150 g Kokain zum Grammpreis von 40,00 Euro;
- an …;
...
... [H.] verbrachte es [das Rauschgift] nach Wertheim und veräußerte es wie folgt:
-an K. noch am Beschaffungstage zumindest 750 g, höchstens jedoch 1,125 kg Kokain zu einem Grammpreis von zumindest 30,00, höchstens jedoch 40,00 Euro;
- an …;
...
Das Rauschgift brachte er [H.] nach Wertheim. Aus der so erworbenen Menge verkaufte er unmittelbar nach der Rückkunft an den gesondert verfolgten K. brutto 1,5 Kilogramm Kokain zum Grammpreis von zumindest 30,00
höchstens jedoch 40,00 Euro und an…"
2. Das vom Landgericht Mosbach gegen den Beschwerdeführer geführte Strafverfahren
Am 6. Mai 2004 wurde vor einer Kammer des Landgerichts Mosbach unter Vorsitz des desselben Richters, G., der zuvor den Vorsitz über die Verhandlung gegen H. geführt hatte, die Hauptverhandlung gegen den Beschwerdeführer
wegen Drogenhandels in drei Fällen eröffnet. Der Beschwerdeführer wurde während des gesamten Verfahrens anwaltlich vertreten.
Am 22. Juli 2004 befragte das Landgericht als Zeugen u. a. den Polizeibeamten P. zu den Aussagen, die S. und B. bei früheren Vernehmungen durch die Polizei gemacht hatten. H. lehnte es ab, Angaben zur Sache zu machen, und
erklärte, nachdem der Beschwerdeführer ihn zur Aussage aufgefordert hatte, alles, was er für den Beschwerdeführer tun könne, sei, sich weiterhin nicht zu äußern.
Bei einer Sitzungsunterbrechung bot der Vorsitzende Richter dem Beschwerdeführer an, keine Strafe von mehr als sechs Jahren gegen ihn zu verhängen, falls er ein Geständnis ablege; andernfalls werde die Verhandlung ausgesetzt.
Sollten sich die gegen den Beschwerdeführer erhobenen Vorwürfe im Verlauf der neu aufgenommenen Verhandlung bestätigen, käme eine Freiheitsstrafe von zwölf Jahren in Betracht. Der Beschwerdeführer wies das Angebot, das
nicht protokolliert wurde, zurück.
Vernommen wurden auch B. und S. als Zeugen vom Hörensagen. B. lehnte es ab, Angaben zur Sache zu machen. S. sagte vom Hörensagen zu Angaben aus, die H. nach Einfuhr der Drogen in Bezug auf deren Verkauf an den
Beschwerdeführer gemacht hatte, erklärte jedoch, er könne zu dem Drogenverkauf des H. an den Beschwerdeführer als solchem keine Angaben machen.
Mit Beschluss vom 2. September 2004 ordnete das Landgericht in einer aus drei Richtern - einschließlich G. - bestehenden Kammer die Fortdauer der gegen den Beschwerdeführer verhängten Untersuchungshaft an, da sich der gegen
ihn bestehende Verdacht des Drogenhandels in der Hauptverhandlung bestätigt habe. Das Gericht stützte seine Entscheidung im Wesentlichen auf die Angaben des Polizeibeamten P., die vom Hörensagen gemachten Aussagen des S.
und die Aussageverweigerung des H.
Zu Beginn der am 21. Oktober 2004 fortgesetzten Verhandlung lehnte der Beschwerdeführer den Vorsitzenden Richter G. wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Er brachte insbesondere vor, dass G. bereits in dem Verfahren gegen H.
den Vorsitz geführt habe und von diesem ein Geständnis erlangt habe, nachdem er angedeutet habe, dass er gegen H., falls dieser gestehe, keine Sicherungsverwahrung verhängen werde. Nach deutschem Recht stelle eine Entscheidung
über die Sicherungsverwahrung eine Rechtsfolge dar, die nicht im Ermessen des Richters stehe, und eine solche Absprache sei daher unrechtmäßig. Darüber hinaus seien die Bewertung der in der Verhandlung vom 22. Juli 2004
gemachten Zeugenaussagen und die Auslegung der Aussageverweigerung des H., wie sie sich in dem Beschluss des Gerichts zur Fortdauer der Haft des Beschwerdeführers widerspiegele, parteiisch gewesen. Schließlich brachte der
Beschwerdeführer vor, dass das Angebot, das Verfahren zu beenden, das der Vorsitzende Richter bei der Hauptverhandlung vom 22. Juli 2004 gemacht habe, zeige, dass der Richter versucht habe, unzulässigen Druck auf den
Beschwerdeführer auszuüben, um das Verfahren zu beschleunigen und eine ordnungsgemäße Aufklärung des Falles zu vermeiden.
Der Befangenheitsantrag des Beschwerdeführers gegen den Vorsitzenden Richter G. wurde am selben Tag von der Vertreterkammer des Landgerichts Mosbach abgelehnt. Hinsichtlich des gerichtlichen Beschlusses, mit dem die
Fortdauer der gegen den Beschwerdeführer verhängten Untersuchungshaft angeordnet wurde, stellte das Gericht fest, dass er sich auf das Ergebnis der ausgesetzten Hauptverhandlung vom 22. Juli 2004 stütze und die richterliche
Bewertung, die nach Durchführung des Verfahrens vorgenommen werde, nicht vorwegnehme. Bezüglich des Angebots, das Verfahren zu beenden, stellte die Vertreterkammer fest, dass ein Angeklagter vernünftigerweise annehmen
werde, dass ein solches Angebot des Vorsitzenden Richters nur so verstanden werden könne, dass der Angeklagte bei einem Geständnis nicht mehr als sechs Jahre Freiheitsstrafe erhalten werde, und dass er andernfalls, je nach
Ausgang des Verfahrens, freigesprochen oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwölf Jahren bestraft werden könne. Keinesfalls könne das Angebot so verstanden werden, als würde der Beschwerdeführer bezüglich desselben Sachverhalts und
derselben Umstände in Abhängigkeit davon, ob er ein Geständnis ablege oder nicht, mit sechs oder zwölf Jahren Freiheitsstrafe bestraft.
Bei den späteren Verhandlungsterminen am 25. und 29. Oktober sowie am 4. und 8. November 2004 hörte das Gericht wiederum H., S., B. und den Polizeibeamten P. an. Das Gericht hörte auch E. an, der bei dem vorangegangen
Verhandlungstermin am 22. Juli 2004 beisitzender Richter gewesen war und in seiner Aussage wiedergab, was H. und S. bei dem genannten Termin ausgesagt hatten. S. sagte erneut aus, dass er zu dem eigentlichen Verkauf des
Rauschgifts durch H. an den Beschwerdeführer keine Angaben machen könne und zog alle Aussagen zurück, die er zuvor bei der polizeilichen Vernehmung gegenüber dem Polizeibeamten P. gemacht hatte und die erkennen ließen,
dass H. den Beschwerdeführer als Käufer des Rauschgift benannt hatte. H. selbst bestritt eine Beteiligung an einem Drogenhandel mit dem Beschwerdeführer. Das Gericht hörte eine Reihe weiterer Zeugen an, die der
Beschwerdeführer zu seiner Entlastung benannt hatte, lehnte den Antrag des Beschwerdeführers auf Einholung von Sachverständigengutachten zur Glaubwürdigkeit der Zeugin B. jedoch ab. Der Beschwerdeführer lehnte es während
des gesamten Verfahrens ab, Angaben zur Sache zu machen.
Am 8. November 2004 sprach das Landgericht Mosbach den Beschwerdeführer des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in einem Fall schuldig und in zwei weiteren Fällen frei. Er wurde zu neun Jahren Freiheitsstrafe
verurteilt. Das Landgericht stützte sein Urteil hauptsächlich auf die Aussagen der Zeugin B., des Polizeibeamten P. und des Richters E. Das Gericht wies darauf hin, dass B. zwar nur eine Zeugin vom Hörensagen gewesen sei, aber
auch über ihre eigene Wahrnehmung des Sachverhalts ausgesagt habe. Das Gericht stellte fest, ihm sei bewusst, dass die Aussagen der B. im Hinblick auf ihre Glaubwürdigkeit besonderer Überprüfung bedürften, und begründete,
weshalb Inhalt und Umstände ihrer Aussage vor Gericht deren Glaubwürdigkeit bestätigt hätten. Das Landgericht führte zur Begründung weiter aus, dass diese Feststellung durch die Aussageverweigerung des H., der den
Beschwerdeführer habe schützen wollen, sowie durch die Aussage gestützt werde, die S. bei seiner polizeilichen Vernehmung gegenüber dem Polizeibeamten P. gemacht habe. Das Gericht wies außerdem darauf hin, dass das
Geständnis, das H. in seinem eigenen Verfahren abgegeben habe, in dem Verfahren gegen den Beschwerdeführer nicht berücksichtigt worden sei.
3. Das Verfahren vor dem Bundesgerichtshof
Am 2. Februar 2005 legte der Beschwerdeführer Revision beim Bundesgerichtshof ein. Er trug vor, der Vorsitzende Richter sei befangen gewesen und hätte vom Verfahren ausgeschlossen werden müssen. Weiter rügte er, u. a., dass
die Zulassung von Beweismitteln und die Würdigung der Zeugenaussagen durch das Gericht willkürlich gewesen seien.
Am 1. Juni 2005 verwarf der Bundesgerichtshof die Revision als unbegründet und folgte damit den Erwägungen des Generalbundesanwalts.
4. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht
Am 6. Juli 2005 legte der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde ein. Darin rügte er, dass die Entscheidungen des Landgerichts und des Bundesgerichtshofs ihn in seinem Recht aus Artikel 101 Abs. 1 Satz 2 GG, nachdem
niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden dürfe, verletzten, da der Vorsitzende Richter befangen gewesen sei und die Weigerung, diesen vom Verfahren auszuschließen, willkürlich gewesen sei. Die Durchführung des
Verfahrens gegen H. und die dem Beschwerdeführer zu Beginn der Hauptverhandlung angebotene Absprache zeigten, dass der Vorsitzende Richter von Beginn des Verfahrens an von der Schuld des Beschwerdeführers überzeugt
gewesen sei. Weiterhin rügte er, dass das Geständnis des H. unter Verletzung von § 136a Abs. 1 StPO erlangt worden sei und daher in seinem eigenen Verfahren nicht als Beweismittel hätte zugelassen werden dürfen.
Mit Beschluss vom 16. November 2005 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen, da sie unbegründet sei. Es stellte fest, dass die Zurückweisung
des Befangenheitsantrags des Beschwerdeführers gegen den Vorsitzenden Richter durch die zuständigen Gerichte nicht von willkürlichen Erwägungen bestimmt gewesen sei und den Beschwerdeführer daher in seinen Rechten aus §
101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht verletzt habe. Hinsichtlich der Beteiligung des Vorsitzenden Richters an dem Verfahren gegen H. wies das Bundesverfassungsgericht darauf hin, dass die Fachgerichte sich an den Grundsatz halten konnten,
die Mitwirkung eines Richters in einem gesonderten Verfahren begründe regelmäßig nicht dessen Voreingenommenheit.
Das Bundesverfassungsgericht führte aus, dass die beträchtliche Differenz zwischen den Strafhöhen, die der Vorsitzende Richter in seinem Angebot an den Beschwerdeführer erwähnt habe, zwar bedenklich sein könnte, die
angesprochenen Alternativen jedoch nur den Rahmen hätten skizzieren sollen, innerhalb dessen eine mögliche Strafe "zu diskutieren sei", nicht jedoch als verbindliche Alternativen hinsichtlich der Dauer der möglichen Strafe mit und
ohne Ablegung eines Geständnisses zu verstehen gewesen seien. Der Hinweis des Vorsitzenden Richters, ein Geständnis könne zu einer deutlichen Strafmilderung führen, und sein Angebot einer Strafobergrenze stellten für sich
genommen keinen Versuch einer unzulässigen Beeinflussung des Beschwerdeführers dar. Die Tatsache, dass das Angebot des Vorsitzenden zu einem Zeitpunkt ergangen sei, als wichtige Zeugen noch nicht in der Hauptverhandlung,
sondern nur in polizeilichen Vernehmungen ausgesagt hatten, belege ebenfalls nicht seine Befangenheit, insbesondere, da das Landgericht den Polizeibeamten, der diese Zeugen zuvor vernommen hatte, bereits befragt habe.
Das Bundesverfassungsgericht stellt weiter fest, dass der Versuch des Vorsitzenden Richters, eine Absprache mit dem Beschwerdeführer zu erzielen, um das Verfahren zu beenden, keine Verletzung seiner grundgesetzlich geschützten
Rechte darstelle, da er ohnehin fehlgeschlagen sei und das Urteil des Landgerichts somit nicht darauf beruhe. Das Gleiche gelte hinsichtlich des behaupteten Verstoßes gegen die Bestimmungen der StPO im Zusammenhang mit dem
von H. erlangten Geständnis, da das Landgericht sein Urteil in dem Verfahren gegen den Beschwerdeführer nicht auf das frühere Geständnis des H. gestützt habe.
B. Das einschlägige innerstaatliche Recht
Die maßgeblichen Vorschriften der Strafprozessordnung (StPO) lauten wie folgt:
§ 24 Abs. 2
"Wegen Besorgnis der Befangenheit findet die Ablehnung statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen."
§ 136a
"(1) Die Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung des Beschuldigten darf nicht beeinträchtigt werden durch Misshandlung, durch Ermüdung, durch körperlichen Eingriff, durch Verabreichung von Mitteln, durch
Quälerei, durch Täuschung oder durch Hypnose. Zwang darf nur angewandt werden, soweit das Strafverfahrensrecht dies zulässt. Die Drohung mit einer nach seinen Vorschriften unzulässigen Maßnahme und das Versprechen eines
gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils sind verboten. ..."
§ 333
"Gegen die Urteile der Strafkammern … ist Revision zulässig."
§ 338
"Ein Urteil ist stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen,
...3. wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, nachdem er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt war und das Ablehnungsgesuch entweder für begründet erklärt war oder mit Unrecht verworfen worden ist ...".
Artikel 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes bestimmt, dass niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung die Frage, ob ein Richter wegen Besorgnis der
Befangenheit abzulehnen ist, stets als Problem des Rechts auf den gesetzlichen Richter gewürdigt.
RÜGEN
Unter Berufung auf Artikel 6 Absatz 1 der Konvention rügte der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren.
Der Beschwerdeführer behauptete, dass die Verfahrensführung durch den Vorsitzenden Richter gezeigt habe, dass dieser befangen gewesen sei, und dass das Landgericht daher nicht unparteiisch gewesen sei.
Der Beschwerdeführer brachte auch vor, dass das Geständnis des H., das dieser in seinem eigenen, zuvor abgeschlossenen Verfahren abgegeben habe, unter Verletzung von § 136a Abs. 1 StPO erlangt worden sei und daher in seinem
eigenen Verfahren nicht als Beweismittel hätte zugelassen werden dürfen.
Der Beschwerdeführer rügte ferner, dass der Vorsitzende Richter unzulässigen Druck auf ihn ausgeübt habe, um ihn dazu zu verleiten, von seinem Aussageverweigerungsrecht keinen Gebrauch zu machen, und dass sein Recht, sich
nicht selbst belasten zu müssen, verletzt worden sei. Unter Berufung auf Artikel 6 Absatz 2 der Konvention rügte er auch eine Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung. Schließlich brachte er vor, dass sein Recht aus
Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe d der Konvention, Belastungszeugen gegen ihn zu befragen oder befragen zu lassen, verletzt worden sei.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
A. Die angebliche Parteilichkeit des Landgerichts
Der Beschwerdeführer trug vor, dass sein Fall nicht von einem "unparteiischen Gericht" verhandelt worden sei. Die Art und Weise der Führung des Verfahrens gegen H. durch den Vorsitzenden Richter des Landgerichts Mosbach, G.,
zeige ebenso wie das Verfahren gegen den Beschwerdeführer, dass G. von Beginn des Verfahrens an von der Schuld des Beschwerdeführers überzeugt und daher parteiisch gewesen sei. Er berief sich auf Artikel 6 Abs. 1 der
Konvention, der, soweit entscheidungserheblich, bestimmt:
"Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen ... von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren
... verhandelt wird."
1. Die Stellungnahmen der Parteien
Nach Auffassung der Regierung waren die Zweifel des Beschwerdeführers an der Unparteilichkeit des Vorsitzenden Richters weder subjektiv noch objektiv gerechtfertigt. Sie brachte vor, dass der Umstand, dass Richter G. mit dem
Sachverhalt bereits in dem Verfahren gegen H. befasst war, aus objektiver Sicht keine Zweifel an seiner Unparteilichkeit begründen könne. Zwar treffe es zu, dass das Urteil gegen H. die Feststellung enthalten habe, dass eine Person
namens K. Kokain von H. erworben habe, was jedoch nur dem Zweck gedient habe, die Schuld des H. zu würdigen, und hierzu auch unentbehrlich gewesen sei. Hierdurch werde die Bewertung des Falles des Beschwerdeführers durch
das Landgericht jedoch nicht vorweggenommen.
Die Regierung brachte weiter vor, dass das Angebot von Richter G., das Verfahren durch eine Absprache zu beenden, genauso wenig wie der Zeitpunkt oder der Inhalt des Angebots irgendwelche objektiv berechtigten Zweifel an
dessen Unvoreingenommenheit begründe. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass sich der Richter zum Zeitpunkt des Angebots bereits eine feste Meinung über die Schuld des Beschwerdeführers oder den möglichen Ausgang des
Verfahrens gebildet habe. Darüber hinaus könne das Angebot einer deutlichen Strafmilderung nicht als unzulässiger Druck auf den Beschwerdeführer mit dem Ziel, ein Geständnis zu erlangen, wahrgenommen werden.
Unter Berufung auf dienstliche Stellungnahmen des Richters G. und eines weiteren an der Verhandlung gegen H. beteiligten Richters bestritt die Regierung schließlich, dass die mit H. in dem früheren Verfahren erzielte Absprache die
Sicherungsverwahrung zum Gegenstand gehabt habe. Sie brachte vor, dass alle diesbezüglichen Zweifel an der Unparteilichkeit des Vorsitzenden Richters unbegründet seien. Darüber hinaus habe H., da das Urteil in seinem Verfahren
rechtskräftig geworden sei, in dem nachfolgenden Verfahren gegen den Beschwerdeführer kein Aussageverweigerungsrecht gehabt, und die Tatsache, dass das Landgericht seine Aussageverweigerung als Versuch interpretiert habe,
den Beschwerdeführer zu schützen, könne nicht als willkürlich angesehen werden und begründe keine Zweifel an der Unparteilichkeit des Richters.
Der Beschwerdeführer räumte ein, dass die Tatsache, dass der Richter sowohl in dem Verfahren gegen H. als auch in dem späteren Verfahren gegen ihn den Vorsitz geführt habe, für sich betrachtet keine Bedenken hinsichtlich seiner
Unparteilichkeit aufwerfe. Der Richter habe von H. jedoch ein Geständnis erlangt, nachdem er angedeutet habe, dass er gegen ihn keine Sicherungsverwahrung verhängen werde, was einen Verstoß gegen das innerstaatliche Recht
darstelle. Zur Stützung dieser Vorwürfe bezieht sich der Beschwerdeführer auf eine Aussage des Rechtsanwalts des H., in der dieser die Verhandlungen mit Richter G. schildert, die zu der Absprache führte, durch die das Verfahren
gegen H. beendet wurde. Der Beschwerdeführer brachte vor, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass H. ein falsches Geständnis abgegeben habe, um nicht das Risiko einer Sicherungsverwahrung einzugehen. In dem späteren
Verfahren gegen den Beschwerdeführer könnte sich H. dann verpflichtet gefühlt haben, sein Geständnis auch hinsichtlich der den Beschwerdeführer betreffenden Aussagen aufrechtzuerhalten, um sich nicht der Gefahr einer weiteren
Strafverfolgung, u. a. wegen Falschaussage, auszusetzen, was zu einer erneuten Prüfung der Frage, ob Sicherungsverwahrung angeordnet werden sollte, hätte führen können. Richter G. habe H. somit in einer Zwangslage gebracht, was
zeige, dass er bereits während des Verfahrens gegen H. mit dem Ziel vorgegangen sei, eine spätere Verurteilung des Beschwerdeführers zu ermöglichen, und von dessen Schuld von Anfang an überzeugt gewesen sei. Diese Zweifel an
der Bereitschaft des G., seinen Fall ordnungsgemäß aufzuklären, seien darüber hinaus dadurch begründet, dass das Angebot, das Verfahren gegen den Beschwerdeführer zu beenden, bereits zu Beginn der Hauptverhandlung gemacht
worden sei, und dass die Weigerung des H., in dem Verfahren gegen den Beschwerdeführer auszusagen, von Richter G. als Versuch ausgelegt worden sei, den Beschwerdeführer zu schützen, obwohl der Richter selbst H. in diese
Zwangslage gebracht habe.
Schließlich brachte der Beschwerdeführer vor, dass die deutliche Strafmilderung, die ihm angeboten worden sei, nicht durch die strafmildernde Wirkung eines Geständnisses habe gerechtfertigt werden können, sondern einen Versuch
dargestellt habe, Druck auf ihn auszuüben, um ein Geständnis zu erlangen.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
Der Gerichtshof erinnert daran, dass die Unparteilichkeit im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 nach seiner ständigen Rechtsprechung anhand eines subjektiven Ansatzes, d.h. ausgehend von der persönlichen Überzeugung und dem
Verhalten eines bestimmten Richters in einer bestimmten Rechtssache, und eines objektiven Ansatzes, d.h. durch die Feststellung, ob der Richter hinreichend Gewähr dafür geboten hat, dass alle berechtigten Zweifel
insoweit auszuschließen sind (siehe u. v. a. Rechtssache Kyprianou ./.Zypern [GK], Individualbeschwerde Nr. 73797/01, Rdnr. 118, ECHR 2005-...) zu bestimmen ist.
Bei Zugrundelegung des subjektiven Ansatzes hat der Gerichtshof in seiner ständigen Rechtsprechung festgestellt, dass die persönliche Unparteilichkeit eines Richters bis zum Beweis des Gegenteils unterstellt werden muss
(siehe Kyprianou , a. a. O., Rdnr. 119, und Morel ./. Frankreich , Individualbeschwerde Nr. 34130/96, Rdnr. 41, ECHR 2000-VI). Der Gerichtshof stellt unter Berücksichtigung aller ihm vorliegenden Unterlagen fest, dass es keine
Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Vorsitzende Richter des Landgerichts Mosbach mit persönlicher Voreingenommenheit vorgegangen ist.
Bei dem zweiten Ansatz, angewandt auf ein als Kammer erkennendes Organ, muss bestimmt werden, ob es - abgesehen von dem persönlichen Verhalten der Mitglieder dieses Spruchkörpers - feststellbare Tatsachen gibt, die Zweifel
an dessen Unparteilichkeit begründen können. In dieser Hinsicht kann bereits der Anschein von einer gewissen Bedeutung sein (siehe Kyprianou , a.a.O., Rdnr. 118; und Morel , a.a.O., Rdnr. 42). Bei der Entscheidung darüber, ob in
einem bestimmten Fall berechtigter Grund zu der Befürchtung besteht, dass ein bestimmter Spruchkörper nicht unparteiisch ist, ist der Standpunkt der Parteien, die behaupten, er sei nicht unparteiisch, zwar wichtig, aber nicht
entscheidend. Entscheidend ist, ob diese Befürchtung als sachlich gerechtfertigt angesehen werden kann (siehe Wettstein ./. Schweiz , Individualbeschwerde Nr. 339587/96, Rdnr. 44, CEDH 2000-XII).
In der vorliegenden Rechtssache hatte der Richter, welcher der Kammer des Landgerichts Mosbach vorsaß, die das Verfahren gegen den Beschwerdeführer wegen Drogenhandels führte, auch in dem vorangegangenen eigenständigen
Verfahren gegen den Drogenlieferanten H. den Vorsitz geführt, in dem H. nach einer mit dem Gericht erzielten Absprache, die im Gegenzug zum Geständnis eine Milderung der von ihm zu erwartenden Strafe vorsah, ein vollständiges
Geständnis abgegeben hatte. Derselbe Richter bot dem Beschwerdeführer am ersten Verhandlungstermin seines eigenen, späteren Verfahrens eine Absprache an, nach der das Verfahren beendet werden würde und er im Gegenzug zu
einem Geständnis eine beträchtliche Strafminderung erhalten würde.
Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass allein die Tatsache, dass ein Richter bereits über ähnliche, aber selbständige Tatvorwürfe entschieden hat oder in einem gesonderten Strafverfahren gegen einen Mitangeklagten verhandelt
hat, nicht ausreicht, um Zweifel an der Unparteilichkeit dieses Richters in einem nachfolgenden Fall zu begründen (siehe Poppe ./. die Niederlande , Individualbeschwerde Nr. 32271/04, Rdnr. 26, 24. März 2009, und S. ./. Deutschland
, Individualbeschwerde Nr. 75737/01, Rdnr. 42, 10. August 2006).
Der Gerichtshof ist darüber hinaus der Auffassung, dass die von Richter G. am ersten Tag der Verhandlung gegen den Beschwerdeführer angebotene Absprache, nach der das gegen ihn geführte Strafverfahren beendet würde und er im
Gegenzug zu einem Geständnis eine beträchtliche Strafmilderung erhalten würde, im Hinblick auf eine zügige Verfahrensführung und die geordnete Rechtspflege gerechtfertigt sein kann.
Der Gerichtshof erkennt jedoch an, dass aufgrund des Zusammentreffens der vorgenannten Umstände Bedenken hinsichtlich der Frage bestehen könnten, ob sich das Landgericht bereits in einem frühen Stadium der Verhandlung eine
vorgefasste Meinung hinsichtlich der Würdigung des Falles des Beschwerdeführers gebildet hatte. Es ist Aufgabe des Gerichtshofs, zu entschieden, ob diese Bedenken unter Berücksichtigung der Umstände des Falles objektiv
gerechtfertigt waren (siehe Morel ./. Frankreich , Individualbeschwerde Nr. 34130/96, Rdnr. 44, ECHR 2000-VI).
In diesem Zusammenhang ist der Gerichtshof überzeugt, dass es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass das frühere Verfahren und das gegen H. ergangene Urteil die Frage der Schuld des Beschwerdeführers vorweggenommen oder eine
vorgefasste Meinung des Landgerichts hinsichtlich der Würdigung seines Falles zur Folge gehabt hätten.
Erstens stellt der Gerichtshof, der zur Kenntnis nimmt, dass eine Person namens K. in dem gegen H. ergangenen Urteil als einer von mehreren Käufers des Rauschgifts erwähnt wird, fest, dass der erwiesene Sachverhalt sich auf das
Geständnis des H. und die Einlassungen des Polizeibeamten P. stützte, und dass die Hinwiese auf die Kunden des H. für dessen Verurteilung maßgeblich waren. Weder geht aus dem Urteil eine bestimmte Würdigung der Beteiligung
des Beschwerdeführers oder der von ihm begangenen Handlungen, seien sie strafrechtlicher oder sonstiger Art, hervor, noch enthält es eine Bewertung seiner Schuld (siehe Poppe , a.a.O., Rdnr. 28; Schwarzenberger, a.a.O., Rdnr. 43;
und, im Gegensatz dazu, Ferrantelli und Santangelo ./. Italien , 7. August 1996, Rdnr. 59, Urteils- und Entscheidungssammlung 1996-III, und Rojas Morales ./. Italien , Individualbeschwerde Nr. 39676/98, Rdnr. 33, 16. November 2000).
Zweitens ist der Gerichthof hinsichtlich der zwischen H. und dem Landgericht anlässlich der Verhandlung gegen H. erzielten Absprache der Auffassung, dass die Umstände der Rechtssache, wie sie den innerstaatlichen Gerichten
vorgetragen wurden, keine sachlich gerechtfertigten Gründe für die Befürchtung des Beschwerdeführers erkennen lassen, eine solche Absprache habe die Sicherungsverwahrung zum Gegenstand gehabt und sei unter Verletzung des
innerstaatlichen Rechts oder u. a. im Hinblick darauf eingegangen worden, die spätere Verurteilung des Beschwerdeführers zu ermöglichen.
Der Gerichtshof nimmt zur Kenntnis, dass sich der Beschwerdeführer in seiner an den Gerichtshof gerichteten Erwiderung zur Stellungnahme der Regierung zur Stützung seiner Vorbringen zum ersten Mal auf eine Aussage des
Rechtsanwalts des H. aus dem Jahr 2009 bezieht, in der die Verhandlungen mit Richter G. geschildert werden, die zu der Absprache führte, durch die das Verfahren gegen H. im Jahre 2004 beendet wurde. Dieses Vorbringen enthält
neue, den Sachverhalt betreffende Informationen, die nicht im Verlauf des in Rede stehenden Verfahrens den innerstaatlichen Gerichten zur Kenntnis gebracht wurden und deren Inhalt darüber hinaus im Widerspruch zu den
dienstlichen Stellungnahmen des Richters G. und eines anderen an dem Verfahren gegen H. beteiligten Richters steht. Der Beschwerdeführer gab den innerstaatlichen Gerichten nicht die Gelegenheit, die Rechtssache unter diesem
Aspekt zu prüfen, weshalb das entsprechende Vorbringen für die Würdigung der vorliegenden Individualbeschwerde durch den Gerichtshof nicht als maßgeblich erachtet werden kann.
Folglich lassen die Umstände der Rechtssache, wie sie den innerstaatlichen Gerichten vorgetragen wurden, nicht erkennen, dass Richter G. eine Situation geschaffen hätte, die es H. unmöglich gemacht hätte, sich in dem
nachfolgenden Verfahren des Beschwerdeführers frei zu äußern. Die vom Landgericht vorgenommene Würdigung der Aussageverweigerung des H. in dem Verfahren gegen den Beschwerdeführer begründet daher keine objektiv
berechtigten Zweifel an der Unparteilichkeit des Landgerichts.
In Anbetracht dieser Erwägungen ist der Gerichtshof auch nicht davon überzeugt, dass die beim ersten Termin der Verhandlung gegen den Beschwerdeführer von Richter G. angebotene Absprache die Unparteilichkeit des
Landgerichts oder dessen Bereitschaft, den Fall ordnungsgemäß aufzuklären, in Frage stellt. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Landgericht zu der Zeit bereits den Polizeibeamten P. zu den Aussagen von B. und S. angehört und
versucht hatte, eine Aussage von H. zu erlangen, der erklärt hatte, alles, was er für den Beschwerdeführer tun könne, sei, sich nicht zu äußern. Das Landgericht unterbreitete an diesem Punkt sein Angebot nicht nach Aktenlage, sondern
im Lichte der Einlassungen dieser Zeugen.
Was den Inhalt des Angebots betrifft, weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, dass die in dem Angebot angesprochenen Alternativen nur den Rahmen hätten skizzieren sollen, innerhalb
dessen eine mögliche Strafe "zu diskutieren" sei, aber keine Festlegungen hinsichtlich der Dauer der möglichen Strafe mit und ohne Ablegung eines Geständnisses erwähnt worden seien, von den Parteien grundsätzlich nicht bestritten wird.
Der Gerichtshof erkennt jedoch an, dass, wie vom Beschwerdeführer vorgetragen, aufgrund der beträchtlichen Differenz zwischen den Strafhöhen, die der Vorsitzende Richter in seinem Angebot an den Beschwerdeführer erwähnt hat,
Bedenken hinsichtlich der Frage bestehen könnten, ob Richter G. im Gegenzug zu einem Geständnis eine besonders milde Strafe angeboten und dadurch unzulässigen Druck auf den Beschwerdeführer ausgeübt hatte, um ein
Geständnis zu erlangen und eine weitere Aufklärung des Falles zu vermeiden.
Der Gerichtshof weist darauf hin, dass es nicht seine Aufgabe ist, sich mit der Auslegung des innerstaatlichen Rechts zu befassen und in der vorliegenden Rechtssache zu beurteilen, ob das von Richter G. im Falle eines Geständnisses
angebotene Strafmaß entsprechend den sich aus den innerstaatlichen Rechtsvorschriften und der innerstaatlichen Praxis ergebenden Richtlinien berechnet wurde (siehe u. a. Tejedor García ./. Spanien , 16. Dezember 1997, Rdnr. 31,
Urteils- und Entscheidungssammlung 1997-VIII). Er kann auch nicht darüber spekulieren, ob die in dem Urteil gegen den Beschwerdeführer schließlich verhängte Strafe die Erwägungen widerspiegelte, auf denen nach dem
Vorbringen des Beschwerdeführers das vorangegangene Angebot beruhte. Der Gerichtshof stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die innerstaatlichen Gerichte bei der Prüfung der Rechtssache zu dem Schluss kamen, dass die dem
Beschwerdeführer angebotene Strafmilderung zwar beträchtlich, jedoch immer noch mit den Anforderungen der innerstaatlichen Rechtsvorschriften und der innerstaatlichen Praxis vereinbar sei. Der Gerichtshof stellt daher fest, dass
es keinen Anhaltspunkt dafür gibt, dass der Richter seine Kompetenzen überschritten und den Beschwerdeführer, der während des gesamten Verfahrens anwaltlich vertreten wurde, einem unzulässigen Druck ausgesetzt hat, als er ihm
im Gegenzug zu einem Geständnis eine beträchtliche Milderung seiner Strafe anbot.
Schließlich ist der Gerichtshof davon überzeugt, dass die Führung des Verfahrens gegen den Beschwerdeführer nach dessen Ablehnung des ihm von Richter G. unterbreiteten Angebots, das Verfahren zu beenden, keine Zweifel an der
Unparteilichkeit des Landgerichts Mosbach begründet. Das Landgericht hörte im Verlauf der insgesamt sechs Verhandlungstermine zahlreiche Zeugen an, von denen einige vom Beschwerdeführer benannt worden waren, und verlas,
wie von der Verteidigung beantragt, mehrere Urkunden. Das Urteil enthält eine Bewertung der Glaubwürdigkeit und des Beweiswerts der Zeugenaussagen und weist ausdrücklich darauf hin, dass das Geständnis, dass H. in dem
früheren Verfahren abgegeben hatte, nicht berücksichtigt wurde. Im Lichte der erhobenen Beweise wurde der Beschwerdeführer des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in einem Fall schuldig und in zwei weiteren
Fällen frei gesprochen. Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass das gegen den Beschwerdeführer ergangene Urteil keine Verweise auf das frühere Urteil gegen H. enthält (siehe S. ./. Deutschland , Individualbeschwerde Nr. 75737/01,
Rdnr. 43, 10. August 2006; und, im Gegensatz dazu, Ferrantelli und Santangelo , a.a.O., Rdnr. 59). Der Gerichtshof ist daher überzeugt, dass die Rechtssache des Beschwerdeführers mit dem Urteil in seinem eigenen Verfahren und
anhand der vorgelegten Beweise sowie der in der Verhandlung gehörten Argumente abschließend bewertet wurde (siehe Morel , a.a.O., Rdnr. 45). Die Behauptungen des Beschwerdeführers hinsichtlich einer möglichen Parteilichkeit
des Landgerichts Mosbach gründen sich auf eine Reihe von Annahmen, die weder vor den innerstaatlichen Gerichten noch vor dem Gerichtshof hinreichend substantiiert wurden.
Der Gerichtshof kommt unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände dieses Falles zu dem Schluss, dass die Bedenken des Beschwerdeführers hinsichtlich der Unparteilichkeit des Landgerichts Mosbach sachlich nicht gerechtfertigt
waren und nicht ersichtlich ist, dass Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verletzt worden ist. Der Gerichtshof stellt daher fest, dass dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Absätze 3 und 4 der
Konvention zurückzuweisen ist.
B. Die übrigen Rügen des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer behauptete ferner, dass ihm vor dem Landgericht Mosbach kein faires Verfahren im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention zuteil geworden sei. Er brachte insbesondere vor, dass das Geständnis des H., das
dieser in seinem früheren, eigenständigen Verfahren abgegeben habe, unter Verletzung von § 136a Abs. 1 StPO auf der Grundlage einer Absprache erlangt worden sei und daher in seinem eigenen Verfahren nicht als Beweismittel
hätte zugelassen werden dürfen. Das Landgericht hätte H. entsprechend belehren müssen oder die von H. im Verfahren gegen den Beschwerdeführer gemachten Aussagen im Lichte seines zuvor unrechtmäßigen erlangten
Geständnisses würdigen müssen. Er brachte weiter vor, dass sein Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, durch den Versuch von Richter G., ihn zu einem Geständnis zu nötigen, verletzt worden sei. Unter Berufung auf Artikel 6
Absatz 2 der Konvention rügte er auch eine Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung. Schließlich brachte er vor, dass sein Recht aus Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe d der Konvention, Belastungszeugen gegen ihn zu
befragen oder befragen zu lassen, verletzt worden sei.
Der Gerichtshof hat die übrigen von dem Beschwerdeführer vorgebrachten Rügen geprüft. Unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen stellt der Gerichtshof jedoch fest, dass, selbst wenn die vollständige
Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtwegs unterstellt wird, diese Rügen keine Anzeichen für eine Verletzung der in der Konvention oder den Protokollen dazu bezeichneten Rechte und Freiheiten erkennen lassen.
Daraus folgt, dass die Individualbeschwerde im Übrigen ebenfalls nach Artikel 35 Abs. 3 und 4 der Konvention als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen ist. ..."
***
Unparteilichkeit i. S. von Art. 6 I EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) bedeutet grundsätzlich das Fehlen von Voreingenommenheit und Befangenheit. Der Gerichtshof prüft das nach subjektiven Gesichtspunkten, nämlich nach
der persönlichen Überzeugung und dem Verhalten des Richters, und nach objektiven Gesichtspunkten, ob der Richter ausreichende Gewähr dafür geboten hat, dass insoweit alle berechtigten Zweifel ausgeschlossen sind. - Kriegisch.
Die persönliche Unabhängigkeit wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet. Bei Prüfung der Unparteilichkeit eines Spruchkörpers nach objektiven Gesichtspunkten muss untersucht werden, ob es nachweisbare Tatsachen gibt,
die Zweifel an seiner Unparteilichkeit rechtfertigen. Dabei kommt es darauf an, ob Befürchtungen der Parteien objektiv gerechtfertigt sind. Die Tatsache allein, dass ein Richter bereits über ähnliche Strafvorwürfe in einem gesonderten
Verfahren entschieden hat (hier: Verfahren gegen Drogenhändler), reicht nicht aus, Zweifel an seiner Unparteilichkeit in einem darauf folgenden Verfahren zu begründen (hier: Verfahren gegen einen seiner Kunden). Das Angebot,
eine zu erwartende Strafe im Fall eines Geständnisses zu mildern, kann im Interesse einer zügigen Verfahrensführung und geordneten Rechtspflege gerechtfertigt sein. Im vorliegenden Fall war das Angebot zwar zu Beginn der
Verhandlung gegen den Beschwerdeführer gemacht worden, aber nicht nach Aktenlage, sondern nach Anhörung von Zeugen. Die angebotene Strafmilderung war erheblich, doch spricht nichts dafür, dass das Gericht damit Druck auf
den Beschwerdeführer habe ausüben wollen. Auch die Verfahrensführung nach Ablehnung des Angebots begründet keine Zweifel an der Unparteilichkeit des Gerichts (EGMR, Entscheidung vom 23.11.2010 - 21698/06 zu EMRK
Art. 6 I, II u. III lit. b, 35 III, IV):
„... 1. Der Bf., K., 1967 geboren, ist deutscher Staatsbürger. Er lebt in Heilbronn. Am 9.12.2003 wurde er unter dem Verdacht festgenommen, von H Kokain erworben und weiterverkauft zu haben. H hatte das Kokain zusammen mit B
und S in den Niederlanden besorgt. Er wurde am 14.5.2004 wegen Drogenhandels vom LG Mosbach zu elf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Das LG stützte sich dabei wesentlich auf das Geständnis, das H aufgrund einer Absprache
mit dem Gericht abgelegt hatte. Die Absprache sah im Gegenzug eine Milderung der Strafe vor. Die Richtigkeit dieses Geständnisses wurde durch die Aussage des Polizisten P über die von ihm durchgeführte Vernehmung von B und
S bestätigt. Im Urteil des LG wird der Bf. als ein Kunde des H genannt, der ihm dreimal Kokain verkauft habe. Am 6.5.2004 eröffnete eine Kammer das LG unter dem Vorsitz desselben Richters, der schon das Verfahren gegen H
geführt hatte, die Hauptverhandlung gegen den anwaltlich vertretenen Bf.. Das LG vernahm den Polizeibeamten P sowie H, B und S. H und B lehnten es ab, Angaben zur Sache zu machen. Im weiteren Verlauf der Verhandlung bot
der Vorsitzende Richter dem Bf. an, keine Strafe von mehr als sechs Jahren zu verhängen, wenn er ein Geständnis ablege. Andernfalls könne eine Strafe von zwölf Jahren in Betracht kommen, falls sich die gegen ihn erhobenen
Vorwürfe bestätigten. Der Bf. wies das Angebot zurück. Zu Beginn der am 21.10.2004 fortgesetzten Verhandlung lehnte der Bf. den Vorsitzenden Richter wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Die Vertreterkammer des LG wies den
Antrag noch am selben Tag zurück. Am 8.11.2004 verurteilte das LG Mosbach den Bf. wegen unerlaubten Handels mit Betäubungsmitteln in einem Fall zu neun Jahren Freiheitsstrafe, in zwei weiteren Fällen sprach es ihn frei. Seine
Revision verwarf der BGH am 1.7.2005 als unbegründet. Mit Beschluss vom 16.11.2005 lehnte es das BVerfG ab, die vom Bf. eingelegte Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen.
2. Am 24.5.2006 hat sich der Bf. an den Gerichtshof gewandt und insbesondere mit der Behauptung, das LG Mosbach sei nicht unparteiisch gewesen,Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK gerügt. Die
zuständige Kammer (V. Sektion) des Gerichtshofs hat die Beschwerde am 23.11.2010 mit Stimmenmehrheit wegen offensichtlicher Unbegründetheit für unzulässig erklärt. ...
A. Angebliche Parteilichkeit des LG Mosbach
Der Bf. macht geltend, sein Fall sei nicht von einem „unparteiischen Gericht" entschieden worden. Wie der Vorsitzende Richter der zuständigen Kammer das LG Mosbach das Verfahren gegen H und dann das gegen ihn geführt habe,
zeige, dass er von Beginn an von seiner Schuld überzeugt und damit parteiisch gewesen sei. Der Bf. beruft sich auf Art. 6 I EMRK ... .
1. Vortrag der Parteien (zusammengefasst)
Die Regierung widerspricht. Dass der Vorsitzende Richter mit dem Sachverhalt bereits im Fall des H befasst war, könne Zweifel an seiner Unparteilichkeit ebenso wenig begründen, wie das Angebot, das Verfahren durch eine
Absprache zu beenden. Mit diesem Angebot habe das LG auch keinen unzulässigen Druck auf den Bf. ausgeübt. Bei der Absprache mit H sei es, anders als der Bf. jetzt behaupte, nicht um Sicherungsverwahrung gegangen. Dass das
LGH's Weigerung, im Verfahren gegen den Bf. auszusagen, als Versuch gewertet habe, ihn zu schützen, lasse ebenfalls nicht auf Parteilichkeit des LG schließen.
Der Bf. behauptet, der Vorsitzende Richter habe H's Geständnis erreicht, nachdem er unter Verstoß gegen deutsches Recht die Möglichkeit angedeutet habe, keine Sicherungsverwahrung anzuordnen. Das könnte H veranlasst haben,
ein falsches Geständnis abzulegen. H sei also in einer Zwangslage gewesen, und das zeige, dass der Vorsitzende Richter im Verfahren gegen H bereits das Ziel verfolgt habe, später ihn, den Bf., zu verurteilen. Die ihm angebotene
deutliche Strafmilderung könne durch die strafmildernde Wirkung des Geständnisses nicht gerechtfertigt werden. Es habe sich also um den Versuch gehandelt, Druck auf ihn auszuüben, um ein Geständnis zu bekommen.
2. Beurteilung durch den Gerichtshof
Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ist bei der Frage, ob ein Gericht unparteiisch ist, eine Prüfung nach subjektiven Gesichtspunkten vorzunehmen, die nach der persönlichen Überzeugung des Richters und seinem
Verhalten in einem bestimmten Fall fragt, und eine Prüfung nach objektiven Gesichtspunkten, bei der es darum geht, ob der Richter Garantien bietet, die ausreichen, um jeden berechtigten Zweifel an seiner Unparteilichkeit
auszuschließen (s. u.a. EGMR, Slg. 2005-XIII Nr. 118 = NJW 2006, 2901 (2903) - Kyprianou/Zypern).
Ebenfalls nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist bei der Prüfung nach subjektiven Gesichtspunkten die persönliche Unparteilichkeit eines Richters bis zum Beweis des Gegenteils zu vermuten (s. EGMR, Slg. 2005-XIII
Nr. 119 = NJW 2006, 2901 (2903) - Kyprianou/Zypern; EGMR, Slg. 2000-VI Nr. 41 - Morel/Frankreich). Unter Berücksichtigung aller vorliegenden Unterlagen, ist nicht bewiesen, dass der Vorsitzende Richter am LG Mosbach
persönlich voreingenommen war.
Die Prüfung nach objektiven Gesichtspunkten bedeutet bei einem Spruchkörper, zu untersuchen, ob es unabhängig von dem persönlichen Verhalten einzelner Richter nachweisbare Tatsachen gibt, die Zweifel an seiner
Unparteilichkeit begründen können. Dabei kann auch ein blosser Anschein von Bedeutung sein (s. EGMR, Slg. 2005-XIII Nr. 118 = NJW 2006, 2901 (2903) - Kyprianou/Zypern; EGMR, Slg. 2000-VI Nr. 42 - Morel-Frankreich). Bei
der Entscheidung, ob es in einem bestimmten Fall berechtigte Gründe gibt, an der Unparteilichkeit eines Spruchkörpers zu zweifeln, ist der Standpunkt desjenigen, der die Parteilichkeit geltend macht, wichtig, aber nicht entscheidend.
Entscheidend ist vielmehr, ob seine Befürchtung objektiv berechtigt ist (s. EGMR, Slg. 2000-XII Nr. 44 - Wettstein/Schweiz).
Im vorliegenden Fall hatte der Vorsitzende Richter der Kammer am LG Mosbach, der das Verfahren gegen den Bf. wegen Drogenhandels führte, auch in dem vorangegangenen gesonderten Verfahren gegen den dort verurteilten
Drogenhändler H den Vorsitz geführt. In seinem Verfahren hatte H nach einer Absprache ein volles Geständnis abgelegt, wofür ihm im Gegenzug Strafmilderung zugesagt worden war. Dieser Richter bot dann dem Bf. am ersten
Verhandlungstag in seinem Verfahren ebenfalls an, bei einem Geständnis das Verfahren zu beenden und seine Strafe erheblich zu mildern.
Die Tatsache allein, dass ein Richter bereits über ähnliche, aber eigenständige Strafvorwürfe in einem gesonderten Verfahren entschieden oder dass er gegen einen Mitangeklagten in einem gesonderten Verfahren verhandelt hat, reicht
nicht aus, Zweifel an seiner Unvoreingenommenheit in einem darauf folgenden Verfahren zu begründen (s. EGMR, Urt. v. 24.3.2009 - 32271/04 Nr. 26 - Poppe/Niederlande; EGMR, NJW 2007, 3553 (3554) Nr. 42 - Schwarzenberger/Deutschland).
Auch das dem Bf. in seinem Verfahren am ersten Verhandlungstag vom Vorsitzenden Richter gemachte Angebot, das Strafverfahren würde beendet und seine Strafe erheblich gemildert, wenn er ein Geständnis ablege, kann unter dem
Gesichtspunkt einer zügigen Verhandlungsführung und einer geordneten Rechtspflege gerechtfertigt sein.
Richtig ist allerdings, dass das Zusammentreffen dieser Umstände Zweifel begründen könnte, ob das LG bereits in einem frühen Stadium des Verfahrens gegen den Bf. zu einer vorgefassten Meinung gekommen ist. Es ist Aufgabe des
Gerichtshofs, darüber zu entschieden, ob solche Zweifel angesichts der besonderen Umstände des Falls berechtigt waren (s. EGMR, Slg. 2000-VI Nr. 44 - Morel/Frankreich).
Zunächst ist nicht nachgewiesen, dass das frühere Verfahren gegen H und das gegen ihn ergangene Urteil die Beurteilung der Schuld des Bf. vorweggenommen oder beim LG Mosbach zu einer vorgefassten Meinung darüber geführt hätte.
In dem Urteil gegen H wird zwar eine Person namens K. als einer von mehreren Drogenkäufern erwähnt. Der erwiesene Sachverhalt aber stützt sich auf das Geständnis des H und die Aussagen des Polizeibeamten P. Der Hinweis auf
H's Kunden war wichtig für seine Verurteilung, doch enthält das Urteil keine spezifische Darstellung der Beteiligung des Bf. oder von ihm begangener Straftaten oder sonstiger Handlungen, und es enthält auch keine Feststellungen der
Schuld des Bf. (s. EGMR, Urt. v. 24.3.2009 - 32271/04 Nr. 28 - Poppe/Niederlande; EGMR, NJW 2007, 3553 (3554) Nr; 43 - Schwarzenberger/Deutschland; a contrario EGMR, Slg. 1996-III, S. 952 Nr. 59 = ÖJZ 1997, 151 -
Ferrantelli u. Santangelo/Italien; EGMR, Urt. v. 16.11.2000 Nr. 33 - Rojas Morales/Italien).
Was die zwischen H und dem LG Mosbach erzielte Absprache in seinem Verfahren betrifft, lassen die Umstände des Falls, wie sie den deutschen Gerichten vorgetragen wurden, nichts erkennen, was objektiv die Befürchtung des Bf.
rechtfertigte, dass die Absprache etwas mit der Frage einer Sicherungsverwahrung zu tun gehabt hätte und unter Verstoß gegen das deutsche Recht erfolgt sei oder das Ziel verfolgt hätte, insbesondere eine spätere Verurteilung des Bf.
zu ermöglichen.
Um sein Vorbringen dazu zu stützen, bezieht sich der Bf. in seiner Erwiderung auf die Stellungnahme der Regierung zum ersten Mal auf eine Erklärung des Anwalts von H aus dem Jahr 2009 zu den Verhandlungen mit dem
Vorsitzenden Richter über die Absprache, mit der das Verfahren gegen H 2004 beendet wurde. Dieses Vorbringen enthält neue Tatsachen, die den deutschen Gerichten im Verfahren gegen den Bf. nicht vorgetragen worden sind.
Außerdem haben ihm der Vorsitzende Richter und ein weiterer am Verfahren gegen H beteiligter Richter in dienstlichen Stellungnahmen widersprochen. Der Bf. hat jedenfalls den deutschen Gerichten nicht die Gelegenheit gegeben,
den Fall unter diesem Gesichtspunkt zu prüfen. Daher kann sein Vorbringen zu diesem Punkt für die Entscheidung über seine Beschwerde nicht in Betracht kommen.
Folglich lässt sich den Umständen des Falls, wie sie den deutschen Gerichten vorlagen, nichts entnehmen, was zeigte, dass der Vorsitzende Richter eine Situation herbeigeführt hätte, die es H unmöglich gemacht hat, sich im späteren
Verfahren gegen den Bf. frei zu äußern. Dass das LGMosbach die Weigerung des H, im Verfahren gegen den Bf. auszusagen, als einen Versuch bewertet hat, ihn zu schützen, begründet daher objektiv keine Zweifel an der
Unparteilichkeit des LG.
Nach diesen Feststellungen ist der Gerichtshof auch nicht davon überzeugt, dass das Angebot des Vorsitzenden Richters an den Bf. am ersten Verhandlungstag die Unparteilichkeit des LG und seine Bereitschaft, den Fall
ordnungsgemäß aufzuklären, in Frage stellt. Als dem Bf. das Angebot gemacht wurde, hatte das Gericht bereits den Polizeibeamten P zu den Aussagen von B und S gehört und versucht, von H eine Aussage zu bekommen, der aber
erklärte, alles, was er für den Bf. tun könne, sei zu schweigen. Das LG machte sein Angebot dann nicht nach Aktenlage, sondern im Licht der Erklärungen der Zeugen.
Zum Inhalt des Angebots hat das BVerfG festgestellt, die dort genannten Alternativen seien so zu verstehen, dass sie den Rahmen aufzeigen sollten, innerhalb dessen eine mögliche Strafe „zu diskutieren" sei, aber keine Festlegungen
über die Dauer der möglichen Strafe, abhängig von einem Geständnis des Bf., enthielten. Das bestreiten die Parteien grundsätzlich nicht.
Doch erkennt der Gerichtshof an, dass, wie der Bf. vorträgt, der erhebliche Unterschied zwischen den vom Vorsitzenden Richter in seinem Angebot erwähnten Strafhöhen Zweifel wecken kann, ob der Vorsitzende im Gegenzug zu
dem Geständnis eine besonders milde Strafe angeboten und damit unzulässigen Druck auf den Bf. ausgeübt hat, um das Geständnis zu erhalten und weitere Beweisaufnahmen zu vermeiden.
Es ist nicht Aufgabe des Gerichtshofs, sich mit der Auslegung des staatlichen Rechts zu befassen und im vorliegenden Fall zu beurteilen, ob das vom Vorsitzenden Richter für den Fall eines Geständnisses angebotene Strafmass den
Richtlinien des deutschen Rechts und der Praxis in Deutschland entsprach (s. u.a. EGMR, Slg. 1997-VIII, S. 2796 Nr. 31- Tejedor Garcia/Spanien). Er kann auch nicht darüber spekulieren, ob die schließlich verhängte Strafe gegen den
Bf. die Überlegungen widerspiegelt, auf die sich das Angebot gestützt hat, wie der Bf. behauptet. Bei ihrer Prüfung sind die deutschen Gerichte zu dem Ergebnis gekommen, die dem Bf. angebotene Strafmilderung sei zwar erheblich,
aber immer noch mit den Anforderungen des deutschen Rechts und der Praxis vereinbar. Daher gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass der Vorsitzende Richter mit seinem Angebot einer erheblichen Strafmilderung im Gegenzug zu
einem Geständnis seine Befugnisse überschritten und den Bf., der in seinem gesamten Verfahren anwaltlich vertreten war, unzulässigem Druck ausgesetzt hätte.
Schließlich ist der Gerichtshof auch davon überzeugt, dass die Führung des Verfahrens gegen den Bf. nach seiner Ablehnung des Angebots, das Verfahren zu beenden, keine Zweifel an der Unparteilichkeit des LGMosbach begründet.
Das Gericht hat im Verlauf der insgesamt sechs Verhandlungstage zahlreiche Zeugen gehört, einige von ihnen hatte der Bf. benannt, und mehrere Schriftstücke verlesen, wie von der Verteidigung beantragt. In seinem Urteil würdigt
das Gericht die Glaubwürdigkeit und den Beweiswert der Zeugenaussagen und stellt ausdrücklich fest, dass das Geständnis von H in seinem Verfahren nicht berücksichtigt wurde. Aufgrund der erhobenen Beweise wurde der Bf.
wegen Drogenhandels in einem Fall verurteilt, in den zwei anderen Fällen freigesprochen. Das Urteil verweist auch in keinem Punkt auf das zuvor gegen H ergangene Urteil (s. EGMR, NJW 2007, 3553 (3554) Nr. 43 -
Schwarzenberger/Deutschland; a contrario EGMR, Slg. 1996-III, S. 952 Nr. 59 = ÖJZ 1997, 151 - Ferrantelli u. Santangelo/Italien). Über den Fall des Bf. ist deshalb im Urteil gegen ihn auf der Grundlage der in seinem Verfahren
erhobenen Beweise und des Vorbringens in diesem Verfahren abschließend entschieden worden (s. EGMR, Slg. 2000-VI Nr. 45 - Morel/Frankreich). Der Vortrag des Bf. zu einer möglichen Parteilichkeit des LG Mosbach stützt sich
auf eine Reihe von Vermutungen, die er weder vor den deutschen Gerichten noch vor dem Gerichtshof hinreichend substantiiert hat.
Unter Berücksichtigung aller Umstände des Falls kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Befürchtungen des Bf., das LG sei nicht unparteiisch gewesen, objektiv nicht gerechtfertigt sind und Art. 6 I EMRK nicht verletzt ist.
Die Beschwerde ist daher insoweit offensichtlich unbegründet und nach Art. 35 III, IV EMRK für unzulässig zu erklären. ..."
***
„... 4. Der Beschwerdeführer wurde 1944 geboren und ist in M. wohnhaft.
5. Am 6. Februar 1996 beantragte der Beschwerdeführer eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Am 1. Juli 1996 bewilligte die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte ihm eine Rente ab dem 8. Mai 1996. Der Rentenbetrag (ca.
1.200 Euro) wurde um ca. 380 EUR wegen des Versorgungsausgleichs gekürzt, den das Amtsgericht Krefeld der früheren Ehefrau des Beschwerdeführers mit Scheidungsurteil vom 24. Oktober 1995 zugesprochen hatte.
6. Am 4. April 2000 beantragte der Beschwerdeführer erstmals bei den Sozialbehörden, ihm den Gesamtbetrag seiner Rente ohne Versorgungsausgleichsminderung auszuzahlen. Der Antrag wurde am 31. August 2000 abgelehnt. Ein
zweiter Antrag wurde im April 2004 abgelehnt. Der vom Beschwerdeführer eingelegte Widerspruch wurde am 11. April 2005 zurückgewiesen.
7. Am 22. April 2005 reichte der Beschwerdeführer gegen den Rentenversicherungsträger Klage zum Sozialgericht Düsseldorf ein, um feststellen zu lassen, er habe vor dem Scheidungsurteil Anspruch auf eine Rente wegen
Erwerbsunfähigkeit gehabt und könne demnach die Auszahlung seiner vollständigen Rente verlangen.
8. Das Gericht beantragte eine Stellungnahme des behandelnden Arztes des Beschwerdeführers.
9. Am 3. November 2005 wurde ein Erörterungstermin zwischen den Parteien und dem Berichterstatter anberaumt; in dieser Sitzung wurde die Sache besprochen. Die Niederschrift der Sitzung trug den Vermerk "Weiteres von Amts
wegen". Mit Schreiben vom selben Tag forderte der Berichterstatter, wie bereits im Lauf der Sitzung geschehen, den Beschwerdeführer auf, seine Klage zurückzunehmen. Der Beschwerdeführer lehnte dies ab.
10. Am 30. Dezember 2005 wandte der Richter sich an die Parteien und wies diese auf die nach seiner Auffassung fehlende Erfolgsaussicht der Klage hin, und fragte an, ob sie mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid ohne
weitere mündliche Verhandlung und ohne Beteiligung der (beiden) Beisitzer einverstanden seien. Der Beschwerdeführer erklärte sich hiermit nicht einverstanden.
11. Am 24. April 2006 fand eine mündliche Verhandlung statt, in deren Verlauf das Gericht die Parteien davon unterrichtete, dass es ergänzende Auskünfte beim behandelnden Arzt des Beschwerdeführers einzuholen gedenke.
12. Mit Schreiben vom 28. Februar 2007 unterrichtete der mit der Sache befasste Kammervorsitzende den Beschwerdeführer davon, dass er die Sache erneut geprüft und beschlossen habe, keinen Sachverständigen anzuhören, und dass
es ihm wegen eines Wechsels des Kammervorsitzes ab dem 1. März 2007 nicht möglich sei, einen Termin zur mündlichen Verhandlung in Aussicht zu stellen.
13. Zwischen März 2007 und Juli 2008 beantragte der Beschwerdeführer mehrfach beim Gericht, seine Sache voranzutreiben. Das Sozialgericht antwortete ihm zunächst, dass die Kammer eine Vielzahl anderer älterer oder vorrangiger
Fälle zu bearbeiten habe, und danach (ab dem Jahr 2008), dass der Kammervorsitzende erkrankt sei.
14. Am 4. Dezember 2008 teilte das Gericht den Parteien mit, der Kammervorsitzende sei wieder im Dienst, und beraumte einen Verhandlungstermin für den 26. Februar 2009 an.
15. Mit Urteil vom 26. Februar 2009 bestätigte das Sozialgericht die Verwaltungsentscheidungen und wies die Klage des Beschwerdeführers ab. Das Urteil ist den Parteien am 17. März 2009 zugestellt worden.
16. Im März 2009 legte der Beschwerdeführer Berufung gegen dieses Urteil ein. Im Anschluss an eine mündliche Verhandlung vertagte das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen am 4. September 2009 die Sache zur Klärung des
streitigen Sachverhalts. Die Sache ist bis heute anhängig.
RECHTLCHE WÜRDIGUNG
I. ZUR BEHAUPTETEN VERLETZUNG DES ARTIKELS 6 ABSATZ 1 DER KONVENTION
17. Der Beschwerdeführer behauptet, die Dauer des Verfahrens vor dem Sozialgericht habe den Grundsatz der "angemessenen First" nach Artikel 6 Absatz 1 der Konvention mit folgendem Wortlaut verletzt:
"Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen (...) von einem (...) Gericht (...) innerhalb angemessener Frist verhandelt wird".
18. Die Regierung widerspricht dieser Auffassung. Sie räumt zwar ein, dass es einige Verzögerungen gegeben hat, weist aber auf die Komplexität der Sache hin und behauptet, das Sozialgericht habe angesichts des Weggangs des mit
der Sache befassten Vorsitzenden Richters und der Erkrankung des neuen Kammervorsitzenden adäquat reagiert, indem es die Sachen zunächst auf andere Richter der Kammer und sodann, nach Auflösung der Kammer, auf andere
Kammern des Sozialgerichts verteilt hat. Sie legt dar, die festgestellten Verzögerungen müssten im Rahmen der gegenwärtigen Arbeitsbelastung der Sozialgerichte bewertet werden, die auf einen erheblichen Anstieg der Anzahl der
sozialrechtlichen Verfahren zurückzuführen sei. Außerdem sei in der Sache keine vorrangige Behandlung notwendig gewesen, weil es nicht um das Ob der Rente des Beschwerdeführers, sondern nur um deren Höhe gegangen sei.
19. Der Gerichtshof stellt fest, der Beschwerdeführer habe darauf hingewiesen, dass er nur die Dauer des Verfahrens vor dem Sozialgericht rügt. Der zu berücksichtigende Zeitraum begann am 27. April 2005 und endete am 17. März
2009, dem Tag der Zustellung des Urteils des Sozialgerichts an den Beschwerdeführer. Es hat demnach in einer Instanz 3 Jahre und 10½ Monate gedauert.
A. Zur Zulässigkeit
20. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet im Sinne des Artikels 35 Absatz 3 der Konvention ist. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass in Bezug auf die Rüge kein anderer
Unzulässigkeitsgrund vorliegt.
B. Zur Hauptsache
21. Der Gerichtshof ruft in Erinnerung, dass die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens entsprechend den Umständen der Rechtssache und unter Berücksichtigung der in seiner Rechtsprechung verankerten Kriterien, insbesondere
der Komplexität des Falles, des Verhaltens des Beschwerdeführers und des Verhaltens der zuständigen Behörden sowie der Bedeutung des Rechtsstreits für den Betroffenen zu beurteilen ist (siehe unter vielen anderen Frydlender ./.
Frankreich [GK], Nr. 30979/96, Rdnr. 43, CEDH 2000-VII).
22. Der Gerichtshof hat sich wiederholt mit Rechtssachen befasst, die ähnliche Fragen wie die im vorliegenden Fall betreffen, und eine Verletzung des Artikels 6 Absatz 1 der Konvention festgestellt (siehe K. ./. Deutschland, Nr.
21061/06, 22. Dezember 2009).
23. Nachdem der Gerichtshof alle ihm vorgelegten Unterlagen geprüft hat, ist er der Auffassung, die Regierung habe keine Tatsachen oder Argumente dargelegt, wonach vorliegend eine andere Schlussfolgerung gezogen werden
könnte. Angesichts seiner einschlägigen Rechtsprechung ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die streitgegenständliche Verfahrensdauer in diesem Fall übermäßig lang ist und nicht dem Erfordernis einer "angemessenen Frist"
entspricht. Er hebt insbesondere hervor, die Sache sei nicht besonders komplex gewesen und die Maßnahmen, die das Sozialgericht getroffen habe, um angesichts der Abwesenheit der mit der Sache des Beschwerdeführers befassten
Kammervorsitzenden zu reagieren, hätten keine effektive Beschleunigung des Verfahrens bewirkt.
24. Demnach ist Artikel 6 Absatz 1 verletzt worden.
II. ZUR ANWENDUNG DES ARTIKELS 41 DER KONVENTION
25. Artikel 41 der Konvention lautet wie folgt:
"Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser
Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist."
A. Schaden
26. Der Beschwerdeführer verlangt 54.400 EUR für den materiellen Schaden und 35.000 EUR für den erlittenen Nichtvermögensschaden.
27. Die Regierung bestreitet diese Ansprüche.
28. Der Gerichtshof sieht keinen Kausalzusammenhang zwischen der festgestellten Verletzung und dem behaupteten materiellen Schaden und weist diese Forderung zurück. Er ist hingegen der Auffassung, der Beschwerdeführer habe
mit Sicherheit einen immateriellen Schaden erlitten. Auf einer gerechten Grundlage billigt er ihm hierfür 3.000 EUR zu.
B. Kosten und Auslagen
29. Der Beschwerdeführer verlangt auch 200 EUR für Kosten und Auslagen vor den innerstaatlichen Gerichten.
30. Die Regierung weist daraufhin, es lägen hierzu keine Belege vor.
31. Unter Berücksichtigung der dem Gerichtshof vorliegenden Unterlagen und angesichts seiner Rechtssprechung erachtet er es für angemessen, dem nicht von einem Rechtsanwalt vertretenen Beschwerdeführer einen Betrag von 100
EUR inklusive aller Kosten zu gewähren.
C. Verzugszinsen
32. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für den Satz der Verzugszinsen den um drei Prozentpunkte erhöhten Zinssatz der Spitzenrefinanzierungsfazilität der Europäischen Zentralbank zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG WIE FOLGT:
1. Er erklärt die Beschwerde für zulässig.
2. Er entscheidet, dass Artikel 6 Absatz 1 der Konvention verletzt ist.
3. Er entscheidet, dass
a) der beschwerdegegnerische Staat dem Beschwerdeführer innerhalb von drei Monaten 3.000 EUR (dreitausend Euro) wegen des Nichtvermögensschadens und 100 EUR (einhundert Euro) für Kosten und Auslagen des
Beschwerdeführers sowie jeden Betrag, der vom Beschwerdeführer als Steuer geschuldet werden kann, zu zahlen hat;
b) dass diese Beträge nach Ablauf der genannten Frist und bis zur Zahlung um einfache Zinsen zu dem Satz zu erhöhen sind, der dem in diesem Zeitraum geltenden Zinssatz der Spitzenrefinanzierungsfazilität der Europäischen
Zentralbank entspricht, zuzüglich drei Prozentpunkten. ..." (EGMR, Urteil vom 18.11.2010 - 38187/08)
***
Bei der Prüfung, ob die Verfahrensdauer angemessen war, sind die Umstände des Falls zu berücksichtigen, insbesondere seine Schwierigkeit, das Verhaltens des Beschwerdeführers und der zuständigen Behörden und Gerichte
sowie die Bedeutung des Rechtsstreits für den Beschwerdeführer. Der Arzthaftungsprozess war schwierig. Das Gericht hätte das schon über zwölf Jahre laufende Verfahren aber beschleunigen können. Es hätte insbesondere den
Parteien schon zu Beginn des Verfahrens aufgeben können, sämtliche Krankenakten vorzulegen und schon vor der mündlichen Verhandlung einen Beweisbeschluss erlassen können. Das Verfahren bei der Einholung von
Sachverständigengutachten hätte abgekürzt werden können, wenn das Gericht den Sachverständigen schon zur ersten mündlichen Verhandlung geladen hätte, damit er sein Gutachten mündlich erstattet oder erläutert. Gerichte müssen
sicherstellen, dass nur Sachverständige bestellt werden, die für eine mündliche Verhandlung zur Verfügung stehen, und sie müssen - soweit erforderlich - von gesetzlich vorgesehenen Zwangsmaßnahmen Gebrauch machen (EGMR,
Urteil vom 21.10.2010 - 43155/08 zu EMRK Art. 6 I, 35, 41 zu BeckRS 2011, 02792).
***
Beweise müssen grundsätzlich in öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Angeklagten erhoben werden, damit er dazu Stellung nehmen kann. Von diesem Grundsatz kann abgewichen werden. Ausnahmen dürfen aber die Rechte
der Verteidigung nicht beeinträchtigen. In aller Regel muss dem Angeklagten ausreichend und angemessen Gelegenheit gegeben werden, die Glaubwürdigkeit eines Belastungszeugen anzuzweifeln und ihm Fragen zu
stellen. Die Grundsätze eines fairen Verfahrens (Art. 6 I, III lit. d EMRK) erfordern in solchen Fällen, dass die Interessen der Verteidigung gegen die zur Aussage aufgerufenen Zeugen oder Opfer abgewogen werden. Geht es dabei um
ein Verfahren über den sexuellen Missbrauch eines Kindes, müssen folgende Mindestgarantien gewahrt sein: der Verdächtige muss über die Befragung des Kindes informiert sein und sie verfolgen können oder später durch
Vorführung einer audiovisuellen Aufzeichnung informiert werden. Außerdem muss er Gelegenheit haben, dem Kind bei der Vernehmung oder später Fragen zu stellen oder stellen zu lassen. Im vorliegenden Fall wurde
der Beschwerdeführer auf der Grundlage einer Videoaufzeichnung der Befragung des Opfers verurteilt, ohne Gelegenheit gehabt zu haben, Fragen an das Kind zu stellen oder stellen zu lassen. Damit sind die Rechte der
Verteidigung so eingeschränkt worden, dass das Strafverfahren den Anforderungen an ein faires Verfahren i.S. von Art. 6 I, III lit. d EMRK nicht mehr entsprochen hat. Der Beschwerdeführer hat der Vorführung der aufgezeichneten
Befragung des Kindes in der mündlichen Verhandlung zwar zugestimmt, damit aber nicht unzweideutig auf sein Recht verzichtet, ihm Fragen zu stellen oder stellen lassen (EGMR, Urteil vom 28.09.2010 - 40156/07, EMRK Art. 6 I,
III lit. d, 35 III, 41, BeckRS 2011, 19859):
„... 1. Der Bf., A.S., ist finnischer Staatsbürger und war ein Freund der Familie des 1999 geborenen A. Dessen Mutter zeigte ihn am 20.1.2004 wegen sexuellen Missbrauchs ihres Sohnes an. Am 26.2.2004 wurde A auf Antrag der
Polizei im Kinderkrankenhaus von einem Psychologen befragt. Die Befragung wurde auf Video aufgezeichnet. Der Ermittlungsbeamte, der Leitende Psychologe des Krankenhauses und sein Stellvertreter, Dr. S, Fachärztin für
Kinderpsychologie, folgten ihr hinter einer Spiegelwand. Der Bf. war nicht zugegen und offenbar zu diesem Zeitpunkt über die Ermittlungen gar nicht unterrichtet. Der Leitende Psychologe untersuchte A am 1. und dann noch einmal
am 15.3.2004. Eine besonders ausgebildete Krankenschwester befragte die Mutter am 1.,12. und 15.3.2004. Dr. S und die zwei Psychologen erklärten am 21.5.2004 schriftlich, A's Schilderung schiene glaubwürdig, die Ereignisse, die
er angebe, hätten sich sehr wahrscheinlich zugetragen. Sein Verhalten zeige, dass er sexuell missbraucht worden sei. Am 30.6.2004 ergänzte Dr. S seine Ausführungen und gab an, was geschehen sei, habe bei A zu Verwirrung,
Unsicherheit und Angst geführt. Einen Tag später verhörte die Polizei den Bf., am 12.10.2004 klagte ihn die StA beim zuständigen AG wegen sexuellen Missbrauchs von A an. Angesichts der Feststellungen von Dr. S vom 30.6.2004
wurde A nicht noch einmal befragt. Dem hatte der Bf. zugestimmt. Stattdessen wurde in der Verhandlung vor dem AG, ebenfalls mit Zustimmung aller Beteiligten, die Aufzeichnung seiner Befragung bei der Polizei abgespielt.
Außerdem hörte das AGA's Mutter, den Bf., dessen frühere Ehefrau und Dr. S. Am 11.3.2005 sprach das AG den Bf. frei. Es stellte fest, dass ein nicht zu heilender Verfahrensfehler vorliege: eine auf Video aufgezeichnete
Vernehmung einer Person unter 15 Jahren dürfe nach dem Gesetz nicht verwertet werden, wenn der Beschuldigte wie hier keine Gelegenheit gehabt habe, Fragen an diese Person zu stellen. Allerdings sei die Aufzeichnung mit
Zustimmung des Bf. vorgeführt worden. Doch A's Aussage und das übrige Beweismaterial stützten die Anklage nicht. Auf Berufung von StA und A verurteilte das BerGer. den Bf. am 22.8.2006 i.S. der Anklage zu einer
Freiheitsstrafe von einem Jahr mit Bewährung. Dabei stellte es u.a. fest, dass die Videoaufzeichnung als Beweismittel verwendet werden könne, da sich der Bf. wie schon vor dem AG auch im Berufungsverfahren ausdrücklich darauf
berufen habe. Der finnische OGH wies die Revision des Bf. am 11.5.2007 zurück.
2. Der Bf. hat sich am 7.9.2007 an den Gerichtshof gewandt und unter Berufung auf Art. 6 I, III lit. d EMRK geltend gemacht, wegen Verwendung der Videoaufzeichnung in dem gegen ihn geführten Strafverfahren seien seine
Verteidigungsrechte verletzt, denn er habe keine Gelegenheit gehabt, Fragen an A zu stellen. Die zuständige Kammer (IV. Sektion) hat die Beschwerde am 28.9.2010 einstimmig für zulässig erklärt und mit 6:1 Stimmen entschieden,
dass Art. 6 I i.V. mit Art. 6 III lit. d EMRK verletzt sei, sowie Finnland nach Art. 41 EMRK verurteilt, dem Bf. 3500 € als Ersatz für Nichtvermögensschaden und 6338,77 € als Ersatz für Kosten und Auslagen zu zahlen. ...
I. Behauptete Verletzung von Art. 6 EMRK
Der Bf. rügt nach Art. 6 I, III lit. d EMRK, er habe kein faires Verfahren gehabt, weil ihm keine Gelegenheit gegeben worden sei, Fragen an den Hauptbelastungszeugen A zu stellen. Dessen Aussage aber sei der einzige direkte, ihn
belastende Beweis. Die anderen von den Gerichten gehörten Personen seien nicht Zeugen des angeblichen Geschehens, sondern hätten lediglich aus zweiter Hand darüber berichten oder die Glaubwürdigkeit von A's Aussage
beurteilen können. Trotzdem hätten die finnischen Gerichte die Videoaufzeichnung der Befragung von A als Beweis zugelassen. ...
A. Zulässigkeit
Die Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet i.S. von Art. 35 III EMRK und auch nicht aus einem anderen Grund unzulässig. Sie ist daher für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Vortrag der Parteien
a) Die Regierung (zusammengefasst)
Die Regierung räumt ein, dass die Verteidigungsrechte des Bf. eingeschränkt gewesen seien, doch nicht so, dass damit das Verfahren insgesamt nicht mehr als fair angesehen werden könne. Das auf Video aufgezeichnete Zeugnis des
A sei nicht der einzige Beweis, auf den sich die Gerichte gestützt hätten. Der Bf. habe im Übrigen alle anderen Zeugen im Verfahren befragen können.
b) Der Bf. (zusammengefasst)
Der Bf. erwidert, die Videoaufzeichnung sei der einzige reale Beweis gegen ihn. Wenn ein Angeklagter das angebliche Opfer nicht befragen könne, müsse die StA die Anklage fallen lassen, es sei denn, es gebe andere substanzielle
Beweise zu Lasten des Angeklagten. Das sei in seinem Fall nicht so. Auf sein Recht, Fragen an A zu stellen, habe er nicht verzichtet, im Gegenteil, er habe vor Gericht angegeben, welche Fragen er stellen würde.
2. Beurteilung durch den Gerichtshof
Die Garantien des Art. 6 III EMRK sind besondere Aspekte des Rechts auf ein faires Verfahren, das in Art. 6 I EMRK garantiert wird. Daher ist die Beschwerde unter dem Gesichtspunkt beider Vorschriften zusammen zu prüfen (s.
EGMR, 1991, Serie A, Bd. 203, S. 10 Nr. 25 = ÖJZ 1991, 517 - Asch/Österreich).
a) Recht, Zeugen zu befragen
Zunächst ist zu prüfen, ob die finnischen Gerichte die Verteidigungsrechte des Bf. beachtet haben, als sie in dem Strafverfahren gegen ihn die Videoaufzeichnung der Befragung von A als Beweismittel zuließen und verwerteten,
obwohl der Bf. keine Gelegenheit gehabt hatte, Fragen an A zu stellen.
Das stand nicht in Einklang mit dem finnischen Recht, was die Gerichte anerkannt haben. Doch haben sie dann entschieden, dass die Zustimmung des Bf. zur Vorführung der Aufzeichnung eine Ausnahme von den Vorschriften über
die Zulässigkeit von Beweismitteln erlaube ... .
Alle Beweise müssen grundsätzlich in öffentlicher Verhandlung und in Anwesenheit des Angeklagten erhoben werden, damit er dazu Stellung nehmen kann. Allerdings kann von diesem Grundsatz abgewichen werden. Generell lässt
sich Art. 6 I, III lit. d EMRK nicht dahin auslegen, dass in allen Fällen der Angeklagte oder sein Anwalt in der Lage sein müsste, Fragen an die Zeugen zu stellen, sei es im Wege eines Kreuzverhörs oder anders. Vielmehr muss dem
Angeklagten angemessen und ausreichend Gelegenheit gegeben werden, die Glaubwürdigkeit eines Belastungszeugen bei seiner Aussage oder später anzugreifen und ihm Fragen zu stellen (s. EGMR, Urt. v. 19.6.2007 - 21508/02 Nr.
55 - W.S./Polen mit weiteren Nachweisen). Ein Zeuge muss nicht immer vor Gericht und in öffentlicher Verhandlung aussagen, wenn die Aussage als Beweis zugelassen werden soll. Das kann in bestimmten Fällen tatsächlich
unmöglich sein (s. EGMR, 1991, Serie A, Bd. 203, S. 10 Nr. 27 = ÖJZ 1991, 517 - Asch/Österreich). Jedenfalls verlangt Art. 6 I, III lit. d EMRK von den Vertragsstaaten, Schritte zu unternehmen, um insbesondere dem Angeklagten
zu ermöglichen, Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen. Derartige Maßnahmen zu ergreifen verlangt die Sorgfaltspflicht der Vertragsstaaten, die sicherstellen müssen, dass die Rechte nach Art. 6 EMRK wirksam
gewährleistet werden (s. EGMR, Slg. 2001-VIII Nr. 67 - Sadak u.a./Türkei).
Außerdem darf sich eine Verurteilung nicht ausschließlich oder in entscheidendem Umfang auf Aussagen stützen, welche die Verteidigung nicht hat in Frage stellen können (s. u.a. EGMR, Slg. 1996-II, S. 472 Nr. 76 = ÖJZ 1996, 715
- Doorson/Niederlande; EGMR, Urt. v. 24.4.2007 - 14151/02 Nr. 43 - W./Finnland; EGMR, Urt. v. 10.5.2007 Nr. 40 - 46602/99 - A.H./Finnland; EGMR, Urt. v. 27.1.2009 - 23220/04 Nr. 37 - A.L./Finnland; EGMR, Urt. v. 7.7.2009 -
30542/04 Nr. 42 - D./Finnland).
Strafverfahren bei Sexualdelikten werden vom Opfer oft als eine Tortur erlebt, vor allem wenn es ungewollt auf den Täter trifft. Das gilt insbesondere, wenn das Opfer minderjährig ist. Bei Beurteilung, ob der Angeklagte in einem
solchen Fall ein faires Verfahren hatte, ist das Recht des angeblichen Opfers auf Achtung seines Privatlebens zu berücksichtigen. Deshalb können in Strafverfahren über sexuellen Missbrauch bestimmte Maßnahmen getroffen werden,
um das Opfer zu schützen, vorausgesetzt, sie lassen sich mit einer angemessenen und wirksamen Wahrnehmung der Verteidigungsrechte vereinbaren. Um die Rechte der Verteidigung zu sichern, haben die Gerichte gegebenenfalls
Maßnahmen zu ergreifen, welche die Schwierigkeiten der Verteidigung ausgleichen (s. u.a. EKMR, in: EGMR, 1995, Serie A, Bd. 327, S. 44 Nr. 77 - Baegen/Niederlande; EGMR, NJW 2003, 2893 (2894) Nr. 23 - P.S./Deutschland;
EGMR, Urt. v. 7.7.2009 - 30542/04 Nr. 43 - D./Finnland).
Zwischen den Rechten des Angeklagten und denen des angeblichen minderjährigen Opfers muss also ein Ausgleich hergestellt werden. Dabei müssen folgende Mindestgarantien gewahrt werden: der Verdächtige muss über die
Vernehmung des Kindes informiert sein und sie verfolgen können, entweder dabei oder später durch Vorführung einer audiovisuellen Aufzeichnung. Außerdem muss er Gelegenheit haben, dem Kind bei der ersten Anhörung oder
später Fragen zu stellen oder stellen zu lassen.
Im vorliegenden Fall ist A als „Zeuge" i.S. von Art. 6 III lit. d EMRK anzusehen, ein Begriff, der autonom auszulegen ist (s. u.a. EGMR, 1991, Serie A, Bd. 203, S. 10 Nr. 25 = ÖJZ 1991, 517 - Asch/Österreich; EGMR, Urt. v.
27.1.2009 - 23220/04 Nr. 38 - A.L./Finnland), denn seine Schilderung bei der aufgezeichneten Befragung durch den Psychologen des Krankenhauses wurde in der mündlichen Verhandlung abgespielt und im Strafverfahren gegen den
Bf. als Beweis verwendet.
Der Bf. macht geltend, A's Schilderung oder Aussage sei der einzige unmittelbare Beweis gegen ihn. Er aber habe keine Gelegenheit gehabt, diese Schilderung durch Fragen an A wirksam anzugreifen.
Das AG und das BerGer. haben ihre Entscheidungen wenigstens teilweise auf die aufgezeichnete Schilderung von A gestützt. Dem AG genügten die ihm vorgelegten Beweise für eine Verurteilung nicht, das BerGer. kam bei der
Beweiswürdigung zu einem anderen Ergebnis. Gestützt auf die Aussagen von A, seiner Mutter und Dr. S sowie auf die schriftliche Stellungnahme des Psychologen nach der Untersuchung von A befand das BerGer., dass der Bf. eine
der angklagten Straftaten begangen habe.
Wie der Bf. vorträgt, waren die Angaben der Mutter von A und die Stellungnahmen von Dr. S mittelbare Beweise, denn die beiden waren nicht Zeugen des angeblichen Geschehens. Sie konnten den Gerichten nur berichten, was A
ihnen gesagt und wie er sich verhalten hatte. Als medizinischer Sachverständiger konnte Dr. S auch beurteilen, ob das, was A berichtet hatte, glaubwürdig war. Das schriftliche Beweismaterial, auf das sich das BerGer. bei
Verurteilung des Bf. gestützt hat, bestand aus einem Bericht über die psychologische Untersuchung von A, den medizinische Sachverständige nach den angeblichen Ereignissen verfasst hatten.
Folglich war die auf Video aufgezeichnete Schilderung von A der einzige unmittelbare Beweis gegen den Bf. und muss daher entscheidenden Einfluss auf seine Verurteilung durch das BerGer. gehabt haben.
Zu prüfen ist damit, ob der Bf. angemessen Gelegenheit hatte, seine Verteidigungsrechte nach Art. 6 III lit. d EMRK bei der Zulassung und Verwertung der belastenden Beweise wahrzunehmen.
Das finnische Recht erlaubt es, eine vor der Verhandlung gemachte Aussage einer Person unter 15 Jahren als Beweismittel zu verwenden, vorausgesetzt, sie ist auf Video oder sonst audiovisuell aufgezeichnet und der Angeklagte hatte
Gelegenheit, Fragen an diese Person zu stellen ... . Im vorliegenden Fall war die am 26.2.2004 auf Antrag der Polizei durchgeführte Befragung von A auf Video aufgezeichnet worden. Mehrere Personen, die an der Befragung nicht
teilgenommen haben, konnten ihr hinter einer Spiegelwand folgen. Der Bf. aber, der Verdächtige in dieser Sache, war nicht anwesend und nicht einmal unterrichtet (s. anders EGMR, Slg. 2005-II - Accardi u.a./Italien). Die Akten
lassen nicht erkennen, weshalb die Formalitäten des finnischen Rechts hier nicht beachtet worden sind. Die Polizei hat den Bf. zum ersten Mal als Verdächtigen am 1.7.2004 vernommen. Am Tag zuvor hatte sich Dr. S gegen eine
weitere Befragung von A ausgesprochen, um ihn psychisch nicht weiter zu belasten. A wurde auch während der Ermittlungen nicht mehr vernommen.
Die finnischen Gerichte haben A ebenfalls nicht vernommen, und der Bf. hat auch keinen entsprechenden Antrag gestellt. In ähnlichen Fällen hat der Gerichtshof festgestellt, dass es offenbar keinen Fall in Finnland gibt, in dem die
Verteidigung erfolgreich ein Kreutzverhör betroffener Kinder beantragt hätten (s. EGMR, Urt. v. 24.4.2007 - 14151/02 Nr. 46 - W/Finnland; EGMR, Urt. v. 10.5.2007 - 46602/99 Nr. 43 - A.H./Finnland). Im vorliegenden Fall war A,
während der Gerichtsverfahren erst zwischen sechs und acht Jahre alt. Außerdem kannte der Bf. die Stellungnahme von Dr. S, dass A nicht noch einmal befragt werden sollte. Beide Gerichte haben sich in ihrer Begründung darauf
berufen. Unter diesen Umständen kann dem Bf. nicht vorgehalten werden, dass er einen Antrag auf Vernehmung von A nicht gestellt hat.
Der Bf. hatte in keinem Stadium des Verfahrens Gelegenheit, seine Verteidigungsrechte durch Fragen an A wahrzunehmen. Insofern unterscheidet sich diese Sache von den Fällen S.N./Schweden (EGMR, Slg. 2002-V Nrn. 49-50),
Accardi u.a./Italien (EGMR, Slg. 2005-II) und B./Finnland (Urt. v. 24.4.2007 -17122/02 Nrn. 44-45), in denen die Verteidigung Fragen an den minderjährigen Kläger stellen konnte, darauf aber verzichtet hatte.
Dank der Vorführung der Videoaufzeichnung der Befragung von A konnten die finnischen Gerichte wie auch der Bf. die Schilderung des angeblichen Geschehens durch A verfolgen. Die Aufzeichnung erlaubte es ihnen auch zu
beobachten, wie er befragt wurde, und die Glaubwürdigkeit der Angaben von A wenigstens in gewissem Umfang selbst zu beurteilen. Der Bf. konnte vor den Gerichten die Aufzeichnung als Beweis in Frage stellen und sich dazu
äußern. Eine solche Aufzeichnung ist als Beweis von Bedeutung (s. mutatis mutandis EGMR, Urt. v. 10.11.2005 - 54789/00 Nr. 71 - Bocos-Cuesta/Niederlande; EGMR, Urt. v. 19.6.2007 - 21508/02 Nr.61 a.E. - W.S./Polen; EGMR,
Urt. v. 17.7.2007 - 22508/02 Nr. 60 - S. u. M./Finnland). Doch das allein reicht nicht aus, die Rechte der Verteidigung sicherzustellen, wenn die Behörden und Gerichte dem Angeklagten keine Gelegenheit gegeben haben, Fragen an
den Zeugen zu stellen (s. EGMR, Urt. v. 27.1.2009 - 23220/04 Nr. 41 - A.L./Finnland; EGMR, Urt. v. 7.7.2009 - 30542/04 Nr. 50 - D./Finnland). Obgleich der Gerichtshof davon überzeugt ist, dass die Gerichte im vorliegenden Fall
die Beweise insgesamt sorgfältig gewürdigt haben, bleibt doch die Tatsache, dass der Bf. zu keiner Zeit Gelegenheit hatte, A's Schilderung durch Fragen wirksam zu widersprechen, und das entgegen ausdrücklicher Vorschriften des
finnischen Rechts.
Der Gerichtshof hat einen Verstoß gegen die Konvention in ähnlichen Fällen gegen Finnland festgestellt, in denen die Videoaufzeichnung eines Minderjährigen vor den Gerichten abgespielt worden war und das einzige den Bf.
belastende Beweismaterial gewesen ist (s. EGMR , Urt. v. 24.4.2004 - 14151/02 Nr. 47 - W./Finnland; EGMR, Urt. v. 10.5.2007 - 46602/99 Nr. 44 - A.H./Finnland; EGMR, Urt. v. 27.1.2009 - 23220/04 Nr. 44 - A.L./Finnland;
EGMR, Urt. v. 7.7.2009 - 30542/04 Nr. 51 - D./Finnland). Zur Zeit der mündlichen Verhandlung in jenen Fällen waren die Vorschriften noch nicht in Kraft, welche die Behörden und Gerichte heute verpflichten, dem Beschuldigten
Gelegenheit zu geben, im Ermittlungsverfahren Fragen an den Zeugen zu stellen, wenn die Videoaufzeichnung seiner Aussage als Beweis im anschließenden gerichtlichen Verfahren benutzt werden soll. Dass dies nicht geschehen ist,
wird so im vorliegenden Verfahren noch besonders bedeutsam, weil es dem finnischen Recht zuwiderläuft, wenngleich die finnischen Gerichte, insbesondere das BerGer., das Abgehen von dieser Vorschrift im Einzelnen begründet haben.
Strafverfahren so zu führen, dass die Belange sehr junger Opfer geschützt werden, insbesondere in Fällen von Sexualstraftaten, ist ein Gesichtspunkt, der bei der Anwendung von Art. 6 EMRK zu berücksichtigen ist (s. EGMR, Urt. v.
10.11.2005 - 54789/00 Nr. 72 - Bocos-Cuesta/Niederlande). Doch im vorliegenden Fall wie in den oben unter Nr. 66 genannten Fällen hat die Verwendung der auf Video aufgezeichneten Schilderung des betroffenen A, als einziger
unmittelbarer Beweis, der zur Verurteilung des Angeklagten führte, ohne dass er Gelegenheit gehabt hätte, dem Kind Fragen zu stellen, die Rechte der Verteidigung so eingeschränkt, dass das Verfahren den Anforderungen an ein
faires Verfahren i.S. von Art. 6 I, III lit. d EMRK nicht mehr entsprochen hat.
b) Verzicht auf das Recht, Fragen an Zeugen zu stellen
Zweitens stellt sich die Frage, ob der Bf. nicht auf sein Recht, Fragen an A, den Hauptbelastungszeugen, zu stellen, verzichtet hat.
Weder Buchstabe noch Geist des Art. 6 EMRK hindert jemanden daran, aus freien Stücken ausdrücklich oder stillschweigend auf die Garantien des fairen Verfahrens zu verzichten. Ein solcher Verzicht muss allerdings, um nach der
Konvention wirksam zu sein, unzweideutig feststehen und von Mindestsicherungen begleitet sein, die seiner Tragweite entsprechen. Außerdem darf er nicht einem öffentlichen Interesse zuwiderlaufen (s. EGMR, Slg. 2006-XII Nr. 73
- Hermi/Italien mit weiteren Nachweisen).
Bevor bei einem Angeklagten die Rede davon sein kann, dass er durch sein Verhalten auf ein wesentliches Recht nach Art. 6 EMRK verzichtet hat, muss nachgewiesen sein, dass er angemessen voraussehen konnte, welche Folgen sein
Verhalten haben würde (s. EGMR, Entsch. v. 9.9.2003 - 30900/02 - Jones/Vereinigtes Königreich).
Wie oben festgestellt, haben die finnischen Gerichte sofort anerkannt, dass das Verfahren gegen den Bf. fehlerhaft war, weil er keine Gelegenheit hatte, Fragen an A zu stellen. Der Bf. hat auch nicht ausdrücklich beantragt, die
Videoaufzeichnung nicht als Beweis zuzulassen. Vor dem AG hat er nach streitiger Erörterung der Vorführung der Aufzeichnung schließlich zugestimmt. Zwar hat er später vor dem BerGer. erklärt, ihm sei keine andere Wahl
geblieben, weil das AG zugelassen habe, die Stellungnahme von Dr. S zur Schilderung der Ereignisse durch A zu verwenden. Doch hat er die Entscheidung über die Zulässigkeit der Beweise insgesamt dem BerGer. anheim gestellt ...
Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass der im gesamten Verfahren anwaltlich vertretene Bf. nicht verstanden hätte, dass er mit seinem Einverständnis zur Vorführung der umstrittenen Videoaufzeichnung den Gerichten auch erlaubt
hat, diesen Beweis zusammen mit allen ihnen vorgelegten Beweisen vollen Umfangs zu würdigen. Der Bf. hat so wissentlich einer freien Beweiswürdigung durch die finnischen Gerichte zugestimmt, wenngleich es nicht in seiner
Macht stand, die Entscheidung der Gerichte nur auf die ihm günstigen Stellungnahmen zu beschränken. Wie sich schließlich zeigte, kamen die Gerichte auf der Grundlage desselben Beweismaterials zu unterschiedlichen Ergebnissen.
Gleichwohl lässt sich nicht sagen, dass der Bf. allein wegen seiner Zustimmung zur Vorführung der Videoaufzeichnung aus freien Stücken ausdrücklich oder stillschweigend auf sein Recht, A zu befragen verzichtet hätte. Im
Gegenteil, er hat durchgehend geltend gemacht, das Verfahren sei fehlerhaft, weil man ihm keine Gelegenheit dazu gegeben habe. Gleichzeitig hat er beantragt, die Gerichte möchten das bei Beurteilung der Zulässigkeit der Beweise
berücksichtigen. Da feststand, dass A nicht noch einmal gehört werden konnte, hat sich der Bf. zu seinen Gunsten auf die Videoaufzeichnung berufen, in einer Situation, in der die übrigen den Gerichten vorgelegten Beweise mittelbare
Beweise waren. Unter diesen Umständen lässt sich nicht feststellen, dass der Bf. unzweideutig auf sein Recht eines fairen Verfahrens verzichtet hätte.
c) Ergebnis
Wie oben festgestellt, war die auf Video aufgezeichnete Schilderung des A der einzige unmittelbare Beweis, der zur Verurteilung des Bf. geführt hat. Dass der Bf. keine Gelegenheit hatte, Fragen an A zu stellen, hat seine
Verteidigungsrechte so eingeschränkt, dass er kein faires Verfahren gehabt hat. Außerdem hat der Bf. auf sein Recht, die Schilderung von A durch Fragen in Frage zu stellen, nicht verzichtet. Daher ist Art. 6 I i.V. mit Art. 6 III lit. d
EMRK im vorliegenden Fall verletzt. ..."
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Der Gerichtshof hat keine Zuständigkeit zu prüfen, ob ein Konventionsstaat die Maßnahmen ergriffen hat, die zu treffen er nach einem Urteil des Gerichtshofs verpflichtet ist. Es ist aber möglich, dass die vom Staat zur
Wiedergutmachung getroffenen Maßnahmen neue Fragen nach der Konvention aufwerfen, die Gegenstand einer neuen Beschwerde sein können, über die der Gerichtshof entscheiden kann. Wenn das Ministerkomitee des Europarats
seine Überwachung nach Art. 46 II EMRK abgeschlossen und festgestellt hat, der beklagte Staat habe seine Verpflichtung aus dem Urteil zu individuellen Maßnahmen erfüllt, kann der Gerichtshof das nicht prüfen, ohne in die
Zuständigkeit des Ministerkomitees einzugreifen. Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) gilt nicht für Wiederaufnahmeverfahren nach rechtskräftiger Verurteilung, denn der Verurteilte wird in diesem Verfahren nicht
strafrechtlich angeklagt (EGMR, Entscheidung vom 06.07.2010 - 5980/07 Öcalan/Türkei, NJW 2010, 3703).
***
Die Religionsfreiheit, ein Grundpfeiler der demokratischen Gesellschaft, umfasst u.a. die Freiheit, seine Religion öffentlich und mit anderen zu bekennen. Deswegen muss bei Auslegung von Art. 9 EMRK (Gedanken-, Gewissens- und
Religionsfreiheit) Art. 11 EMRK (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) berücksichtigt werden. Damit folgt aus dem Recht auf Religionsfreiheit für den Gläubigen das Recht, sich frei und ohne willkürliche staatliche Eingriffe
zusammenzuschließen. Unabhängige Religionsgemeinschaften sind für den Pluralismus in einer demokratischen Gesellschaft unabdingbare Voraussetzung und das Kernstück des von Art. 9 EMRK gewährten Schutzes. Die
Konventionsstaaten sind zu Neutralität und Unparteilichkeit verpflichtet und dürfen deshalb die Legitimität eines religiösen Glaubens nicht beurteilen. Doch haben sie das Recht, sich davon zu überzeugen, dass Ziele und Tätigkeiten
auch einer Religionsgemeinschaft mit der Rechtsordnung übereinstimmen, müssen das aber in einer Weise tun, die mit ihren Konventionspflichten vereinbar ist. Dabei unterliegen sie der Überwachung durch den Gerichtshof. Im
Übrigen darf der Staat von seiner Befugnis, staatliche Institutionen und den Bürger vor Vereinigungen zu schützen, die sie gefährden könnten, nur zurückhaltend Gebrauch machen, denn die Ausnahmen von der Vereinigungsfreiheit
(Art. 11 II EMRK ) sind eng auszulegen. Die Auflösung der Beschwerdeführerin zu 1 und das Verbot ihrer Aktivitäten haben die russischen Behörden und Gerichte damit begründet, sie habe ihre Mitglieder zur Zerstörung ihrer
Familien gezwungen; Rechte und Freiheiten ihrer Mitglieder und Dritter verletzt; ihre Mitglieder angestiftet, Selbstmord zu begehen oder ärztliche Behandlung abzulehnen; auf die Rechte von Eltern und Kindern eingewirkt;
insbesondere Kinder gegen den Willen von Eltern in die Gemeinschaft gelockt und Mitglieder ermutigt, gesetzliche Pflichten nicht zu erfüllen. Diese Vorwürfe haben die russischen Behörden und Gerichte entweder nicht substantiiert
oder nicht nachgewiesen. Außerdem waren die Auflösung der Beschwerdeführerin zu 1 und das Verbot ihrer Aktivitäten, einzige Sanktion bei einem Verstoß gegen das russische Religionsgesetz von 1997, außerordentlich
schwerwiegende und unverhältnismäßige Maßnahmen. Daher ist Art. 9 i.V. mit Art. 11 EMRK verletzt. Die Anträge der Beschwerdeführerin zu 1, sie erneut zu registrieren, wurden mit unterschiedlicher Begründung abgelehnt. Dieser
Eingriff in ihre von Art. 11 i. V. mit Art. 9 EMRK garantierten Rechte war willkürlich und deswegen nicht "gesetzlich vorgesehen" i.S. von Art. 9 II und 11 II EMRK. Die russischen Behörden und Gerichte haben nicht in gutem
Glauben gehandelt und ihre Pflicht zu Neutralität und Unparteilichkeit verletzt (EGMR, Urteil vom 10.06.2010 - 302/02 zu EGMR Art. 6, 9, 10, 11, 14, 35 III,IV, 41, 46).
***
Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) garantiert einen Rechtsbehelf für Beschwerden, die nach der Konvention vertretbar sind. Er muss "wirksam" sein, das heißt insbesondere, er muss der "innerstaatlichen Instanz"
ermöglichen, über die Begründetheit der Beschwerde zu entscheiden und im Fall einer Rechtsverletzung angemessene Abhilfe zu schaffen. Dass den Beschwerdeführern in Griechenland ein solcher Rechtsbehelf zur Verfügung stand,
hat der beklagte Staat nicht nachgewiesen. Damit ist Art. 13 EMRK verletzt und die von der Regierung erhobene Einrede der Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe (Art. 35 I EMRK) zurückzuweisen. Die Gedanken-,
Gewissens- und Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK ist ein Grundpfeiler der "demokratischen Gesellschaft" i.S. der Konvention. Sie ist in ihrer religiösen Dimension einer der wichtigsten Elemente, das die Identität der Gläubigen und
ihre Auffassung vom Leben bestimmt. Doch sie ist auch ein wertvolles Gut für Atheisten, Agnostiker, Skeptiker und Gleichgültige. Der von einer demokratischen Gesellschaft untrennbare Pluralismus - teuer erkauft über die
Jahrhunderte - hängt von ihr ab. Zur Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK gehört auch die Freiheit, einer Religion nicht anzugehören oder sie nicht zu praktizieren, sowie das Recht des Einzelnen, seine Religionszugehörigkeit oder seine
religiösen Überzeugungen nicht bekunden zu müssen. Staatliche Behörden haben nicht das Recht, in die Gewissensfreiheit des Einzelnen einzugreifen und nach seinen religiösen Überzeugungen zu fragen oder ihn zu zwingen, seine
Glaubensüberzeugungen zu offenbaren. Um vor Beginn ihrer Vernehmung als Zeugen eine feierliche Erklärung abgeben zu können, anstatt einen Eid auf die Bibel zu leisten, mussten die Beschwerdeführer angeben, dass sie nicht
orthodoxe Christen seien. Damit mussten sie vor den griechischen Gerichten, öffentlich oder nicht, ihre religiösen Überzeugungen offen legen. Diese Regelung, die für den Strafprozess, aber nicht für den Zivilprozess in Griechenland
gilt, verstößt gegen die Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK (EGMR, Urteil vom 03.06.2010 - 42837/06, 3237/07, 3269/07, 35793/07 u. 6099/08, 42837/06 u a zu EMRK Art. 6, 8, 9, 13, 14, 34, 35 III, IV, 41, 46).
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Die Entscheidung der Kammer, die Beschwerde teilweise für unzulässig zu erklären, ist endgültig. Dieser Teil der Beschwerde ist deswegen nicht vor der Großen Kammer anhängig. Art. 7 II EMRK (Keine Strafe ohne Gesetz) soll
deutlich machen, dass Art. 7 I EMRK nicht für Gesetze gilt, die unter ganz außergewöhnlichen Umständen am Ende des Zweiten Weltkrieges erlassen worden sind, z.B. um Kriegsverbrechen zu bestrafen. Die Definition von
Kriegsverbrechen in der Charta des Internationalen Kriegsverbrechertribunals in Nürnberg ist als Kodifizierung des 1939 geltenden Kriegsvölkerrechts und der völkerrechtlichen Gebräuche zu verstehen. Kriegsverbrechen wurden im
Mai 1944 als Handlungen definiert, die gegen Recht und Gebräuche des Krieges verstoßen. Das Völkerrecht hatte die zugrundeliegenden Prinzipien bestimmt und einen umfangreichen Katalog von Kriegsverbrechen aufgestellt. Die
Misshandlung, Verletzung und Tötung der Bewohner des Dorfes Mazie Bati war 1944 nach dem Kriegsvölkerrecht ein Kriegsverbrechen.Das Völkerrecht und die Gebräuche des Krieges genügten 1944, eine persönliche strafrechtliche
Verantwortlichkeit zu begründen. Das hätte der Beschwerdeführer vorhersehen können. Die Handlungen des Beschwerdeführers waren nach Recht und Gebräuchen des Krieges 1944 ausreichend als Straftaten bestimmt, so dass die
Verurteilung des Beschwerdeführers Art. 7 I EMRK nicht verletzt (EGMR, Urteil vom 17.05.2010 - 36376/04 zu EMRK Art. 2, 3, 5, 6, 7, 13, 15, 18, 43).
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Zur Versagung der Einsicht in die Akten eines Parallelverfahrens (EGMR, Entscheidung vom 04.05.2010 - 11603/06 zu EMRK Art. 6 I, III Buchst. b; GG Art. 35; StPO §§ 96 147 II):
„... A. Die Umstände der Rechtssache
Der vom Beschwerdeführer vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.
1. Hintergrund der Rechtssache
Der Beschwerdeführer war im Januar 1991 als Mitglied des Geschäftsbereichsvorstands einer deutschen Aktiengesellschaft an der Vorbereitung und dem Abschluss einer Vereinbarung zwischen der Aktiengesellschaft und dem
Ministerium für Verteidigung und Luftfahrt des Königreichs Saudi-Arabien über die Lieferung von 36 Panzerfahrzeugen nach Saudi-Arabien beteiligt.
1995 leitete die Staatsanwaltschaft Augsburg wegen Verdachts der Untreue und der Einkommensteuerhinterziehung im Zusammenhang mit diesen Geschäften Ermittlungen gegen den Beschwerdeführer ein (10 KLs 520 Js
127135/95). Er wurde verdächtigt, im Rahmen eines so genannten Kick-Back-Verfahrens auf der Grundlage von Geheimabsprachen mit einem gesondert verfolgten Waffenlobbyist zu seinem eigenen Vorteil den Rückfluss eines Teils
der von der Aktiengesellschaft und ihren Tochtergesellschaften erbrachten Provisionen an ein Unternehmen, dessen wirtschaftlicher Eigentümer der besagte Waffenlobbyist war, angenommen zu haben. Damit habe er seine
Treuepflicht gegenüber seinem Arbeitgeber missachtet und die so erhaltenen Gelder nicht in seiner Einkommensteuererklärung angegeben.
Im Zuge dieser Ermittlungen ergab sich der Verdacht, weitere Verantwortliche der besagten Aktiengesellschaft und ihrer Tochtergesellschaften, darunter der Beschwerdeführer, hätten im Zeitraum von 1991 bis 1997 gemeinschaftlich
Körperschafts- und Gewerbesteuer hinterzogen, indem sie Provisionszahlungen entgegen dem anzuwendenden Steuerrecht als abzugsfähige Aufwendungen geltend gemacht hätten. Die Staatsanwaltschaft Augsburg trennte diesen Teil
der Ermittlungen ab; sie wurden anschließend von der Staatsanwaltschaft Düsseldorf durchgeführt (28 Js 158/00). Im Laufe des abgetrennten Ermittlungsverfahrens wurden auf Grundlage eines Durchsuchungsbeschlusses des
Amtsgerichts Düsseldorf vom 5. Juni 2000 Unterlagen beschlagnahmt, die sich in den Räumen der Aktiengesellschaft und ihrer Tochtergesellschaften sowie beim Beschwerdeführer befanden.
2. Verfahren vor dem Landgericht Augsburg
Mit Beschluss vom 12. Oktober 2000 ordnete das Landgericht Augsburg die Beschlagnahme der Unterlagen an, die zuvor in dem gesonderten Ermittlungsverfahren von der Staatsanwaltschaft Düsseldorf beschlagnahmt worden waren.
Die Staatsanwaltschaft Düsseldorf stellte einen Teil der Unterlagen, darunter Auswertungsberichte, zur Verfügung.
Am 6. November 2001 wurde die Hauptverhandlung gegen den Beschwerdeführer und ein mitbeschuldigtes Mitglied der Geschäftsführung wegen des Verdachts der Einkommensteuerhinterziehung und Untreue vor dem Landgericht
Augsburg (501 Js 127135/95) eröffnet. Am selben Tag stellte der Verteidiger einen ersten Antrag auf Beiziehung der vollständigen Akten aus dem gesondert geführten Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Düsseldorf und
forderte die Aussetzung der Verhandlung.
Am 8. November 2001 lehnte es das Landgericht Augsburg ab, die Verhandlung auszusetzen, und wies den Antrag des Beschwerdeführers, die Akte aus dem Parallelverfahren beizuziehen, als verfrüht zurück.
Am 6. Dezember 2001 stellte der Verteidiger erneut einen Antrag auf Beiziehung der Akten aus dem Parallelverfahren. Er behauptete, der Inhalt der Akten würde beweisen, dass der Beschwerdeführer bei den in Rede stehenden
Geschäften keine wesentliche Rolle gespielt habe. Er wies ferner darauf hin, dass mehrere Mitglieder der Konzerngeschäftsführung, die in dem Parallelverfahren zusammen mit dem Beschwerdeführer beschuldigt würden, als Zeugen
zu dem Verfahren vor dem Landgericht Augsburg geladen worden seien. Wirksame Vernehmungen dieser Zeugen seien aber nur möglich, wenn der Verteidigung vorher Einsicht in die Akten des Parallelverfahrens gewährt worden
sei. Mit Beschluss desselben Tages ordnete das Landgericht die Beiziehung der Akten an.
In ihrem Schreiben vom 12. Dezember 2001 legte die Staatsanwaltschaft Düsseldorf dar, dass es gegen die Akteneinsicht der zuständigen Kammer am Landgericht Augsburg zwar keine Bedenken gebe, der Antrag des Verteidigers des
Beschwerdeführers auf Akteneinsicht jedoch nach § 147 Abs. 2 Strafprozessordnung (StPO, siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht") zurückzuweisen sei, da die Ermittlungen in dem gesonderten Verfahren noch nicht
abgeschlossen seien und die Freigabe der übrigen Unterlagen den Untersuchungszweck gefährden könnte. Dies sei insbesondere deshalb der Fall, weil der Beschwerdeführer in beiden Verfahren von demselben Rechtsanwalt vertreten
werde. Das Landgericht Augsburg sah daher davon ab, die Akte beizuziehen.
In den Verhandlungen am 13. Dezember 2001 sowie am 8. und 10. Januar 2002 stellte der Verteidiger des Beschwerdeführers weitere Anträge, mit denen er begehrte, die Vernehmungen der Zeugen, die gleichzeitig Beschuldigte in
dem parallelen Ermittlungsverfahren waren, auszusetzen, bis die Verteidigung Gelegenheit gehabt habe, die Akten in jenem Verfahren einzusehen. Er behauptete, dass dies notwendig sei, um die Zeugenvernehmungen vorzubereiten
und den Umfang des Rechts der Zeugen, Aussagen zu verweigern und sich nicht selbst zu belasten, zu bestimmen, da sie in dem parallelen Ermittlungsverfahren auch Beschuldigte seien. Unter Bezugnahme auf die Verweigerung der
Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft Düsseldorf lehnte das Landgericht diese Anträge ab und vernahm die Zeugen. Das Landgericht wies darauf hin, dass es jederzeit möglich sei, die Zeugen zu einem späteren Zeitpunkt erneut
zu laden.
Am 17. Januar 2002 lehnte das Landgericht die Anträge auf Beschlagnahme der Akten aus dem Parallelverfahren, die der Beschwerdeführer und das mitbeschuldigte Vorstandsmitglied am 8. Januar 2002 gestellt hatten, ab. Das
Gericht legte dar, dass aus dem Rechtsgrundsatz des § 96 StPO in Verbindung mit Art. 35 Grundgesetz (GG, siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht") folge, dass eine Beschlagnahme der Akten nur dann möglich wäre, wenn die
Staatsanwaltschaft ihre Weigerung, Akteneinsicht zu gewähren, nicht hinreichend begründet hätte. In der vorliegenden Rechtssache habe die Staatsanwaltschaft Düsseldorf ihre Entscheidung jedoch auf § 147 Abs. 2 StPO gegründet,
der besage, dass dem Verteidiger die Einsicht in die Akten eines laufenden Ermittlungsverfahrens versagt werden könne, wenn deren Freigabe den Untersuchungszweck gefährden könnte. Diese Bestimmung sei als lex specialis zu §
96 StPO anzusehen. Darüber hinaus deute nichts darauf hin, dass die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, die Akteneinsicht zu versagen, willkürlich oder rechtswidrig gewesen sei. Angesichts der Weigerung der Staatsanwaltschaft
Düsseldorf, dem Verteidiger Akteneinsicht zu gewähren, habe das Landgericht insgesamt davon abgesehen, die Akten beizuziehen, da eine Akteneinsicht allein durch das Gericht die Rechte der Verteidigung verletzen würde.
Am 5. Februar 2002 lehnte das Landgericht einen weiteren Antrag auf Aussetzung der Verhandlung ab, den der Beschwerdeführer am 29. Januar 2002 gestellt hatte. Das Gericht legte dar, dass die Tatsache, dass es nicht möglich sei,
die gesamte Akte beizuziehen, eine Aussetzung der Verhandlung nicht rechtfertige, da sich das Verfahren in Düsseldorf auf andere Steuerhinterziehungsvorwürfe und andere Steuerschuldner beziehe. Das Landgericht wies jedoch
darauf hin, dass es zwar nicht möglich sei, die gesamte Akte aus dem Parallelverfahren beizuziehen, jedoch nichts den Beschwerdeführer und die Strafverfolgungsbehörden daran hindere, den Formerfordernissen entsprechende
Anträge zu stellen, um bestimmte Unterlagen oder andere in der Akte enthaltene Beweismittel zu erhalten.
Am 19. Februar 2002 beantragte der Beschwerdeführer erneut die Beschlagnahme der gesamten Akte aus dem Parallelverfahren, beschränkte seinen Antrag diesmal jedoch hilfsweise auf jene Unterlagen, die aufgrund des
Durchsuchungsbeschlusses des Amtsgerichts Düsseldorf vom 5. Juni 2000 bei ihm selbst beschlagnahmt worden waren, sowie auf sämtliche Unterlagen, die im Zusammenhang mit einer unabhängigen Untersuchung der Sache durch
eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft und eine Anwaltssozietät erstellt worden waren. Mit Beschluss vom 5. März 2002 gab das Landgericht dem Hilfsantrag des Beschwerdeführers statt und bat die Staatsanwaltschaft Düsseldorf um
Prüfung, ob die Freigabe der benannten Unterlagen möglich sei.
Die Staatsanwaltschaft Düsseldorf willigte am 25. März 2002 ein, die benannten Unterlagen freizugeben, und kündigte an, dass im August 2002 Einsicht in die gesamte Akte und die restlichen Unterlagen gewährt werden würde.
Mit Beschluss vom 4. April 2002 ordnete das Landgericht die Beschlagnahme der in seinem Beschluss vom 5. März 2002 benannten Unterlagen mit der Begründung an, dass sie als Beweismittel in dem Verfahren wichtig sein
könnten, und die Verteidigung hatte anschließend Gelegenheit, die angeforderten Unterlagen zu prüfen.
Am 23. Juli 2002 verurteilte das Landgericht Augsburg den Beschwerdeführer wegen Steuerhinterziehung in drei Fällen sowie Untreue zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren.
2. Das Verfahren vor dem Bundesgerichtshof
Mit Schriftsätzen vom 28. Februar 2003 und 22. Juni 2004 legte der Beschwerdeführer gegen das Urteil des Landgerichts Revision zum Bundesgerichtshof ein. Er rügte u.a., dass er durch die Weigerung des Landgerichts, die Akte zu
beschlagnahmen und das Verfahren auszusetzen, bis die gesamte Akte zur Verfügung stehe, an einer wirksamen Verteidigung gehindert worden sei, was eine Verletzung seines nach dem Grundgesetz und der Konvention garantierten
Rechts auf ein faires Verfahren darstelle. Nach § 96 StPO sei das Landgericht verpflichtet gewesen, zu der Frage, ob die Verweigerung der Akteneinsicht gerechtfertigt sei, eine Entscheidung des Justizministeriums des Landes
Nordrhein-Westfalen in seiner Eigenschaft als vorgesetzte Dienstbehörde der Staatsanwaltschaft Düsseldorf einzuholen. § 147 Abs. 2 StPO befasse sich nicht mit einer Verweigerung der Akteneinsicht in gesondert geführten
Verfahren und sei auf die vorliegende Rechtssache nicht anwendbar. Die Frage, ob § 147 Abs. 2 StPO lex specialis zu § 96 sei, sei von großer Bedeutung. Er behauptete ferner, dass die in der Akte enthaltenen Informationen gezeigt
hätten, dass er - entgegen den Feststellungen im Urteil des Landgerichts - bei den in Rede stehenden Geschäften keine verantwortungsvolle Rolle gespielt habe.
Mit Beschluss vom 11. November 2004 hob der Bundesgerichtshof (5 StR 299/03) das Urteil des Landgerichts im Hinblick auf die Bewertung des Schuldumfangs des Beschwerdeführers auf und verwies die Sache insoweit an eine
andere Kammer des Landgerichts zurück; damit folgte er den Erwägungen des Generalbundesanwalts. Gleichzeitig wies der Bundesgerichtshof u.a. die Rüge des Beschwerdeführers, durch die unterbliebene Aktenbeiziehung aus dem
Parallelverfahren sei seine Verteidigung in einem wesentlichen Punkt beschränkt worden, als unzulässig zurück.
Es sei zweifelhaft, ob der Beschwerdeführer diese Rüge nach § 338 Nr. 8 in Verbindung mit § 344 Abs. 2 StPO hinreichend substantiiert habe. Der Beschwerdeführer habe nicht dargetan, dass ein Zusammenhang zwischen dem
geltend gemachten Verfahrensfehler und der Begründung des landgerichtlichen Urteils bestehe. Sobald der Beschwerdeführer Einsicht in einen Teil der Akten erhalten habe, wäre er verpflichtet gewesen, darzulegen, welche fehlenden
Informationen für seine Verteidigung wesentlich wären. Darüber hinaus wäre der Verteidiger verpflichtet gewesen, seine Bemühungen um Freigabe der gesamten Akten bis zum Ablauf der Frist zur Erhebung der Revision
fortzusetzen, um in seinen Vorbringen vor dem Bundesgerichtshof darlegen zu können, dass die versagten Teile der Akte Informationen enthielten, die für die Verteidigung bedeutend seien. Die Schriftsätze des Beschwerdeführers
würden jedoch nur theoretische Schlüsse auf den möglicherweise relevanten Inhalt der Akten enthalten.
Des Weiteren bestätigte der Bundesgerichtshof, dass § 147 Abs. 2 StPO lex specialis zu § 96 StPO sei. Bei der Entscheidung über die Gewährung der Akteneinsicht müsse die Staatsanwaltschaft Düsseldorf das Interesse des
Beschuldigten an einer wirksamen Verteidigung in dem Verfahren vor dem Landgericht Augsburg gegen die Notwendigkeit abwägen, die Akten in dem Ermittlungsverfahren geheim zu halten, und könne beispielsweise Einsicht in
einen Teil der Akten gewähren. In der vorliegenden Rechtssache wäre eine gerichtliche Überprüfung der Versagung der Akteneinsicht durch die Staatsanwaltschaft in analoger Anwendung von u.a. § 147 Abs. 5 StPO erwägenswert.
Das Landgericht seinerseits habe die Freigabe der Informationen zu erstreben gehabt, die für das Verfahren und die wirksame Verteidigung des Beschwerdeführers entscheidend seien. Der Bundesgerichtshof wies auch darauf hin, dass
dem Beschwerdeführer auf dessen besonderen Wunsch hin tatsächlich ein Teil der Akten zugänglich gemacht worden sei und dass nichts darauf hindeute, dass die Verweigerung der Einsicht in den Rest der Akten durch die
Staatsanwaltschaft willkürlich gewesen sei. Auch gebe es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass besondere Umstände der Rechtssache eine Aussetzung des Verfahrens vor dem Landgericht bis zur Freigabe der gesamten Akten
erforderlich gemacht hätten.
3. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht
Mit Beschluss vom 6. September 2005 (2 BvR 10/05), der dem Beschwerdeführer am 21. September 2005 zugestellt wurde, lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur
Entscheidung anzunehmen.
Es stellte fest, dass seine Rüge hinsichtlich der unterbliebenen Beschlagnahme von Unterlagen der Staatsanwaltschaft Düsseldorf durch das Landgericht unzulässig sei, da der Beschwerdeführer diesbezüglich nicht die geeigneten
prozessualen Möglichkeiten des innerstaatlichen Rechtswegs erschöpft habe. Er habe es versäumt, konkrete Beweisanträge zu stellen, obwohl das Landgericht auf diese Möglichkeit hingewiesen habe und obwohl die
Staatsanwaltschaft Düsseldorf dem Beschwerdeführer Einsicht in einen Teil der Akten gewährt habe. Er habe insbesondere die Möglichkeit gehabt, all jene Unterlagen einzusehen, die Gegenstand seiner Anträge vom 29. Januar und
19. Februar 2002 gewesen seien. Aus diesem ihm zur Verfügung gestellten Material hätte es ihm möglich sein müssen, zu begründen, welche weiteren konkreten Beweismittel für seine Verteidigung notwendig wären. Da das
Verfahren bis Ende Juli 2002 gedauert habe, hätte er weitere entsprechende Beweisanträge stellen können. Allerdings habe der Beschwerdeführer die Vorwürfe hinsichtlich bestimmter Beweismittel erstmals vor dem
Bundesgerichtshof erhoben.
Das Bundesverfassungsgericht wies ferner darauf hin, dass die Staatsanwaltschaft Düsseldorf für August 2002 die Freigabe der gesamten Akten angekündigt habe und dass das Urteil des Landgerichts Augsburg am 23. Juli 2002
verkündet worden sei. Der Beschwerdeführer hätte, anstatt anschließend Revision gegen das erstinstanzliche Urteil einzulegen, die Aussetzung des auf den 23. Juli 2002 anberaumten Verhandlungstermins beantragen können, wodurch
er die behauptete Grundrechtsverletzung verhindert hätte.
Das Bundesverfassungsgericht befand darüber hinaus, dass die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers unzulässig sei, da er nicht, wie nach § 23 Abs. 1 und § 92 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) erforderlich,
dargelegt habe, dass das angegriffene Urteil auf der geltend gemachten Grundrechtsverletzung beruhe. In seinen Vorbringen vor dem Bundesgerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht habe er nicht hinreichend dargelegt, dass
sich aus der Verwertung der Aktenteile, die in dem Verfahren vor dem Landgericht nicht zur Verfügung gestanden hätten, eine andere Beurteilung der Sache durch dieses Gericht ergeben hätte, obwohl er nach Abschluss der
Hauptverhandlung vor dem Landgericht Augsburg offensichtlich Einsicht in den zurückgehaltenen Teil der Akten gehabt habe.
4. Weitere Entwicklungen
Das gesondert geführte Ermittlungsverfahren hinsichtlich der Hinterziehung von Körperschaft- und Gewerbesteuer (28 Js 158/00) hat die Staatsanwaltschaft Düsseldorf am 10. Juni 2005 ausgesetzt.
Nachdem der Bundesgerichtshof das Verfahren über die Vorwürfe der Untreue und der Einkommensteuerhinterziehung im Hinblick auf die Bewertung des Schuldumfangs des Beschwerdeführers zurückverwiesen hatte, reduzierte das
Landgericht Augsburg die Freiheitsstrafe des Beschwerdeführers mit Urteil vom 19. Dezember 2005 (501 Js 127135/95) auf zwei Jahre und sechs Monate.
Auf eine erneute Revision des Beschwerdeführers änderte der Bundesgerichtshof das Urteil des Landgerichts vom 19. Dezember 2005 mit Beschluss vom 10. Januar 2007 ab und reduzierte die Freiheitsstrafe des Beschwerdeführers
auf zwei Jahre, die zur Bewährung ausgesetzt wurden. Im Übrigen verwarf er die Revision des Beschwerdeführers als unbegründet.
In seiner mit Schreiben vom 23. Februar 2007 erhobenen Verfassungsbeschwerde machte der Beschwerdeführer unter anderem eine Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren geltend; er begründete diese Behauptung anders als
in der vorliegenden Individualbeschwerde. Das zuletzt genannte Verfahren ist noch beim Bundesverfassungsgericht anhängig.
B. Das einschlägige innerstaatliche Recht
Nach Art. 35 Grundgesetz (GG) leisten sich alle Behörden des Bundes und der Länder gegenseitig Rechts- und Amtshilfe.
§ 96 StPO sieht vor, dass die Vorlegung von Akten oder anderen in amtlicher Verwahrung befindlichen Schriftstücken durch Behörden und öffentliche Beamte nicht gefordert werden darf, wenn deren oberste Dienstbehörde erklärt,
dass das Bekanntwerden des Inhalts dieser Akten oder Schriftstücke dem Wohl des Bundes oder eines deutschen Landes Nachteile bereiten würde.
Nach § 147 Abs. 1 StPO ist der Verteidiger befugt, die Akten, die dem Gericht vorliegen oder diesem im Falle der Erhebung der Anklage vorzulegen wären, einzusehen und Beweisstücke zu besichtigen. Nach Absatz 2 dieser
Bestimmung kann die Einsicht in die Akten oder einzelne Aktenstücke oder die Besichtigung der Beweisstücke bis zum Abschluss der Ermittlungen versagt werden, wenn deren Zweck andernfalls gefährdet wäre. Über die Gewährung
der Akteneinsicht entscheidet im vorbereitenden Verfahren die Staatsanwaltschaft, danach der Vorsitzende des mit der Sache befassten Gerichts (§ 147 Abs. 5).
Nach § 338 Nr. 8 StPO ist ein Urteil stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen, wenn die Verteidigung in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt durch einen Beschluss des Gerichts unzulässig beschränkt
worden ist. Nach § 344 Abs. 2 muss ein Beschwerdeführer, wenn er Verfahrensmängel rügt, die den Mangel enthaltenden Tatsachen angeben.
§ 23 BVerfGG sieht vor, dass Anträge, die das Verfahren einleiten, schriftlich beim Bundesverfassungsgericht einzureichen und zu begründen und die erforderlichen Beweismittel anzugeben sind. § 92 BVerfGG bestimmt, dass das
Recht, das verletzt sein soll, und die Handlung oder Unterlassung des Organs oder der Behörde, durch die der Beschwerdeführer sich verletzt fühlt, zu bezeichnen sind.
RÜGEN
Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention, dass sein Recht auf ein faires Verfahren verletzt worden sei, da er während des in Rede stehenden Strafverfahrens vor dem Landgericht Augsburg keine Einsicht in
die Akten des von der Staatsanwaltschaft Düsseldorf gesondert geführten Ermittlungsverfahrens, in dem es um dieselbe Sache gegangen sei, erhalten habe.
Er machte geltend, dass sein Recht auf wirksame Verteidigung folglich erheblich eingeschränkt worden sei, und dass das Verfahren nicht kontradiktorisch gewesen und der Grundsatz der Waffengleichheit verletzt worden sei.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
Der Beschwerdeführer rügte, dass er dadurch, dass das Landgericht Augsburg die Akten aus dem von der Staatsanwaltschaft Düsseldorf gesondert geführten Ermittlungsverfahren nicht herbeigezogen habe, an einer wirksamen
Verteidigung in dem Strafverfahren vor dem Landgericht Augsburg gehindert gewesen sei, was eine Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention darstelle.
Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Rüge des Beschwerdeführers eine Frage nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention sowie nach Artikel 6 Abs. 3 Buchst. b aufwerfen könnte, die wie folgt lauten:
„(1) „Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen ... von einem ... Gericht in einem fairen Verfahren ... verhandelt wird.
...
(3) Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte:
...
b) ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;
..."
Da die in Artikel 6 Abs. 3 enthaltenen Garantien besondere Aspekte des nach Absatz 1 vorgesehenen Rechts auf ein faires Verfahren darstellen, beschränkt der Gerichtshof seine Überprüfung auf die Frage, ob das Verfahren insgesamt
fair war (siehe Rowe und Davis ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 28901/95, Rdnr. 58, ECHR 2000-II).
Während Artikel 6 Abs. 1 grundsätzlich verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden der Verteidigung alle maßgeblichen, in ihrem Besitz befindlichen Beweismittel, die den Beschuldigten be- oder entlasten, offenlegen, kann es in
Einzelfällen notwendig sein, bestimmte Beweismittel zurückzuhalten, um ein wichtiges öffentliches Interesse zu schützen, das gegen die Rechte des Beschuldigten abgewägt werden muss (siehe Cornelis ./. Niederlande (Entsch.),
Individualbeschwerde Nr. 994/03, ECHR 2004-V (auszugsweise)).
Der Gerichtshof stellt fest, dass in der vorliegenden Rechtssache nicht die Staatsanwaltschaft Augsburg die Einsicht in Akten versagt hatte, die Gegenstand des Verfahrens vor dem Landgericht Augsburg waren, sondern die
Staatsanwaltschaft Düsseldorf die Einsicht in die Akten eines gesonderten Ermittlungsverfahrens versagt hat. In diesem gesonderten Verfahren war die Hauptverhandlung noch nicht eröffnet und § 147 Abs. 2 StPO sieht vor, dass die
Staatsanwaltschaften im Vorverfahren für die Entscheidung über die Freigabe der Akten zuständig sind. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die Staatsanwaltschaft nach § 147 Abs. 2 StPO die beantragte Einsicht in einen Teil der
Akten versagt hat, weil deren Freigabe den Erfolg der laufenden Ermittlungen gefährden könne. Der Gerichtshof erkennt an, dass strafrechtliche Ermittlungen effektiv geführt werden müssen, und dass dies bedeuten kann, dass ein Teil
der im Rahmen der Ermittlungen zusammen getragenen Informationen geheim zu halten ist, um zu verhindern, dass Tatverdächtige Beweismaterial manipulieren und den Gang der Rechtspflege untergraben (siehe G. A. ./.
Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 23541/94, Rdnr. 42, 13. Februar 2001).
In Fällen, in denen der Verteidigung aus Gründen des öffentlichen Interesses wichtige Beweismittel vorenthalten wurden, ist es nicht die Aufgabe des Gerichtshofs, darüber zu entscheiden, ob diese Vorenthaltung unbedingt
erforderlich war, da es grundsätzlich Sache der innerstaatlichen Gerichte ist, die ihnen vorliegenden Beweise zu würdigen. Insbesondere ist es nicht die Aufgabe des Gerichtshofs, sich mit der Auslegung des innerstaatlichen Rechts zu
befassen und in der vorliegenden Rechtssache über eine bestimmte Rangordnung im Hinblick auf §§ 96 und 147 Abs. 2 StPO oder deren Anwendung durch die innerstaatlichen Gerichte zu entscheiden (siehe u.a. Tejedor García ./.
Spanien, 16. Dezember 1997, Rdnr. 31, Urteils- und Entscheidungssammlung 1997-VIII).
Die Aufgabe des Gerichtshofs besteht vielmehr darin, zu beurteilen, ob der Entscheidungsprozess den Erfordernissen des kontradiktorischen Verfahrens und der Waffengleichheit so weit wie möglich entsprach und angemessene
Garantien zum Schutz der Interessen des Beschuldigten enthielt (siehe Rowe und Davis ./. Vereinigtes Königreich, a.a.O., Rdnr. 62).
Der Gerichtshof stellt in diesem Zusammenhang fest, dass - wie vom Bundesverfassungsgericht erwähnt - der Beschwerdeführer, der während des gesamten Verfahrens anwaltlich vertreten wurde, Gelegenheit gehabt hätte, einen
Antrag auf Aussetzung der Verhandlung vom 23. Juli 2002 - in der das erstinstanzliche Urteil erging - für weitere ein bis zwei Monate bis zur angekündigten Freigabe der Akten in dem Parallelverfahren zu stellen. Hierdurch hätte er
die behauptete Grundrechtsverletzung in dem Verfahren verhindern können, statt anschließend Revision gegen das erstinstanzliche Urteil einzulegen. Demnach hat der Beschwerdeführer nicht von den geeigneten und zur Verfügung
stehenden prozessualen Möglichkeiten des innerstaatlichen Rechtswegs Gebrauch gemacht, die einen angemessenen Schutz der Interessen der Verteidigung und des Beschuldigten gewährt hätten.
Der Gerichtshof ist in diesem Zusammenhang der Auffassung, dass es nicht Aufgabe des Landgerichts Augsburg war, die Verhandlung von Amts wegen auszusetzen. Die Staatsanwaltschaft Düsseldorf hatte dem Landgericht
Augsburg bereits vor Eröffnung der Hauptverhandlung vor dem Landgericht einen Teil der Akten aus dem Parallelverfahren, einschließlich Auswertungsberichte, auf dessen Antrag hin zur Verfügung gestellt und es ist unbestritten,
dass diese Unterlagen den Parteien in dem Verfahren zur Verfügung gestellt wurden. Der Gerichtshof stellt auch fest, dass das Landgericht im Laufe des Verfahrens einen weiteren Antrag auf Akteneinsicht stellte. Am 25. März 2002
gewährte die Staatsanwaltschaft Düsseldorf Einsicht in weitere vom Beschwerdeführer benannte Unterlagen; anschließend hatte der Verteidiger Gelegenheit, die angeforderten Unterlagen zu prüfen. Am selben Tag kündigte die
Staatsanwaltschaft Düsseldorf an, dass im August 2002 Einsicht in die gesamten Akten und die restlichen Unterlagen gewährt werden würde. Während das Landgericht den Beschwerdeführer auf die Möglichkeit hingewiesen hatte,
konkrete Beweisanträge zu stellen, versäumte es dieser, selbst nachdem er wie beantragt Einsicht in einen Teil der Akten erhalten hatte, darzutun, welche weiteren Beweismittel für seine Verteidigung benötigt würden. Das Landgericht
hatte daher keinen Grund zu der Annahme, dass die vorenthaltenen Informationen für die Verteidigung bedeutend seien.
Darüber hinaus gab es keine Hinweise darauf, dass die Verweigerung der Einsicht in den Rest der Akten durch die Staatsanwaltschaft willkürlich gewesen sei. Die anschließende Freigabe der Unterlagen deutet darauf hin, dass die
Staatsanwaltschaft die Interessen der Verteidigung und des Beschuldigten bei ihren jeweiligen Entscheidungen berücksichtigt hat und sie gegen die Notwendigkeit, die Akten in dem Ermittlungsverfahren geheim zu halten, abgewägt hat.
Der Gerichtshof stellt auch fest, dass der Bundesgerichtshof - in seiner Entscheidung, die Revision des Beschwerdeführers als unbegründet zurückzuweisen - und das Bundesverfassungsgericht - in seiner Entscheidung, seine
Verfassungsbeschwerde als unzulässig zu verwerfen - darauf hingewiesen haben, dass der Beschwerdeführer in seinen Vorbringen vor diesen Gerichten nicht dargelegt habe, dass sich aus der Verwertung der Aktenteile, die in dem
Verfahren vor dem Landgericht nicht zur Verfügung gestanden hätten, eine andere Beurteilung der Sache durch dieses Gericht ergeben hätte und dass das angegriffene Urteil auf einem mutmaßlichen Verfahrensfehler und einer
Grundrechtsverletzung beruhe, wie nach § 338 Nr. 8 und § 344 Abs. 2 StPO sowie § 23 Abs. 1 und § 92 BVerfGG erforderlich. Diese Gerichte wurden demnach daran gehindert, die prozessuale Bedeutung der vorenthaltenen
Aktenteile auf das Ergebnis des Verfahrens zu prüfen.
Der Gerichtshof stellt fest, dass die erforderliche Substantiierung eines solchen kausalen Zusammenhangs zwischen einem mutmaßlichen Verfahrensfehler und einer Grundrechtsverletzung nach deutschem Recht an sich eine
prozessuale Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Beschwerde vor dem Bundesgerichtshof oder dem Bundesverfassungsgericht ist. Der Gerichtshof erinnert diesbezüglich daran, dass ein Beschwerdeführer zur Erfüllung des
Erfordernisses der Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe nach Artikel 35 Abs. 1 der Konvention seine Rügen zumindest ihrem wesentlichen Inhalt nach vor den innerstaatlichen Gerichten geltend gemacht und die in den
innerstaatlichen Bestimmungen vorgesehenen Formerfordernisse beachtet haben muss (siehe Civet ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 29340/95, Rdnr. 41, ECHR 1999-VI).
Selbst unter der Annahme einer Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe stellt der Gerichtshof abschließend fest, dass dem Landgericht Augsburg von der Staatsanwaltschaft Düsseldorf zwar Einsicht in den Teil der Akten
angeboten wurde, welcher der Verteidigung vorenthalten wurde, das Landgericht das Angebot jedoch nicht wahrgenommen hat. Es hatte befunden, dass eine Einsicht in die Akten nur durch das Gericht den Erfordernissen eines fairen
Verfahrens widersprechen würde, und hatte die vorenthaltenen Aktenteile daher nicht in das Verfahren eingeführt. Sie standen weder dem Landgericht, noch der Staatsanwaltschaft Augsburg oder dem Beschwerdeführer zur
Verfügung. Demnach gehörten sie nicht zur Gerichtsakte, wurden nicht als Beweismittel gegen den Beschwerdeführer verwertet und waren für das Ergebnis des Verfahrens nicht bedeutend. Der Beschwerdeführer hatte auch
Gelegenheit, die Zeugen, die in dem Verfahren vernommen wurden, zu befragen. Das Landgericht hatte darauf hingewiesen, dass diese Zeugen zu einem späteren Zeitpunkt erneut geladen werden könnten, und hat damit angedeutet,
dass die Verteidigung die Möglichkeit haben würde, eine erneute Zeugenvernehmung zu beantragen, sollten im Laufe des Verfahrens neue Umstände eintreten.
Im Hinblick auf vorstehende Erwägungen stellt der Gerichtshof fest, dass der Entscheidungsprozess vor den innerstaatlichen Gerichten so weit wie möglich den Erfordernissen des kontradiktorischen Verfahrens und der
Waffengleichheit entsprach und angemessene Garantien zum Schutz der Interessen des Beschuldigten enthielt. Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof überzeugt, dass die Rechte der Verteidigung nicht in einem Maße
eingeschränkt waren, das mit den Garantien nach Artikel 6 der Konvention unvereinbar wäre.
Der Gerichtshof stellt daher fest, dass die Rüge der Beschwerdeführerin offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 und 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof die Beschwerde einstimmig für unzulässig. ..."
***
Ein Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung (Art. 10 I EMRK) ist nur gerechtfertigt, wenn er gesetzlich vorgesehen ist, ein berechtigtes Ziel verfolgt und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war (Art. 10 II EMRK).
Notwendig in diesem Sinne ist ein Eingriff, wenn er einem dringenden sozialen Bedürfnis entsprach. Bei Beurteilung dieser Frage haben die Vertragsstaaten einen gewissen Ermessensspielraum. Der Gerichtshof entscheidet
abschließend darüber, ob die von den Behörden und Gerichten eines Vertragsstaates zur Rechtfertigung des Eingriffs angeführten Gründe stichhaltig und ausreichend sind und ob der Eingriff verhältnismäßig zu dem verfolgten
berechtigten Ziel war. Die Freiheit der Meinungsäußerung ist für die demokratische Gesellschaft von grundlegender Bedeutung, insbesondere für die politische Auseinandersetzung, die im Mittelpunkt der demokratischen Gesellschaft
steht. Sie darf daher nicht ohne zwingende Gründe eingeschränkt werden. Sie gilt im Übrigen nicht nur für Informationen und Ideen, die günstig aufgenommen oder als unschädlich oder unwichtig angesehen werden, sondern auch für
Meinungsäußerungen, die verletzen, schockieren oder beunruhigen. Ganz allgemein darf jeder, der sich an einer öffentlichen Diskussion von allgemeinem Interesse beteiligt, bis zu einem gewissen Grad übertreiben und auch
provozieren, also in seinen Äußerungen über das hinausgehen, was sonst angemessen ist. Gewisse Grenzen dürfen allerdings nicht überschritten werden, insbesondere hinsichtlich des Schutzes des guten Rufs und der Rechte anderer.
So ist es von größter Bedeutung, gegen Rassendiskriminierung in all ihren Formen und Äußerungen anzugehen.. Die Äußerungen des Beschwerdeführers waren geeignet, ein negatives und alarmierendes Bild der muslimischen
Gemeinschaft in Frankreich zu vermitteln und bei den von ihm angesprochenen Franzosen Ablehnung und Feindschaft gegenüber den Muslimen zu bewirken. Die Gründe für seine Verurteilung waren im Ergebnis stichhaltig und
ausreichend. Trotz der erheblichen Höhe der gegen ihn verhängten Geldstrafe war die Verurteilung auch verhältnismäßig. Seine Beschwerde ist daher offensichtlich unbegründet und als unzulässig zurückzuweisen (Art. 35 III, IV
EMRK; EGMR, Entscheidung vom 20.04.2010 - 18788/09 zu EMRK Art. 6 I, 10, 35 III, IV, BeckRS 2011, 11836).
***
Art 6 I MRK ist auf das Verfahren der Überstellung von Verurteilten zum Zwecke der Strafvollstreckung in ihrem Heimatland grundsätzlich nicht anwendbar. Dies gilt allerdings dann nicht, wenn sich das Verfahren der Überstellung
auf eine Zusicherung bezieht, welche die Staatsanwaltschaft während des Strafverfahrens abgegeben hat. Die Frist zur Einlegung einer auf Art. 6 l MRK in seiner strafrechtlichen Bedeutung gestützten Individualbeschwerde beginnt
erst mit Festsetzung der Strafe. Daran fehlt es trotz Rechtskraft der innerstaatlichen Verurteilung, wenn die Beschwerde ein Überstellungsverfahren betrifft, dessen Ergebnis zu einer Umwandlung der Strafe führen kann. Art 6 l MRK
in seiner Ausprägung als Recht auf Zugang zu Gericht ist verletzt, wenn weder die Regierung des beklagten Staates noch dessen höchstes Gericht darlegen können, welcher innerstaatliche Rechtsbehelf einem Betroffenen zur
Verfügung gestanden hätte, um sich im Rahmen einer von ihm beantragten Überstellung in sein Heimatland gemB Art. 11 ÜberstÜbk gegen die Weigerung, ein solches Verfahren einzuleiten, zur Wehr zu setzen (EGMR, Urteil vom
01.04.2010 - 27804/05 zu MRK Art. 6, 35; ÜberstÜbk Art. 8, 9, 10, 11; EGGVG § 23, BeckRS 2011, 01465).
***
Die in Art. 6 II EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) garantierte Unschuldsvermutung erfasst das gesamte Strafverfahren unabhängig von seinem Ausgang. - Poncelet. Die Unschuldsvermutung garantiert jedem das Recht, nicht
als einer Straftat schuldig bezichtigt oder behandelt zu werden, bevor seine Schuld nicht gerichtlich festgestellt worden ist. Die Unschuldsvermutung wird verletzt, wenn Erklärungen oder Entscheidungen den Eindruck erwecken, der
Betroffene sei schuldig, oder wenn die Öffentlichkeit dazu veranlasst wird, an seine Schuld zu glauben, oder wenn die Beurteilung des zuständigen Richters vorweggenommen wird. Art. 6 EMRK garantiert kein Recht auf einen
bestimmten Ausgang des Strafverfahrens, also auch nicht auf eine Verurteilung oder einen Freispruch. Im vorliegenden Fall hat das belgische Berufungsgericht die Anklage trotz Verletzung der Unschuldsvermutung zugelassen und
das Verfahren wegen Verjährung eingestellt. Damit hat es den Eindruck erweckt, dass nur die Verjährung dem Angeklagten eine Verurteilung ersparen konnte. Das verletzt Art. 6 II EMRK (EGMR, Urteil vom 30.03.2010 - 44418/07
zu MRK Art. 6 II, BeckRS 2011, 04943):
„... Der 1952 geborene Bf. wohnt in Herstal/Belgien. Von Beruf Elektronikingenieur hatte er unterschiedliche Posten in der belgischen Verwaltung inne, zuletzt war er Generalinspektor im Amt für das Bauwesen und den Transport in
Namur. Er wurde dann in das Kabinett eines Ministers abgeordnet. Am 07.03.1994 wurde der Chefinspektor des Untersuchungsdienstes im Obersten Kontrollausschuss mit einer Untersuchung über Arbeiten zur Unterhaltung
elektrischer und elektromechanischer Einrichtungen der Straßen, Autobahnen, Tunnel und von Kunstwerken in der Provinz Lüttich beauftragt. Er nahm an, dass es dabei zu Unregelmäßigkeiten gekommen sei, und übermittelte aus den
Akten P und S mehrere Protokolle an die StA. Darin hieß es u. a., der Bf. habe bewusst jede geltende Regel für die Einstellung von Personal in der Verwaltung umgangen, Rechnungen seien ohne Überprüfung bezahlt worden und die
Bediensteten hätten dem Bf. offenbar nicht schaden wollen und seien Mittäter beim Betrug gewesen, weil Rechnungen zur Zahlung freigegeben worden seien, obwohl man gewusst habe, dass die Arbeiten nicht ausgeführt worden
waren. Der Bf. habe sich einseitig dafür eingesetzt, ein bestimmtes Unternehmen zu beauftragen, und habe von ihm Anweisungen entgegengenommen. Daraufhin wurde ein Ermittlungsverfahren gegen den Bf. eröffnet. Der
Ermittlungsrichter gab die Sache am 12.04.2005 an die StA ab, die den Bf. wegen Fälschung von Rechnungen und Angeboten sowie den Gebrauch gefälschter Urkunden, wegen Unterschlagung - hilfsweise Betrugs -, Bestechlichkeit,
weiter wegen Verhinderung oder Störung einer freien Versteigerung oder Ausschreibung anklagte. Die Kammer des LG Lüttich (chambre duconseil du tribunal correctionnel) beschloss am 07.09.2006 die Einstellung des Verfahrens u.
a. wegen seiner Dauer und der wiederholten Verletzung der Unschuldsvermutung. Auf Einspruch der StA erklärte die Kammer des BerGer. Lüttich (chambre des misesen accusation de la cour d'appel de Liège) am 15.01.2007 den
Einspruch für zulässig und behielt sich weitere Entscheidungen vor. Einwendungen gegen die Zulässigkeit der Anklage wegen Verletzung der Unschuldsvermutung und Überschreitung der angemessenen Frist seien unbegründet. Der
belgischeKassationshof wies die Revision des Bf. am 04.04.2007 zurück. Die Sache ging zurück an die Kammer des LG Lüttich, die mit Urteil vom 19.06.2009 entschied, das Verfahren sei nicht fair gewesen, denn der Ermittler sei
voreingenommen gewesen und habe die Rechte der Verteidigung verletzt. Außerdem sei das Verfahren nicht binnen angemessener Frist abgeschlossen worden. Auf die Berufung der StA hob das BerGer. Lüttich am 10.06.2009 das
angefochtene Urteil auf und erklärte die Anklage für zulässig, stellte das Verfahren aber wegen Verjährung ein.
Am 01.10.2007 hat der Bf. beim Gerichtshof Beschwerde eingelegt und Verletzung seines Rechts auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist nach Art. 6 I EMRK sowie Verletzung der Unschuldsvermutung nach Art. 6 II EMRK
gerügt. Der Gerichshof (II. Sektion) hat durch Urteil vom 30.03.2010 einstimmig die Beschwerde nach Art. 6 II EMRK für zulässig und im Übrigen für unzulässig erklärt, mit 4 : 3 Stimmen festgestellt, dass Art. 6 II EMRK verletzt ist
und Belgien nach Art. 41 EMRK verurteilt, an den Bf. binnen drei Monaten 5.000 Euro als Ersatz für Nichtvermögensschaden zu zahlen und 15.000 Euro als Ersatz für Kosten und Auslagen. ...
I. Behauptete Verletzung von Art.6 II EMRK
Der Bf. rügt eine Verletzung der Unschuldsvermutung, weil der Ermittler im Untersuchungsverfahren der Verwaltung voreingenommen gewesen sei und der Ermittlungsrichter auf die Art und Weise der Untersuchungen nicht reagiert
und so die Unregelmäßigkeiten gebilligt habe. Der Bf. beruft sich auf Art. 6 II EMRK. …
A. Zulässigkeit
Der Gerichtshof weist die Einrede der Regierung wegen Nichterschöpfung belgischer Rechtsbehelfe (Art. 35 I EMRK) zurück.
B. Begründetheit
Die Regierung macht (zusammengefasst) geltend, die Protokolle mit den umstrittenen Äußerungen seien nicht öffentlich gewesen. Deswegen sei die Unschuldsvermutung nicht in der Öffentlichkeit verletzt. Außerdem könnten die
Betroffenen insbesondere vor den Gerichten zu den Protokollen Stellung nehmen, die dann von den Richtern unparteiisch geprüft würden.
Der Bf. wirft der Regierung (zusammengefasst) vor, sie versuche zu Unrecht die Äußerungen der Ermittler zu verteidigen. Die umstrittenen Protokolle seien in den Gerichtsverfahren verwertet und deswegen öffentlich gewesen.
Außerdem seien Presseartikel darüber erschienen.
Die in Art. 6 II EMRK garantierte Unschuldsvermutung ist Teil des fairen Strafprozesses, wie ihn Art. 6 I EMRK verlangt (s. insbes. EGMR, 1980, Serie A, Bd. 35, S. 30 Nr. 56 = EGMR-E 1, 463 - Deweer/Belgien; EGMR, 1983,
Serie A, Bd. 62, S. 15 Nr. 27 = EGMR-E 2, 254 - Minelli/Schweiz; EGMR, 1995, Serie A, Bd. 308, S. 16 Nr. 35 = ÖJZ 1995, 509 - Allenet de Ribemont/Frankreich; EGMR, Slg. 1998-II Nr. 37 = ÖJZ 1999, 236 - Bernard/Frankreich).
Art. 6 II EMRK erfasst das gesamte Strafverfahren, unabhängig von seinem Ausgang, und nicht nur die Prüfung der Begründetheit einer Anklage (s. EGMR, 1983, Serie A, Bd. 62, S. 15 Nr. 30 = EGMR-E 2, 254 - Minelli/Schweiz).
Die Vorschrift garantiert jedem das Recht, nicht als einer Straftat schuldig bezeichnet oder behandelt zu werden, bevor seine Schuld gerichtlich festgestellt worden ist (s. mutatis mutandis EGMR, 1995, Serie A, Bd. 308, S. 16-17 Nrn.
35-36 = ÖJZ 1995, 509 - Allenet de Ribemont/Frankreich; EGMR, Urt. v. 28.10.2004 - 48173/99 Nr. 43 - Y.B. u. a./Türkei). Deswegen verlangt sie u. a., dass Richter bei ihrer Amtsausübung nicht von der vorgefassten Meinung
ausgehen, der Beschuldigte habe die ihm vorgeworfene Straftat begangen (s. EGMR, 1988, Serie A, Bd. 146 Nr. 77 = EGMR-E 4, 208 - Barberá, Messegué u. Jabardo/Spanien). Die Unschuldsvermutung wird durch Erklärungen oder
Entscheidungen verletzt, die den Eindruck erwecken, der Betroffene sei schuldig, die Öffentlichkeit dazu veranlassen, an seine Schuld zu glauben oder die Tatsachenbeurteilung durch den zuständigen Richter vorwegnehmen (s.
EGMR, Urt. v. 28.10.2004, 48173/99 Nr. 50 - Y.B. u. a./Türkei).
Der Gerichtshof teilt die Auffassung der Regierung, dass sich der vorliegende Fall von den genannten Sachen Allenet de Ribemont/Frankreich (EGMR, 1995, Serie A, Bd. 308 = ÖJZ 1995, 509) und Y.B. u. a./Türkei (EGMR, Urt. v.
28.10.2004 - 48173/99) unterscheidet, in denen er eine Verletzung der Unschuldsvermutung festgestellt hat, weil die Behörden Erklärungen öffentlich, nämlich in der Presse, abgegeben haben, welche die Öffentlichkeit dazu
veranlassten, an die Schuld des Bf. zu glauben, und die Beurteilung der Tatsachen durch die zuständigen Richter vorwegnahmen.
Die umstrittenen Protokolle waren die Grundlage der Anklageakte, die dazu führte, das Ermittlungsverfahren gegen den Bf. zu eröffnen. Es war der Chefinspekteur des Untersuchungsdiensts beim Obersten Kontrollausschuss des
Amtes für öffentliche Arbeiten, der diese Akten eingerichtet hatte. Um Urkunden eines Ermittlungsrichters oder eines Mitglieds eines richterlichen Spruchkörpers, der über den Bf. urteilen sollte, handelte es sich also nicht.
Die Kammer des LG Lüttich hat eine Verletzung der Unschuldsvermutung angenommen wegen der Haltung, die der Chefinspektor von Beginn an und während des gesamten Verfahrens eingenommen hatte, und die sich in
Bemerkungen niedergeschlagen hat, die nicht nur wenig objektiv, sondern deutlich parteilich waren. Das Ergebnis der Kammer war: ‚Es wird zwar nicht von Untersuchungsführern verlangt, dass sie für und gegen die Anklage
sprechende Gerichtspunkte ermitteln, sie dürfen sich aber auch nicht in Ankläger verwandeln und dadurch die Unschuldsvermutung verletzen.'
Im Zeitpunkt der Einlegung der Beschwerde war der Fall des Bf. allerdings noch nicht vor das Strafgericht gebracht worden. Es kann aber nicht nach Prüfung nur des Ermittlungsverfahrens darüber entschieden werden, ob die
Unschuldsvermutung verletzt ist, sondern es ist auch zu prüfen, ob der Bf. bei den Strafgerichten wirksam widersprechen konnte und ob die Gerichte alle ihm unterbreiteten Gesichtspunkte unparteilich geprüft haben, insbesondere die
von Ermittlern verfassten Protokolle. Angesichts des Zusammenhangs und des Verfahrensstadiums, in dem die genannten Erklärungen und Überlegungen verwendet wurden, fragt sich in der Tat, ob den Inspektor nicht die Frage der
Schuld des Bf., sondern eher interessierte, ob die Akten ausreichende Anhaltspunkte für eine Anklage enthielten.
Die Feststellungen des StrafgerichtsLüttich in seinem Urteil vom 19.06.2008 dürfen aber nicht übersehen werden. Danach hat der Inspektor beginnend mit seinem ersten Protokoll die ihm vom Bf. gegebenen Erklärungen außer Acht
gelassen. Er hatte für sich entschieden, dass mögliche Fehler der Verwaltung keine solchen waren, sondern vorsätzlich begangene Straftaten. Dieses Protokoll war aber die Grundlage für die Eröffnung des Ermittlungsverfahrens wegen
Urkundenfälschung und Bestechlichkeit, das dann auf der Grundlage dieses Vorurteils ablief. Das Strafgericht hatte entschieden, dass der Inspektor seine Untersuchung mit einer für den Bf. ungünstigen vorgefassten Meinung
eingeleitet hatte und dass die zum Ausdruck gebrachten Überlegungen nicht auf einer genauen Analyse der ihm bekannten Tatsachen beruhte, sondern auf dem Vorurteil des Inspektors. Das Gericht ist zum Ergebnis gekommen, dass
die Untersuchung unter Verletzung der Unschuldsvermutung und der Rechte der Verteidigung geführt worden ist.
Eine Prüfung der Akten zeigt in der Tat, dass der Inspektor seine Untersuchung mit dem Ziel der Anklage geführt hat, ohne die für eine Entlastung sprechenden Gesichtspunkte und die vom Bf. gegebenen Erklärungen zu
berücksichtigen. Im Übrigen zeigt die Verwendung bestimmter Ausdrücke im Teil P der Akten die parteiliche Einstellung des Inspektors: Er stelle z. B. fest, der Bf. habe ‚bewusst jede geltende Regelung umgangen', es habe ‚offenbar
die Absicht bestanden, P nicht zu schaden, und es habe eine Mittäterschaft bei seinem Betrug gegeben', weiter, dass ‚Grund für die Reisen … auf Rechnung des Lieferanten offenbar der war, eine angenehme Zeit zu verbringen'. Im
Teil S der Akten spricht der Inspektor von einer ‚von Poncelet inszenierten Maskerade' …
Auf den Einspruch der StA hat das BerGer. Lüttich diese Schlussfolgerungen des Strafgerichts bestätigt und das angefochtene Urteil am 10.06.2009 aufgehoben und die gegen den Bf. erhobene Anklage zugelassen, dann aber das
Verfahren wegen Verjährung eingestellt.
Art. 6 EMRK garantiert kein Recht auf ein bestimmtes Ergebnis eines Strafprozesses und also auch nicht auf eine Verurteilung oder einen Freispruch von der Anklage (s. EGMR, NJOZ 2011 ….. Nr. 68 - Kart/Türkei). Dass ein
Strafprozess nicht mit einer solchen ausdrücklichen Entscheidung abgeschlossen wird, ist keine Verletzung der Unschuldsvermutung (EGMR, Entsch. v. 26.08.2003 - 59493/00 - Withey/Vereinigtes Königreich).
Die Begründung des Urteils des BerGer. enthält zweifellos nichts, was den Eindruck erwecken könnte, das Gericht halte den Bf. für schuldig. Weil es aber das Urteil des Strafgerichts aufgehoben und die Anklage gegen den Bf.
zugelassen, sie allerdings gleichzeitig wegen Verjährung eingestellt hat, hat das BerGer. die Wirkungen der richterlichen Entscheidung vom 07.09.2006 und des Urteils des Strafgerichts aufgehoben, die eine Verletzung der
Unschuldsvermutung festgestellt hatten. Weil das Ermittlungsverfahren eingeleitet und trotz der Verletzung der Unschuldsvermutung und der Rechte der Verteidigung, wie vom Strafgericht festgestellt, aufrecht erhalten worden ist, hat
das Urteil des BerGer. zum Ausdruck gebracht, dass nur die Verjährung dem Bf. eine Verurteilung erspart hat.
Die Regierung beruft sich auf das Urteil Daktaras/Litauen (EGMR, Slg. 2000-X). Der vorliegende Fall unterscheidet sich aber davon in mindestens drei entscheidenden Punkten. Im Fall Daktaras ging es um eine Äußerung des StA,
die den Bf. für schuldig erklärt hatte, das Verfahren endete mit einer Verurteilung des Bf., und es hat anders als im vorliegenden Fall keine Justizbehörde oder Gericht zu irgendeiner Zeit eine Verletzung der Unschuldsvermutung des
Bf. anerkannt. Richtig ist, dass der Gerichtshof bei Prüfung der Unschuldsvermutung die Tatsachen, aus denen staatliche Gerichte der einen oder anderen These zuneigen, selbständig beurteilt. Es gibt aber im vorliegenden Fall keinen
Grund anzunehmen, dass die Feststellung des Strafgerichts Lüttich willkürlich war.
Aus diesen Gründen ist die in Art. 6 II EMRK garantierte Unschuldsvermutung des Bf. verletzt. ..."
***
Die Opfereigenschaft eines Beschwerdeführers i.S. von Art. 34 EMRK (Individualbeschwerden) hängt nicht davon ab, ob ihm ein Schaden entstanden ist. Das ist erst für Art. 41 EMRK (gerechte Entschädigung) von Bedeutung. . Es
verletzt nicht notwendig Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), wenn aus dem Schweigen des Angeklagten Schlüsse gezogen werden. Das kann insbesondere zulässig sein, wenn nach den Tatumständen und der Beweislage
eine Erklärung des Angeklagten eindeutig erwartet werden kann. . Auch die Unschuldsvermutung in Art. EMRK 6 II EMRK gilt nicht absolut, denn in jedem Strafrechtssystem gibt es Tatsachen- und Rechtsvermutungen, die nicht
grundsätzlich konventionswidrig sind, wenn sie sich in vernünftigen Grenzen halten. Im vorliegenden Fall hat das Gericht aus der Weigerung des Beschwerdeführers als Halter des Wagens, den Fahrer zu benennen, den Schluss
gezogen, dass er selbst gefahren sei. Der Beschwerdeführer hatte angegeben, er sei zur Tatzeit nicht in Österreich gewesen und könne den Fahrer nicht angeben, weil das Kraftfahrzeug regelmäßig von mehreren Personen benutzt
werde. Unter solchen Umständen ist es nicht der einzige nach gesundem Menschenverstand mögliche Schluss, dass der Beschwerdeführer selbst gefahren ist. Damit ist die Beweislast von der Anklage auf die Verteidigung verlagert
worden, obwohl die Anklage keinen überzeugenden prima facie-Beweis erbringen konnte. . Wenn das Gericht aus der Weigerung des Beschwerdeführers den Schluss ziehen wollte, er sei gefahren, hätte es ausreichende
Verfahrensgarantien geben, insbesondere mündlich verhandeln und den Beschwerdeführer befragen müssen (EGMR, Urteil vom 18.03.2010 - 13201/05, NJW 2011, 201).
***
Da eine überlange Verfahrensdauer aus Gründen der Betreuungskontinuität zu einer faktischen Entscheidung führen kann, sind Sorgerechtsverfahren, die den Aufenthalt des Kindes betreffen, auch als Scheidungsfolgesachen besonders
zügig durchzuführen (EGMR, Urteil vom 21.01.2010 - 42402, 42423-05, 42402, 42423/05, BeckRS 2010, 25709):
„... 2. The Court's assessment
57. The Court reiterates that the reasonableness of the length of proceedings must be assessed in the light of the circumstances of the case and with reference to the following criteria: the complexity of the case, the conduct of the
applicant and the relevant authorities and what was at stake for the applicant in the dispute (see, among many other authorities, Frydlender v. France [GC], no. 30979/96, § 43, ECHR 2000-VII). In cases relating to civil status, what is
at stake for the applicant is also a relevant consideration, and special diligence is required in view of the possible consequences which the excessive length of proceedings may have, notably on enjoyment of the right to respect for
family life (Laino v. Italy [GC], no. 33158/96, § 18, ECHR 1999-I).
58. The Court considers that the period to be taken into consideration began on 15 January 1998, when the applicant requested custody of J.M. and P., and ended on 9 May 2005, when the decision of the Federal Constitutional Court
was served on the applicant's counsel. It thus lasted more than seven years and three months for three levels of jurisdiction.
59. The Court considers that the custody proceedings were of some complexity due to the parties' animosity and the resulting considerable number of submissions lodged. However, what rendered the proceedings difficult for the
domestic courts and delayed the decision on custody was notably the fact that, as prescribed by Articles 622 et seq. of the Code of Civil Procedure (see paragraphs 46-47 above), the domestic courts took their decision on custody at the
same time as their decision on the parties' divorce and on all other ancillary matters.
60. As to the applicant's conduct, the Court considers that he contributed to the delays in the custody proceedings to a certain extent, in particular by absconding with J.M. and P. and by refusing to comply with the District Court's
request to bring them along to the hearing in July 1999. Moreover, by lodging his request to apportion the increase in the spouses' assets during their marriage only at an advanced stage of the proceedings, he delayed the District
Court's decision on custody, which the latter had decided to take at the same time as that on divorce and all other ancillary matters. The fact that the applicant lodged an appeal against the District Court's partial judgment which he
subsequently withdrew also prolonged the proceedings. Furthermore, having regard to the applicant's submissions to the District Court of 1 June 1999 and of 9 August 2001 (see paragraphs 12 and 29 above), the Court is satisfied that
the applicant lodged a request by reference to Article 623 § 2 of the Code of Civil Procedure. He had thus put the District Court in a position to separate the custody proceedings from the remainder of the proceedings. However, it was
clear from the wording of his requests and their reasoning that the applicant intended to accelerate his divorce and a separate decision on custody only would probably not have served this aim.
61. As to the conduct of the domestic courts, the Court observes that, whereas the custody proceedings were conducted with due diligence by the Court of Appeal and the Federal Constitutional Court, they were pending before the
District Court for more than five years and five months. As the Government essentially admitted themselves, the proceedings had been delayed at first instance following the hearing in September 1998 until May 1999 and had not been
examined on the merits between November 1999 and December 2000. Furthermore, the proceedings had not been furthered between January 2002 and March 2003 following two changes in the judge to whom the case was assigned.
Moreover, as indicated above, the decision on custody alone was delayed due to the fact that the District Court, as provided by the Code of Civil Procedure, took a decision on the divorce and all ancillary matters simultaneously. The
Court reiterates in this connection that Article 6 § 1 imposes on the Contracting States the duty to organise their judicial systems in such a way that their courts can meet each of its requirements, including the obligation to hear cases
within a reasonable time (see, among many other authorities, Süßmann v. Germany, 16 September 1996, § 55, Reports of Judgments and Decisions 1996-IV; Scordino v. Italy (no. 1) [GC], no. 36813/97, § 183, ECHR 2006-V; and
Cocchiarella v. Italy [GC], no. 64886/01, § 74, ECHR 2006-V). The Court accepts that it may, as a rule, be in the interest of the proper administration of justice to decide on all matters linked to the divorce of a couple simultaneously.
Nevertheless, it finds that special diligence was required because of the decision on custody (compare, inter alia, Nuutinen v. Finland, no. 32842/96, § 110, ECHR 2000-VIII, and Niederböster v. Germany, no. 39547/98, § 39, ECHR
2003-IV (extracts)) as excessive duration of custody proceedings may lead to a de facto decision on custody for reasons of continuity. In view of the foregoing, the length of the custody proceedings failed to meet the "reasonable time" requirement.
62. There has accordingly been a breach of Article 6 § 1.
II. ALLEGED VIOLATION OF ARTICLE 13 OF THE CONVENTION
63. The applicant further complained that he had not had an effective remedy in domestic law to complain about the unreasonable duration of the custody proceedings. He relied on Article 13 of the Convention in this respect, which provides:
"Everyone whose rights and freedoms as set forth in [the] Convention are violated shall have an effective remedy before a national authority notwithstanding that the violation has been committed by persons acting in an official capacity."
A. Admissibility
64. The Court notes that this complaint, which is linked to the one examined above, is not manifestly ill-founded within the meaning of Article 35 § 3 of the Convention. It further notes that it is not inadmissible on any other grounds.
It must therefore likewise be declared admissible.
B. Merits
65. The applicant referred to the Court's findings in the case of Sürmeli v. Germany ([GC], no. 75529/01, ECHR 2006-VII) to the effect that there was no effective remedy in the German legal system to complain about the length of
civil proceedings. Germany had to date failed to execute that judgment by introducing an effective preventive or compensatory remedy. In particular, he had not been able to obtain redress before the Court of Appeal or the Federal
Constitutional Court.
66. The Government conceded that an effective domestic remedy to complain about the duration of civil proceedings had not yet been created. Germany was still called upon to execute the Court's judgment in the case of Sürmeli
(cited above) of 8 June 2006 in this respect. However, there was still a need for consultation between the Federal Government and Parliament on the manner in which such a remedy should work.
As confirmed by Chancellor Angela Merkel on her visit to the Court in April 2008, the authorities' work on creation of such a remedy was being pursued intensively.
67. The Court reiterates that Article 13 guarantees an effective remedy before a national authority for an alleged breach of the requirement under Article 6 § 1 to hear a case within a reasonable time (see Kudla v. Poland [GC], no.
30210/96, § 156, ECHR 2000-XI). In respect of German law it found that there was no effective remedy providing adequate redress for the excessive duration of pending civil proceedings (see Sürmeli, cited above, §§ 103 et seq.) and
of terminated civil proceedings (see Herbst v. Germany, no. 20027/02, §§ 63 et seq., 11 January 2007).
68. The Court, having regard to the parties' submissions and to its above case-law, concludes that the applicant had not had at his disposal an effective remedy in German law to deal with his arguable complaint under Article 6 about
the unreasonable duration of the custody proceedings.
It takes note of the Government's submissions concerning the legislative procedure to introduce an appropriate remedy in order to execute the Court's previous judgments. This procedure has now been under way for quite a
considerable time. The Court again (see Sürmeli, cited above, §§ 136-139, and Bähnk v. Germany, no. 10732/05, § 45, 9 October 2008) encourages the respondent State to speedily enact a law introducing an effective remedy capable
of affording adequate redress for the unreasonable length of civil proceedings in order to comply with its obligation under Article 46 of the Convention.
69. Accordingly, there has been a violation of Article 13.
III. APPLICATION OF ARTICLE 41 OF THE CONVENTION
70. Article 41 of the Convention provides:
"If the Court finds that there has been a violation of the Convention or the Protocols thereto, and if the internal law of the High Contracting Party concerned allows only partial reparation to be made, the Court shall, if necessary, afford
just satisfaction to the injured party."
A. Damage
71. The applicant claimed at least 25,000 euros (EUR) in respect of non-pecuniary damage. He argued that the duration of the custody proceedings, during which he had been uncertain about their outcome and which had to be treated
with particular diligence, and the fact that he had not had any remedy to accelerate these proceedings, had caused him considerable distress. Moreover, Germany had failed to comply with its obligation under Article 1 of the
Convention to implement the Court's findings in the case of Kudla (cited above) in due time. Therefore, the sum awarded should be higher than usually for reasons of general prevention.
72. The Government did not comment on the applicant's claim.
73. The Court considers that the applicant must have sustained non-pecuniary damage. Ruling on an equitable basis, it awards award him EUR 4,500 under that head, plus any tax that may be chargeable.
B. Costs and expenses
74. The applicant, who submitted documentary evidence, also claimed EUR 2,861.18 (including VAT) for counsel's fees and expenses incurred before the domestic courts in the proceedings for failure to act brought in May 2001
before the Celle Court of Appeal and in the proceedings before the Federal Constitutional Court. He further claimed EUR 3,365.56 (including VAT) for costs incurred before the Court concerning his complaints under Article 6 and
Article 13. These included EUR 3,118.22 (including VAT) for counsel's fees and expenses and EUR 247.34 for copy and mailing costs incurred by the applicant in person.
75. The Government did not make any observations on that point.
76. According to the Court's case-law, an applicant is entitled to the reimbursement of costs and expenses only in so far as it has been shown that these have been actually and necessarily incurred and are reasonable as to quantum. In
the present case, regard being had to the information in its possession and the above criteria, the Court considers it reasonable to award the sum of EUR 5,000 covering costs and expenses under all heads, plus any tax that may be
chargeable to the applicant.
C. Default interest
77. The Court considers it appropriate that the default interest should be based on the marginal lending rate of the European Central Bank, to which should be added three percentage points.
FOR THESE REASONS, THE COURT UNANIMOUSLY
1. Declares the remainder of the applications admissible;
2. Holds that there has been a violation of Article 6 § 1 of the Convention;
3. Holds that there has been a violation of Article 13 of the Convention;
4. Holds
(a) that the respondent State is to pay the applicant, within three months from the date on which the judgment becomes final in accordance with Article 44 § 2 of the Convention,
(i) EUR 4,500 (four thousand five hundred euros), plus any tax that may be chargeable, in respect of non-pecuniary damage;
(ii) EUR 5,000 (five thousand euros), plus any tax that may be chargeable to the applicant, in respect of costs and expenses;
(b) that from the expiry of the above-mentioned three months until settlement simple interest shall be payable on the above amounts at a rate equal to the marginal lending rate of the European Central Bank during the default period
plus three percentage points;
5. Dismisses the remainder of the applicant's claim for just satisfaction.
Done in English, and notified in writing on 21 January 2010, pursuant to Rule 77 §§ 2 and 3 of the Rules of Court. ..."
***
!... 45. Der Gerichtshof erinnert an seine Rechtsprechung, derzufolge Artikel 6 Absatz 1 der Konvention jeder Person einen Anspruch auf Zugang zum Recht garantiert, dessen logische Folge das Recht auf Vollstreckung
rechtskräftiger Gerichtsentscheidungen ist ( Hornsby ./. Griechenland , Urteil vom 19. März 1997, Urteils- und Entscheidungssammlung 1997-II, Rdnr. 40). Im vorliegenden Fall ging es um die Vollstreckung von Urteilen, die eine
Einzelperson aufgrund des Systems zu einer Zahlung verpflichten, das durch das von den beiden Staaten unterzeichnete New Yorker Übereinkommen von 1956 eingeführt wurde. Obgleich die Haftung der Staaten in dieser Hinsicht
wegen Nichtbegleichung einer vollstreckbaren Forderung aufgrund der Zahlungsunfähigkeit eines „privaten" Schuldners nicht greifen kann (siehe, mutatis mutandis, Sanglier ./. Frankreich , Nr. 50342/99, Rdnr. 39, 27. Mai 2003,
Ciprova ./. Tschechische Republik (Entsch.), Nr. 33273/03, 22. März 2005, und Cuba(nit ./. Rumänien (Entsch.), Nr. 31510/02, 4. Januar 2007), haben sie dennoch die positive Verpflichtung, ein System einzuführen, das sowohl in
praktischer als auch rechtlicher Hinsicht wirksam ist und die Vollstreckung rechtskräftiger Gerichtsentscheidungen zwischen Privatpersonen sicherstellt ( Fouklev ./. Ukraine , Nr. 71186/01, Rdnr. 84, 7. Juni 2005). Die Haftung der
Staaten bezüglich der Vollstreckung eines Urteils durch eine privatrechtliche Person kann folglich greifen, wenn die an dem Vollstreckungsverfahren beteiligten öffentlichen Behörden nicht mit der gebotenen Sorgfalt gehandelt haben
oder aber die Vollstreckung verhindern (vorerwähnte Rechtssache Fouklev , Rdnr. 67). Die Aufgabe des Gerichtshofs besteht daher einzig darin zu prüfen, ob vorliegend die von den rumänischen und deutschen Behörden zwecks
Vollstreckung der drei Entscheidungen, mit denen K.A. zur Zahlung der Unterhaltsrente verpflichtet wird, getroffenen Maßnahmen, angemessen und ausreichend waren ( Ruianu ./. Rumänien , Nr. 34647/97, Rdnr. 66, 17. Juni 2003).
46. Der Gerichtshof stellt fest, dass zugunsten des Beschwerdeführers drei rechtskräftige Entscheidungen durch die rumänischen Gerichte ergangen sind, mit denen die Zahlung der Unterhaltsrente durch K.A. angeordnet wurde.
Obgleich er aus diesem Grund Zahlungen erhalten hat, trägt er vor, diese Zahlungen seien nur teilweise erfolgt, und beklagt sich über die derzeit bestehende Unmöglichkeit, seinen Unterhalt geltend zu machen. Der Gerichtshof weist
darauf hin, dass das New Yorker Übereinkommen ein Verfahren für die Zusammenarbeit eingeführt hat, wonach die zuständigen, von den beiden Unterzeichnerstaaten benannten Behörden die erforderlichen Schritte unternehmen, um
den Schuldner bei der Geltendmachung seines Unterhaltsanspruchs zu unterstützen. Die Haftung eines jeden Staates greift hinsichtlich des Übereinkommens wegen der Folgen der nach diesem Übereinkommen eingegangenen
Verpflichtungen (siehe die Artikel 6 und 1 Absatz 2 des New Yorker Übereinkommens, Rdnr. 33), d.h. die Unterstützung des Gläubigers bei der Herbeiführung der Unterhaltsleistung durch hierzu geeignete Schritte, einschließlich der
nach seinem innerstaatlichen Recht vorgesehenen Maßnahmen.
47. Mit Blick auf die Umstände des vorliegenden Falles vertritt der Gerichtshof die Auffassung, dass die Übermittlungsstelle und die Empfangsstelle, die mit besonderen Befugnissen ausgestattet sind, sorgfältig gehandelt haben. So
lassen das Verfahren zur Übermittlung der für die Geltendmachung des Unterhaltsanspruchs durch das rumänische Ministerium erforderlichen Unterlagen und anschließend die vom deutschen Bundesverwaltungsamt zu diesem Zweck
ergriffenen Maßnahmen keine Phasen der Untätigkeit erkennen. Es sind zwar dennoch gewisse Verzögerungen im Rahmen des Zusammenarbeitsverfahrens feststellbar (Rdnrn. 22 und 27), doch sind die im vorliegenden Fall
verstrichenen Fristen nicht unangemessen gewesen, angesichts der Komplexität dieses Verfahrens, das eine ständige Zusammenarbeit zwischen diesen Behörden und dem Beschwerdeführer bzw. K.A. erfordert.
48. Hinsichtlich der konkreten Umsetzung der Maßnahmen im Rahmen der Erfüllung ihrer Aufgaben unterscheidet der Gerichtshof zunächst zwischen den beiden in Rede stehenden Behörden.
Der Gerichtshof stellt in Bezug auf das rumänische Ministerium (das als Übermittlungsstelle fungiert) fest, dass dieses auf Ersuchen des Beschwerdeführers jedes Mal die erforderlichen Unterlagen der Empfangsstelle übersandt und
sich anschließend nach dem Fortgang des Verfahrens erkundigt hat (siehe Rdnrn. 21, 24, 25, 27, 29). Der Gerichtshof stellt keine Versäumnisse durch das rumänische Ministerium in seiner Funktion als Empfangsstelle fest, die das
von dem Beschwerdeführer betriebene Vollstreckungsverfahren hätten beeinträchtigen können.
49. Hinsichtlich des Bundesverwaltungsamtes merkt der Gerichtshof an, dass dieses seinerseits ebenfalls das Verfahren und die wirtschaftlichen Verhältnisse von K.A. unter Berücksichtigung der in Bezug auf den Beschwerdeführer
aufgelaufenen Rückstände genau verfolgt hat. Soweit die Schuldnerin auf Schwierigkeiten stieß und nicht über die erforderlichen Mittel verfügte, um ihre Schuld zu begleichen, insbesondere aufgrund der Erkrankung ihres
Ehemannes, kann der deutsche Staat nicht verantwortlich gemacht werden. Wenn das Bundesverwaltungsamt beschlossen hat, das Verfahren aus diesem konkreten Grund abzuschließen, steht dieses Vorgehen dem Gerichtshof zufolge
weder seinen Verpflichtungen nach dem New Yorker Übereinkommen, das zu Lasten der Empfangsstelle nur die geeigneten Schritte vorsieht, um die Leistung von Unterhalt herbeizuführen, noch im Übrigen den innerstaatlichen
Rechtsvorschriften entgegen, die dieses Übereinkommen ergänzen und denen zufolge die Einkünfte der Schuldnerin unpfändbar geworden sind (siehe einschlägiges innerstaatliches Recht, Bestimmungen der deutschen StPO).
Infolgedessen ist diese Entscheidung nicht willkürlich.
50. Der Gerichtshof stellt schließlich fest, dass der Beschwerdeführer zumindest eine gewisse Zeit lang vollständige Zahlungen von K.A. erhielt. Der Gerichtshof erinnert daran, dass er lediglich zu prüfen hat, ob die rumänischen und
deutschen Behörden durch die im Hinblick auf die Vollstreckung unternommenen Schritte sorgfältig gehandelt und den Unterhaltsgläubiger im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens unterstützt haben.
51. Angesichts der Umstände des Falles und unter Berücksichtigung seiner Rechtsprechung auf diesem Gebiet stellt der Gerichtshof keine Versäumnisse fest, die den rumänischen und/oder deutschen Behörden bei der Vollstreckung
der drei Entscheidungen angelastet werden könnten, deretwegen der Beschwerdeführer das durch das New Yorker Übereinkommen eingeführte Vollstreckungsverfahren betrieben hat.
52. Auch wenn die fraglichen Entscheidungen im Vermögen des Beschwerdeführers einen offensichtlichen und einklagbaren Anspruch, der im Sinne des Artikels 1 des Protokolls Nr. 1 „Eigentum" bedeutet, geschaffen haben, ist der
Gerichtshof aus Gründen, die mit den Gründen vergleichbar sind, die hinsichtlich der behaupteten Verletzung des Artikels 6 Absatz 1 der Konvention vorgetragen wurden, dennoch der Meinung, dass den rumänischen und deutschen
Behörden nicht vorgeworfen werden kann, den Beschwerdeführer während der Vollstreckung nicht unterstützt zu haben.
53. Hieraus ergibt sich, dass dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Absätze 3 und 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
C. Die behauptete Verletzung von Artikel 6 Absatz 1 der Konvention in Bezug auf das zweite Verfahren zur Erhöhung des Unterhalts (Rüge nur gegen den rumänischen Staat gerichtet)
54. Unter Berufung auf Artikel 6 Absatz 1 der Konvention behauptet der Beschwerdeführer, nicht in den Genuss eines fairen Verfahrens gelangt zu sein, da das Departementgericht Timis, sein Rechtsmittel gegen das Urteil vom 7.
November 2003 wegen mangelnder Begründung zurückgewiesen habe, ohne zu berücksichtigen, dass er nicht über die erforderliche Schulbildung verfüge, um sein Rechtsmittel zu begründen (siehe Rdnr. 12).
55. Der Gerichtshof erinnert daran, dass die Regelung bezüglich der Formvorschriften für die Einlegung eines Rechtsmittels dazu dient, eine geordnete Rechtspflege und insbesondere die Achtung des Grundsatzes der Rechtssicherheit
zu gewährleisten. Die Betroffenen müssen damit rechnen, dass die Vorschriften Anwendung finden ( Miragall Escolano und andere ./. Spanien , Nrn. 38366/97, 38688/97, 40777/98, 40843/98, 41015/98, 41400/98, 41446/98,
41484/98, 41487/98 und 41509/98, Rdnr. 33, CEDH 2000-I).
56. Dem Gerichtshof zufolge ist die vierzehntätige Frist für die Begründung seines Rechtsmittels nicht zu kurz und in der Regel ausreichend. Ohne seine Einschätzung bei der Auslegung der verfahrensrechtlichen Vorschriften an die
Stelle der Einschätzung der Gerichte zu setzen (siehe Tejedor García ./. Spanien , 16. Dezember 1997, Rdnr. 31, Sammlung 1997-VIII), stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer seine vor dem Gerichtshof vorgetragenen
Behauptungen jedenfalls nicht vor dem Departementgericht untermauert und keinen Grund angeführt hat, der ihn daran gehindert hätte, seine Rechtsmittelgründe innerhalb der gesetzliche vorgeschriebenen Frist zu formulieren.
57. Daher ist diese Rüge offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Absätze 3 und 4 der Konvention zurückzuweisen.
D. Die behauptete Verletzung von Artikel 2 der Konvention (Rüge nur gegen den rumänischen Staat gerichtet)
58. Unter Berufung auf Artikel 2 der Konvention klagt der Beschwerdeführer über unzureichende Einkünfte, fehlende Heizung in seiner Wohnung und das Fehlen eines seinen Bedürfnissen entsprechenden Sozialprogramms.
59. Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass unter dem Blickwinkel von Artikel 2 keine Verpflichtung des Staates geltend gemacht werden kann, einen gewissen Lebensstandard sicherzustellen (siehe, mutatis mutandis, Pretty
./. Vereinigtes Königreich , Nr. 2346/02, Rdnr. 39, CEDH 2002-III).
Unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Informationen ist der Gerichtshof jedenfalls der Auffassung, dass der Beschwerdeführer etwaige schädliche Auswirkungen auf seinen physischen und psychischen
Gesundheitszustand aufgrund der unzulänglichen Einkünfte und der während eines gewissen Zeitraums fehlenden Heizung nicht nachgewiesen hat. Im Übrigen hat er nicht deutlich gemacht, dass ein „tatsächliches und unmittelbares
Risiko" für seine körperliche Unversehrtheit oder sein Leben bestanden hat, das die Anwendung von Artikel 2 auf den vorliegenden Fall rechtfertigen würde (siehe wegen vergleichbarer Situationen Larioshina ./. Russland (Entsch.),
Nr. 56869/00, 23. April 2002, Volkova ./. Russland (Entsch.), Nr. 48758/99, 18. November 2003, Budina ./. Russland (Entsch.), Nr. 45603/05, 18. Juni 2009).
Er ist im Übrigen der Meinung, dass der Teil der Rüge des Beschwerdeführers wegen des Fehlens eines seinen Bedürfnissen entsprechenden Sozialprogramms unter dem Blickwinkel von Artikel 8 der Konvention geprüft werden
sollte. Die einschlägigen Passagen von Artikel 8 lauten wie folgt:
„1. Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens (...).
2. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft
notwendig ist ..., für das wirtschaftliche Wohl des Landes, …, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer."
60. Die rumänische Regierung bestreitet diese These und meint, dass Artikel 8 nicht anzuwenden sei, da ein Kausalzusammenhang zwischen dem vom Beschwerdeführer vorgetragenen Sachverhalt und den Folgen für sein Privatleben
fehle. Hilfsweise ist sie der Auffassung, dass die Behörden durch die im vorliegenden Fall getroffenen Maßnahmen ihren Verpflichtungen im Sinne dieses Artikels gerecht geworden sind.
61. Der Beschwerdeführer bestreitet die These der Regierung.
62. Der Gerichtshof wiederholt, dass der Begriff „Privatleben" weit gefasst ist und Aspekte der physischen und psychischen Identität einer Person (siehe, N. ./. Deutschland , Urteil vom 16. Dezember 1992, Serie A Band 251-B, Rdnr.
29) wie auch die Möglichkeit umfasst, auf andere zuzugehen, um Beziehungen zu Gleichgesinnten zu knüpfen und zu entwickeln (siehe in diesem Sinne Campagnano ./. Italien , Nr. 77955/01, Rdnr. 53, CEDH 2006-V).
Vorliegend rügt der Beschwerdeführer im Wesentlichen, dass der rumänische Staat nicht in einer seinen Bedürfnissen entsprechenden Weise gehandelt habe, so dass er ein normales Leben führen könne.
63. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass Artikel 8 in Betracht kommt, da es sich um Rügen betreffend die öffentliche Finanzierung handelt, die die Mobilität und Lebensqualität behinderter Beschwerdeführer fördern soll ( Marzari ./.
Italien (Entsch.), Nr. 36448/97, 4. Mai 1999, Zehnalová und Zehnal ./. Tschechische Republik (Entsch.), Nr. 38621/97, CEDH 2002-V und Sentges ./. Niederlande (Entsch.), Nr. 27677/02, 8. Juli 2003). Der Gerichtshof merkt ganz
allgemein an, dass die tatsächliche Nutzung zahlreicher in der Konvention garantierter Rechte durch die behinderten Personen von den zuständigen Behörden spezielle Maßnahmen erfordern kann, auch angesichts der Bedeutung der
uneingeschränkten Teilnahme von behinderten Personen am gesellschaftlichen Leben. Dieses Erfordernis spiegelt sich ebenfalls in den vom Europarat auf diesem Gebiet angenommenen Bestimmungen wider (siehe Mó ?ka ./. Polen
(Entsch.), Nr. 56550/00, CEDH 2006-IV).
64. Der Gerichtshof ist somit bereit, dem Grundsatz zu folgen, dass Artikel 8 auf die Rügen des Beschwerdeführers Anwendung findet.
Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass die Rüge des Beschwerdeführers betreffend das Fehlen eines seinen Bedürfnissen entsprechenden Sozialprogramms allgemeiner Natur ist und seitens des Staates die Ermittlung der
gesellschaftlichen Bedürfnisse sowie eine Entscheidung hinsichtlich der Prioritäten und Mittel beinhaltet. Es ist zwar wünschenswert, dass Personen mit einer Behinderung ein breites Spektrum an Maßnahmen zur Verfügung steht, die
ihren besonderen Bedürfnissen Rechnung tragen, jedoch sind die nationalen Behörden besser als ein internationales Gericht in der Lage, diese Beurteilung vorzunehmen und die gebotenen Maßnahmen zu treffen. Dieser Spielraum ist
umso größer, wenn die streitgegenständlichen Fragen die Festlegung von Prioritäten in Bezug auf die Zuweisung der begrenzten staatlichen Mittel beinhalten (siehe O'Reilly und andere ./. Irland (Entsch.), Nr. 54725/00, 28. Februar
2002; Sentges , vorgenannte Entscheidung; Pentiacova und andere ./. Moldau (Entsch.), Nr. 14462/03, 4. Januar 2005). Der Staat muss unter allen Umständen für einen gerechten Ausgleich zwischen den konkurrierenden Interessen
des Einzelnen und der Gesellschaft insgesamt Sorge tragen.
65. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall in den Genuss eines breiten Spektrums an Leistungen und Unterstützungen gelangt. So erhält er dauerhaft finanzielle Unterstützung, um sein Leben zu
bestreiten, und er genießt weitere Schutzmaßnahmen, die durch die in diesem Bereich geltenden Rechtsvorschriften eingerichtet wurden, einschließlich unentgeltlicher ärztlicher Leistungen. Zudem merkt der Gerichtshof an, dass er
ebenfalls Hilfe von auf die Unterstützung von Personen mit Behinderung spezialisierten Institutionen, von karitativen oder unter staatlicher Verantwortung stehenden Einrichtungen erfährt. Das Vorhandensein und der Inhalt dieser
Maßnahmen lassen den Gerichtshof zu dem Schluss gelangen, dass der Staat notwendige Vorkehrungen getroffen hat, um seiner Schutzpflicht nach Artikel 8 der Konvention nachzukommen (siehe mutatis mutandis La Parola und
andere ./. Italien , (Entsch.), Nr. 39712/98, 30. November 2000), und nicht verabsäumt hat, der Achtung des Privatlebens des Beschwerdeführers Rechnung zu tragen.
66. Vor diesem Hintergrund ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Rüge auf der Grundlage von Artikel 8 der Konvention offensichtlich unbegründet und in Anwendung von Artikel 35 Absätze 3 und 4 zurückzuweisen ist.
Aus diesen Gründen beschließt der Gerichtshof einstimmig: Er erklärt die Beschwerde für unzulässig. ..." (EGMR, Entscheidung vom 01.12.2009 - 7269/05)
***
„... I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABS. 1 DER RECHTLICHE
27. Die Beschwerdeführerin rügte, dass die Verfahrensdauer beim Amtsgericht Frankfurt am Main mit dem Gebot der „angemessenen Frist" nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention unvereinbar gewesen sei; diese Bestimmung lautet wie
folgt:
"Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen ... von einem ... Gericht in einem ... Verfahren ... innerhalb angemessener Frist verhandelt wird." ...
29. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Verfahren beim Amtsgericht Frankfurt am Main mit dem Antrag der Beschwerdeführerin auf Herausgabe ihres Kindes am 20. August 2007 begann und mit der Entscheidung des Amtsgerichts
am 20. Mai 2009 endete. Das Verfahren dauerte demnach ein Jahr und neun Monate.
A. Zulässigkeit
30. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerde nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
31. Die Beschwerdeführerin brachte vor, dass die gesamte Dauer des Verfahrens trotz einer gewissen Komplexität der Rechtssache das Gebot der „angemessenen Frist" nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verletzt habe. Ihrer
Meinung nach sind die Verzögerungen, die zuerst durch die Erkrankung des ersten Richters und dann durch die Befangenheit der zweiten Richterin verursacht wurden, eindeutig dem Staat zuzurechnen. Die Beschwerdeführerin
brachte ebenfalls vor, dass das Amtsgericht die Zustellung der Entscheidung über die Befangenheit der Richterin, die Übersendung der Akten an das Oberlandesgericht, die Übersendung des Gutachtens und die Benennung der dritten
Richterin verzögert habe. Ferner betonte sie, dass die Entscheidung, ein Sachverständigengutachten einzuholen, erst nach einem Jahr und zwei Monaten getroffen worden sei. Schließlich wies sie darauf hin, dass das Verfahren von
besonderer Bedeutung für sie sei.
32. Die Regierung trug vor, dass in der fraglichen Zeit zwei weitere Verfahren, die mit der vorliegenden Sache in engem Zusammenhang gestanden hätten und deshalb am selben Tag entschieden worden seien, beim Amtsgericht
anhängig gewesen seien: Ein von Amts wegen eingeleitetes Verfahren über das Aufenthaltsbestimmungsrechts für das Kind sowie ein zweites Verfahren, das durch den Antrag des Kindesvaters auf Übertragung der elterlichen Sorge
eingeleitet worden sei. Des weiteren betonte die Regierung, dass das Verfahren von höchst sensibler Natur gewesen sei, dass es um komplexe Fragen gegangen sei und dass nicht nur die Anhörung der Eltern, des Kindes und des
Jugendamts, sondern auch die Bestellung einer Verfahrenspflegerin für das Kind und die Einholung eines Sachverständigengutachtens erforderlich gewesen seien.
33. Was die Erkrankung des Richters angehe, so habe das Amtsgericht adäquat auf diese unvorhersehbare Situation reagiert, indem es den Fall einer anderen Richterin übertragen habe, die innerhalb einer angemessenen Zeit einen
neuen Verhandlungstermin anberaumt habe. Ferner trug die Regierung vor, dass Verzögerungen auf Grund des Befangenheitsantrages der Beschwerdeführerin, auch wenn er letztlich Erfolg gehabt habe, nicht dem Staat zuzurechnen
seien, da die Befangenheitsgründe weder offensichtlich noch schwerwiegend gewesen seien und da zudem eine Dauer von vier Monaten für drei verschiedene Entscheidungen nicht als unangemessen lang erachtet werden könne.
Lediglich die drei Wochen, die auf die Verzögerung der Zustellung einer Entscheidung zurückzuführen seien, seien dem Staat zuzurechnen. Abschließend betonte die Regierung, dass die Beschwerdeführerin, für die das Verfahren
ohne Zweifel von großer Bedeutung gewesen sei, ab Januar 2008 regelmäßigen Umgang mit dem Kind hätte haben können.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
34. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Angemessenheit der Verfahrensdauer im Lichte der Umstände der Rechtssache sowie unter Berücksichtigung folgender Kriterien zu beurteilen ist: Komplexität der Rechtssache,
Verhalten des Beschwerdeführers sowie der zuständigen Behörden und Bedeutung des Rechtsstreits für den Beschwerdeführer (siehe u.v.a. Frydlender ./. Frankreich [GK], Nr. 30979/96, Rdnr. 43, ECHR 2000-VII).
35. Vorab stellt der Gerichtshof fest, dass es in dem Verfahren um die Frage ging, ob das Kind an die Mutter herausgegeben werden sollte. Dabei war das Verfahren mit zwei weiteren Verfahren verknüpft, die zum einen das
Sorgerecht, zum anderen das Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind betrafen.
Er stellt fest, dass die Rechtssache von sensibler Natur war und daher eine sorgfältige Bewertung erforderte, für die nicht nur alle Beteiligten anzuhören waren, sondern auch ein Sachverständigengutachten eingeholt werden musste.
Der Gerichtshof stimmt daher mit den Parteien dahin gehend überein, dass die Rechtssache von einer gewissen Komplexität war.
36. In Hinblick auf das Verhalten der Beschwerdeführerin stellt der Gerichtshof fest, dass sie, nachdem sie im Februar 2008 einen neuen Rechtsanwalt bevollmächtigt hatte, einen Monat verstreichen ließ, bevor sie dem Gericht einen
zufriedenstellenden Nachweis darüber vorlegte, dass das Mandat des früheren Rechtsanwalts beendet wurde. Darüber hinaus bestand ihr neu bevollmächtigter Rechtsanwalt auf einen neuen Anhörungstermin und die
Beschwerdeführerin stellte, wenn auch zu Recht und letztlich erfolgreich, einen Befangenheitsantrag gegen die Richterin. Weitere Verzögerungen von etwa einem Monat wurden im März 2008 durch ihre Beschwerde gegen die
Bestellung einer Verfahrenspflegerin für das Kind verursacht.
37. Was das Verhalten der nationalen Behörden angeht, stellt der Gerichtshof fest, dass der erste Termin, der für November 2008 anberaumt worden war, auf Grund der Erkrankung des Richters aufgehoben wurde. Weitere zwei
Monate verstrichen, bis die Rechtssache einer neuen Richterin übertragen wurde. Ferner verging mehr als ein Monat, bis nach der Entscheidung des Oberlandesgerichts über die Befangenheit der zweiten Richterin diese Richterin
ersetzt wurde. Der Gerichtshof stellt weiterhin fest, dass nach der Antragstellung ein Jahr und zwei Monate verstrichen, bevor ein Sachverständiger beauftragt wurde. Weitere Verzögerungen entstanden vornehmlich in Zusammenhang
mit den Entscheidungen über den Befangenheitsantrags. So stellte insbesondere das Amtsgericht seine Entscheidung erst einen Monat später zu.
38. Der Gerichtshof stellt zudem fest, dass die Rechtssache insofern ein Ausnahmefall war, als das Kind während des gesamten Verfahrens in Obhut verblieb, obwohl beide Elternteile bereit waren, sich um das Kind zu kümmern. Der
Gerichtshof erkennt an, dass die Rechtssache von besonderer Bedeutung für die Beschwerdeführerin war und deshalb zügig hätte erledigt werden sollen.
39. Der Gerichtshof ist nach Prüfung sämtlicher ihm vorgelegter Unterlagen der Auffassung, dass die Dauer des Verfahrens, auch wenn die Rechtssache von gewisser Komplexität und mit zwei weiteren Verfahren verknüpft war, in
Anbetracht der Ausnahmesituation und der Tatsache, dass eine Reihe von Verzögerungen den Behörden zuzurechnen sind, überlang war und dem Erfordernis der „angemessenen Frist" nicht entsprach.
40. Folglich ist Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verletzt worden.
II. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION
41. Artikel 41 der Konvention lautet:
„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser
Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist."
A. Schaden
42. Die Beschwerdeführerin forderte 4.625 EUR als Entschädigung für immateriellen Schaden, einschließlich einer zusätzlichen Summe in Höhe von 2.000 EUR auf Grund der besonderen Bedeutung der Rechtssache für sie.
43. Die Regierung wandte sich gegen diese Forderung. Sie legte in erster Linie dar, dass es keine allgemeine Regel gebe, nach der eine Entschädigung um 2.000 EUR erhöht werden könne, wenn das Verfahren von besonderer
Bedeutung sei.
44. Der Gerichtshof entscheidet nach Billigkeit, dass in der vorliegenden Rechtssache die Feststellung einer Verletzung des Artikel 6 Abs. 1 der Konvention eine hinreichende gerechte Entschädigung für den immateriellen Schaden
darstellt, den die Beschwerdeführerin erlitten hat. Insoweit weist er diese Forderung zurück.
B. Kosten und Auslagen
45. Die Beschwerdeführerin machte zudem 2.380 EUR für Rechtsanwaltskosten in dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht und weitere 2.380 EUR für Kosten vor dem Gerichtshof geltend. Die entsprechenden Rechnungen
hat sie vorgelegt. Ferner verlangte sie 500 EUR für zusätzliche Kosten, die durch die lange Verfahrensdauer vor dem Amtsgericht Frankfurt am Main entstanden seien. Bezüglich dieser Forderung wurden keine Belege vorgelegt.
46. Die Regierung wandte sich gegen diese Forderungen. Sie gab an, dass die Beschwerdeführerin die Anzahl der tatsächlich für die Rechtssache aufgewandten Arbeitsstunden oder den Stundensatz nicht dargelegt habe und es deshalb
unmöglich sei zu beurteilen, ob die Forderung der Höhe nach angemessen sei. Sie trug weiterhin vor, dass Kosten für das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht nicht geltend gemacht werden könnten, da eine
Verfassungsbeschwerde kein effektiver Rechtsbehelf gegen überlange Verfahren sei, wie der Gerichtshof in seinem Urteil S. ./. Deutschland festgestellt habe.
47. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur insoweit Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese tatsächlich und notwendigerweise entstanden sind und der
Höhe nach angemessen waren. In der vorliegenden Rechtssache weist der Gerichtshof unter Berücksichtigung der ihm zur Verfügung stehenden Informationen und der oben genannten Kriterien die Forderungen nach Entschädigung
für die in dem innerstaatlichen Verfahren entstanden Kosten und Auslagen zurück und hält es für angemessen, der Beschwerdeführerin 2.000 EUR für das Verfahren vor dem Gerichtshof zuzusprechen.
C. Verzugszinsen
48. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz ( marginal lending rate ) der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG WIE FOLGT:
1. Die Rüge bezüglich der überlangen Verfahrensdauer wird für zulässig erklärt;
2. Artikel 6 Abs. 1 der Konvention ist verletzt worden;
3. die Feststellung einer Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention stellt eine hinreichende gerechte Entschädigung für den von der Beschwerdeführerin erlittenen immateriellen Schaden dar;
4. a) der beklagte Staat hat der Beschwerdeführerin binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Absatz 2 der Konvention endgültig wird, 2.000 EUR (zweitausend Euro), zuzüglich der der
Beschwerdeführerin gegebenenfalls zu berechnenden Steuer, als Entschädigung für die Kosten und Auslagen zu zahlen;
b) nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten bis zur Auszahlung fallen für den oben genannten Betrag einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz ( marginal lending rate ) der
Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;
5. im Übrigen wird die Forderung der Beschwerdeführerin nach gerechter Entschädigung zurückgewiesen. ..." (EGMR, Urteil vom 26.11.2009 - 54215/08)
***
„... I. ZUR BEHAUPTETEN VERLETZUNG DES ARTIKELS 6 ABSATZ 1 DER KONVENTION
1. Der zu berücksichtigende Zeitraum
a) Das Vorbringen der Parteien
27. Die Beschwerdeführerin behauptet, der zu berücksichtigende Zeitraum habe 1984 begonnen, nachdem die Berufsgenossenschaft zum ersten Mal mit der Sache befasst worden sei.
28. Die Regierung ist der Ansicht, der zu prüfende Verfahrenszeitraum habe am 7. Juli 1987 begonnen, als die Beschwerdeführerin das Sozialgericht angerufen habe.
b) Würdigung des Gerichtshofs
29. Der Gerichtshof stellt fest, dass der zu berücksichtigende Zeitraum mangels eines Verwaltungsvorverfahrens am 7. Juli 1987 mit der Klageerhebung begann. Das Verfahren wurde vor den Sozialgerichten am 28. Dezember 2005
mit Urteil des Bundessozialgerichts abgeschlossen. Es hat demnach fast achtzehneinhalb Jahre vor den Sozialgerichten gedauert. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht dauerte zweieinhalb Monate.
2. Die Verfahrensdauer
a) Das Vorbringen der Parteien
30. Die Beschwerdeführerin behauptet, das Verfahren sei nicht komplex gewesen, weil es dabei um das - nach ihrer Ansicht bekannte - verstärkte Risiko einer Erkrankung der Atemwege bedingt durch die Arbeit in einer Gießerei ging.
31. Die Regierung argumentiert, die Sache sei komplex und schwierig gewesen. Nach ihrer Ansicht müsste berücksichtigt werden, dass die Nachforschungen mit großem Aufwand verbunden waren: Nicht nur, weil seit dem Tod des
Ehemannes der Beschwerdeführerin schon bei Beginn des Verfahrens zehn Jahre vergangen waren, sondern weil die Produktionsbedingungen und -methoden sich zwischenzeitlich stark verändert hatten. Die Regierung legt dar, man
habe deshalb im Rahmen zwei gleichartiger Pilotverfahren Messungen in den Fertigungshallen der Gießerei unter Bedingungen durchführen müssen, wie sie vor zwanzig Jahren bestanden hatten, und das Sozialgericht habe somit den
Ausgang dieser Pilotverfahren abwarten müssen.
32. Außerdem verweist die Regierung auf das Verhalten der Beschwerdeführerin. Ihr zufolge ist die Verzögerung von einem Jahr und sieben Monaten auf den Antrag der Betroffenen zurückzuführen, die Ergebnisse einer groß
angelegten Gießereistudie abzuwarten, und die Verzögerung von drei Jahren und drei Monaten auf ihren Antrag zur Anhörung eines Vertrauensgutachters. Eine weitere Verzögerung von einem Jahr und zwei Monaten sei ihr
zuzurechnen, weil sie dem Ruhen des Verfahrens vor dem Landessozialgericht zugestimmt habe, um das Ergebnis eines Gutachtens des ärztlichen Sachverständigenbeirats abzuwarten. Die Regierung unterstreicht schließlich, die
Beschwerdeführerin habe dreimal die Verlegung der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht beantragt, wodurch ihr zufolge eine Verzögerung von fünf Monaten verursacht wurde.
b) Würdigung des Gerichtshofs
33. Der Gerichtshof ruft in Erinnerung, dass die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens entsprechend den Umständen der Rechtssache und unter Berücksichtigung der in seiner Rechtsprechung verankerten Kriterien, insbesondere
der Komplexität des Falles, des Verhaltens des Beschwerdeführers und des Verhaltens der zuständigen Behörden sowie der Bedeutung des Rechtsstreits für den Betroffenen zu beurteilen ist (siehe unter vielen anderen Frydlender ./.
Frankreich [GK], Nr. 30979/96, Rdnr. 43, CEDH 2000-VII).
34. Im vorliegenden Fall räumt der Gerichtshof ein, dass die Sache eine gewisse Komplexität aufwies. Er ist insbesondere der Meinung, dass die Messungen, die im Rahmen von zwei gleichgelagerten Pilotverfahren in den
Fertigungshallen der Gießerei unter Bedingungen durchgeführt wurden, wie sie vor zwanzig Jahren bestanden hatten, einen erheblichen Aufwand darstellten.
35. Was das Verhalten der Beschwerdeführerin anbelangt, so stellt der Gerichtshof fest, dass sie die Erstellung eines Sachverständigengutachtens durch einen Gutachter ihres Vertrauens in Einklang mit § 109 des
Sozialgerichtsgesetzes beantragt hat. Diesbezüglich ruft der Gerichtshof in Erinnerung, einem Beschwerdeführer könne nicht vorgeworfen werden, ein gesetzlich vorgesehenes Recht in Anspruch genommen zu haben.
Wenn im vorliegenden Fall die aufgrund dieses Antrags verursachte Dauer - nahezu drei Jahre und drei Monate (Rdnr. 32) - dem Sozialgericht nicht angelastet werden könne, so sei die Beschwerdeführerin hierfür genauso wenig
verantwortlich zu machen. Insoweit die Regierung auf die Rechtssache N. ./. Deutschland (Nr. 27250/02, Rdnr. 104, 29. Juni 2006) verweist, stellt der Gerichtshof fest, es habe sich um ein zivilgerichtliches Verfahren im Sinne der
Zivilprozessordnung gehandelt, die ein solches Recht nicht vorsieht, und der Betroffene habe in dieser Sache - anders als die Beschwerdeführerin in der vorliegenden - eine Vielzahl an Anträgen gestellt. Angesichts der
Verfahrensdauer von achtzehneinhalb Jahren erscheinen die anderen Verzögerungen, die der Beschwerdeführerin von der Regierung angelastet werden, weniger gravierend. Der Gerichtshof erinnert in diesem Zusammenhang daran,
das Verhalten der Parteien entbinde die Gerichte nicht davon, das nach Artikel 6 Absatz 1 der Konvention erforderliche zügige Verfahren sicherzustellen ( Berlin ./. Luxemburg , Nr. 44978/98, Rdnr. 58, 15. Juli 2003).
36. Was das Verhalten der innerstaatlichen Gerichte anbelangt, so stellt der Gerichtshof fest, das Verfahren sei elf Jahre und sechs Monate vor dem Sozialgericht anhängig gewesen. Angesichts der Umstände des Falles ist er insoweit
der Ansicht, dass die Entscheidung des Sozialgerichts, den Ausgang der Pilotverfahren abzuwarten, nicht unangemessen erscheint (siehe sinngemäß K. ./. Deutschland, Nr. 75204/01, Rdnr. 35, 5. Oktober 2006). Außerdem stellt der
Gerichtshof fest, die Sache sei nur zweieinhalb Monate vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig gewesen. Andererseits hebt der Gerichtshof hervor, dass die Verzögerung von zwei Jahren und zwei Monaten darauf
zurückzuführen ist, dass die Sache vor dem Landessozialgericht anhängig war, ohne dass dieses Nachforschungen in die Wege geleitet habe.
37. Schließlich ist er der Auffassung, dass der Rechtsstreit von gewisser Bedeutung für die Beschwerdeführerin war, weil es in ihrem Fall darum ging, eine zusätzliche Versorgung durch eine Hinterbliebenenrente sicherzustellen.
38. Nach Prüfung aller dem Gerichtshof vorgelegten Unterlagen und angesichts seiner einschlägigen Rechtsprechung, ist der Gerichtshof der Meinung, dass im vorliegenden Fall die Dauer des streitigen Verfahrens übermäßig lang ist
und dem Erfordernis einer "angemessenen Frist" nicht entspricht. Demnach ist Artikel 6 Absatz 1 verletzt worden.
II. ZU DEN ANDEREN BEHAUPTETEN VERLETZUNGEN
39. Unter Berufung auf Artikel 6 Absatz 1 der Konvention rügt die Beschwerdeführerin ferner die Parteilichkeit der mit ihrer Sache befassten Richter und die daraus resultierende mangelnde Fairness des Verfahrens. Der Gerichtshof
stellt fest, dass das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin nicht zur Entscheidung genommen hat mit der Begründung, sie habe die Unterlagen nicht beigefügt, die für die Prüfung der
Begründetheit ihrer Beschwerde unerlässlich waren. Er erinnert daran, dass der innerstaatliche Rechtsweg nicht erschöpft worden ist, wenn der Rechtsbehelf zurückgewiesen worden ist, weil der Betroffene die nach innerstaatlichem
Recht erforderlichen Formvorschriften nicht beachtet hat ( Fáber ./. Tschechische Republik , Nr. 35883/02, Rdnr. 54, 17. Mai 2005). Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof der Auffassung, die Beschwerdeführerin habe nicht die
notwendige Sorgfalt walten lassen, die vernünftigerweise von ihr zu erwarten war, um dem Erfordernis der Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe zu entsprechen. Hieraus ergibt sich, dass diese Rüge in Anwendung des
Artikels 35 Absätze 1 und 4 der Konvention wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe zurückzuweisen ist.
III. ZUR ANWENDUNG DES ARTIKELS 41 DER KONVENTION ...
A. Schaden
41. Die Beschwerdeführerin verlangt 50.000 EUR wegen immateriellen Schadens und 40% des Jahresgehalts ihres Ehegatten ab 1980 als Schadensersatz.
42. Die Regierung bestreitet diese Ansprüche.
43. Der Gerichtshof sieht keinen Kausalzusammenhang zwischen der festgestellten Verletzung und dem behaupteten materiellen Schaden und weist diese Forderung zurück. Er ist hingegen der Auffassung, dass die Feststellung der
Verletzung nicht ausreicht, um den von ihr erlittenen immateriellen Schaden wieder gutzumachen, und billigt ihr auf einer gerechten Grundlage hierfür 14.000 EUR zu.
B. Kosten und Auslagen
44. Die Beschwerdeführerin verlangt ebenfalls 3.382,70 EUR wegen der entstandenen Kosten und Auslagen.
45. Die Regierung bestreitet diese Ansprüche.
46. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann ein Beschwerdeführer die Erstattung seiner Kosten und Auslagen nur insoweit erhalten, als diese tatsächlich angefallen sind und erforderlich waren und im Hinblick auf ihre Höhe
angemessen sind. Angesichts der vorerwähnten Kriterien stellt der Gerichtshof in der vorliegenden Sache fest, aus den von der Beschwerdeführerin vorgelegten Unterlagen gehe nicht hervor, welche Kosten ihr vor den innerstaatlichen
Gerichten und vor dem Gerichtshof im Hinblick auf die festgestellte Verletzung entstanden sind. Er billigt demnach hierfür keinen Betrag zu.
C. Verzugszinsen
47. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für den Satz der Verzugszinsen den um drei Prozentpunkte erhöhten Zinssatz der Spitzenrefinanzierungsfazilität der Europäischen Zentralbank zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG WIE FOLGT:
Er erklärt die Beschwerde in Bezug auf die Rüge aufgrund der übermäßigen Verfahrensdauer für zulässig und im Übrigen für unzulässig.
2. Er entscheidet , dass Artikel 6 Absatz 1 der Konvention verletzt ist.
3. Er entscheidet, dass
a) der beschwerdegegnerische Staat der Beschwerdeführerin innerhalb von drei Monaten, nachdem das Urteil gemäß Artikel 44 Absatz 2 der Konvention endgültig geworden ist, den Betrag in Höhe von 14.000 (vierzehntausend) EUR
wegen des immateriellen Schadens zu zahlen hat, zuzüglich der Beträge, die als Steuer möglicherweise angefallen sind;
b) dass dieser Betrag nach Ablauf der genannten Frist und bis zur Zahlung um einfache Zinsen zu einem Satz entsprechend demjenigen der Spitzenrefinanzierungsfazilität der Europäischen Zentralbank, der in diesem Zeitraum
Gültigkeit hat, zu erhöhen ist, zuzüglich drei Prozentpunkten;
4. Er weist im Übrigen den Antrag auf gerechte Entschädigung zurück. ..." (EGMR, Urteil vom 08.10.2009 - 47757/06)
***
„... 47. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen der Rechtssache sowie unter Berücksichtigung folgender Kriterien zu beurteilen ist: Die Komplexität des Falles, das
Verhalten der Beschwerdeführerin und der zuständigen Behörden sowie die Bedeutung des Rechtsstreits für die Beschwerdeführerin (siehe u.v.a. Frydlender ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 30979/96, Rdnr. 43, ECHR 2000-VII).
48. Der Gerichtshof stellt fest, dass das in Rede stehende Verfahren die Frage betraf, ob die Übertragung der Wohnung eine teilweise Schenkung gewesen sei, welche die Beschwerdeführerin wegen groben Undanks ihrer Nichte
wirksam widerrufen habe. Der Gerichtshof stellt fest, dass die vorliegende Rechtssache keine außergewöhnlich komplexen rechtlichen oder tatsächlichen Fragen aufgeworfen hat.
49. Der Gerichtshof stellt darüber hinaus fest, dass das Verhalten der Beschwerdeführerin nicht die gesamte Verfahrenslänge erklären kann, obwohl es gewisse Verzögerungen verursacht hat - insbesondere im ersten Jahr nach der
Klageerhebung (siehe Rdnr. 8 - 10) und aufgrund der Tatsache, dass Termine zur mündlichen Verhandlung zweimal verschoben werden mussten, weil von der Beschwerdeführerin benannte Zeugen nicht erscheinen konnten.
50. Er stellt jedoch fest, dass - unbeschadet der Bemühungen um einen Vergleich - ziemlich beträchtliche Verzögerungen den innerstaatlichen Gerichten anzulasten sind. Diesbezüglich stellt er insbesondere fest, dass die zwei von den
Gerichten in Auftrag gegebenen Sachverständigengutachten sich aus rechtlichen Gründen als unnötig erwiesen haben und dass es das Oberlandesgericht Hamm regelmäßig versäumte, Verhandlungen unverzüglich anzuberaumen
(siehe Rdnr. 16, 20, 22 und 25). In Bezug auf diesen letztgenannten Punkt darf der Gerichtshof bemerken, dass die Verzögerungen im Zusammenhang mit der Terminsbestimmung, die durch die ehemalige Anforderung, sich von
einem bei dem Oberlandesgericht zugelassenen Rechtsanwalt vertreten lassen zu müssen, verursacht wurden, als Teil des Organisationssystems klar dem Staat anzulasten sind - ungeachtet der Versuche des Gerichts, sie zu minimieren.
51. Bei Würdigung der Umstände der Rechtssache insgesamt und insbesondere in Anbetracht der durch das Oberlandesgericht Hamm verursachten Verzögerungen stellt der Gerichtshof daher fest, dass in dem vorliegenden Fall eine
überlange Verfahrensdauer vorlag, die dem Erfordernis der "angemessenen Frist" nicht entsprach. Demnach ist Artikel 6 Abs. 1 verletzt worden. ..." (EGMR, Urteil vom 08.10.2009 - 37820/06).
***
„... B) Das Einschlägige innerstaatliche Recht und die einschlägige innerstaatliche Praxis
1. Maßgebliche Bestimmungen der Strafprozessordnung (StPO)
§ 68 [Befragung zur Identität und zu Personendaten des Zeugen]
...
„(3) Besteht Anlass zu der Besorgnis, dass durch die Offenbarung der Identität oder des Wohn- oder Aufenthaltsortes des Zeugen Leben, Leib oder Freiheit des Zeugen oder einer anderen Person gefährdet wird, so kann ihm gestattet
werden, Angaben zur Person nicht oder nur über eine frühere Identität zu machen. Er hat jedoch in der Hauptverhandlung auf Befragen anzugeben, in welcher Eigenschaft ihm die Tatsachen, die er bekundet, bekannt geworden sind. ...
(4) Erforderlichenfalls sind dem Zeugen Fragen über solche Umstände, die seine Glaubwürdigkeit in der vorliegenden Sache betreffen, insbesondere über seine Beziehungen zu dem Beschuldigten oder dem Verletzten, vorzulegen."
§ 244 [Beweisaufnahme]
...
(2) Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.
(3) Ein Beweisantrag ist abzulehnen, wenn die Erhebung des Beweises unzulässig ist. Im übrigen darf ein Beweisantrag nur abgelehnt werden, wenn eine Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist, wenn die Tatsache, die
bewiesen werden soll, für die Entscheidung ohne Bedeutung oder schon erwiesen ist, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet oder wenn es unerreichbar ist, wenn der Antrag zum Zweck der Prozessverschleppung gestellt ist oder
wenn eine erhebliche Behauptung, die zur Entlastung des Angeklagten bewiesen werden soll, so behandelt werden kann, als wäre die behauptete Tatsache wahr.
...
§ 247a [Vernehmung des Zeugen außerhalb der Hauptverhandlung]
„Besteht die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für das Wohl des Zeugen, wenn er in Gegenwart der in der Hauptverhandlung Anwesenden vernommen wird, so kann das Gericht anordnen, dass der Zeuge sich
während der Vernehmung an einem anderen Ort aufhält; … Die Entscheidung ist unanfechtbar. Die Aussage wird zeitgleich in Bild und Ton in das Sitzungszimmer übertragen. Sie soll aufgezeichnet werden, wenn zu besorgen ist,
dass der Zeuge in einer weiteren Hauptverhandlung nicht vernommen werden kann und die Aufzeichnung zur Erforschung der Wahrheit erforderlich ist. ..."
2. Einschlägige Praxis bei Beweisanträgen
Ein Beweisantrag ist nur zulässig, wenn er eine Beweistatsache, das Beweisziel und das Beweismittel anführt. Ist ein Antrag diesbezüglich nicht hinreichend begründet, kann er dennoch eine Beweisanregung oder einen
Beweisermittlungsantrag darstellen, die das Gericht aufgrund seiner Aufklärungspflicht dann zu prüfen hat.
RÜGEN
Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchstabe d der Konvention, dass das gegen ihn geführte Strafverfahren, das zu seiner Verurteilung wegen schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung
geführt habe, wegen der Vorgehensweise bei der Beweisaufnahme und Beweiswürdigung nicht fair gewesen sei.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
Der Beschwerdeführer rügte, dass das gegen ihn geführte Strafverfahren nicht fair gewesen sei, weil seine Verurteilung hauptsächlich auf die Aussage eines anonymen Zeugen gestützt worden sei, den er nicht habe befragen können. Er
berief sich auf Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchstabe d der Konvention, der, soweit entscheidungserheblich, lautet: ...
Da die Erfordernisse nach Artikel 6 Abs. 3 als Teilaspekte des Rechts auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention anzusehen sind, wird der Gerichtshof die Rügen nach diesen beiden Bestimmungen im
Zusammenhang prüfen (siehe u. v. a. Rechtssachen Windisch ./. Österreich, 27. September 1990, Randnr. 23, Serie A Band 186, und Lüdi ./. Schweiz , 15. Juni 1992, Randnr. 43, Serie A Band 238).
Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Zulässigkeit von Beweismitteln in erster Linie durch innerstaatliches Recht zu regeln ist und es generell Sache der nationalen Gerichte ist, das ihnen vorliegende
Beweismaterial zu würdigen. Aufgabe des Gerichtshofs ist es festzustellen, ob das Verfahren als Ganzes sowie die Art und Weise, in der Beweise erhoben wurden, fair waren (siehe u. a. Rechtssachen Van Mechelen u a. ./
Niederlande a. a. O., 23. April 1997, Randnr. 50, Urteils- und Entscheidungssammlung 1997-III; A. M. ./ Italien , Individualbeschwerde Nr. 37019/97, Randnr. 24, EGMR 1999-IX; und Sadak u. a. ./. Türkei , Individualbeschwerden
Nrn. 29900/96, 29901/96, 29902/96 und 29903/96, Randnr. 63, EGMR 2001-VIII).
Normalerweise müssen alle Beweise im Hinblick auf die kontradiktorische Auseinandersetzung in Anwesenheit des Angeklagten in öffentlicher Verhandlung erhoben werden. Mögliche Ausnahmen von diesem Grundsatz
dürfen die Rechte der Verteidigung nicht verletzen (siehe u. a. Rechtssache Lucà ./. Italien , Individualbeschwerde Nr. 33354/96, Randnr. 39, EGMR 2001-II). In der Regel bedeutet dies, dass der Angeklagte entweder während der
Zeugenaussage oder zu einem späteren Verfahrenszeitpunkt in angemessener und hinreichender Weise die Möglichkeit erhalten sollte, einen Belastungszeugen zu befragen und seine Glaubwürdigkeit in Zweifel zu
ziehen, (siehe u. a. Rechtssache Solakov ./. die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, Individualbeschwerde Nr. 47023/99, Randnr. 57, EGMR 2001-X).
Insbesondere bezüglich der Verwertung der Angaben anonymer Zeugen als Beweismittel weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass die nationalen Behörden wichtige und hinreichende Gründe für die Geheimhaltung der
Identität bestimmter Zeugen anführen müssen (siehe insbesondere Rechtssache Doorson ./. Niederlande, 26. März 1996, Randnr. 71, Urteils- und Entscheidungssammlung 1996-II). Insoweit müssen die Interessen der Verteidigung und
die Interessen der aussagenden Zeugen, insbesondere ihr Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit, gegeneinander abgewogen werden; diese Interessen dürfen nicht in unvertretbarer Weise gefährdet werden (siehe Rechtssachen
Doorson, a. a. O., Randnr. 70; und Kok ./. Niederlande (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 43149/98, EGMR 2000-VI). Nach Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchstabe d ist es jedoch erforderlich, die Nachteile, unter denen die
Verteidigung bei einer Wahrung der Anonymität von Belastungszeugen erfolgt, durch das Vorgehen der Justizbehörden hinreichend auszugleichen (siehe Rechtssachen van Mechelen u. a. , a. a. O., Randnr. 54; Haas ./.
Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 73047/01; und Sapunarescu ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 22007/03).
Die Verurteilung des Angeklagten darf keinesfalls allein auf die Angaben eines solchen Zeugen gestützt werden. Gründet eine Verurteilung ausschließlich oder in entscheidendem Maße auf Aussagen, die von einer Person gemacht
wurden, die zu befragen oder befragen zu lassen der Angeklagte weder während der Ermittlungen noch in der Hauptverhandlung nicht die Möglichkeit hatte, so sind die Rechte der Verteidigung in einem Maße eingeschränkt, das mit
den Garantien nach Artikel 6 nicht vereinbar ist (siehe u. v. a. Rechtssachen Saïdi ./. Frankreich, 20. September 1993, Randnr. 44 Serie A, Band 261-C; Lucà , a. a. O., Randnr. 40; Sadak , a. a. O., Randnr. 65; und Solakov , a. a. O.,
Randnr. 57).
Mit Blick auf die vorliegende Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer den Informanten zu keinem Zeitpunkt in dem gegen ihn geführten Strafverfahren befragt hatte, weil das Niedersächsische
Innenministerium sich geweigert hatte, die Identität des Informanten zu offenbaren. Daher waren die Angaben dieses Belastungszeugen durch die Aussagen des vernehmenden Kriminalbeamten, der von dem Landgericht und der
Verteidigung in öffentlicher Gerichtsverhandlung befragt wurde, in das Verfahren eingeführt worden. Ein im Namen des Beschwerdeführers gestellter Antrag, den Informanten unmittelbar per Videoverbindung oder durch „mehrfache
schriftliche Befragung" zu befragen, wurde von dem Landgericht als unzulässig abgewiesen.
Im Hinblick darauf, dass die Verteidigung bei Wahrung der Anonymität des Belastungszeugen unverschuldet mit Schwierigkeiten konfrontiert ist, die bei Strafverfahren normalerweise nicht auftreten dürften (siehe Rechtssache
Doorson , a. a. O. Randnr. 72), wird der Gerichtshof zunächst prüfen, ob die Verwertung anonymer Zeugenaussagen von den nationalen Behörden und Gerichten unter den Umständen der Rechtssache hinreichend begründet wurde.
In seiner Erklärung vom 15. Mai 1997 führte das Niedersächsische Innenministerium aus, dass in Anbetracht der schweren Gewalttaten, derer der Beschwerdeführer und die Mitangeklagten verdächtig (und derentwegen sie später
schuldig gesprochen worden) seien, insbesondere schwerer Raub in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und - bei dem Mitangeklagten - versuchter Mord, das Leben, der Leib und die Freiheit des Informanten erheblich
gefährdet seien, wenn seine Identität offenbart werden sollte. Insbesondere seien Vergeltungsmaßnahmen zu befürchten, sobald der Informant im Milieu als „Verräter" gelte. Obwohl das Landgericht in seinem Urteil nicht darauf
einging, ob die Wahrung der Anonymität des Informanten gerechtfertigt war, haben der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht diese Frage sorgfältig geprüft und festgestellt, dass die angeführten Gründe ausreichten, um
die Identität des Informanten geheim zu halten, und das Landgericht deshalb keine Überprüfung der Sperrerklärung des Ministeriums habe erwirken müssen. Der Bundesgerichtshof wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass
auch eine akustische und optische Abschirmung bei der audiovisuellen Vernehmung nach § 247 a StPO - ungeachtet ihrer Zulässigkeit nach innerstaatlichem Recht im Zeitpunkt des erstinstanzlichen Urteils - nicht ausreiche, um die
Identität des Informanten zu schützen: Weder die akustische und optische Abschirmung noch § 68 StPO (siehe „Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis", oben) ermöglichten es den nationalen
Gerichten, Fragen zurückzuweisen, die die Identität des Informanten offenbaren könnten.
Unter den Umständen des vorliegenden Falls ist der Gerichtshof der Auffassung, dass das Innenministerium seine Entscheidung, die Identität des Informanten nicht offenzulegen, weil dessen körperliche Unversehrtheit wegen der
Gewalttätigkeit der Tätergruppe, der der Beschwerdeführer angehörte, gefährdet sei, hinreichend begründet hat (siehe in diesem Zusammenhang auch Rechtssache Sapunarescu , a. a. O.). Diese Entscheidung der Exekutive und die
dafür angeführten Gründe wurden überdies von dem Bundesgerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht überprüft und bestätigt (siehe in diesem Zusammenhang auch Rechtssache Kok , a. a. O.)
Der Gerichtshof wendet sich sodann der Pflicht der nationalen Gerichte zu, Aussagen, die von einem Zeugen unter Bedingungen erlangt werden, unter denen die Rechte der Verteidigung nicht in dem Maße gewahrt werden können,
wie dies nach der Konvention normalerweise erforderlich ist, mit Sorgfalt zu behandeln (siehe u. a. Rechtssachen Doorson , a. a. O., Randnr. 76 und Visser./. Niederlande , Individualbeschwerde Nr. 26668/95, Randnr. 44, 14. Februar
2002). Der Gerichtshof ist überzeugt, dass dies in dem Strafverfahren, das zu der Verurteilung des Beschwerdeführers geführt hat, geschehen ist. Zwar hat das Landgericht nicht ausdrücklich auf die Nachteile, unter denen die
Verteidigung litt, Bezug genommen; tatsächlich aber würdigte es die Beweise und insbesondere die Aussage des Informanten sehr umfassend, sorgfältig und ausführlich. Der Gerichtshof stellt überdies fest, dass sowohl der
Bundesgerichtshof als auch das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich klargestellt haben, dass bei der Heranziehung von Hörensagenbeweisen, insbesondere mit Blick auf Zeugen, deren Identität aufgrund einer Entscheidung der
Exekutive geheim gehalten wird, mit Sorgfalt vorzugehen ist. Der Bundesgerichtshof erwähnte in diesem Zusammenhang insbesondere seine Rechtsprechung zu dem sog. „Korrektiv der vorsichtigen Beweiswürdigung" und stellte
fest, dass das Landgericht dieser Rechtsprechung gefolgt sei.
Der Gerichtshof merkt mit Blick auf seine Rechtsprechung, dass eine Verurteilung nie allein oder hauptsächlich auf anonymen Aussagen beruhen dürfe (siehe u. a. Rechtssache Doorson , a. a. O., Randnr. 76), an, dass die
nationalen Gerichte die Verurteilung des Beschwerdeführers zwar in spürbarem Maße auf die von dem Kriminalbeamten M. eingeführten Aussagen des Informanten stützten, sie sich aber nicht nur auf diese Beweise verließen. Die
nationalen Gerichte berücksichtigten auch mehrere weitere Beweismittel. Dazu gehörten insbesondere die Aussagen von zwei früheren Mitinhaftierten des Beschwerdeführers, die ausgesagt hatten, dass der Beschwerdeführer den
in Rede stehenden Raub ihnen gegenüber zugegeben habe. Nach sorgfältiger und ausführlicher Würdigung dieser Aussagen kamen die nationalen Gerichte zu dem Schluss, dass sie glaubhaft seien; dabei berücksichtigten sie auch, dass
einer dieser Zeugen sich in der öffentlichen Gerichtsverhandlung nicht an Einzelheiten seiner Aussage im Ermittlungsverfahren erinnern konnte; deshalb hörte das Landgericht den Kriminalbeamten, der ihn vernommen hatte, an. Der
Gerichtshof merkt an, dass diese Aussage als von den Angaben des Informanten völlig unabhängig anzusehen ist. Darüber hinaus waren etliche Hinweise, die der Informant der Polizei gegeben hatte, überprüft worden und erwiesen
sich als den nationalen Gerichten zur Verfügung stehende bestätigende Beweise, die die Schilderung des Informanten untermauerten. Die nationalen Gerichte berücksichtigten z. B. Zeugenaussagen, aus denen sich u. a. ergab, dass der
Beschwerdeführer den Angaben des Informanten zufolge kurz nach dem Raub über 200.000 DM für den Betrieb einer Gaststätte verfügte. Diese bestätigenden Beweise gründeten zwar auf den Aussagen des Informanten; der
Gerichtshof kann aber nicht akzeptieren, dass ein erkennendes Gericht aus diesem Grund daran gehindert sein sollte, derartige Beweismittel zu berücksichtigen (siehe Rechtssache Verdam ./. Niederlande (Entsch.)
Individualbeschwerde Nr. 35253/97). Deshalb ist der Gerichtshof unter Berücksichtigung aller gegen den Beschwerdeführer verwerteten Beweismittel der Auffassung, dass nicht gesagt werden kann, dass dessen Verurteilung
„hauptsächlich" auf den Aussagen des Informanten beruhte.
Nach Auffassung des Gerichtshofs ist bei der Prüfung, ob das mit der Vernehmung des anonymen Zeugen verbundene Verfahren die der Verteidigung entstandenen Schwierigkeiten hinreichend ausgeglichen hat (siehe Rechtssache
Doorson, a. a. O., Randnr. 72), die vorstehende Schlussfolgerung, dass die anonyme Zeugenaussage für die Verurteilung des Beschwerdeführers nicht entscheidend war, gebührend zu berücksichtigen. Deshalb war die Verteidigung in
weit geringerem Maße benachteiligt (siehe Rechtssache Kok, a. a. O.).
Von daher merkt der Gerichtshof an, dass der Beschwerdeführer den Informanten in dem vorliegenden Fall zwar zu keinem Zeitpunkt weder unmittelbar noch mittelbar mit technischen Hilfsmitteln oder schriftlich befragt hat. Diese
Schwierigkeiten wurden jedoch teilweise dadurch ausgeglichen, dass die Verteidigung den Kriminalbeamten, der nicht nur den Informanten in dem Ermittlungsverfahren, sondern auch dessen VP-Führer zur Glaubwürdigkeit des
Informanten vernommen hatte, befragen konnte. Zwar wäre es eindeutig besser gewesen, wenn der Beschwerdeführer den Informanten unmittelbar hätte befragen können; das Landgericht war aber aufgrund der Sperrerklärung des
Ministeriums, die gleichwohl - wie bereits erörtert - von den Gerichten hinreichend begründet und überprüft worden war, daran gehindert, ihn zu laden.
Der Gerichtshof muss in diesem Zusammenhang auch berücksichtigen, dass der Beweisaufnahmeantrag des Beschwerdeführers vom 16. März 2000, mit dem um unmittelbare audiovisuelle oder schriftliche Befragung des Informanten
ersucht wurde, nach innerstaatlichem Recht nicht zulässig war, weil er die Fragen, die er dem Zeugen stellen wollte, nicht offengelegt hatte; dies hätte (wie z. B. in den beiden vorgenannten Rechtssachen Haas und Sapunarescu )
insbesondere durch Übermittlung eines Fragenkatalogs erfolgen können. Überdies hat der Beschwerdeführer weder vor dem Bundesgerichtshof noch dem Bundesverfassungsgericht die Fragen dargelegt, die er dem Informanten hatte
stellen wollen, aufgrund deren die Gerichte die Zulässigkeit der Befragung hätten beurteilen können. Der Gerichtshof kann daher nicht feststellen, dass dem Beschwerdeführer keine Gelegenheit zur Befragung des anonymen
Belastungszeugen gegeben wurde. Vielmehr konnte der Beschwerdeführer nicht nur den Vernehmungsbeamten befragen, sondern hatte grundsätzlich Gelegenheit, dem Informanten weitere (zulässige) Fragen zu stellen; er hat diese
Möglichkeit aber nicht in einer prozessual zulässigen Weise wahrgenommen. Der Gerichtshof weist in diesem Zusammenhang erneut darauf hin, dass der Beschwerdeführer während des gesamten Verfahrens anwaltlich vertreten war,
so dass von ihm die Stellung eines zulässigen Antrags erwartet werden konnte.
Unter Berücksichtigung der gesamten Vorgehensweise bei der Beweisaufnahme in dem Verfahren und bei Betrachtung der angeblichen Verfahrensmängel im Zusammenhang, wie nach Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchstabe d erforderlich
(siehe insbesondere Rechtssache Doorson , a. a. O., Randnr. 83), stellt der Gerichtshof fest, dass es in dem Verfahren gegen den Beschwerdeführer eine Anhäufung von Hörensagenbeweisen gegeben hat. Ein Belastungszeuge wurde
von dem Beschwerdeführer nicht befragt. Die für die Wahrung der Anonymität des Zeugen angeführten Gründe waren jedoch ausreichend und zutreffend und wurden sowohl von dem Bundesgerichtshof als auch dem
Bundesverfassungsgericht überprüft. Die Beweisergebnisse wurden von den nationalen Gerichten, die Sorgfalt und Vorsicht walten ließen, gewürdigt. Der Beschwerdeführer nahm auch seine Verfahrensrechte nicht wahr, in zulässiger
Weise Fragen an den anonymen Zeugen stellen zu lassen. Da die Verurteilung des Beschwerdeführers sich auch auf mehrere andere Beweismittel stützte, stellt der Gerichtshof schließlich fest, dass die Rechte der Verteidigung nicht in
einem Maße eingeschränkt wurden, das mit den Garantien nach Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchstabe d der Konvention unvereinbar wäre. Folglich ist nicht ersichtlich, dass diese Bestimmungen der Konvention verletzt worden sind. ..."
(EGMR, Entscheidung vom 29.09.2009 - 15065/05).
***
„... § 138a Abs. 1 StPO über die Ausschließung des Verteidigers lautet:
„Ein Verteidiger ist von der Mitwirkung in einem Verfahren auszuschließen, wenn er dringend oder in einem die Eröffnung des Hauptverfahrens rechtfertigenden Grade verdächtig ist, dass er
1. ...
2. den Verkehr mit dem nicht auf freiem Fuß befindlichen Beschuldigten dazu missbraucht, Straftaten zu begehen oder die Sicherheit einer Vollzugsanstalt erheblich zu gefährden, oder ..."
Die maßgeblichen Bestimmungen des Strafgesetzbuchs lauten wie folgt:
"§ 352 - Gebührenübererhebung
(1) Ein Amtsträger, Anwalt oder sonstiger Rechtsbeistand, welcher Gebühren oder andere Vergütungen für amtliche Verrichtungen zu seinem Vorteil zu erheben hat, wird, wenn er Gebühren oder Vergütungen erhebt, von denen er
weiß, dass der Zahlende sie überhaupt nicht oder nur in geringerem Betrag schuldet, mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Der Versuch ist strafbar."
"§ 358 - Nebenfolgen
Neben einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten wegen einer Straftat nach den §§ 332, 335, 339, 340, 343, 344, 345 Abs. 1 und 3, §§ 348, 352 bis 353b Abs. 1, §§ 355 und 357 kann das Gericht die Fähigkeit, öffentliche
Ämter zu bekleiden (...) aberkennen."
Nach § 14 Abs. 2 Nr. 3[sic!] der Bundesrechtsanwaltsordnung ist die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft zu widerrufen, wenn der Rechtsanwalt infolge strafgerichtlicher Verurteilung die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter
verloren hat.
RÜGEN
Unter Berufung auf die Artikel 5, 6 und 14 der Konvention rügte der Beschwerdeführer seine strafgerichtliche Verurteilung und die damit verbundenen innerstaatlichen Strafverfahren. Er rügte insbesondere, dass das Vorliegen eines
Verfahrenshindernisses infolge der Tatsache, dass er acht Monate lang einen Pflichtverteidiger gehabt habe, der hätte ausgeschlossen werden müssen, durch die innerstaatlichen Gerichte verneint worden sei. Außerdem
rügte er die Zurückweisung seiner Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand durch das Bundesverfassungsgericht.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
1. Der Beschwerdeführer rügte, dass sein Recht auf ein faires Verfahren dadurch verletzt worden sei, dass er strafrechtlich verurteilt worden sei, obwohl er im Ermittlungsverfahren und in Teilen des Hauptverfahrens, nämlich
insgesamt acht Monate lang, einen Pflichtverteidiger (Z.) gehabt habe, der hätte ausgeschlossen werden müssen. Er brachte vor, dass aufgrund von Behauptungen, die er aufgestellt habe, ein Ermittlungsverfahren gegen Z. eingeleitet
worden sei und er im Rahmen dieses Ermittlungsverfahrens als Zeuge habe aussagen müssen. Z. habe also seinetwegen mit einer strafrechtlichen Verurteilung und dem Verlust seiner Anwaltszulassung rechnen müssen und ihn
deshalb nicht ordnungsgemäß verteidigen können. Der Beschwerdeführer machte geltend, dass dies zur Annahme eines Verfahrenshindernisses in dem Strafverfahren gegen ihn hätte führen müssen. Er berief sich auf Artikel 6 Abs. 1
und 3 Buchstaben b bis d der Konvention, der, soweit entscheidungserheblich, wie folgt lautet: ...
Der Gerichtshof stellt fest, dass die Rechtssache Fragen nach Artikel 6 Abs. 3 Buchstabe c, der bestimmte Verteidigungsrechte im Strafverfahren vorsieht, sowie nach Artikel 6 Abs. 1, der das Recht auf ein faires Verfahren garantiert,
aufwirft. Er weist darauf hin, dass die in Artikel 6 Abs. 3 enthaltenen Garantien besondere Aspekte des nach Abs. 1 vorgesehenen Rechts auf ein faires Verfahren darstellen (vgl. u.a. Poitrimol ./.Frankreich , Urteil vom 23. November
1993, Serie A, Bd. 277, Rdnr. 29, und Rowe und Davis ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 28901/95, Rdnr. 59, ECHR 2000-II). Er prüft die Rügen daher nach diesen beiden Bestimmungen im Zusammenhang.
Unter der Annahme, dass der Beschwerdeführer seine Verfassungsbeschwerde hinsichtlich der Mitwirkung von Z. begründet und den innerstaatlichen Rechtsweg diesbezüglich somit erschöpft hat, stellt sich die Frage, ob die
strafrechtliche Verurteilung des Beschwerdeführers ihn in seinem Recht auf ein faires Verfahren verletzt hat, weil er im Ermittlungsverfahren und in Teilen des Hauptverfahrens einen Pflichtverteidiger hatte, der, wie behauptet wird,
hätte ausgeschlossen werden müssen. Der Gerichtshof ist deshalb der Auffassung, dass festgestellt werden muss, unter welchen Voraussetzungen Artikel 6 Abs. 3 Buchstabe c den Staat dazu verpflichtet, einen Pflichtverteidiger in
einem Verfahren zu entpflichten.
Der Gerichtshof hat festgestellt, dass die Pflicht des Staates, die Wirksamkeit der Verteidigung zu gewährleisten, sich nicht auf die Bestellung eines Anwalts beschränkt. Dies allein gewährleistet noch keinen wirksamen
Rechtsbeistand, denn der im Wege der Prozesskostenhilfe bestellte Anwalt kann versterben, schwer erkranken, längerfristig verhindert sein oder sich seinen Aufgaben entziehen. Wenn die Behörden hiervon Kenntnis erhalten,
müssen sie ihn entweder ersetzen oder darauf hinwirken, dass er seinen Pflichten nachkommt (siehe Sannino ./. Italien , Individualbeschwerde Nr. 30961/03, Rdnr. 48, ECHR 2006-..., und Artico ./. Italien , Urteil vom 13. Mai
1980, Serie A Band 37, Rdnr. 33). Die Gerichte sind gegebenenfalls verpflichtet, positive Maßnahmen zu ergreifen, um zu gewährleisten, dass der Anwalt seinen Verpflichtungen gegenüber dem Angeklagten
ordnungsgemäß nachkommt (siehe Goddi ./. Italien , Urteil vom 9. April 1984, Serie A Band 76, Rdnr. 31). Aufgrund der Unabhängigkeit der Anwaltschaft ist die Verteidigung jedoch grundsätzlich eine Angelegenheit zwischen
dem Angeklagten und seinem Vertreter; die zuständigen nationalen Behörden müssen nach Artikel 6 Abs. 3 Buchstabe c nur eingreifen, wenn offensichtlich ist oder sie auf andere Weise davon hinreichend Kenntnis erhalten,
dass ein Pflichtverteidiger die Rechtsvertretung nicht sachgerecht vornimmt (siehe Lagerblom ./. Schweden , Individualbeschwerde Nr. 26891/95, Rdnr. 56, 14. Januar 2003; Imbrioscia ./. Schweiz , 24. November 1993, Rdnr. 41,
Serie A Band 275, und Kamasinski ./. Österreich , Urteil vom 19. Dezember 1989, Serie A Band 168, Rdnr. 65). Vor diesem Hintergrund ergibt sich grundsätzlich nicht schon aus der Tatsache, dass Anhaltspunkte vor die
Annahme vorliegen, dass ein Pflichtverteidiger die Verteidigung möglicherweise nicht sachgerecht durchführt, für den Staat eine Verpflichtung, den Anwalt in dem Verfahren zu entpflichten.
In der vorliegenden Rechtssache hätte der potenzielle Interessenkonflikt des Vertreters des Beschwerdeführers den Behörden seit April 2001 bekannt sein können, als der Ermittlungsrichter die Beschlagnahme der Briefe des
Beschwerdeführers anordnete und den Beschluss u. a. seinem Anwalt Z. übersandte, zumal es in dem Beschluss hieß, dass die Beschlagnahme allein mit der Begründung angeordnet werde, dass die Briefe Angaben über mögliche
Zahlungen des Beschwerdeführers an Z. enthielten. Der Gerichtshof hat jedoch weder zu entscheiden, ob die Behörden nach innerstaatlichem Recht, insbesondere nach § 138a StPO, zur Entpflichtung von Z. in dem Verfahren
verpflichtet waren, noch zu beurteilen, ob eine solche Entpflichtung zur Vermeidung der Gefahr eines Interessenkonflikts geboten gewesen wäre. Die Aufgabe des Gerichtshofs besteht darin, zu beurteilen, ob die Verteidigungsrechte
des Beschwerdeführers aus Konventionssicht in einem Maße gewahrt wurden, das den Garantien eines fairen Verfahrens nach Artikel 6 der Konvention genügt (siehe Hanževac(ki ./. Kroatien , Individualbeschwerde Nr. 17182/07,
Rdnr. 20, 16. April 2009), und zu prüfen, ob das Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer insgesamt fair war (siehe u. a. Imbrioscia , a.a.O., Rdnr. 38).
Es gibt in der vorliegenden Rechtssache keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Anwalt des Beschwerdeführers sich tatsächlich seinen Aufgaben entzogen oder die Rechtsvertretung nicht sachgerecht vorgenommen hat. Das
Landgericht hat die Frage, ob eine sachgerechte Verteidigung gegeben war, in seinem Urteil erschöpfend behandelt, als es sich mit der Frage der Verwertbarkeit der Geständnisse des Beschwerdeführers zu Beweiszwecken
auseinandergesetzt hat. Nachdem es die Zeugen und den Beschwerdeführer angehört hatte, legte es ordnungsgemäß begründet und nachvollziehbar dar, dass es keine Hinweise darauf gebe, dass der Beschwerdeführer durch
Versprechungen oder Täuschung zu den Geständnissen veranlasst worden sei oder dass Z unter irgendwelchem Druck mit der Staatsanwaltschaft zum Nachteil des Beschwerdeführers zusammengearbeitet habe. Der Gerichtshof weist
überdies darauf hin, dass der Beschwerdeführer sein Vorbringen, es liege ein Verfahrenshindernis vor, ausschließlich darauf stützte, dass seinetwegen ein Ermittlungsverfahren gegen Z. eingeleitet wurde. Er hat keinen einzigen
konkreten Mangel in der anwaltlichen Vertretung durch Z. in dem Verfahren benannt. Schließlich kann nicht außer Acht gelassen werden, dass die Angaben des Beschwerdeführers über mögliche Zahlungen an Z. Widersprüche und
Ungereimtheiten aufweisen. Bei seinem Antrag auf Entpflichtung von Z. gab er an, dass Z. zusätzliche Gebühren für die Verteidigung verlangt habe, bestritt dies aber bei anderen Gelegenheiten während des Verfahrens und gab hierfür
keine vernünftigen Gründe an. Außerdem bemühte sich der Beschwerdeführer während des gesamten Ermittlungsverfahrens nicht um einen anderen Anwalt, auch nicht, nachdem er in dem Strafverfahren gegen Z. als Zeuge
vernommen worden war.
Vor diesem Hintergrund stellt der Gerichtshof fest, dass im vorliegenden Fall nichts darauf hindeutet, dass der Pflichtverteidiger Z. die Rechtsvertretung nicht sachgerecht vorgenommen hat. Es kann somit nicht gesagt werden, dass
der Staat seiner Verpflichtung, die Wirksamkeit der Verteidigung zu gewährleisten, nicht nachgekommen ist oder dass der Beschwerdeführer kein faires Verfahren im Sinne von Artikel 6 der Konvention hatte, weil die innerstaatlichen
Gerichte in seinem Fall ein Verfahrenshindernis nicht festgestellt haben.
Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet ist und nach Artikel 35 Abs. 3 und 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
2. Der Beschwerdeführer rügte ferner nach den Artikeln 5 und 14 der Konvention eine Verletzung seines Rechts auf Freiheit und Sicherheit sowie einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot.
Der Gerichtshof stellt fest, dass auch diese Rügen allein auf der Mitwirkung von Z. in dem Verfahren beruhen und deshalb im Wesentlichen dieselben Rügen sind, die bereits nach Artikel 6 der Konvention geprüft wurden. Es ergeben
sich daher keine eigenständigen Fragen nach den Artikeln 5 und 14.
Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet ist und nach Artikel 35 Abs. 3 und 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
3. Der Beschwerdeführer rügte außerdem noch weitere Aspekte des innerstaatlichen Strafverfahrens, wie z.B. die Ablehnung seiner mit dieser Sache verbundenen Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
Unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und soweit die gerügte Angelegenheit in seine Zuständigkeit fällt, stellt der Gerichtshof fest, dass es keine Anzeichen für eine Verletzung der in der Konvention
oder den Protokollen dazu bezeichneten Rechte und Freiheiten gibt. Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet ist und nach Artikel 35 Abs. 3 und 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof die Individualbeschwerde mit Stimmenmehrheit für unzulässig. ..." (EGMR, Entscheidung vom 29.09.2009 - 28154/05):
***
Grundsätzlich ist einem Beschuldigten unverzüglich nach seiner Festnahme Zugang zu dem von ihm gewünschten Verteidiger zu verschaffen bzw., falls dieser nicht erreichbar ist, ein anderer Anwalt bei der lokalen
Anwaltsorganisation zu besorgen, damit der Beschuldigte bei der Eingangsvernehmung sein Recht, sich nicht selbst zu belasten bzw. auf sein Schweigerecht zu verzichten, konventionsgemäß einschätzen kann. Gerade in einer
Haftsituation ist ein schlichter Verzicht auf den Beistand eines Anwalts bei einer zweiten Vernehmung nicht ausreichend, um die spätere Berufung auf die Konventionsrechte auszuschließen. Vielmehr muss sichergestellt sein, dass
sich der Beschuldigte der Auswirkung eines solchen Verzichts bewusst war. Gerade wenn der Beschuldigte zu Beginn seiner ersten Vernehmung den Wunsch nach einem Anwalt geäußert hatte, ist es kaum noch vorstellbar, dass
trotz einer formalen Verzichtserklärung eine Fortsetzung der polizeilichen Vernehmung erfolgen darf, es sei denn, es gebe hierzu eine unmissverständliche Initiative des Beschuldigten selbst. Werden trotz des Wunschs des
Beschuldigten nach einem Verteidiger die Eingangsbefragung durch die Polizei und weitere Vernehmungen ohne Verteidiger durchgeführt, stellt die Verwertung der selbstbelastenden Aussagen des Beschuldigten einen Verstoß gegen
den Grundsatz des fairen Verfahrens dar (EGMR, Urteil vom 24.09.2009 - 7025/04 - juris).
***
„... B. Begründetheit
1. Maßgeblicher Zeitraum
42. Der Beschwerdeführer behauptete, der maßgebliche Zeitraum habe am 28. November 1986 mit der Einleitung der disziplinarrechtlichen Vorermittlungen gegen ihn begonnen und es habe somit fast 17 Jahre gedauert, bis das
Bundesverfassungsgericht am 10. September 2003 seine Entscheidung erlassen habe.
43. Dies wurde von der Regierung nicht bestritten.
44. Der Gerichtshof hat bei verwaltungsrechtlichen Entscheidungen anerkannt, dass der maßgebliche Zeitraum bereits vor dem Gerichtsverfahren beginnen kann, wenn das verwaltungsrechtliche Vorverfahren Voraussetzung für dieses
war (siehe u.a. J. ./. Deutschland , Individualbeschwerde Nr. 23959/94, Nr. 40, 20. Dezember 2001; und K. ./. Deutschland , Urteil vom 28. Juni 1978, Serie A Nr. 27, Nr. 98). In der vorliegenden Sache war nur die Entscheidung über
die Einleitung des förmlichen Disziplinarverfahrens gegen den Beschwerdeführer unmittelbar für die Frage entscheidend, ob gegen den Beschwerdeführer disziplinarrechtliche Vorwürfe vor den Verwaltungsgerichten erhoben würden.
Nach Auffassung des Gerichtshofs entstand ein Streit erst in dem Moment, als am 9. Mai 1990 das förmliche Disziplinarverfahren gegen den Beschwerdeführer eröffnet wurde.
45. Folglich begann der maßgebliche Zeitraum in der vorliegenden Rechtssache am 9. Mai 1990 und endete am 10. September 2003 mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Es dauerte somit dreizehn Jahre und vier
Monate und erstreckte sich über das Disziplinarverfahren und drei Instanzen.
2. Angemessenheit der Verfahrensdauer
a) Vorbringen vor dem Gerichtshof
46. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass das Verfahren unangemessen lang gewesen sei. Die in der Sache aufgeworfenen Fragen seien nicht besonders komplex. Es seien nur acht Zeugen vernommen worden und der Umfang der
Verfahrensakte sei lediglich auf die zahlreichen Urkundenbeweise zurückzuführen (d.h. Abschriften von den vom Beschwerdeführer erhobenen Gebühren für die Herstellung von Haftbefehlsabschriften und Protokollabschriften).
Ferner habe er nicht zu der langen Verfahrensdauer beigetragen. Somit habe ihm der in § 61 Abs. 1 HDO (siehe Randnr. 31) vorgesehene Rechtsbehelf während der Aussetzung des Verfahrens vom 29. November 1990 und 21. Mai
1991 nicht zur Verfügung gestanden. Nach diesem Zeitraum habe er von diesem Rechtsbehelf keinen Gebrauch machen können, weil er nie eine Rechtsbehelfsbelehrung erhalten habe. Dieser Rechtsbehelf wäre in jedem Fall erfolglos
gewesen, weil der Verwaltungsgerichtshof auch am 1. Juli 2003 die Auffassung vertreten habe, dass die Verfahrensverzögerungen unerheblich seien. Ferner seien alle seine Beweisanträge zurückgewiesen worden und über seine
Befangenheitsanträge sei innerhalb weniger Wochen entschieden worden, so dass sie das Verfahren nicht verzögert hätten. Der Beschwerdeführer vertrat die Auffassung, dass die Länge des Verfahrens hauptsächlich den deutschen
Behörden zuzurechnen sei, die nach Beendigung des parallelen Strafverfahrens dreieinhalb Jahre mit der Fortsetzung des Disziplinarverfahrens gewartet und dann drei Jahre gebraucht hätten, bis sie die Anschuldigungsschrift beim
Verwaltungsgericht eingereicht hätten. Schließlich hob der Beschwerdeführer hervor, die Verfahrensverzögerung habe starke Auswirkungen auf seine Beschäftigungs- und finanzielle Situation gehabt.
47. Die Regierung erkannte an, dass die extrem lange Verfahrensdauer die nach Artikel 6 Abs. 1 erforderliche „angemessenen Frist" überschritten habe. Dennoch sei das Verfahren außergewöhnlich komplex, wie die umfangreiche
Verfahrensakte (48 Bände) und das umfangreiche Urteil (47 Seiten) zeigten. Es sei ein erheblicher Ermittlungsaufwand notwendig gewesen, um die große Anzahl der vom Beschwerdeführer über einen langen Zeitraum begangenen
Vergehen festzustellen. Ferner habe der Beschwerdeführer in erheblichem Maße zu der Verfahrensdauer beigetragen, indem er keinen Antrag auf Entscheidung durch das Gericht zur Anfechtung der Aussetzung des
Disziplinarverfahrens nach § 14 Abs. 4 HDO gestellt habe (siehe Randnr. 30) und in dem Zeitraum vom 21. Mai 1995 bis zum 21 Januar 2000 keinen Gebrauch von dem in § 61 HDO vorgesehenen Rechtsmittel (siehe Randnr. 31)
gemacht habe, um das Verfahren zu beschleunigen. Was die Behauptung angehe, dass das Rechtsmittel wahrscheinlich nicht erfolgreich gewesen wäre, so könne nur spekuliert werden, wie die Entscheidung des Verwaltungsgerichts
ausgefallen wäre, wenn der Beschwerdeführer tatsächlich Gebrauch von diesem Rechtsmittel gemacht hätte. Überdies habe der Beschwerdeführer das Verfahren dadurch verzögert, dass er zwei völlig unsubstantiierte Anträge auf
Vernehmung von zwei Zeugen gestellt und den Präsidenten des Oberlandesgerichts Frankfurts zweimal wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt habe.
48. Hinsichtlich des Verhaltens der Gerichte trug die Regierung vor, das Oberlandesgericht sei in Übereinstimmung mit § 14 HDO (siehe Randnr. 30) verpflichtet, das Disziplinarverfahren während des anhängigen Strafverfahrens
auszusetzen. Schließlich betonte die Regierung, der Beschwerdeführer habe, unabhängig von der großen Bedeutsamkeit des Gerichtsverfahrens für ihn, während des gesamten Verfahrens weiterhin seine Dienstbezüge erhalten.
b. Würdigung durch den Gerichtshof
49. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen der Rechtssache sowie unter Berücksichtigung folgender Kriterien zu beurteilen ist: die Komplexität des Falles, das
Verhalten des Beschwerdeführers und der zuständigen Behörden sowie die Bedeutung des Rechtsstreits für den Beschwerdeführer (s. u.v.a. Frydlender ./. Frankreich [GK] , Individualbeschwerde Nr. 30979/96, Randnr. 43, ECHR 2000-VII).
50. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Verfahrensgegenstand von einiger Komplexität war, da es mit Ermittlungen zu einer großen Anzahl von Disziplinarvergehen, die über einen Zeitraum von drei Jahren begangen wurden, und
mehreren Zeugenvernehmungen verbunden war.
51. Was das Verhalten des Beschwerdeführers angeht, stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer nicht alle möglichen Maßnahmen ergriffen hat, um das Verfahren zu beschleunigen. Insbesondere hat er die laufende
Aussetzung des Disziplinarverfahrens nach § 14 Abs. 4 HDO (siehe oben Rdnr. 30) nicht angefochten und somit auf sein Recht auf eine gerichtliche Entscheidung über die Frage verzichtet, ob seine Entfernung aus dem Dienst noch
gerechtfertigt war, nachdem das parallel geführte Strafverfahren am 12. Dezember 1991 eingestellt worden war. Weiterhin hat der Beschwerdeführer zur Beschleunigung des Verfahrens keinen Antrag auf Entscheidung durch das
Gericht nach § 61 HDO gestellt, der es dem Disziplinargericht ermöglicht hätte, eine Frist für die Vorlage der Anschuldigungsschrift bzw. die Einstellung des Verfahrens zu setzen, wenn das Verfahren seiner Auffassung nach
unangemessen lang war (siehe oben Rdnr. 31). Soweit der Beschwerdeführer behauptet, ein solcher Antrag wäre zurückgewiesen worden, muss nach Ansicht des Gerichtshofs von einem innerstaatlichen Rechtsbehelf Gebrauch
gemacht werden, auch wenn es Zweifel hinsichtlich seiner Erfolgsaussichten gibt (siehe sinngemäß Kaja ./. Griechenland , Individualbeschwerde Nr. 32927/03, Nr. 54, 27. Juli 2006). Der Gerichtshof stellt ebenfalls fest, dass der
Beschwerdeführer, abgesehen davon, dass er keinen Gebrauch von den vorgenannten Rechtsbehelfen gemacht hat, ansonsten nicht zu der langen Verfahrensdauer beigetragen hat.
52. Im Hinblick auf das Verhalten der innerstaatlichen Behörden stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass die Rechtssache des Beschwerdeführers von den Verwaltungsgerichten und dem Bundesverfassungsgericht recht zügig
bearbeitet wurde.
53. Hinsichtlich des Disziplinarverfahrens vor dem Oberlandesgericht Frankfurt nimmt der Gerichtshof zur Kenntnis, dass dieses rund neun Jahre und acht Monate dauerte. In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof fest, dass die
Regierung keinen plausiblen Grund dafür angeführt hat, weshalb das Disziplinarverfahren bis zum 3. Mai 1995 ausgesetzt wurde, obwohl das Strafverfahren bereits am 12. Dezember 1991 geendet hatte. Überdies ordnete der Präsident
des Oberlandesgerichts am 25. August 1997 die Zusammenstellung der gegen den Beschwerdeführer erhobenen Anschuldigungen an, also mehr als sechs Monate nach Erstellung des abschließenden Berichts am 5. Februar 1997. Der
Gerichtshof akzeptiert, dass eine Verzögerung der Erstellung der Anschuldigungsschrift durch die Krankheit des Vertreters der Einleitungsbehörde verursacht wurde, der am 17. Oktober 1997 ausscheiden musste. Er ist jedoch der
Auffassung, dass der Zeitraum von fast zwei Jahren zwischen diesem Umstand höherer Gewalt und der Fertigstellung der Anschuldigungsschrift zu lang war. Schließlich verging zwischen der Fertigstellung der Anschuldigungsschrift
und deren Eingang beim Verwaltungsgericht ein Zeitraum von drei Monaten; ferner wurde durch die Rückübermittlung der Anschuldigungsschrift an das Oberlandesgericht Frankfurt zur Behebung von Mängeln eine Verzögerung von
sechs Monaten verursacht.
54. Der Gerichtshof ist nach Prüfung sämtlicher ihm vorgelegter Unterlagen der Auffassung, dass die Dauer des Verfahrens in der vorliegenden Rechtssache überlang war und dem Erfordernis der „angemessenen Frist" nicht entsprach.
Folglich ist Artikel 6 Abs. 1 verletzt worden. ...
III. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION ...
A. Schaden
58. Der Beschwerdeführer forderte 10.000 Euro (EUR) in Bezug auf den immateriellen Schaden und wies auf den Kummer und die Frustration hin, die er wegen der langen Dauer des Verfahrens erlitten habe.
59. Darüber hinaus forderte er 475.338,37 Euro in Bezug auf den bis Dezember 2008 entstandenen materiellen Schaden und begründete dies damit, dass eine angemessene Verfahrensdauer ihm die Möglichkeit gegeben hätte, in den
frühen neunziger Jahren eine andere Stelle als Gerichtsvollzieher in einem anderen Bundesland zu suchen. Angesichts des zu jener Zeit herrschenden Bedarfs an Gerichtsvollziehern in den neuen Bundesländern hätte er
verhältnismäßig leicht eine neue Stelle als Gerichtsvollzieher gefunden. Daher stehe der folgende materielle Schaden in unmittelbarem Zusammenhang mit der Verfahrensdauer: Entgangene Gebühren für die Erfüllung seiner
Aufgaben (164.818,89 Euro), entgangene Bürokosten (61.077,06 Euro), entgangene Wegegelder (138.002,58 Euro), entgangene Pauschalbeträge für die Erstellung von Vordrucken (15.209,53 Euro), Schäden aufgrund der entgangenen
Beförderung (19.837,62 Euro), entgangene Amtszulage (24.818,94 Euro) und entgangene Bezüge ab August 2003 (51.573,75 Euro). Zusätzlich forderte er den Ersatz aller künftigen materiellen Schäden, die ihm entstehen würden,
weil er keine Arbeit mehr finden könne und daher ohne Einkommen sein werde. Er behauptete, dies sei ebenfalls durch die lange Verfahrensdauer verursacht worden.
60. Die Regierung bestritt die Schadenersatzforderungen mit der Begründung, die Ausführungen des Beschwerdeführers bezüglich der Möglichkeit, eine neue Stelle als Gerichtsvollzieher zu finden, seien rein hypothetisch.
Insbesondere aufgrund der Tatsache, dass er wegen des Disziplinarverfahrens aus dem Dienst entfernt worden sei, seien die Aussichten auf eine Wiedereinstellung im öffentlichen Dienst gering. Hinsichtlich der Forderung in Bezug
auf den nichtmateriellen Schaden trug die Regierung vor, dieser Schaden würde in Anbetracht des Verhaltens des Beschwerdeführers und der Tatsache, dass er während des gesamten Verfahrens sein volles Gehalt erhalten habe, durch
die Feststellung einer Verletzung angemessen kompensiert.
61. Im Hinblick auf die Forderungen des Beschwerdeführers in Bezug auf den materiellen Schaden stellt der Gerichtshof fest, dass diese auf der Annahme beruhen, dass der Beschwerdeführer trotz seiner Suspendierung eine Stelle als
Gerichtsvollzieher gefunden hätte. In diesem Zusammenhang weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass er keine Mutmaßungen darüber anstellen kann, wie das Verfahren ausgegangen wäre, wenn es den Erfordernissen des Artikels
6 Abs. 1 bezüglich der Verfahrensdauer genügt hätte (siehe u.v.a. Sürmeli , a.a.O., Nr. 144). Es sieht sich insbesondere nicht in der Lage, Mutmaßungen darüber anzustellen, welche Entwicklung die berufliche Laufbahn des
Beschwerdeführers genommen hätte, wenn die innerstaatlichen Gerichte das Disziplinarverfahren innerhalb eines angemessenen Zeitraums bearbeitet hätten (siehe insoweit H. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr . 20027/02, Nr.
89, 11. Januar 2007). Folglich ist der Gerichtshof der Auffassung, dass dem Beschwerdeführer unter dieser Rubrik keine Entschädigung zugesprochen werden kann.
62. Bezüglich des immateriellen Schadens ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die alleinige Feststellung einer Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 keine hinreichende Genugtuung für den Kummer und die Frustration darstellen
würde, die der Beschwerdeführer erlitten hat. Er hält jedoch die geforderte Summe für unangemessen hoch. Gemäß Artikel 41 der Konvention setzt der Gerichtshof die Summe nach Billigkeit fest und spricht dem Beschwerdeführer
unter dieser Rubrik 3.500 Euro zu.
B. Kosten und Auslagen
63. Der Beschwerdeführer machte Kosten für die Vertretung vor dem Gerichtshof in Höhe von 6.542,18 Euro (Stundensatz von 200 Euro für ca. 27 Stunden anwaltliche Tätigkeit zuzüglich Auslagen und Mehrwertsteuer) und 3.048,66
Euro Übersetzungskosten geltend. Der Beschwerdeführer legte eine Kopie der Honorarvereinbarung mit seinem Rechtsanwalt sowie Rechnungen über sämtliche entstandenen Kosten vor.
64. Die Regierung hat sich zu der Angelegenheit nicht geäußert.
65. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur insoweit Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese tatsächlich und notwendigerweise entstanden sind und der
Höhe nach angemessen waren. Im vorliegenden Fall hält der Gerichtshof es in Anbetracht der ihm vorliegenden Informationen und der vorgenannten Kriterien für angebracht, 3.000 Euro für die Kosten, die in dem Verfahren vor dem
Gerichtshof entstandenen sind, zuzusprechen und die Forderung des Beschwerdeführers unter dieser Rubrik im Übrigen zurückzuweisen.
C. Verzugszinsen
66. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank zuzüglich 3 Prozentpunkten zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG WIE FOLGT:
1. Die Rüge wegen der überlangen Verfahrensdauer wird für zulässig und die Individualbeschwerde im Übrigen für unzulässig erklärt ;
2. Artikel 6 Abs. 1 der Konvention ist verletzt worden;
3. (a) Der beschwerdegegnerische Staat hat dem Beschwerdeführer binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig wird, folgende Beträge zu zahlen:
(i) 3.500 Euro (dreitausend Euro) in Bezug auf den immateriellen Schaden;
(ii) 3.000 Euro (dreitausend Euro) für Kosten und Auslagen;
(iii) die für die vorstehend genannten Beträge ggf. zu berechnenden Steuern;
(b) nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten bis zur Auszahlung fallen für den obengenannten Betrag einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der
Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;
4. Die Forderung des Beschwerdeführers nach gerechter Entschädigung wird im Übrigen zurückgewiesen . ..." (EGMR, Urteil vom 16.07.2009 - 8453/04)
***
„... 65. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen der Rechtssache sowie unter Berücksichtigung folgender Kriterien zu beurteilen ist: Die Komplexität des Falles, das
Verhalten des Beschwerdeführers und der zuständigen Behörden sowie die Bedeutung des Rechtsstreits für den Beschwerdeführer (siehe u.v.a. Frydlender ./. Frankreich [GK] , Individualbeschwerde Nr. 30979/96, Rdnr. 43, ECHR 2000-VII).
66. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass das Verfahren die Frage betraf, ob die Erkrankung des Beschwerdeführers als eine Berufserkrankung einzustufen sei, was entscheidend davon abhing, ob der Beschwerdeführer beruflich
bedingt Holzschutzmitteln exponiert war und ob ein kausaler Zusammenhang zwischen dieser Exposition und seinen Erkrankungen bestand.
67. Der Gerichtshof erkennt daher an, dass das Verfahren von erheblicher Komplexität war und dass sich die Sozialgerichte mit schwierigen rechtlichen und tatsächlichen Fragen auseinanderzusetzen hatten. Der Gerichtshof akzeptiert
auch die Erklärung der Regierung, dass nur wenige Fachleute mit der Erstellung von Sachverständigengutachten beauftragt werden konnten und dass diese zu unterschiedlichen Auffassungen zu der betreffenden Frage gelangten.
68. Was das Verhalten des Beschwerdeführers angeht, stellt der Gerichtshof fest, dass er durch verspätete Einreichungen und Äußerungen erhebliche Verzögerungen verursacht hat. In diesem Zusammenhang berücksichtigt der
Gerichtshof insbesondere, dass er seine Klage beim Sozialgericht erst sieben Monate nach Klageerhebung begründete und die vom Landessozialgericht am 5. Mai 1999 angeforderten Unterlagen zu seiner Krankheitsgeschichte erst im
März 2003 vorlegte. Ferner stellt er fest, dass erhebliche Verzögerungen dadurch verursacht wurden, dass sich der Beschwerdeführer zunächst bereit erklärte, sich untersuchen zu lassen, dann aber zu zwei Terminen bei
unterschiedlichen Sachverständigen in Deutschland nicht erschien und sich schließlich gänzlich weigerte, sich untersuchen zu lassen, und ein Befangenheitsgesuch gegen den Sachverständigen stellte. Weitere Verzögerungen des
sozialgerichtlichen Verfahrens waren auf die mehrfache Beantragung von Terminsverlegungen, auf Schwierigkeiten mit dem Schriftverkehr aufgrund des Aufenthalts des Beschwerdeführers in Ungarn und auf die verspätete Zahlung
des Kostenvorschusses für ein Sachverständigengutachten zurückzuführen. Der Gerichtshof stellt daher fest, dass der Beschwerdeführer eindeutig zu Verzögerungen von insgesamt fast vier Jahren beigetragen hat.
69. Im Hinblick auf das Verhalten der innerstaatlichen Behörden stellt der Gerichtshof fest, dass das Verfahren sieben Jahre allein beim Sozialgericht und weitere fünf Jahre beim Landessozialgericht anhängig war. Die lange
Verfahrensdauer vor dem Sozialgericht wurde größtenteils durch den Sachverständigen Prof. S. verursacht, der sein Gutachten erst nach zwei Jahren und drei Monaten vorlegte. Der Gerichtshof erinnert in diesem Zusammenhang
daran, dass es in Fällen, in denen die Zusammenarbeit mit einem Sachverständigen erforderlich ist, den innerstaatlichen Gerichten obliegt sicherzustellen, dass das Verfahren nicht übermäßig in die Länge gezogen wird (siehe u.a. V. ./.
Deutschland , Individualbeschwerde Nr. 45181/99, Randnr. 39, 4. April 2002). Er nimmt zur Kenntnis, dass das Sozialgericht in der vorliegenden Rechtssache Prof. S. mehrere Fristen zur Vorlage seines Gutachtens setzte und
schließlich auch die Verhängung eines Ordnungsgelds androhte. Dennoch stellt er fest, dass sich das Sozialgericht nur zögernd nach dem Fortschreiten des Gutachtens erkundigte und das wiederholte Fristversäumnis seitens des
Sachverständigen keine weiteren Konsequenzen nach sich zog. Darüber hinaus wurden auch nach Vorlage des Gutachten keine echten Anstrengungen unternommen, um das Verfahren wesentlich voranzutreiben; das Sozialgericht
wartete lediglich die Rücksendung der Akten und die Stellungnahme des Beschwerdeführers ab und leitete die Akten dann, ohne Ablichtungen anzufertigen, an das Landessozialgericht weiter, wo sie ein halbes Jahr verblieben (es gibt
keinen Hinweis darauf, dass der Ausgang dieses Verfahrens von Bedeutung für das hier in Rede stehende Verfahren war). Überdies vergingen nach der Vorlage des zweiten Sachverständigengutachtens mehrere Monate, bis das
Sozialgericht die Berufsgenossenschaft an die Vorlage einer Stellungnahme erinnerte. Auch das Landessozialgericht unterließ es zumindest teilweise, das Verfahren hinreichend voranzutreiben. Dieses Gericht wartete zum Teil
ebenfalls nur die Stellungnahmen der Parteien ab; ferner hob es auf den Antrag des Beschwerdeführers auf Terminsverlegung hin den Termin einfach auf und gab nur zögernd das erste Sachverständigengutachten in Auftrag. Was das
Bundessozialgericht und das Bundesverfassungsgericht angeht, stellt der Gerichtshof fest, dass beide Instanzen innerhalb eines Jahres entschieden. Somit wurden durch diese Gerichte keine Verzögerungen verursacht.
70. Im Hinblick auf die Bedeutung der Sache für die Interessen des Beschwerdeführers stellt der Gerichtshof fest, dass es um die Anerkennung seiner Erkrankungen als Berufskrankheit - eine Voraussetzung für die Zahlung einer Rente
- ging. Der Gerichtshof erkennt daher an, dass das Verfahren für den Beschwerdeführer von einiger Bedeutung war.
71. Der Gerichtshof ist nach Prüfung sämtlicher ihm vorgelegter Unterlagen der Auffassung, dass insbesondere in Anbetracht der Gesamtdauer des Verfahrens und der unterbliebenen Anstrengungen der Behörden, das Verfahren
wesentlich voranzutreiben, die Verfahrensdauer in der vorliegenden Rechtssache überlang war und das Erfordernis der „angemessenen Frist" nicht erfüllte. Folglich ist Artikel 6 Abs.1 der Konvention verletzt worden.
II. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION
72. Artikel 41 der Konvention lautet:
„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser
Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist."
A. Schaden
73. Der Beschwerdeführer machte immateriellen Schaden geltend. Er stellte den Betrag zwar ausdrücklich in das Ermessen des Gerichtshofs, verwies jedoch auf einen ähnlichen Fall, in dem der Gerichtshof 20.000 Euro zugesprochen hatte.
74. Die Regierung stellte die Frage in das Ermessen des Gerichtshofs.
75. Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass der Beschwerdeführer einen immateriellen Schaden erlitten haben muss. Er entscheidet nach Billigkeit und spricht ihm unter dieser Rubrik 1.500 Euro zu.
B. Kosten und Auslagen
76. Der Beschwerdeführer verlangte auch 10.306 Euro für Kosten und Auslagen in dem Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten (Anwaltsgebühren, Reisekosten, Telefon- und Bürokosten), sowie 4.000 Euro für die Kosten und
Auslagen in dem Verfahren vor dem Gerichtshof. Bezüglich der letztgenannten Kosten legte er keine Belege vor.
77. Die Regierung behauptete, die in Bezug auf die Durchführung des innerstaatlichen Verfahrens geltend gemachten Kosten könnten nicht der Verfahrensdauer zugerechnet werden. Zu der entsprechenden Forderung des
Beschwerdeführers bezüglich des Verfahrens vor dem Gerichtshof äußerte sie sich nicht.
78. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur insoweit Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese tatsächlich und notwendigerweise entstanden sind und der
Höhe nach angemessen waren. In der vorliegenden Rechtssache ist der Gerichtshof unter Berücksichtigung der ihm zur Verfügung stehenden Informationen und der oben genannten Kriterien der Auffassung, dass der
Beschwerdeführer nicht nachgewiesen hat, dass ihm die für das Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten geltend gemachten Kosten und Auslagen entstanden waren, um die durch die überlange Verfahrensdauer verursachte
konkrete Verletzung zu verhindern oder ihr abzuhelfen. Da der Gerichtshof jedoch erkennt, dass in Fällen, welche die Verfahrensdauer betreffen, die über eine „angemessene Frist" hinausgehende langwierige Prüfung einer
Rechtssache für die Beschwerdeführer höhere Kosten mit sich bringt (siehe u. a. Rechtssache S. ./.Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 75529/01, Rdnr. 148, ECHR 2006-…), hält er es nicht für unangemessen, dem
Beschwerdeführer unter dieser Rubrik 250 Euro zuzusprechen. In Bezug auf die in dem Verfahren vor dem Gerichtshof entstandenen Kosten spricht der Gerichtshof im Hinblick auf seine Rechtsprechung und in Ermangelung
entsprechender Nachweise keinen Betrag zu.
C. Verzugszinsen
79. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank zuzüglich 3 Prozentpunkten zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG WIE FOLGT:
1. Die Rüge bezüglich der überlangen Verfahrensdauer wird für zulässig erklärt ;
2. Artikel 6 Abs. 1 der Konvention ist verletzt worden;
3. (a) Der beschwerdegegnerische Staat hat dem Beschwerdeführer binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig wird, folgende Beträge zu zahlen:
(i) 1.500 Euro (eintausendfünfhundert Euro) in Bezug auf den immateriellen Schaden;
(ii) 250 Euro (zweihundertfünfzig Euro) für Kosten und Auslagen;
(iii) die für die vorstehend genannten Beträge ggf. zu berechnenden Steuern;
(b) nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten bis zur Auszahlung fallen für den obengenannten Betrag einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der
Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;
4. Die Forderung des Beschwerdeführers nach gerechter Entschädigung wird im Übrigen zurückgewiesen . ..." (EGMR, Urteil vom 16.07.2009 - 1126/05)
***
„... 43. Der Gerichtshof ruft in Erinnerung, dass die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens entsprechend den Umständen der Rechtssache und unter Berücksichtigung der in seiner Rechtsprechung verankerten Kriterien,
insbesondere der Komplexität des Falles, des Verhaltens des Beschwerdeführers und des Verhaltens der zuständigen Behörden sowie der Bedeutung des Rechtsstreits für die Betroffenen zu beurteilen ist (siehe unter vielen anderen
Dostál ./. Tschechische Republik, Nr. 52859/99, Rdnr. 179, 25. Mai 2004). Er erinnert auch daran, dass bei arbeitsrechtlichen Streitigkeiten eine besondere Eile geboten ist (Ruotolo ./. Italien, Urteil vom 27. Februar 1992, Serie A Bd.
230-D, Rdnr. 17, o.a. Rechtssache M., Rdnr. 55).
44. Der Gerichtshof räumt ein, dass das Verfahren eine gewisse Komplexität aufweist. Er stellt aber fest, die Regierung habe nicht nachgewiesen, inwiefern die zusätzlichen Forderungen des Beschwerdeführers und die anderen vom
ihm angestrengten arbeitsrechtlichen Verfahren das Arbeitsgericht daran gehindert haben, insbesondere über den verbleibenden Teil der Klage des Beschwerdeführers zu entscheiden, nachdem das Teilanerkenntnisurteil vom 21.
Oktober 2002 ergangen ist.
45. Was das Verhalten des Beschwerdeführers anbelangt, so ist der Gerichtshof der Ansicht, man könne ihm nicht vorwerfen, dass er seine Beschwerde vor dem Landesarbeitsgericht vom 15. Juli 1991 angesichts der Argumentation
des Arbeitsgerichts in seiner Entscheidung vom 26. August 1991 und der anschließenden Anfrage2 2 des Landesarbeitsgerichts zurückgenommen hat (Rdnrn. 16-17). Vor dem Hintergrund des Beschlusses des Arbeitsgerichts vom 24.
Januar 2002 (siehe Rdnr. 22) könne man ihm im Übrigen auch nicht vorwerfen, den Fortgang der Sache nicht zu einem früheren Zeitpunkt beantragt zu haben. Hinsichtlich der Dauer des Kündigungsschutzverfahrens, das dem
Beschluss zur Aussetzung dieses Verfahrens zugrunde lag, erinnert der Gerichtshof daran, er sei der Meinung gewesen, dass die vom Beschwerdeführer verursachten Verzögerungen angesichts der Gesamtdauer des Verfahrens nicht
entscheidend waren (o.a. Rechtssache M. , Rdnr. 52). Der Beschwerdeführer hat demnach nicht entscheidend zur Dauer des vorliegenden Verfahrens beigetragen.
46. Was das Verhalten der Arbeitsgerichte anbelangt, hebt der Gerichtshof hervor, dass das Verfahren in Erwartung des Ausgangs des Kündigungsschutzverfahrens zwischen 1991 und 2002 ausgesetzt war. Als Begründung hat das
Arbeitsgericht in seiner Entscheidung unterstrichen, dass es, sollte das Verfahren von ihm nicht ausgesetzt werden, verpflichtet sei, die Begründetheit der Kündigung im Rahmen des vor ihm anhängigen Verfahrens erneut zu prüfen.
Selbst wenn diese Argumentation nicht unangemessen erscheint und den mit dieser Sache befassten Richtern des Arbeitsgerichts folglich nicht angelastet werden könne, ist festzuhalten, dass die festgestellten Verzögerungen
gleichwohl von den Arbeitsgerichten unter Verletzung des Artikels 6 der Konvention verursacht worden sind (siehe o.a. Rechtssache M. , Rdnrn. 53 und 56). Nach Ansicht des Gerichtshofs entkräftet somit die Tatsache, dass die
Dauer dieses Verfahrens zum Teil durch den Beschluss bedingt ist, die Prüfung der Sache auszusetzen, nicht deren unverhältnismäßigen Charakter, sondern muss im Rahmen des Artikels 41 der Konvention berücksichtigt werden.
47. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass das Arbeitsgericht einige Monate nach Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens mit seinem Teilanerkenntnisurteil vom 21. Oktober 2002 zwar über einen Teil der Forderungen des
Beschwerdeführers entschieden hat, der verbleibende Teil der Klage jedoch immer noch anhängig ist. Die Regierung hat aber keine Erklärung abgegeben, die geeignet wäre, diese Dauer von sieben Jahren zu rechtfertigen, obwohl eine
besondere Zügigkeit deshalb geboten gewesen ist, weil es sich um eine arbeitsrechtliche Streitigkeit handelte und das Verfahren bereits seit ca. zwölf Jahren anhängig war (H., Nr. 57249, Rdnr. 49, 31. Juli 2003).
48. Demnach ist Artikel 6 Absatz 1 verletzt worden.
II. DIE BEHAUPTETE VERLETZUNG DES ARTIKELS 1 DES PROTOKOLLS NR. 1
49. Der Beschwerdeführer rügt auch eine Verletzung des Artikels 1 des Protokolls Nr. 1 aufgrund der Dauer des Verfahrens. Der einschlägige Passus dieses Artikels lautet wie folgt:
"Jede natürliche oder juristische Person hat das Recht auf Achtung ihres Eigentums (…).
50. Die Regierung behauptet, das Arbeitsgericht habe die durch die Verfahrensdauer bedingten verzögerten Zahlungen berücksichtigt, als es dem Beschwerdeführer die Zinsen zusprach. Sollten ihm im Lauf des Verfahrens bezüglich
des verbleibenden Teils seiner Forderung weitere Geldbeträge zugesprochen werden, seien diese grundsätzlich mit Verzugszinsen zu versehen.
51. Der Beschwerdeführer bestreitet die Argumente der Regierung.
A. Die mit dem Teilanerkenntnisurteil zugesprochenen Geldbeträge
52. Was die Geldbeträge anbelangt, die dem Beschwerdeführer mit Teilanerkenntnisurteil des Arbeitsgerichts vom 21. Oktober 2002 zugesprochen wurden, und unter Berücksichtigung seiner Schlussfolgerungen in Randnummer 48 ist
der Gerichtshof der Ansicht, dass diese Rüge zwar für zulässig zu erklären ist, er aber keine Notwendigkeit sieht, diese gesondert zu prüfen (siehe Varipati ./. Griechenland , Nr. 38459/97, Rdnr. 32, 26. Oktober 1999, Bec(vár( und
Bec(vár(ová ./. Tschechische Republik , Nr. 58358/00, Rdnr. 55, 14. Dezember 2004, oder Bogucki ./. Polen , Nr. 49961/99, Rdnr. 33, 15. November 2005).
B. Der verbleibende Teil der Klage
53. Was den verbleibenden Teil der Klage des Beschwerdeführers anbelangt, so stellt der Gerichtshof fest, dass das Verfahren immer noch vor dem Arbeitsgericht anhängig ist. Man kann demnach im jetzigen Stadium nicht von einem
Recht auf Eigentum sprechen und es steht dem Gerichtshof nicht zu, über den Ausgang dieses Verfahrens zu spekulieren ( Schmidtová ./. Tschechische Republik, Nr. 48568/99, Rdnr. 74, 22. Juli 2003, M. ./. Deutschland (Entsch.),
Nr. 42505/98, 28. September 2000).
54. Dieser Teil der Rüge erscheint demnach verfrüht und ist in Anwendung des Artikels 35 Absätze 1 und 4 der Konvention wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe zurückzuweisen.
III. DIE BEHAUPTETE VERLETZUNG DES ARTIKELS 13 DER KONVENTION
55. Der Beschwerdeführer rügt auch die Tatsache, es gäbe in Deutschland kein Gericht, an das man sich wenden könne, um sich über die übermäßige Verfahrensdauer zu beschweren. Er beruft sich auf Artikel 13 der Konvention,
dessen einschlägiger Passus wie folgt lautet:
"Jede Person, die in ihren in dieser Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, hat das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben (…)"
56. Die Regierung bestreitet diese These. Sie behauptet, der Beschwerdeführer habe die Möglichkeit gehabt, einerseits vor dem Landesarbeitsgericht die Aufhebung des Beschlusses zur Verfahrensaussetzung zu beantragen und
andererseits eine Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht zu erheben.
A. Zur Zulässigkeit
57. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass diese Rüge mit der Rüge wegen der Dauer zusammenhängt, die im Vorstehenden geprüft wurde und somit für unzulässig zu erklären ist.
B. Zur Hauptsache
58. Was die Wirksamkeit der Verfassungsbeschwerde anbelangt, um sich über die Dauer eines Zivilverfahrens im Sinne des Artikels 6 Absatz 1 der Konvention zu beschweren, so stellt der Gerichtshof fest, dass die Argumente der
Regierung bereits zu einem früheren Zeitpunkt zurückgewiesen worden sind (siehe o.a. Sürmeli, Rdnr. 108), und er sich nicht veranlasst sieht, im vorliegenden Fall eine andere Schlussfolgerung zu ziehen (Rdnr. 36).
59. Bezüglich des Rechtsbehelfs zum Landesarbeitsgericht zwecks Aufhebung der Verfahrensaussetzung erinnert der Gerichtshof daran, dass die den Rechtssuchenden nach innerstaatlichem Recht zur Verfügung stehenden
Rechtsbehelfe, um sich wegen der Dauer eines Verfahrens zu beschweren, im Sinne des Artikels 13 der Konvention dann "wirksam" sind, wenn sie das Auftreten oder die Fortsetzung der behaupteten Verletzung unterbinden oder dem
Betroffenen eine angemessene Möglichkeit zur Abhilfe wegen jeglicher bereits eingetretenen Verletzung bieten können. Eine Beschwerde ist folglich wirksam, sobald sie es ermöglicht, entweder die befassten Gerichte zu einer
früheren Entscheidungsfindung zu veranlassen oder dem Rechtssuchenden für die bereits beanstandeten Verzögerungen eine angemessene Entschädigung zu gewähren ( Mifsud ./. Frankreich (Entsch.) [GK], Nr. 57220/00, Rdnr. 17,
CEDH 2002-VIII). Die Wirksamkeit einer solchen Beschwerde hängt aber nicht von der Gewissheit ab, dass das Verfahren für den Beschwerdeführer erfolgreich endet, sondern bedeutet lediglich die Eröffnung eines Rechtsbehelfs vor
einer zuständigen Behörde, um eine Rüge in der Sache zu prüfen ( Bohucký. /.Slowakei , Nr. 16988/02, Rdnr. 43, 23. Oktober 2007, Sadura ./. Polen, Nr. 35382/06, Rdnr. 47, 1. Juli 2008, und Zaremba ./. Polen (Entsch.), Nr.
38019/07, 9. Dezember 2008).
60. Der Gerichtshof stellt fest, dass die von der Regierung geltend gemachte Beschwerde gestattet, die Begründetheit der Entscheidung zur Aussetzung eines Verfahrens zu kontrollieren und somit grundsätzlich als ein Rechtsbehelf
erachtet werden kann, um ein ausgesetztes Verfahren zu beschleunigen. Angesichts der Argumente jedoch, die vom Arbeitsgericht vorgebracht wurden, um die Verfahrensaussetzung zu rechtfertigen (siehe Rdnr. 45), und in denen
eindeutig darauf hingewiesen wird, dass die Wiederaufnahme des Verfahrens vor dem endgültigen Abschluss des Kündigungsschutzprozesses nicht denkbar sei, ist der Gerichtshof nicht davon überzeugt, dass ein solcher Rechtsbehelf
unter den gegebenen Umständen wirksamer Natur war. Die Absicht des Arbeitsgerichts im Hinblick auf die erneute Aussetzung des Verfahrens trotz der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts, die Wiederaufnahme des Verfahrens
einige Monate vorher anzuordnen (siehe Rdnr. 22), dürfte diese Feststellung bestätigen. Der Gerichtshof stellt im Übrigen fest, dieser Rechtsbehelf hätte keinen Einfluss auf das strittige Verfahren nach Abschluss des
Kündigungsschutzverfahrens im März 2002 gehabt.
61. Nach Ansicht des Gerichtshofs hat die Regierung demnach nicht nachgewiesen, dass dem Beschwerdeführer unter den gegebenen Umständen wirksame Rechtsbehelfe zur Verfügung standen, um sich über die überlange
Verfahrensdauer zu beschweren.
Daher ist Artikel 13 der Konvention verletzt worden.
IV. ZU DEN ANDEREN BEHAUPTETEN VERLETZUNGEN
62. Der Beschwerdeführer bringt schließlich Rügen auf der Grundlage von Artikel 14 der Konvention allein betrachtet und in Verbindung mit Artikel 6 der Konvention und Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 vor.
63. Angesichts der gesamten ihm vorliegenden Unterlagen und der ihm obliegenden Zuständigkeit, die vorgebrachten Behauptungen zu würdigen, kann der Gerichtshof eine Verletzung der nach der Konvention und ihren Protokollen
zugesicherten Rechte und Freiheiten nicht erkennen.
Hieraus ergibt sich, dass diese Rügen offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Absätze 3 und 4 der Konvention zurückzuweisen sind.
V. ZUR ANWENDUNG DES ARTIKELS 41 DER KONVENTION
64. Artikel 41 der Konvention lautet wie folgt: ...
A. Schaden
65. Der Beschwerdeführer fordert 35.000 Euro (EUR) für den materiellen Schaden. Dieser Betrag würde den seit 20 Jahren fälligen Zahlungen entsprechen, die dem verbleibenden Teil seiner Klage vor dem Arbeitsgericht zugrunde
liegen. Hinsichtlich des immateriellen Schadens überlässt der Beschwerdeführer die Entscheidung dem Ermessen des Gerichtshofs und verweist auf die Besonderheiten der Rechtssache.
66. Die Regierung bestreitet den Kausalzusammenhang zwischen den Forderungen aufgrund des materiellen Schadens und der Dauer des Verfahrens. Bezüglich des immateriellen Schadens unterstreicht die Regierung, dass die
festgestellten Verzögerungen zum Teil dem Verhalten des Beschwerdeführers anzulasten sind.
67. Der Gerichtshof sieht keinen Kausalzusammenhang zwischen den festgestellten Verletzungen und dem behaupteten materiellen Schaden und weist diese Forderung zurück. Er ist hingegen der Auffassung, der Beschwerdeführer
habe mit Sicherheit einen immateriellen Schaden erlitten. In diesem Zusammenhang möchte er unterstreichen, dass, insoweit die festgestellte Dauer durch die Aussetzung des strittigen Verfahrens in Erwartung des Abschlusses des
Kündigungsschutzverfahrens im März 2002 verursacht wurde, die Feststellung einer Verletzung eine ausreichende gerechte Entschädigung darstellt. Was hingegen den Zeitraum seit diesem Datum bis zum heutigen Tag anbelangt, so
erachtet der Gerichtshof, dass die Feststellung einer Verletzung nicht ausreichend ist. Auf einer gerechten Grundlage billigt er ihm hierfür 8.000 EUR zu.
B. Kosten und Auslagen
68. Der Beschwerdeführer hat 2.500 polnische Z?oty (PLN) in Form von Anwaltsgebühren für seinen ersten Bevollmächtigten, Rechtsanwalt H (dies entspricht ca. 540 EUR im November 2003) und 1.300 EUR (später 1.500 EUR) für
seine zweite Bevollmächtigte, Rechtsanwältin K, gefordert.
Außerdem fordert er die Erstattung der eigenen Kosten bedingt durch die Abfassung seiner Klageschrift und anderer Stellungnahmen und Schreiben an den Gerichtshof (1.000 EUR) sowie der Rechtsbehelfe zum Landesarbeitsgericht
München (600 EUR), die Erstattung der Kosten für Reisen nach Warschau zwecks Unterredung mit seinem ersten Bevollmächtigen (723 EUR) und nach Straßburg zwecks Einsichtnahme in seine Akte beim Gerichtshof (229,80 EUR)
sowie der Übersetzungskosten (597,02 EUR), der Portogebühren (43,24 EUR), der Ausgaben für Ablichtungen (58,65 EUR), Telefax-Sendungen an den Gerichtshof (10 EUR), Schreibmaterial (20 EUR) und den Kauf von Büchern,
um seine Beschwerde vorzubereiten (217 PLN).
69. Die Regierung hebt hervor, es gäbe keine Belege für die Kosten des zweiten Bevollmächtigten des Beschwerdeführers, und behauptet, diese seien jedenfalls zu hoch angesetzt. Sie widerspricht ferner der Erstattung der Kosten
bezüglich der Abfassung von Stellungnahmen und Schreiben durch den Beschwerdeführer selbst (keine Belege) und der Reisekosten (keine Notwendigkeit).
70. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann ein Beschwerdeführer die Erstattung seiner Kosten und Auslagen nur insoweit erhalten, als diese tatsächlich angefallen sind und erforderlich waren und im Hinblick auf ihre Höhe
angemessen sind. Im vorliegenden Fall und unter Berücksichtigung der dem Gerichtshof vorliegenden Unterlagen und der vorgenannten Kriterien erachtet er den Betrag von 1.650 EUR wegen des Verfahrens vor dem Gerichtshof für
angemessen und billigt dem Beschwerdeführer diesen Betrag abzüglich der hierfür im Wege der Prozesskostenhilfe bereits zugesprochenen Beträge (850 EUR) zu. Was die anderen geforderten Beträge anbelangt, stellt er fest, der
Beschwerdeführer habe deren Bedarf für das Verfahren vor dem Gerichtshof nicht nachgewiesen oder keine entsprechenden Belege innerhalb der hierfür gesetzten Fristen vorgelegt, weshalb diese zurückzuweisen sind.
C. Verzugszinsen
71. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank zuzüglich 3 Prozentpunkte zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG WIE FOLGT:
1. Er erklärt die Beschwerde in Bezug auf die Rüge wegen der überlangen Verfahrensdauer, der Rüge auf der Grundlage des Artikels 1 des Protokolls Nr. 1 hinsichtlich der Dauer des Verfahrens betreffend die mit dem
Teilanerkenntnisurteil des Arbeitsgerichts vom 21. Oktober 2002 zugebilligten Beträge und der Rüge des Fehlens einer diesbezüglichen wirksamen Beschwerde für zulässig und im Übrigen für unzulässig.
2. Er entscheidet , dass Artikel 6 Absatz 1 der Konvention verletzt ist.
3. Er entscheidet , dass keine Notwendigkeit besteht, die Rüge auf der Grundlage von Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 zu prüfen.
4. Er entscheidet, dass Artikel 13 der Konvention verletzt ist.
5. Er entscheidet, dass
a) der beschwerdegegnerische Staat dem Beschwerdeführer innerhalb von drei Monaten, nachdem das Urteil gemäß Artikel 44 Absatz 2 der Konvention endgültig geworden ist, 8.000 (achttausend) EUR wegen des immateriellen
Schadens und 1.650 (eintausendsechshundertfünfzig) EUR für Kosten und Auslagen abzüglich 850 (achthundertfünfzig) EUR, die hierbei bereits als Prozesskostenhilfe gezahlt wurden, sowie jeden Betrag, der als Steuer geschuldet
werden kann, zu zahlen hat;
b) diese Beträge nach Ablauf der genannten Frist und bis zur Zahlung um einfache Zinsen zu dem Satz zu erhöhen sind, der dem in diesem Zeitraum geltenden Spitzenrefinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank entspricht,
welcher um drei Prozentpunkte erhöht wird.
6. Er weist im Übrigen den Antrag auf gerechte Entschädigung zurück. ..." (EGMR, Urteil vom 11.06.2009 - 71972/01)
***
Art 6 Abs 1 MRK ist verletzt, wenn die Verfahrensdauer (hier: zehn Jahre und siebzehn Monate für das Widerspruchsverfahren und vier gerichtliche Instanzen) in Anbetracht der Umstände der Rechtssache sowie unter
Berücksichtigung der Komplexität des Falles, des Verhaltens der Beschwerdeführerin und der zuständigen Behörden und der Bedeutung des Rechtsstreits, nicht als angemessen angesehen werden kann. Die Kürzung des
Quartalshonorars für eingehende Untersuchungen um 15% (hier: Zusprechung von 32.200 Euro anstelle von 33.200 Euro) verletzt weder Art 8 MRK noch Art 1 MRKZProt (EGMR, Urteil vom 11.06.2009 - 17878/04 - juris):
„... 53. Die Beschwerdeführerin rügte, dass die Verfahrensdauer mit dem Gebot der "angemessenen Frist" nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention unvereinbar gewesen sei, der wie folgt lautet: ...
A) Zulässigkeit
55. Die Regierung machte geltend, dass die Beschwerdeführerin in Bezug auf die Rüge der Verfahrensdauer den innerstaatlichen Rechtsweg nicht erschöpft habe. Es sei ihr möglich gewesen, im Vorverfahren Untätigkeitsklage gemäß
§ 88 des Sozialgesetzbuchs anhängig zu machen, mit der sie die Dauer dieses Verfahrens wirksam hätte anfechten können.
56. Die Beschwerdeführerin bestritt diese Auffassung.
57. Der Gerichtshof merkt an, dass der Beschwerdeausschuss den Widerspruch der Beschwerdeführerin am 20. Oktober 1994, ungefähr elf Monate nach ihrer Widerspruchseinlegung am 8. November 1993, zurückwies. Angesichts des
verhältnismäßig kurzen Zeitraums (siehe, im Gegensatz dazu Rechtssache Glüsen ./ Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 1679/03, Randnrn. 13-15 und 67, 10. Januar 2008) und im Hinblick darauf, dass der Beschwerdeführerin
durch eine Untätigkeitsklage eine Kontrollinstanz vorenthalten worden wäre und sie einen (möglicherweise günstigen) Beschluss des Beschwerdeausschusses verwirkt hätte, was in von der Beschwerdeführerin vor diesem Ausschuss
betriebenen früheren Verfahren auch geschehen war, ist der Gerichtshof der Ansicht, dass in der vorliegenden Rechtssache die Erhebung einer derartigen Klage von der Beschwerdeführerin nicht erwartet werden konnte.
58. Daraus folgt, dass dieser Einwand der Regierung zurückzuweisen ist.
59. Der Gerichtshof stellt überdies fest, dass diese Rüge nicht offensichtlich unbegründet im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 der Konvention ist. Sie ist überdies auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B) Begründetheit
1. Maßgeblicher Zeitraum
60. Der Gerichtshof stellt fest, dass der maßgebliche Zeitraum am 8. November 1993 mit der Widerspruchseinlegung durch die Beschwerdeführerin begann und am 25. November 2003 mit der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts endete. Folglich dauerte das Verfahren zehn Jahre und siebzehn Tage, wobei ein zwingend vorgeschriebenes Widerspruchsverfahren und vier gerichtliche Instanzen durchlaufen wurden.
2. Angemessenheit der Verfahrensdauer
a) Die Vorbringen der Parteien
61. Die Beschwerdeführerin behauptete, dass die gesamte Dauer des Verfahrens das Gebot der "angemessenen Frist" nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verletzt habe. Sie betonte, dass die Regierung eine plausible Erklärung für die
Jahre 1995 bis 1997 schuldig geblieben sei. Die Beschwerdeführerin räumte ein, dass ihre Erkrankung zu einer Verzögerung von einem Jahr geführt habe. Ihres Erachtens hatten ihre wiederholten Anträge, in den Sommerferien nicht
zu terminieren, jedoch nicht zu der langen Ver-fahrensdauer beigetragen; sie bezweckten vielmehr, dem Verfahren reibungslos Fortgang zu geben. Die Beschwerdeführerin räumte auch ein, dass die Rechtssache von einer gewissen
Komplexität war.
62. Die Regierung trug vor, dass die Rechtssache komplex war, weil die Vergütung der kassenärztlichen Vertragsärzte sehr kompliziert geregelt sei. Sie wies auch darauf hin, dass im Verwaltungsverfahren und im sozialgerichtlichen
Verfahren eine Vielzahl von Personen und Körperschaften, die beizuladen waren, beteiligt war.
63. Die Regierung war überdies der Auffassung, dass ein Zeitraum von zwei Jahren und acht Monaten eindeutig der Beschwerdeführerin anzulasten sei. Sie führte insoweit insbesondere die zahlreichen und wiederholten Anträge der
Beschwerdeführerin, in den Sommerferien keinen Verhandlungstermin anzuberaumen, die Nichtvorlage der von ihrem Anwalt angekündigten weiteren Stellungnahmen und ihre verspätete Reaktion auf den Vorschlag, eine
Einzelrichterentscheidung ergehen zu lassen, sowie ihre Erkrankung an.
64. Hinsichtlich des Verhaltens der Behörden räumte die Regierung ein, dass eine Verzögerung von mehreren Monaten auf den Umzug des Landessozialgerichts in ein neues Gebäude zurückzuführen war.
65. Die Regierung wies schließlich darauf hin, dass das Verfahren für die Beschwerdeführerin nur von geringer Bedeutung gewesen sei, weil der streitige Betrag lediglich 1.000 Euro betrug, sie aber eine Vergütung in Höhe von 32.200
Euro erhalten hatte.
b) Würdigung durch den Gerichtshof
66. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Angemessenheit der Verfahrensdauer in Anbetracht der Umstände der Rechtssache sowie unter Berücksichtigung folgender Kriterien zu beurteilen ist: der Komplexität des Falls,
des Verhaltens der Beschwerdeführerin und der zuständigen Behörden sowie der Bedeutung des Rechtsstreits für die Beschwerdeführerin (siehe u. v a. Rechtssache Frydlender ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 30979/96,
Randnr. 43, EGMR 2000-VII).
67. Der Gerichtshof stellt eingangs fest, dass das Verfahren die Frage betraf, ob die Kürzung des Quartalshonorars der Beschwerdeführerin für das Jahr 1993 wegen Unwirt-schaftlichkeit gerechtfertigt war; diese Frage wird in einem
komplexen Verfahren unter Anwendung recht komplizierter Vorschriften geprüft. Er merkt ferner an, dass etliche Körperschaften von den Sozialgerichten beigeladen wurden. Der Gerichtshof stimmt daher mit den Parteien
dahingehend überein, dass die Rechtssache rechtlich und sachlich von einer gewissen Komplexität war.
68. Hinsichtlich des Verhaltens der Beschwerdeführerin verweist der Gerichtshof zunächst auf die vorstehende Feststellung, dass es der Beschwerdeführerin nicht zuzumuten war, Untätigkeitsklage beim Sozialgericht anhängig zu
machen (siehe Randnr. 57, oben). Der Gerichtshof stellt darüber hinaus fest, dass die Beschwerdeführerin die nationalen Gerichte zwar mehrfach bat, im Sommer keinen Verhandlungstermin anzuberaumen, es aber nicht ersichtlich ist,
dass die Gerichte in dieser Zeit überhaupt terminieren wollten. Die Regierung hat nichts Gegenteiliges vorgetragen. Das Sozialgericht hat den entsprechenden Antrag der Beschwerdeführerin nur 1998 berücksichtigt; insoweit ist ihr
eine Verzögerung von etwa einem Monat zuzurechnen. Weitere Verzögerungen von insgesamt fast zwei Jahren wurden von der Beschwerdeführerin im Verfahren vor dem Landessozialgericht verursacht, weil sie die
Prozessvollmacht, ihre angekündigte Stellungnahme und ihre Erklärung zu einer Einzelrichterentscheidung verspätet vorgelegt hat, und schließlich auch weil sie erkrankte.
69. Sich dem Verhalten der nationalen Behörden zuwendend, merkt der Gerichtshof insbesondere an, dass es mehr als zweieinhalb Jahre gedauert hat, bis die erste mündliche Verhandlung vor dem Sozialgericht Hamburg stattfand - in
der das Gericht überdies lediglich feststellte, dass weitere Informationen erforderlich seien - und dass die endgültige Entscheidung erst nach einem weiteren Jahr erging. Die Regierung hat sich zu diesen erheblichen Phasen der
Untätigkeit, die anscheinend in erster Linie auf die hohe Arbeitsbelastung des Beschwerdeausschusses zurückzuführen waren, nicht geäußert. Insbesondere hat das Sozialgericht bis auf eine Erinnerung im August 1995 offenbar keine
Fristen gesetzt, um den Fortgang des Verfahrens zu sichern. Erhebliche Verzögerungen von mehr als 18 Monaten sind auch durch das Landessozialgericht verursacht worden, insbesondere aufgrund des Umzugs des Gerichts und
verspäteter Gewährung von Akteneinsicht.
70. Im Hinblick auf die Bedeutung der Rechtssache für die Beschwerdeführerin ging es in diesem Verfahren zwar um eine Kürzung ihres Quartalshonorars für die Eingehenden Untersuchungen um lediglich 15 % (dies entspricht 1.000
Euro); allerdings wurde ihr eine Vergütung in Höhe von 32.200 Euro für das erste Quartal des Jahres 1993 zugesprochen. Insoweit stimmt der Gerichtshof mit der Regierung dahingehend überein, dass die Rechtssache keiner
besonderen Förderung bedurfte.
71. Bei Würdigung der Umstände des Falls insgesamt und insbesondere in Anbetracht der Dauer der Anhängigkeit des Verfahrens bei dem Sozialgericht Hamburg ist der Gerichtshof gleichwohl der Auffassung, dass die
Verfahrensdauer im vorliegenden Fall dem Erfordernis der "angemessenen Frist" nicht entsprach. Folglich ist Artikel 6 Abs.1 der Konvention verletzt worden.
II. WEITERE BEHAUPTETE VERLETZUNGEN
72. Die Beschwerdeführerin rügte ferner nach Artikel 6 der Konvention, dass das Verfahren nicht fair gewesen sei, und beanstandete nach Artikel 8 sowie Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 die Kürzung ihres Quartalshonorars im Jahre 1993.
73. Der Gerichtshof hat die übrigen von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Rügen geprüft. Unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und soweit die Rügen unter seine Zuständigkeit fallen, stellt der
Gerichtshof fest, dass es keine Anzeichen für eine Verletzung der in der Konvention oder den Protokollen dazu bezeichneten Rechte und Freiheiten gibt. Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet und
nach Artikel 35 Absätze 3 und 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
III. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION ...
A) Schaden
75. Die Beschwerdeführerin verlangte 1.000 Euro für materiellen und 20.000 Euro für immateriellen Schaden.
76. Die Regierung wandte sich gegen diese Forderungen und trug insbesondere vor, dass der materielle Schaden nicht durch die Verfahrensverzögerung entstanden sei.
77. Hinsichtlich des von der Beschwerdeführerin geltend gemachten materiellen Schadens merkt der Gerichtshof an, dass der behauptete Schaden mit dem Ausgang des Verfahrens in Zusammenhang stand und folglich nicht aufgrund
der Dauer des Verfahrens an sich entstanden ist. Insoweit weist er diesen Anspruch ab.
78. Der Gerichtshof ist hingegen der Ansicht, dass die Beschwerdeführerin einen immateriellen Schaden erlitten haben muss. Er entscheidet nach Billigkeit und spricht ihr unter dieser Rubrik 500 Euro zu.
B) Kosten und Auslagen
79. Die Beschwerdeführerin verlangte auch 1.160 Euro für Rechtsanwaltsgebühren in dem Verfahren vor dem Bundessozialgericht.
80. Die Regierung wandte sich gegen die Erstattung dieser Kosten und wies unter anderem darauf hin, dass sie nicht durch die Verfahrensdauer entstanden seien.
81. Der Gerichtshof stimmt mit der Regierung dahingehend überein, dass diese Kosten nicht mit der von ihm festgestellten Verletzung zusammenhängen. Somit weist er die Forderung nach Erstattung von Kosten und Auslagen zurück.
C) Verzugszinsen
82. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN HAT DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG WIE FOLGT ENTSCHIEDEN:
1. Die Rüge wegen der überlangen Verfahrensdauer wurde für zulässig und die Individualbeschwerde im Übrigen für unzulässig erklärt ;
2. Artikel 6 Abs. 1 der Konvention ist verletzt worden;
3. a) der beschwerdegegnerische Staat hat der Beschwerdeführerin binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig wird, 500 EUR (fünfhundert Euro), zuzüglich der
gegebenenfalls zu berechnenden Steuern, als Entschädigung für den immateriellen Schaden zu zahlen;
b) nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten bis zur Auszahlung fallen für den oben genannten Betrag einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der
Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;
4. Im Übrigen wurden die Forderungen der Beschwerdeführerin nach gerechter Entschädigung zurückgewiesen. ..."
***
Endet ein Strafverfahren mit dem Freispruch des Angeklagten, dann wird eine im Verfahren eingetretene Verletzung des Gebots zur Entscheidung innerhalb angemessener Frist (Art. 6 EMRK) nicht dadurch kompensiert, daß der
Angeklagte nach § 467 Abs. 1 StPO Anspruch auf Erstattung von Auslagen, Anspruch auf Entschädigung für eine notwendige Zeitversäumnis (§ 464a Abs. 2 StPO), Entschädigungsansprüche nach dem StrEG oder möglicherweise
Amtshaftungsansprüche nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG hat (EGMR, Urteil vom 13.11.2008 - Individualbeschwerde Nr. 10597/03 - Fall O. ./. Deutschland zu EMRK Art. 6; StPO §§ 464a, 467; StrEG § 2 ff).
***
Die Herabsetzung einer Strafe wegen überlanger Verfahrensdauer nimmt dem Betroffenen nicht grundsätzlich die Opfereigenschaft i.S. von Art. 34 EMRK. Etwas anderes gilt, wenn das Gericht die Konventionsverletzung
ausdrücklich oder zumindest der Sache nach anerkannt und angemessene Wiedergutmachung geleistet hat. In Fällen, in denen dem Gebot der Entscheidung in angemessener Frist nach Art. 6 I EMRK nicht entsprochen worden ist,
können die Gerichte angemessene Wiedergutmachung insbesondere durch eine ausdrückliche und messbare Minderung der Strafe leisten. Mit einer solchen Strafminderung kann die Verletzung von Art. 5 III EMRK auch in Fällen
angemessen wieder gut gemacht werden, in denen die Sache eines Bf., der sich in Untersuchungshaft befindet, nicht innerhalb angemessener Frist verhandelt worden ist. Im vorliegenden Fall hatte das Gericht in seinem Urteil
ausgeführt, es hätte den Angeklagten zu neun Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, wenn das Verfahren binnen angemessener Frist abgeschlossen worden wäre. Wegen der Verletzung von Art. 6 I EMRK setze es die Strafe auf sechs Jahre
und sechs Monate herab. Damit hat der Bf. die Eigenschaft des Opfers einer Verletzung von Art. 6 I EMRK verloren. Die Eigenschaft eines Opfers der Verletzung von Art. 5 III EMRK ist dagegen nicht entfallen, weil die Strafe nicht
messbar gemindert worden ist, um der Verletzung auch dieses Artikels abzuhelfen. Das hat der Gerichtshof in diesem Falle angenommen, obwohl das Landgericht ausgeführt hatte, die Verfahrensverzögerungen seien besonders
schwerwiegend, weil sich der Bf. schon mehr als zwei Jahre in Untersuchungshaft befindet (EGMR, Urteil vom 10.11.2005 - 65745/01).
***
Art. 7 EMRK Keine Strafe ohne Gesetz
(1) Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Es darf auch keine schwerere als die zur Zeit der
Begehung angedrohte Strafe verhängt werden.
(2) Dieser Artikel schließt nicht aus, dass jemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt oder bestraft wird, die zur Zeit ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen
strafbar war.
Leitsätze/Entscheidungen:
„... 55. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer in der vorliegenden Rechtssache seine nachträgliche Sicherungsverwahrung rügte, die sich aus dem Urteil des Landgerichts Frankfurt vom 13. März 2008 ergab, welches
vom Bundesgerichtshof (am 10. September 2008) und vom Bundesverfassungsgericht (am 5. August 2009) bestätigt worden war. Alle später durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 eingeführten
Rechtsbehelfe zur Überprüfung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers sind daher nicht geeignet, ihm Abhilfe in Bezug auf den vorliegend in Rede stehenden früheren Zeitraum seiner Sicherungsverwahrung
zu schaffen.
56. Der Gerichtshof hat die oben erwähnten Einwendungen der Regierung in ähnlichen Fällen geprüft und zurückgewiesen (siehe insbesondere O. H. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 4646/08, Rdnrn. 62-69, 24. November
2011). Er sieht keinen Grund, in der vorliegenden Rechtssache zu einer anderen Schlussfolgerung zu gelangen. Daher muss die Einwendung der Regierung, der Beschwerdeführer habe die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht
erschöpft und seinen Opferstatus verloren, zurückgewiesen werden.
57. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
a) Der Beschwerdeführer
58. Der Beschwerdeführer vertrat die Auffassung, dass seine nachträglich angeordnete Sicherungsverwahrung Artikel 7 Abs. 1 der Konvention verletzt habe. Unter Bezugnahme auf die Rechtssache M ./. Deutschland (a.a.O.) brachte
er vor, seine Sicherungsverwahrung sei als Strafe im Sinne dieses Artikels einzustufen. Er betonte, dass es, als er zwischen 1988 und 1990 seine Taten begangen habe, nicht möglich gewesen sei, die Sicherungsverwahrung
nachträglich, nachdem das Urteil des erkennenden Gerichts rechtskräftig geworden sei, anzuordnen. Die gesetzliche Grundlage seiner nachträglichen Sicherungsverwahrung, § 66b StGB, sei erst später, im Jahr 2004, erlassen worden.
59. Der Beschwerdeführer brachte vor, durch die nachträgliche Anordnung seiner Sicherungsverwahrung sei ihm eine "schwerere" als die zur Zeit der Begehung der Straftaten angedrohte Strafe auferlegt worden. Er brachte vor, alleine
die Tatsache, dass die Sicherungsverwahrung zur Zeit seiner Taten und Verurteilung nicht nachträglich habe angeordnet werden können, reiche für die Schlussfolgerung aus, dass ihm durch das Urteil des Landgerichts Frankfurt am
Main vom 13. März 2008 rückwirkend eine "schwerere" Strafe auferlegt worden sei.
60. Der Beschwerdeführer führte an, man könne nicht davon ausgehen, dass er einfach aus dem Vollzug einer Maßregel der Besserung und Sicherung von unbestimmter Dauer (Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus) in
den Vollzug einer anderen solchen Maßregel von unbestimmter Dauer (Sicherungsverwahrung) verlegt worden sei. Seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus sei im Jahr 2007 beendet worden, da bei ihm nie ein
Zustand vorgelegen habe, der seine Unterbringung in einem solchen Krankenhaus gerechtfertigt habe. Daher sei bereits seine Unterbringung in dieser Klinik unrechtmäßig gewesen. Eine einfache Überstellung in einem psychiatrischen
Krankenhaus untergebrachter Personen in die Sicherungsverwahrung sei nach deutschem Recht zu keinem Zeitpunkt zulässig gewesen. Vielmehr sei es vor dem Inkrafttreten von § 66b Abs. 3 StGB ständige Rechtsprechung der
deutschen Gerichte gewesen, dass eine Person aus einem psychiatrischen Krankenhaus entlassen werden müsse, wenn bei ihr ein die Schuldfähigkeit ausschließender oder vermindernder Zustand nicht mehr vorliege, auch wenn diese
Person für die Allgemeinheit immer noch gefährlich sei (siehe Rdnr. 39). Wenn § 66b Abs. 3 StGB nicht in Kraft getreten wäre, wäre er am 20. März 2005 entlassen worden.
61. Darüber hinaus betonte der Beschwerdeführer, dass das erkennende Gericht es ausdrücklich abgelehnt habe, zum Zeitpunkt seiner Verurteilung im Jahr 1992 neben seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB anzuordnen, obwohl dies nach dem zu diesem Zeitpunkt anwendbaren Recht erlaubt gewesen wäre (§ 72 Abs. 2 StGB, siehe Rdnr. 37). Er habe sich daher zu Recht
darauf verlassen, dass er nicht in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden würde, denn seine Verurteilung, bei der keine Sicherungsverwahrung angeordnet worden sei, sei 1992 rechtskräftig geworden. Die nachträgliche
Anordnung seiner Sicherungsverwahrung im Jahr 2008 komme daher der rückwirkenden Änderung der ihm auferlegten Strafe zu seinem Nachteil gleich, ohne dass nach seiner Verurteilung neue Tatsachen aufgetreten seien, und dies
viele Jahre nach Rechtskraft seiner Verurteilung.
62. Der Beschwerdeführer brachte darüber hinaus vor, ihm seien keine individuell zugeschnittenen Therapieangebote unterbreitet worden.
b) Die Regierung
63. Die Regierung vertrat die Auffassung, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers mit dem in Artikel 7 Abs. 1 der Konvention niedergelegten Grundsatz "nullum crimen, nulla poena sine lege" vereinbar
gewesen sei. Sie betonte, dass die Sicherungsverwahrung nach innerstaatlichem Recht keine "Strafe" sei. Dies sei vom Bundesverfassungsgericht mehrfach bestätigt worden.
64. Die Regierung brachte weiter vor, dass die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers zumindest unter den Umständen des vorliegenden Falles nicht als Strafe im Sinne der Konvention einzustufen sei. Zur Stützung ihrer
Auffassung nahm sie allgemein auf ihre Stellungnahme in der Rechtssache M. ./. Deutschland (a.a.O.) Bezug. Darüber hinaus seien dem Beschwerdeführer über viele Jahre Therapieangebote unterbreitet worden, und eine Therapie sei
nur deshalb nicht durchgeführt worden, weil er dies energisch abgelehnt habe. Erst vor kurzem habe er eingewilligt, an einem sozialen Trainingskurs in der Justizvollzugsanstalt teilzunehmen.
65. Jedenfalls könne die nach § 66b Abs. 3 StGB angeordnete und somit rechtmäßige Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers nicht als "schwerere" Strafe im Sinne von Artikel 7 Abs. 1 EMRK eingestuft werden. Die zeitlich
unbegrenzte Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers sei nicht nach seiner Verurteilung erstmalig nachträglich angeordnet worden. Der Beschwerdeführer sei lediglich von einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und
Sicherung von unbestimmter Dauer - seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB - in eine andere freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung von unbestimmter Dauer, die
Sicherungsverwahrung, überwiesen worden. Man gehe nicht mehr davon aus, dass bei ihm ein die Schuldfähigkeit ausschließender oder vermindernder Umstand vorliege, halte ihn aber immer noch für gefährlich für die
Allgemeinheit. Daher sei es angebracht gewesen, seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zu beenden und ihn stattdessen in der Sicherungsverwahrung unterzubringen. Beide Maßnahmen dienten dazu, die
Öffentlichkeit vor gefährlichen Straftätern zu schützen.
66. Die Regierung betonte in diesem Zusammenhang, dass die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus bis zu ihrer Erledigung im Jahr 2007 rechtmäßig gewesen sei. Sie habe auf dem
rechtskräftigen Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main aus dem Jahr 1992 beruht, das nach Hinzuziehung zweier Sachverständiger die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet
habe. Dass das Landgericht im Jahr 2007 befunden habe, bei dem Beschwerdeführer habe zur Tatzeit kein Zustand der verminderten Schuldfähigkeit vorgelegen, ändere an dieser Schlussfolgerung nichts. Wäre das erkennende Gericht
der Auffassung gewesen, dass der Beschwerdeführer voll schuldfähig gewesen sei, hätte es nach § 66 StGB seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Diese Maßnahme habe es nur deshalb nicht angeordnet, weil
es der Auffassung gewesen sei, dass das mit Maßregeln der Besserung und Sicherung verfolgte Ziel durch die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus leichter als durch seine
Sicherungsverwahrung erzielt werden könne (§ 72 Abs. 1 StGB, siehe Rdnr. 37).
67. Die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers könne daher nicht als zusätzliche Freiheitsentziehung eingestuft werden, sondern nur als Vollstreckung einer durch das erkennende Landgericht Frankfurt am Main im Jahr 1992
angeordneten Freiheitsentziehung in einer anderen Einrichtung, die wegen der fortbestehenden Gefährlichkeit des Beschwerdeführers erfolge. Dies sei nach Artikel 7 Abs. 1 Satz 2 nicht verboten. Die Tatsache, dass ein neues Urteil
erforderlich sei, um die Sicherungsverwahrung im Falle einer Erfüllung der engen Voraussetzungen des § 66b Abs. 3 StGB, der vom Gesetzgeber aus Gründen der Verhältnismäßigkeit eingeführt worden sei, nachträglich anzuordnen,
ändere an dieser Schlussfolgerung nichts. Dem Beschwerdeführer sei zum Zeitpunkt seiner Verurteilung bewusst gewesen, dass er bis zu einer wesentlichen Minderung seiner Gefährlichkeit untergebracht werden würde. Ohne die
Gesetzesänderung im Jahr 2004, mit dem § 67d Abs. 6 und § 66b Abs. 3 in das Strafgesetzbuch eingefügt worden seien, wäre der Beschwerdeführer nach den anwendbaren Gesetzesbestimmungen weiter in einem psychiatrischen
Krankenhaus untergebracht worden, solange er für die Allgemeinheit gefährlich sei, auch wenn er nicht mehr an einer seine Schuldfähigkeit mindernden oder ausschließenden psychischen Störung gelitten hätte. Die Regierung räumte
jedoch ein, dass eine Mehrheit der deutschen Strafvollstreckungsgerichte vor der Gesetzesänderung die Entlassung des Beschwerdeführers angeordnet hätte, wenn bewiesen gewesen wäre, dass bei ihm kein Zustand der verminderten
Schuldfähigkeit mehr vorliege.
68. Die Regierung brachte schließlich vor, dass sie, wenn die Entlassung des Beschwerdeführers angeordnet worden wäre, ihre sich aus Artikel 2 der Konvention ergebende positive Verpflichtung, potenzielle Opfer vor weiteren
sexuell motivierten Morden zu schützen, missachtet hätte. Nach den Feststellungen der innerstaatlichen Gerichte sei es sehr wahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Freilassung solche Straftaten begehen werde.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
a) Zusammenfassung der einschlägigen Grundsätze
69. Der Gerichtshof weist erneut auf die in seiner Rechtsprechung zu Artikel 7 der Konvention festgelegten einschlägigen Grundsätze hin, die im Zusammenhang mit einer früheren Individualbeschwerde zur Sicherungsverwahrung in
Deutschland in seinem Urteil in der Rechtssache M. ./. Deutschland (a. a. O.) wie folgt zusammengefasst wurden:
"119. Mit "Gesetz"/"Recht" (law) wird in Artikel 7 genau auf den Begriff Bezug genommen, auf den in der Konvention auch sonst Bezug genommen wird, wenn dieser Ausdruck verwendet wird, ein Begriff, der qualitative
Anforderungen impliziert, einschließlich Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit (siehe Cantoni ./. Frankreich, 15. November 1996, Rdnr. 29, Reports 1996-V; Coëme u.a. ./. Belgien, Nrn. 32492/96, 32547/96, 32548/96, 33209/96 und
33210/96, Rdnr. 145, ECHR 2000-VII; und Achour, a.a.O., Rdnr. 42). Diese qualitativen Anforderungen müssen sowohl in Bezug auf die Definition einer Straftat als auch die Strafe, mit der diese bedroht ist, erfüllt sein (siehe Achour,
a.a.O., Rdnr. 41, und Kafkaris, a.a.O., Rdnr. 140). ...
120. Der Begriff der "Strafe" in Artikel 7 ist in seiner Reichweite autonom. Um den durch Artikel 7 gewährleisteten Schutz wirksam werden zu lassen, muss es dem Gerichtshof freistehen, nicht nur den äußeren Anschein zu
betrachten und seine eigene Würdigung der Frage vorzunehmen, ob eine bestimmte Maßnahme im Wesentlichen eine "Strafe" im Sinne dieser Bestimmung darstellt (siehe Rechtssachen Welch ./. Vereinigtes Königreich, 9. Februar
1995, Rdnr. 27, Serie A Band 307-A; Jamil ./. Frankreich, 8. Juni 1995, Rdnr. 30, Serie A Band 317-B; und Uttley, a. a. O.). Aus dem Wortlaut von Artikel 7 Abs. 1 Satz 2 ergibt sich, dass der Ausgangspunkt für die Prüfung, ob es
sich bei der betreffenden Maßnahme um eine Strafe handelt, die Frage ist, ob sie im Anschluss an eine Verurteilung wegen einer "Straftat" verhängt wird. Weitere erhebliche Faktoren sind die Charakterisierung der Maßnahme nach
innerstaatlichem Recht, die Art und der Zweck der Maßnahme, die mit ihrer Schaffung und Umsetzung verbundenen Verfahren und die Schwere der Maßnahme (siehe Welch, a. a. O., Rdnr. 28; Jamil, a. a. O., Rdnr. 31; Adamson ./.
Vereinigtes Königreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 42293/98, 26. Januar 1999; Van der Velden ./. Niederlande (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 29514/05, EGMR 2006-XV; und Kafkaris, a. a. O., Rdnr. 142). Die
Schwere der Maßnahme an sich ist jedoch nicht entscheidend, denn beispielsweise können viele Maßnahmen präventiver Art, die keine Strafen darstellen, erhebliche Auswirkungen auf die betroffene Person haben (siehe Welch,
a.a.O., Rdnr. 32; vgl. auch Van der Velden, a.a.O.).
121. Sowohl die Kommission als auch der Gerichtshof unterscheiden in ihrer Rechtsprechung zwischen einer Maßnahme, die im Wesentlichen eine "Strafe" darstellt, und einer Maßnahme, die die "Vollstreckung" bzw. den "Vollzug"
der "Strafe" betrifft. Betreffen folglich die Art und der Zweck einer Maßnahme einen Straferlass oder eine Änderung der Regelung für die vorzeitige Haftentlassung, so ist dies nicht Bestandteil der "Strafe" im Sinne von Artikel 7
(siehe u.a. Hogben ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 11653/85, Entscheidung der Kommission vom 3. März 1986, DR 46, S. 231; Grava ./. Italien, Nr. 43522/98, Rdnr. 51, 10. Juli 2003; und Kafkaris, a.a.O., Rdnr. 142). In der Praxis ist
diese Unterscheidung jedoch nicht immer eindeutig (siehe Kafkaris, a.a.O., und Monne ./. Frankreich (Entsch.), Nr. 39420/06, 1. April 2008)."
b) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache
70. Bei der Entscheidung darüber, ob die nachträgliche Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers das Verbot der rückwirkenden Bestrafung nach Artikel 7 Abs. 1 Satz 2 verletzt hat, stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass die
vorliegende Rechtssache nur die ursprüngliche Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers betrifft, die am 13. März 2008 durch das Landgericht Frankfurt am Main erfolgte und am 5. August 2009
vom Bundesverfassungsgericht bestätigt wurde. Weder die vorangegangene Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus (siehe Rdnrn. 6-10), noch die spätere Überprüfung der Fortdauer seiner
Sicherungsverwahrung (siehe Rdnrn. 26-32) sind daher Gegenstand der dem Gerichtshof vorliegenden Individualbeschwerde. Folglich berühren die Feststellungen des Gerichtshofs in der vorliegenden Rechtssache nicht die Frage, ob
die aktuelle Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers, die derzeit von den innerstaatlichen Gerichten überprüft wird, mit der Konvention in Einklang steht.
71. Der Gerichtshof wird zunächst prüfen, ob die in Rede stehende Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers im Sinne von Artikel 7 Abs. 1 als "Strafe" einzustufen ist. Dies wurde von der Regierung sowohl allgemein als auch
unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache bestritten.
72. Der Gerichtshof kann seinerseits nur auf seine Schlussfolgerungen in der Rechtssache M. ./. Deutschland (a.a.O., Rdnrn. 124-133) Bezug nehmen. Nach dem deutschen Strafgesetzbuch ist die Sicherungsverwahrung im Hinblick
auf die Tatsache, dass sie von den Strafgerichten im Anschluss an - oder unter Verweis auf - eine Verurteilung wegen einer Straftat angeordnet wird und eine Freiheitsentziehung von unbestimmter Dauer nach sich zieht, als "Strafe"
im Sinne von Artikel 7 Abs. 1 Satz 2 der Konvention einzustufen. Der Gerichtshof sieht keinen Grund, in der vorliegenden Rechtssache von dieser Feststellung abzuweichen.
73. Insbesondere ist der Gerichtshof nicht davon überzeugt, dass sich die Bedingungen der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers in der Justizvollzugsanstalt Schwalmstadt, wo er zur maßgeblichen Zeit untergebracht war,
unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache wesentlich von der Situation unterschieden, in der sich der Beschwerdeführer in der Rechtssache M. ./. Deutschland (a.a.O.) befand, dessen Sicherungsverwahrung darüber hinaus in
derselben Justizvollzugsanstalt vollzogen wurde. Der Beschwerdeführer war in der Justizvollzugsanstalt Schwalmstadt in einem gesonderten Gebäude für Sicherungsverwahrte untergebracht. Die geringfügigen Änderungen der
Vollzugsgestaltung im Vergleich zu Strafgefangenen (siehe Rdnrn. 24-25) können nach Ansicht des Gerichtshofs nicht darüber hinwegtäuschen, dass es keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem Vollzug der Freiheitsstrafe und
dem Vollzug der gegen den Beschwerdeführer verhängten Sicherungsverwahrung gibt. Der Gerichtshof verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Leiturteil zur
Sicherungsverwahrung vom 4. Mai 2011. In diesem Urteil befand auch das Bundesverfassungsgericht, das die in Rede stehenden Vorschriften des Strafgesetzbuchs über die Sicherungsverwahrung dem verfassungsrechtlichen Gebot,
zwischen der Freiheitsentziehung in der Sicherungsverwahrung und der Freiheitsentziehung im Strafvollzug zu unterscheiden, nicht gerecht würden (siehe Rdnr. 46).
74. Was darüber hinaus das Vorbringen der Regierung betrifft, die bestehenden Therapieangebote (siehe Rdnrn. 24-25), die der Beschwerdeführer nicht wahrgenommen habe, hätten die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers von
einer Strafe unterschieden, nimmt der Gerichtshof erneut auf seine Feststellungen in der Rechtssache M. ./. Deutschland (a.a.O., Rdnrn. 128-129) Bezug. Es gibt keine Hinweise darauf, dass dem Beschwerdeführer ein höheres Maß an
Betreuung, einschließlich einer individuell zugeschnittenen und intensiven Therapie, angeboten wurde, als es bei Sicherungsverwahrten zu dieser Zeit allgemein üblich war. Dieses Angebot war auch vom Bundesverfassungsgericht im
Hinblick auf die Unterscheidung der Maßnahme vom normalen Strafvollzug für unzureichend erachtet worden (siehe Rdnr. 48).
75. Der Gerichtshof muss dann feststellen, ob dem Beschwerdeführer durch die Anordnung und den Vollzug seiner nachträglichen Sicherungsverwahrung eine "schwerere" als die zur Zeit der Begehung der Straftaten angedrohte
Strafe auferlegt wurde. Der Gerichtshof merkt an, dass es zwischen Oktober 1988 und März 1990, als der Beschwerdeführer seine Straftaten beging, nicht möglich war, den Beschwerdeführer, nachdem seine Verurteilung durch das
erkennende Gericht - das seine Sicherungsverwahrung jedenfalls nicht angeordnet hatte - rechtskräftig geworden war, durch nachträgliche Anordnung in der Sicherungsverwahrung unterzubringen. § 66b Abs. 3, auf dem die
Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers beruhte, war erst im Juli 2004, etwa 14 Jahre nach den Straftaten des Beschwerdeführers, in das Strafgesetzbuch eingefügt wurden. Die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers
wurde daher rückwirkend angeordnet.
76. Der Gerichtshof muss sich als nächstes mit dem Vorbringen der Regierung befassen, dem Beschwerdeführer sei keine "schwerere" Strafe im Sinne von Artikel 7 Abs. 1 auferlegt worden, weil er im Wesentlichen nur von einer
Maßregel der Besserung und Sicherung von unbestimmter Dauer, der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, in eine andere derartige Maßregel, die Sicherungsverwahrung, überwiesen worden sei. Der Gerichtshof weist
zunächst darauf hin, dass das erkennende Landgericht Frankfurt am Main es in einem rechtskräftigen Urteil aus dem Jahr 1992 jedoch ausdrücklich ablehnte, die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers (nach § 66 StGB)
zusätzlich zu seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anzuordnen (siehe Rdnr. 7). Somit kann nicht gesagt werden, dass dieses Urteil die spätere Unterbringung des Beschwerdeführers in der
Sicherungsverwahrung abgedeckt hat.
77. Darüber hinaus durfte eine Person nach der gefestigten Rechtsprechung der innerstaatlichen Strafvollstreckungsgerichte vor der Gesetzesänderung im Jahr 2004 nicht länger nach § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus
untergebracht werden und musste entlassen werden, wenn bei ihr kein die Schuldfähigkeit ausschließender oder vermindernder Zustand mehr vorlag - oder tatsächlich nie vorgelegen hatte -, unabhängig davon, ob man sie immer noch
als für die Allgemeinheit gefährlich ansah (siehe Rdnrn. 19 und 39). Daher war es zur maßgeblichen Zeit nicht möglich, den Beschwerdeführer, gegen den nur ein Beschluss nach § 63 StGB ergangen war, aus der Unterbringung in
einem psychiatrischen Krankenhaus in die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in einer Justizvollzugsanstalt zu überweisen. Folglich stellte die nachträglich gegen den Beschwerdeführer angeordnete Sicherungsverwahrung
eine neue, zusätzliche und somit schwerere Strafe im Sinne von Artikel 7 Abs. 1 dar als die zur Tatzeit angedrohte Strafe, weil man ihn sonst aus dem psychiatrischen Krankenhaus entlassen und seine Unterbringung für erledigt erklärt
hätte.
78. Aus denselben Gründen können die Anordnung und Vollstreckung der nachträglichen Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers nicht - im Gegensatz zu einer neuen, zusätzlichen Strafe - als Maßregel eingestuft werden, die
nur den Vollzug seiner ursprünglichen Strafe (Freiheitsstrafe und Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus) betrifft (zur diesbezüglichen Rechtsprechung des Gerichtshofs siehe Rdnr. 69).
79. Schließlich muss sich der Gerichtshof mit dem Vorbringen der Regierung befassen, dass die sich aus Artikel 2 der Konvention ergebende positive Verpflichtung, potenzielle Opfer vor weiteren sexuell motivierten Morden, wie sie
der Beschwerdeführer sehr wahrscheinlich begehen würde, zu schützen, missachtet worden wäre, wenn man die die Entlassung des Beschwerdeführers angeordnet hätte. Der Gerichtshof räumt ein, dass das Vorgehen der Regierung
darauf abzielte, das Lebensrecht potenzieller Opfer zu schützen. Dennoch kommt der Gerichtshof nicht umhin, erneut darauf hinzuweisen, dass die Konvention staatliche Behörden daher weder verpflichtet noch ermächtigt,
Einzelpersonen vor Straftaten einer Person durch Maßnahmen zu schützen, die deren Recht aus Artikel 7 Abs. 1, nicht mit einer schwereren als der zur Tatzeit anwendbaren Strafe belegt zu werden, verletzen. Von dieser Bestimmung
darf nicht einmal im Fall eines öffentlichen Notstands, der das Leben der Nation bedroht, abgewichen werden (Artikel 15 Abs. 1 und 2 der Konvention) (siehe u. a. J. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 30060/04, Rdnr. 48), 14.
April 2011; und O. H. ./. Deutschland, a.a.O., Rdnr. 107).
80. Folglich ist Artikel 7 Abs.1 der Konvention verletzt worden.
II. BEHAUPTETE WEITERE KONVENTIONSVERLETZUNG
81. Der Beschwerdeführer rügte ferner, dass die nachträgliche Anordnung seiner Unterbringung in der Sicherungsverwahrung sein in Artikel 4 des Protokolls Nr. 7 zur Konvention niedergelegtes Recht, für dieselbe Tat nicht zweimal
bestraft zu werden, verletzt habe.
82. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass Deutschland das Protokoll Nr. 7 zur Konvention nicht ratifiziert hat. Daher ist dieser Teil der Beschwerde nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und Abs. 4 der Konvention ratione materiae mit
den Bestimmungen der Konvention unvereinbar.
III. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION
83. Artikel 41 der Konvention lautet:
"Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser
Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist."
A. Schaden
84. Der Beschwerdeführer forderte 220.000 Euro (EUR) in Bezug auf den immateriellen Schaden, zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern. Er brachte vor, ihm sei seit 21. März 2005 konventionswidrig die Freiheit entzogen
gewesen, was bei ihm beträchtlichen psychischen Stress und Frustration ausgelöst habe. Darüber hinaus habe er unter der medialen Aufmerksamkeit während des in Rede stehenden Verfahrens gelitten. Ihm sollten daher für jeden Tag
der konventionswidrigen Freiheitsentziehung mindestens 100 Euro gezahlt werden. Der Anwalt des Beschwerdeführers bat den Gerichtshof, alle zugesprochenen Beträge auf sein Treuhandkonto einzuzahlen. Er berief sich auf seine
Vollmacht, die ihn zur Entgegennahme aller Zahlungen für Kosten und Auslagen ermächtige, welche die andere Verfahrenspartei zu erbringen habe.
85. Die Regierung hielt die Forderung des Beschwerdeführers in Bezug auf den immateriellen Schaden für überhöht. Sie betonte, dass der Beschwerdeführer in der Rechtssache M. ./. Deutschland (a.a.O.) mehr als acht Jahre
konventionswidrig in der Sicherungsverwahrung untergebracht gewesen sei. Hingegen könne der Beschwerdeführer in dem vorliegenden Fall, falls überhaupt, nur Entschädigung wegen seiner Freiheitsentziehung nach dem 25. April
2007 verlangen, als die Entscheidung des Landgerichts Kassel, mit der seine Unterbringung einem psychiatrischen Krankenhaus beendet worden sei, rechtskräftig geworden sei (siehe Rdnr. 10).
86. Der Gerichtshof berücksichtigt, dass dem Beschwerdeführer im Zusammenhang mit dem hier in Rede stehenden Verfahren seit 25. April 2007 (als seine vorläufige Unterbringung in der Sicherungsverwahrung rechtskräftig wurde)
zumindest bis zum endgültigen Abschluss des späteren neuen Verfahrens zur Überprüfung seiner Sicherungsverwahrung (siehe Rdnr. 26) unter Verletzung der Konvention die Freiheit entzogen war. Dadurch muss ihm Leid und
Frustration entstanden sein. Im Hinblick auf die besonderen Umstände der Rechtssache, die sich von anderen die Sicherungsverwahrung betreffenden Fällen unterscheidet, setzt der Gerichtshof die Summe nach Billigkeit fest und
spricht dem Beschwerdeführer in Bezug auf den immateriellen Schaden 5.000 Euro zu, zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern. Im Hinblick auf die von dem Anwalt des Beschwerdeführers vorgelegte Vollmacht wird
angeordnet, die dem Beschwerdeführer zugesprochene Summe auf das Treuhandkonto seines Rechtsanwalts einzuzahlen.
B. Kosten und Auslagen
87. Unter Vorlage von Belegen forderte der Beschwerdeführer außerdem 10.921,35 Euro für die in den Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten entstandenen Kosten und Auslagen. Diese Summe setzte sich erstens aus den
Anwaltsgebühren für die Einlegung einer Verfassungsbeschwerde in dem hier in Rede stehenden Verfahren zusammen, die sich auf 3.570 Euro (einschließlich Mehrwertsteuer) beliefen. Zweitens forderte der Beschwerdeführer die
Erstattung der in einem weiteren, damit im Zusammenhang stehenden Verfahren entstandenen Anwaltsgebühren. Hierzu gehörten die Anwaltsgebühren für die Einlegung einer Verfassungsbeschwerde gegen die Anordnung seiner
vorläufigen Sicherungsverwahrung (4.165 Euro einschließlich Mehrwertsteuer), Gebühren im Zusammenhang mit dem ersten Verfahrenskomplex über die spätere gerichtliche Überprüfung dieser Sicherungsverwahrung (500 Euro),
Gebühren im Zusammenhang mit dem Wiederaufnahmeverfahren (2.500 Euro einschließlich Mehrwertsteuer) sowie dem Verfahren zur Erzielung von Vollzugslockerungen im Jahr 2009 (186,35 Euro einschließlich Mehrwertsteuer).
88. Der Beschwerdeführer verlangte darüber hinaus 3.570 Euro für Kosten und Auslagen vor dem Gerichtshof. Diese Summe, die die Mehrwertsteuer einschließe, entspreche den von ihm an seinen Anwalt getätigten Gebührenzahlungen.
89. Die Regierung war der Auffassung, dass die Anwaltsgebühren für die gegen die angeordnete Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers eingelegte Verfassungsbeschwerde im Hinblick auf die anwendbaren Bestimmungen des
deutschen Rechts 4.000 Euro nicht hätte überschreiten dürfen. Auch die für die Verfassungsbeschwerde in dem hier in Rede stehenden Verfahren geltend gemachten Anwaltsgebühren erschienen überhöht, da der Anwalt bereits mit
dem früheren Verfahren, in dem eine ähnliche Frage aufgeworfen worden sei, befasst gewesen sei.
90. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur insoweit Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese tatsächlich und notwendigerweise entstanden und der Höhe
nach angemessen sind. Der Gerichtshof stellt fest, dass die vorliegende Rechtssache lediglich die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers im Jahr 2008 betrifft, die in der Berufung bestätigt wurde,
und der Beschwerdeführer daher nur die Erstattung der hierfür angefallen Kosten und Auslagen geltend machen kann. Der Gerichtshof ist überzeugt, dass die von dem Beschwerdeführer im Hinblick auf die Verfassungsbeschwerde
vom 13. Oktober 2008 geforderten Anwaltsgebühren tatsächlich und notwendigerweise entstanden und der Höhe nach angemessen sind. Daher spricht er ihm 3.570 Euro, einschließlich Mehrwertsteuer, zuzüglich der dem
Beschwerdeführer ggf. zu berechnenden weiteren Steuern, für die Kosten und Auslagen in dem innerstaatlichen Verfahren zu.
91. Was die Forderung des Beschwerdeführers nach Erstattung der Kosten und Auslagen in dem Verfahren vor dem Gerichtshof betrifft, hält der Gerichtshof es in Anbetracht der Komplexität des Verfahrens für angemessen, die vom
Beschwerdeführer unter dieser Rubrik geforderte Summe von 3.570 Euro (einschließlich Mehrwertsteuer) zuzusprechen. Die dem Beschwerdeführer für Kosten und Auslagen insgesamt zugesprochene Summe von 7.140 Euro,
einschließlich Mehrwertsteuer, zuzüglich aller weiteren dem Beschwerdeführer ggf. zu berechnenden Steuern, ist ebenfalls auf das Treuhandkonto seines Anwalts einzuzahlen.
C. Verzugszinsen
92. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Rüge nach Artikel 7 Abs. 1 der Konvention über die nachträgliche Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung wird für zulässig und die Individualbeschwerde im Übrigen für unzulässig erklärt;
2. Artikel 7 Abs. 1 der Konvention ist verletzt worden;
3. a) der beschwerdegegnerische Staat hat dem Beschwerdeführer binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention
endgültig wird, folgende Beträge zu zahlen, die auf das Treuhandkonto seines Anwalts zu überweisen sind:
(i) 5.000 EUR (fünftausend Euro) für immateriellen Schaden, zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern;
(ii) 7.140 EUR (siebentausendeinhundertvierzig Euro), einschließlich Mehrwertsteuer, für Kosten und Auslagen, zuzüglich der dem Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden weiteren Steuern;
b) nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten bis zur Auszahlung fallen für die oben genannten Beträge einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der
Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;
4. im Übrigen wird die Forderung des Beschwerdeführers nach gerechter Entschädigung zurückgewiesen. ..." (EGMR, Urteil vom 07.06.2012 - 65210/09)
***
„... 5. Der 1959 geborene Beschwerdeführer ist derzeit in der Justizvollzugsanstalt A. sicherungsverwahrt.
A. Die früheren Verurteilungen des Beschwerdeführers, die Anordnungen seiner Unterbringung in der Sicherungsverwahrung und deren Vollstreckung
6. Zwischen 1974 und 1990 wurde der Beschwerdeführer sechs Mal wegen Sexualstraftaten verurteilt, u.a. wegen versuchter Vergewaltigung, sexuellen Missbrauchs von Kindern, sexueller Nötigung, versuchter sexueller Nötigung
und gefährlicher Körperverletzung; er verbrachte etwa elf Jahre im Strafvollzug.
7. Am 14. Februar 1990 sprach das Landgericht Köln den Beschwerdeführer der sexuellen Nötigung in zwei Fällen schuldig. Es verurteilte ihn zu fünf Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe und ordnete seine (erste) Unterbringung
in der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 StGB an (siehe Rdnrn. 20-21). Es stellte fest, dass der Beschwerdeführer, der uneingeschränkt schuldfähig gehandelt habe, im Juni und Juli 1989 zwei Anhalterinnen, die er in seinem
Pkw mitgenommen hatte, sexuell genötigt habe. Nach Anhörung eines neurologischen Sachverständigen befand es ferner, dass der Beschwerdeführer aufgrund seines Hanges zu Straftaten im Fall seiner Entlassung mit hoher
Wahrscheinlichkeit weitere schwere Sexualstraftaten der abgeurteilten Art begehen werde und eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle. Daher sei seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung notwendig.
8. Der Beschwerdeführer verbüßte seine Freiheitsstrafe bis zum 17. Januar 1995; anschließend war er in der Sicherungsverwahrung untergebracht, bis die Unterbringungsanordnung am 29. März 1995 zur Bewährung ausgesetzt und
der Beschwerdeführer entlassen wurde.
9.Am 11. November 1996 sprach das Landgericht Köln den Beschwerdeführer der versuchten sexuellen Nötigung und der Fälschung eines Führerscheins schuldig. Es verurteilte ihn zu vier Jahren und neun Monaten Freiheitsstrafe
und ordnete seine (zweite) Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 1 StGB an. Das Landgericht stellte fest, dass der Beschwerdeführer, der uneingeschränkt schuldfähig gehandelt habe, im August 1995 erneut
versucht habe, eine Anhalterin sexuell zu nötigen. Er habe sie mit einer Gaspistole bedroht, es sei ihr aber gelungen, ihm die Pistole zu entreißen und zu flüchten. Im Hinblick darauf, dass der Beschwerdeführer nahezu unmittelbar
nach etwa 17 Jahren Haft wieder straffällig geworden sei, und dass es laut den überzeugenden Ausführungen eines Sachverständigen viele Jahre dauern würde, um bei dem Beschwerdeführer eine Besserung zu erreichen, falls dies
überhaupt möglich sein sollte, sah das Gericht seine zweite Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung als verhältnismäßig an.
10.Am 20. Juni 1997 widerrief das Landgericht Bonn die Aussetzung der ersten, durch Urteil des Landgerichts Köln vom 14. Februar 1990 angeordneten Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers zur Bewährung, weil er erneut
straffällig geworden sei und seine Therapie nicht gewissenhaft fortgesetzt habe.
11.Der Beschwerdeführer verbüßte die mit Urteil vom 11. November 1996 verhängte Freiheitsstrafe bis zum 25. Mai 2000 vollständig. Seit 26. Mai 2000 ist der Beschwerdeführer, wie in den Urteilen des Landgerichts Köln vom 14.
Februar 1990 und vom 11. November 1996 angeordnet, in der JVA A. sicherungsverwahrt.
12.Am 5. Juni 2002 lehnte es das Landgericht Aachen im Rahmen einer Überprüfung der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers ab, diese zur Bewährung auszusetzen.
B. Das in Rede stehende Verfahren
1. Der Beschluss des Landgerichts Aachen
13. Am 11. Juni 2003 beantragte der Beschwerdeführer beim Landgericht Aachen seine Entlassung aus der Sicherungsverwahrung und führte zur Begründung aus, dass die Sicherungsverwahrung gegen Artikel 5 Abs. 1 der
Konvention verstoße.
14. Nach Prüfung seines Antrags nach § 458 Abs. 1 StPO (siehe Rdnr. 24) entschied das Landgericht Aachen am 23. Juli 2003, dass die Einwendungen des Beschwerdeführers gegen die Zulässigkeit der Vollstreckung der
Sicherungsverwahrung unbegründet seien. Die 1996 vom Landgericht Köln nach § 66 StGB angeordnete Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung stelle eine rechtmäßige Freiheitsentziehung nach
Verurteilung durch ein zuständiges Gericht im Sinne des Artikels 5 Abs. 1 Buchstabe a der Konvention dar.
2. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Köln
15. Am 10. September 2003 verwarf das Oberlandesgericht Köln die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers und folgte der Begründung des Landgerichts. Es fügte hinzu, die Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB, die eine
Maßregel der Besserung und Sicherung darstelle und nicht mit einer Strafe gleichzusetzen sei, verstoße weder gegen die Konvention noch gegen das Grundgesetz. Darüber hinaus sei § 67d Abs. 3 StGB in der seit 31. Januar 1998
geltenden Fassung (siehe Rdnr. 23) verfassungskonform.
3. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
16. Am 15. März 2004 lehnte es das Bundesverfassungsgericht unter Hinweis auf sein Leiturteil vom 5. Februar 2004 in der Sache M. (2 BvR 2029/01; Individualbeschwerde Nr. 19359/04 vor diesem Gerichtshof) ab, die
Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers (2 BvR 1838/03) zur Entscheidung anzunehmen; der Beschwerdeführer hatte darin gerügt, dass seine unbefristete Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gegen Artikel 5 und
Artikel 7 der Konvention verstoße.
C. Weitere Entwicklungen
17. Am 19. Juli 2004, 19. Juli 2006 und 2. Juli 2008 lehnte es das Landgericht Aachen jeweils im Rahmen der Überprüfung der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung ab, diese zur Bewährung
auszusetzen. Es vertrat die Auffassung, es könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer, der eine ihm angebotene Therapie bei einem externen Psychologen abgelehnt habe, im Falle seiner Entlassung nicht
erneut straffällig werde.
18. Der Beschwerdeführer war bis zum 15. März 2010 in der mit Urteil des Landgerichts Köln vom 14. Februar 1990 angeordneten ersten Sicherungsverwahrung untergebracht. Seit 16. März 2010 wird die mit Urteil des Landgerichts
Köln vom 11. November 1996 zum zweiten Mal angeordnete Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers vollzogen.
II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT UND EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS SOWIE RECHTSVERGLEICHUNG
19. Ein umfassender Überblick über die Bestimmungen des Strafgesetzbuchs und der Strafprozessordnung zur Unterscheidung zwischen Strafen und Maßregeln der Besserung und Sicherung, insbesondere der Sicherungsverwahrung,
sowie zum Erlass, zur Überprüfung und zum praktischen Vollzug von Anordnungen der Sicherungsverwahrung ist im Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache M. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 19359/04, Rdnrn. 45-78,
17. Dezember 2009) enthalten. Die in der vorliegenden Rechtssache in Bezug genommen Bestimmungen lauten wie folgt:
A. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung durch das erkennende Gericht
20. Das erkennende Gericht kann im Zeitpunkt der Verurteilung des Straftäters unter bestimmten Umständen neben der Freiheitsstrafe die Sicherungsverwahrung, eine sogenannte Maßregel der Besserung und Sicherung, anordnen,
wenn sich herausgestellt hat, dass der Täter für die Allgemeinheit gefährlich ist (§ 66 StGB).
21. Insbesondere ordnet das erkennende Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung an, wenn jemand wegen einer vorsätzlichen Straftat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt wird und des Weiteren
folgende Voraussetzungen vorliegen: Erstens muss der Täter wegen vorsätzlicher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon zweimal jeweils zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden sein.
Zweitens muss der Täter zuvor für die Zeit von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe verbüßt oder sich im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung befunden haben. Drittens muss die
Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergeben, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder schwerer
wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, für die Allgemeinheit gefährlich ist (siehe § 66 Abs. 1 StGB, in der zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung).
B. Die Dauer der Sicherungsverwahrung
22. Nach § 67d Abs. 1 StGB in der vor dem 31. Januar 1998 geltenden Fassung darf die Dauer der ersten Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zehn Jahre nicht übersteigen. Ist die Höchstfrist abgelaufen, so wird der
Untergebrachte entlassen (§ 67d Abs. 3).
23. § 67d StGB wurde durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998, das am 31. Januar 1998 in Kraft trat, geändert. § 67d Abs. 3 in der geänderten Fassung sah vor,
dass das Gericht, wenn zehn Jahre der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vollzogen worden sind, die Maßregel (nur dann) für erledigt erklärt, wenn nicht die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte infolge seines Hanges
erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Mit der Erledigung tritt automatisch Führungsaufsicht ein. Die frühere Höchstdauer der erstmaligen Unterbringung in der
Sicherungsverwahrung wurde aufgehoben. Nach Artikel 1a Abs. 3 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch (EGStGB) war die geänderte Fassung von Artikel 67d Abs. 3 StGB zeitlich uneingeschränkt anzuwenden.
24. Nach § 458 Abs. 1 StPO ist die Entscheidung des Gerichts herbeizuführen, wenn Einwendungen gegen die Strafvollstreckung erhoben werden.
C. Die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
25. Am 4. Mai 2011 erließ das Bundesverfassungsgericht ein Leiturteil über die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung der Beschwerdeführer über die frühere Zehnjahresfrist hinaus (vgl. Vorschriften in den Rdnrn.
22-23) bzw. über die nachträgliche Anordnung der Unterbringung der Beschwerdeführer in der Sicherungsverwahrung (2 BvR 2365/09, 2 BvR 740/10, 2 BvR 2333/08, 2 BvR 1152/10 und 2 BvR 571/10). Es stellte fest, dass alle
Vorschriften über die nachträgliche Verlängerung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung und über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung mit dem Grundgesetz unvereinbar seien, weil sie das
rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot in Verbindung mit dem Freiheitsgrundrecht verletzten.
26. Das Bundesverfassungsgericht stellte ferner fest, dass alle in Rede stehenden Vorschriften des Strafgesetzbuchs über die Anordnung und die Dauer der Sicherungsverwahrung mit dem Freiheitsgrundrecht der sicherungsverwahrten
Personen unvereinbar seien, da diese Bestimmungen dem verfassungsrechtlichen Gebot, zwischen der Freiheitsentziehung in der Sicherungsverwahrung und der Freiheitsentziehung im Strafvollzug zu unterscheiden (Abstandsgebot),
nicht gerecht würden. Zu diesen Vorschriften gehöre insbesondere § 66 StGB in der seit 27. Dezember 2003 geltenden Fassung.
27. Das Bundesverfassungsgericht ordnete an, dass sämtliche für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärten Vorschriften bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung, längstens bis zum 31. Mai 2013, weiter anwendbar blieben. In Bezug
auf die Untergebrachten, deren Sicherungsverwahrung nachträglich verlängert oder angeordnet worden sei, hätten die Strafvollstreckungsgerichte unverzüglich zu prüfen, ob aus den konkreten Umständen in der Person oder dem
Verhalten der Untergebrachten eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten abzuleiten sei und diese zudem an einer psychischen Störung leiden. Was den Begriff "psychische Störung" angeht, nahm das
Bundesverfassungsgericht ausdrücklich auf den Begriff "psychisch Kranke" aus Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e der Konvention in der Auslegung durch den Gerichtshof Bezug. Bei Nichtvorliegen der oben genannten Voraussetzungen
seien diese Sicherungsverwahrten spätestens zum 31. Dezember 2011 freizulassen. Die übrigen Vorschriften über die Anordnung und die Dauer der Sicherungsverwahrung seien während der Übergangszeit nur nach Maßgabe einer
strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung anzuwenden; in der Regel werde der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur dann gewahrt sein, wenn die Gefahr bestehe, dass die betroffene Person im Falle ihrer Freilassung schwere Gewalt- oder
Sexualstraftaten begehen werde.
28. Das Bundesverfassungsgericht betonte in seinem Urteil, dass die Tatsache, dass das Grundgesetz in der innerstaatlichen Normenhierarchie über der Konvention stehe, einem internationalen und europäischen Dialog der Gerichte
nicht entgegenstehe, sondern vielmehr dessen normative Grundlage darstelle, da das Grundgesetz völkerrechtsfreundlich auszulegen sei. In seiner Begründung berief sich das Bundesverfassungsgericht auf die Auslegung von Artikel 5
und Artikel 7 der Konvention, die der Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache M. ./. Deutschland (a.a.O.) vorgenommen hat.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 5 ABS. 1 DER KONVENTION
29. Der Beschwerdeführer rügte, dass seine unbefristete Unterbringung in der Sicherungsverwahrung sein Recht auf Freiheit nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention verletze, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:
"(1) Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:
a) rechtmäßige Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht; …"
30. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.
A. Zulässigkeit
31. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
32. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass seine Sicherungsverwahrung unter keinen der Buchstaben a bis f des Artikels 5 Abs. 1 falle und somit gegen diesen Artikel verstoße. Die Sicherungsverwahrung sei insbesondere nicht
"nach Verurteilung" im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a erfolgt, da sie keine Strafe für eine von einem Täter begangene Straftat - diese Strafe sei allein die verhängte Freiheitsstrafe -, sondern eine rein präventive, auf die
Verhinderung zukünftiger Straftaten gerichtete Maßnahme sei. Darüber hinaus bestehe kein hinreichender Kausalzusammenhang zwischen seiner Verurteilung durch das Landgericht Köln und seiner Sicherungsverwahrung, die vom
Landgericht Aachen angeordnet worden sei.
33. Die Regierung vertrat die Auffassung, dass die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung mit Artikel 5 Abs. 1 vereinbar gewesen sei. Sie betonte, dass die in Rede stehende Individualbeschwerde kein
Folgefall zur Rechtssache M. ./. Deutschland (a.a.O.) sei. Zwischen der Verurteilung des Beschwerdeführers und seiner fortdauernden Sicherungsverwahrung bestehe, wie nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a erforderlich, ein
hinreichender Kausalzusammenhang. Der Beschwerdeführer sei zwar seit dem 16. März 2010 mehr als zehn Jahre in der Sicherungsverwahrung untergebracht. Aber anders als in der Rechtssache M. ./. Deutschland sei die erste
Sicherungsverwahrung, die das Landgericht Köln mit Urteil vom 14. Februar 1990 angeordnet habe, nicht länger als zehn Jahre vollstreckt worden. Seit dem 16. März 2010 sei der Beschwerdeführer entsprechend der zweiten
Anordnung durch das Urteil des Landgerichts Köln vom 11. November 1996 in der Sicherungsverwahrung untergebracht; allerdings habe auch nach dem vor der Neuregelung von 1998 geltenden Recht für die zweite angeordnete
Sicherungsverwahrung keine Höchstdauer gegolten.
34. Die Regierung brachte ferner vor, dass der Beschwerdeführer in dem hier in Rede stehenden Verfahren lediglich die Fortdauer seiner Unterbringung in der Sicherungsverwahrung rüge, nachdem er ca. drei Jahre sicherungsverwahrt
gewesen sei. Diese Unterbringung sei von seiner Verurteilung durch das Landgericht Köln vom 14. Februar 1990 erfasst, in der diese Maßnahme angeordnet worden sei. Unter Bezugnahme auf die Feststellungen des Gerichtshofs in
der Sache M. ./. Deutschland (a.a.O., Rdnr. 96) hielt es die Regierung für unerheblich, dass die Vollstreckung der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers getrennt davon durch das Landgericht Aachen angeordnet worden sei.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
(a) Zusammenfassung der einschlägigen Grundsätze
35. Der Gerichtshof verweist auf die in seiner Rechtsprechung zu Artikel 5 Abs. 1 der Konvention festgelegten Grundsätze, die in seinem Urteil vom 17. Dezember 2009 in der Rechtssache M. ./. Deutschland, Individualbeschwerde
Nr. 19359/04 (Rdnrn. 86-91), und in seinem Urteil vom 21. Oktober 2010 in der Rechtssache G. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 24478/03 (Rdnrn. 42-44), im Hinblick auf Individualbeschwerden in Bezug auf
Sicherungsverwahrung zusammengefasst wurden.
36. Er weist insbesondere erneut darauf hin, dass der Begriff "Verurteilung" im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a so zu verstehen ist, dass er sowohl eine Schuldfeststellung bezeichnet, nachdem in der gesetzlich vorgesehenen
Weise eine Straftat nachgewiesen wurde, als auch die Verhängung einer Strafe oder einer anderen freiheitsentziehenden Maßnahme (siehe Van Droogenbroeck ./. Belgien, 24. Juni 1982, Rdnr. 35, Serie A Band 50; und M. ./.
Deutschland, a.a.O., Rdnr. 87). Darüber hinaus bedeutet das Wort "nach" in Buchstabe a nicht einfach, dass die "Freiheitsentziehung" zeitlich auf die "Verurteilung" folgen muss. Zwischen der Verurteilung und der in Rede stehenden
Freiheitsentziehung muss ein hinreichender Kausalzusammenhang bestehen (siehe Stafford ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 46295/99, Rdnr. 64, ECHR 2002-IV; Kafkaris ./. Zypern [GK],
Individualbeschwerde Nr. 21906/04, Rdnr. 117, ECHR 2008-...; und M. ./. Deutschland, a.a.O., Rdnr. 88).
(b) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache
37. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass der Beschwerdeführer mit der vorliegenden Individualbeschwerde die Konventionskonformität der Beschlüsse bestritt, mit denen die innerstaatlichen Gerichte 2003/2004, d.h. zu einer Zeit,
als er sich weniger als vier Jahre in der Sicherungsverwahrung befand, die Fortdauer der Sicherungsverwahrung anordneten; er hat sich nicht gegen seine derzeitige Sicherungsverwahrung seit März 2010 gewandt.
38. Bei der Prüfung der Frage, ob dem Beschwerdeführer während dieser Zeit die Freiheit gemäß Artikel 5 Abs. 1 entzogen war, verweist der Gerichtshof auf seine Feststellungen in seinem kürzlich ergangenen Urteil vom 17.
Dezember 2009 im Fall M. ./. Deutschland (a.a.O.). In diesem Urteil war er zu dem Ergebnis gekommen, dass die Sicherungsverwahrung von Herrn M., die, wie in der vorliegenden Rechtssache, vom erkennenden Gericht nach § 66
Abs. 1 StGB angeordnet worden war, von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a insoweit erfasst war, als sie nicht über die zur Zeit der Tat und Verurteilung dieses Beschwerdeführers gesetzlich vorgeschriebene Höchstdauer von zehn Jahren
hinaus verlängert worden war (siehe a.a.O., Rdnrn. 96 und 97-105). Der Gerichtshof war überzeugt, dass die anfängliche Sicherungsverwahrung von Herrn M. bis zu dieser Höchstdauer "nach Verurteilung" durch das erkennende
Gericht im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a erfolgte.
39. Im Hinblick auf diese Feststellungen in seinem Urteil im Individualbeschwerdeverfahren M. ./. Deutschland, von denen abzuweichen er keinen Anlass sieht, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Sicherungsverwahrung des
Beschwerdeführers nach § 66 StGB in der vorliegenden Rechtssache auf seiner "Verurteilung" im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a durch das Landgericht Köln im Februar 1990 bzw. im November 1996 beruhte. Der
Gerichtshof betont jedoch, dass der Beschwerdeführer in der vorliegenden Rechtssache - anders als der Beschwerdeführer im Fall M. /. Deutschland, aber genauso wie der Beschwerdeführer in der Rechtssache G. - zu dem Zeitpunkt,
als die hier in Rede stehenden innerstaatlichen Gerichtsbeschlüsse ergingen, nicht über die zur Zeit seiner Tat und Verurteilung gesetzlich vorgeschriebene Höchstdauer hinaus in der Sicherungsverwahrung untergebracht war.
40. Darüber hinaus erfolgte die in Rede stehende Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers "nach" Verurteilung. Zwischen seiner Verurteilung und der Freiheitsentziehung bestand demnach ein hinreichender
Kausalzusammenhang. Sowohl die Anordnungen der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers durch das erkennende Landgericht Köln als auch der im Beschwerdeverfahren bestätigte Beschluss der Strafvollstreckungskammer
des Landgerichts Aachen, den Beschwerdeführer nicht freizulassen, beruhten auf denselben Gründen, nämlich den Beschwerdeführer davon abzuhalten, im Falle seiner Entlassung weitere schwere Sexualstraftaten zu begehen.
41. Die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers war auch insofern rechtmäßig, als sie auf einer vorhersehbaren Anwendung des § 66 Abs. 1 StGB beruhte. Der Gerichtshof nimmt in diesem Zusammenhang die Wende der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Bezug auf die Sicherungsverwahrung in dessen Leiturteil vom 4. Mai 2011 (siehe Rdnrn. 25-28) zur Kenntnis. Er begrüßt den Ansatz des Bundesverfassungsgerichts, die
Bestimmungen des Grundgesetzes auch im Lichte der Konvention und der Rechtsprechung dieses Gerichtshofs auszulegen, der den fortwährenden Einsatz des Bundesverfassungsgerichts für den Grundrechtsschutz nicht nur auf
nationaler, sondern auch auf europäischer Ebene unterstreicht.
42. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass das Bundesverfassungsgericht in dem genannten Urteil unter anderem die Ansicht vertrat, § 66 StGB in der seit 27. Dezember 2003 geltenden Fassung sei mit dem Freiheitsrecht der
betroffenen Personen nicht vereinbar. Er geht davon aus, dass die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers bei künftigen Überprüfungen nur nach Maßgabe einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung, so wie sie im Urteil des
Bundesverfassungsgerichts vorgesehen ist (siehe Rdnr. 27), verlängert werden wird. Er stellt jedoch fest, dass die hier in Rede stehende Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers auf der Grundlage einer früheren Fassung von §
66 StGB angeordnet und vollzogen wurde. Jedenfalls wurde § 66 StGB in der seit 27. Dezember 2003 geltenden Fassung nicht rückwirkend für nichtig erklärt, sondern blieb anwendbar und bildete damit insbesondere in der Zeit vor
dem Erlass des Urteils des Bundesverfassungsgerichts eine gültige Rechtsgrundlage im innerstaatlichen Recht. Die Rechtmäßigkeit der in Rede stehenden Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers im Sinne von Artikel 5 Abs. 1
Buchstabe a ist daher nicht in Frage gestellt.
43. Folglich ist Artikel 5 Abs. 1 der Konvention nicht verletzt worden.
II. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 7 ABS. 1 DER KONVENTION
44. Der Beschwerdeführer rügte ferner, dass seine Sicherungsverwahrung ihn in seinem Recht verletze, nicht mit einer schwereren als der zur Tatzeit anwendbaren Strafe belegt zu werden, wie in Artikel 7 Abs. 1 der Konvention
festgelegt, wo es heißt:
"Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Es darf auch keine schwerere als die zur Zeit der Begehung
angedrohte Strafe verhängt werden."
1. Die Stellungnahmen der Parteien
45. Die Regierung vertrat die Auffassung, dass die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung nicht gegen Artikel 7 Abs. 1 verstoßen habe. Unter Bezugnahme auf ihr Vorbringen bezüglich Artikel 5 Abs. 1
trug sie vor, dass die in Rede stehende Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers anders als im Fall M. ./. Deutschland nicht nachträglich über die zum Zeitpunkt seiner Tat zwar für eine erste, nicht aber eine zweite Anordnung
der Sicherungsverwahrung geltende Zehnjahresfrist hinaus verlängert worden sei.
46. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass seine Sicherungsverwahrung ohne konkrete Befristung, was der Gerichtshof in seinem Urteil in der Sache M. ./. Deutschland (a.a.O.) als "Strafe" im Sinne von Artikel 7 Abs. 1 erachtet
habe, gegen das Verbot der rückwirkenden Bestrafung verstoßen habe. Er trug vor, dass seine erste Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, die eine Strafe darstelle, aufgrund der Neuregelung des § 67d Abs. 1 und 3 StGB im
Jahr 1998 i.V.m. Artikel 1a Abs. 3 EGStGB (siehe Rdnrn. 22-23) von einer Höchstfrist von zehn Jahren zeitlich unbefristet und somit um einen nicht hinreichend bestimmten Zeitraum verlängert worden sei.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
47. Im Hinblick auf die Prüfung der Frage, ob die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers in der vorliegenden Rechtssache mit Artikel 7 Abs. 1 vereinbar war, verweist der Gerichtshof auf seine Schlussfolgerungen in der
Rechtssache M. ./. Deutschland (a.a.O., Rdnrn. 124-133). In jener Rechtssache hatte er festgestellt, dass die Sicherungsverwahrung nach dem deutschen Strafgesetzbuch insbesondere deshalb, weil sie von den Strafgerichten nach einer
Verurteilung wegen einer Straftat angeordnet wird und eine Freiheitsentziehung nach sich zieht, für die es nach der gesetzlichen Neuregelung von 1998 keine Höchstfrist mehr gibt, als "Strafe" im Sinne von Artikel 7 Abs. 1 der
Konvention einzustufen ist. Der Gerichtshof sieht keinen Grund, in der vorliegenden Rechtssache von dieser Feststellung abzuweichen.
48. Was die Frage angeht, ob gegen den Beschwerdeführer eine schwerere als zur Zeit der Begehung der Straftat angedrohte Strafe verhängt wurde, stellt der Gerichtshof fest, dass zum Zeitpunkt, als der Beschwerdeführer 1989 seine
Straftaten beging, Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, die von einem erkennenden Gericht i.V.m. § 67d Abs. 1 StGB in der zur damaligen Zeit geltenden Fassung erstmalig angeordnet wurde, bedeutete, dass der
Beschwerdeführer maximal zehn Jahre in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden konnte (siehe auch Rdnr. 22). Erst mit der Neuregelung von § 67d StGB im Jahr 1998, i.V.m. Artikel 1a Abs. 3 EGStGB (siehe Rdnr. 23),
entfiel die Höchstdauer mit sofortiger Wirkung; somit konnte auch eine erstmalige Anordnung der Sicherungsverwahrung zeitlich unbefristet vollzogen werden.
49. Als die angegriffenen Gerichtsbeschlüsse in den Jahren 2003 und 2004 ergingen, war der Beschwerdeführer jedoch noch keine zehn Jahre in der ersten Sicherungsverwahrung untergebracht (und es wurde dann nach einer weiteren
Straftat ein zweites Mal Sicherungsverwahrung gegen ihn angeordnet, für die eine Höchstfrist von zehn Jahren nie galt, siehe Rdnr. 22). Deshalb kann der Beschwerdeführer nicht beanspruchen, nach einem Gesetz, das erlassen wurde,
nachdem er seine Tat begangen hatte, im Sinne von Artikel 34 der Konvention Opfer einer rückwirkenden Verlängerung seiner Sicherungsverwahrung zu sein (vgl. auch M.-F. ./. Deutschland (Entsch.) Individualbeschwerde Nr.
47678/99, 30. März 2000).
50. Folglich ist dieser Teil der Beschwerde nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und Abs. 4 der Konvention als ratione personae mit den Bestimmungen der Konvention unvereinbar zurückzuweisen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Rüge nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention wegen der unbefristeten Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung wird für zulässig und die Individualbeschwerde im Übrigen für unzulässig erklärt;
2. Artikel 5 Abs. 1 der Konvention ist nicht verletzt worden.
Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 9. Juni 2011 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs. ..." (EGMR, Urteil vom 09.06.2011 - 30493/04)
***
Die Beschwerdeführerin ist nicht verurteilt worden, weil sie eine bestimmte Meinung geäußert hat. Es stand ihr frei, für das kurdische Volk Freiheit und Selbstbestimmung und die Aufhebung des Verbots der PKK zu fordern.
Verurteilt worden ist sie, weil sie sich dazu bekannt hat, das Betätigungsverbot künftig nicht zu beachten. Die Verurteilung war ein Eingriff in die von Art. 10 EMRK geschützte Freiheit der Meinungsäußerung. Er verletzt Art. 10
EMRK, wenn nicht die Voraussetzungen von Art. 10 II EMRK vorliegen. Der Eingriff war gesetzlich vorgesehen, nämlich in § 20 II i.V. mit § 18 S. 2 VereinsG. Diese Vorschriften sind zwar sehr weit gefasst, der BGH hat aber ihre
Bedeutung in seiner Rechtsprechung klargestellt, so dass für die Betroffenen die Folgen ihres Handelns vorhersehbar waren. Die Verurteilung verfolgte berechtigte Ziele i.S. von Art. 10 II EMRK und war "in einer demokratischen
Gesellschaft notwendig", weil ein "dringendes soziales Bedürfnis" dafür bestand, die Durchführung des Betätigungsverbots der PKK sicherzustellen. (EGMR, Urteil vom 27.01.2011 - 16637/07 zu EMRK Art. 7, 10, 35 III, IV):
„... Die 1972 geborene Bf., türkische Staatsangehörige, wohnt in Wuppertal.
Hintergrund : Mit Verfügung vom 22.11.1993 erließ das BMI gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ein Betätigungsverbot nach § 18 S. 2 VereinsG mit folgendem Wortlaut : ‚1. Die Tätigkeit der ‚Arbeiterpartei Kurdistans"
(PKK) ... verstößt gegen Strafgesetze, richtet sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung, gefährdet die innere Sicherheit und sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland. 2. Die ‚Arbeiterpartei Kurdistans"
(PKK) ... darf sich im Geltungsbereich des Vereinsgesetzes nicht mehr betätigen.'
Die Führung der PKK änderte nach der Festnahme ihres Vorsitzenden Abdullah Öcalan im Jahr 1999 ihre Strategie und erklärte den bewaffneten Kampf gegen die türkischen Streitkräfte für beendet. Auf ihrem 7. Parteikongress am
17. 1. 2000 verkündete die PKK eine ‚Friedensinitiative" und organisierte in Deutschland keine Demonstrationen oder Gewalttaten mehr. Im Jahr 2001 beschloss der Präsidialrat der PKK eine groß angelegte Kampagne, bei der sich
die Anhänger der Partei an die deutschen Behörden wenden, sich als PKK-Sympathisanten bekennen und die Aufhebung des PKK-Verbots fordern sollten. Die Sympathisanten unterzeichneten Erklärungen, die in großer Zahl an
Parlamente, Behörden und Gerichte übergeben wurden. Darin hieß es u.a. :
‚Selbsterklärung
`Auch ich bin ein PKK'ler´
Da dem kurdischen Volk das elementare Lebensrecht vorenthalten wurde, blieb ihm keine andere Wahl als der Griff zu den Waffen. Nach über zwanzig Jahren Krieg wurde von unserer nationalen Führung, Abdullah Öcalan, ein
strategischer Wechsel eingeleitet. Seit zwei Jahren kämpft die PKK mit ausschließlich politischen Mitteln für eine friedliche und demokratische Lösung der kurdischen Frage. ...
1. Auf dieser Grundlage erkläre ich als Angehöriger des kurdischen Volkes, dass ich die neue Linie der PKK teile, die seit zwei Jahren ihren politischen Kampf auf legaler Grundlage führt.
Weiterhin erkläre ich mich der PKK zugehörig. ...
Hiermit erkläre ich, dass ich das gegen die PKK ausgesprochene Verbot und die strafrechtliche Verfolgung der Mitgliedschaft in der PKK sowie der strafrechtlichen Verfolgung der aktiven Sympathie für die PKK auf das Schärfste
verurteile. Weiterhin erkläre ich, dass ich dieses Verbot nicht anerkenne und sämtliche Verantwortung übernehme, die sich daraus ergibt.'
Strafverfahren gegen die Bf. : Die Bf. organisierte und koordinierte zusammen mit anderen Personen in Berlin eine Unterschriftensammlung für die Erklärung. Auch sie selbst unterzeichnete eine Erklärung. Am 16. 7. 2001 übergab
siezwei Aktenordner mit 467 unterzeichneten Erklärungen an die StA in Berlin, am 24. 9. 2001einen weiteren Aktenordner. Darüber hinaus spendete sie Geldbeträge an eine ebenfalls verbotene Unterorganisation der PKK.Am 17. 7.
2003 verurteilte das LG Berlin die Bf. wegen Zuwiderhandlung gegen ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot (§ 20 I Nr. 4 i.V.m. § 18 S. 2 VereinsG) zu 150 Tagessätzen zu je acht Euro. Der BGH verwarf am 15. 1. 2004 die
Revision der Bf. und bezog sich auf sein Grundsatzurteil vom 27.3.2003 (BGHSt 42, 30 = NJW2003, 1621 = NStZ 2003, 491), das BVerfG wies ihre Verfassungsbeschwerde am 26.9.2006 mit ausführlicher Begründung zurück.
Verfahren vor dem Gerichtshof : Am 16.4.2007 hat die Bf. Beschwerde eingelegt und insbesondere gerügt, die Verurteilung habe ihr Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung verletzt. Der Gerichtshof hat die Beschwerde nach Art. 10
EMRK am 27.1.2011 einstimmig für zulässig und im Übrigen für unzulässig erklärt und mit 6 : 1 Stimmen festgestellt, dass Art. 10 EMRK nicht verletzt ist. ...
I. Behauptete Verletzung von Art. 10 EMRK
Die Bf. rügt, ihre strafrechtliche Verurteilung wegen der Unterzeichnung der Erklärung habe ihr Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 10 EMRK verletzt ...
Die Regierung widerspricht.
A. Zulässigkeit
Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht i. S. von Art. 35 III lit. a EMRK offensichtlich unbegründet und auch nicht aus anderen Gründen unzulässig ist. Deswegen ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Vortrag der Bf. (zusammengefasst)
Die Bf. macht geltend, ihre strafrechtliche Verurteilung sei unverhältnismäßig und in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig gewesen. Die Einschränkung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung sei nicht durch ein
dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt. Sie habe nicht zur Anwendung von Gewalt gegen den Staat oder Einzelpersonen aufgerufen. Die Regierung selbst habe bestätigt, dass die Aktivitäten der PKK in der fraglichen Zeit
weitgehend friedlicher Natur gewesen seien. Die Verurteilung beruhe auf der Annahme, dass sich die Erklärung nicht auf die scharfe Missbilligung der Politik der Bundesrepublik Deutschland beschränke, sondern auch eine positive
Wirkung für die PKK entfalte. Wenn die Selbsterklärung mehrdeutig sei, könne das nicht zu ihren Lasten gehen. Außerdem sei ihre Strafe ungewöhnlich hoch.
2. Vortrag der Regierung (zusammengefasst)
Die Regierung macht geltend, die Verurteilung der Bf. sei zwar ein Eingriff in ihre Meinungsfreiheit, aber nach Art. 10 II EMRK gerechtfertigt. Die maßgebenden Vorschriften des VereinsG seien so bestimmt gefasst, dass der Bürger
sein Verhalten - wenn nötig nach Beratung - danach ausrichten und die möglichen Folgen einer bestimmten Handlung abschätzen könne. Ein Betätigungsverbot ergehe, wenn Vereine durch ihre politische Betätigung die innere oder
äußere Sicherheit, die öffentliche Ordnung oder sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland oder eines Bundeslandes beeinträchtigten oder gefährdeten.Die strafrechtliche Sanktion diene dem Schutz der gleichen
Rechtsgüter und verfolge damit ein berechtigtes Ziel i.S. von Art. 10 II EMRK. Für den Eingriff habe es auch ein ‚dringendes soziales Bedürfnis" gegeben. Die PKK stelle eine Bedrohung der Strafgesetze, des Gedankens der
Völkerverständigung und der inneren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland dar. Überdies sei die PKK im Mai 2002 in die EU-Liste terroristischer Organisationen aufgenommen worden. Die deutschen Gerichte hätten bei der
Interessenabwägung berücksichtigt, dass die Bf. ihre Erklärung im Rahmen einer durch die Führung der PKK initiierten Kampagne abgegeben habe, und seien bei der Strafzumessung sehr moderat vorgegangen.
3. Beurteilung durch den Gerichtshof
Die Bf. ist nicht verurteilt worden, weil sie eine bestimmte Meinung geäußert hat. Alle erkennenden deutschen Gerichte haben ausdrücklich anerkannt, dass die Äußerungen der Bf. von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung
gedeckt waren und dass sie berechtigt sei, Freiheit und Selbstbestimmung für das kurdische Volk und die Aufhebung des Betätigungsverbots für die PKK zu fordern und dessen Aufrechterhaltung aufs Schärfste zu missbilligen. Die
Gerichte waren aber der Auffassung, die Erklärung sei auch als Bekenntnis der Unterzeichner zu verstehen, das Betätigungsverbot künftig nicht zu beachten. Sie sei geeignet, der PKK Grundlagen für die Planung künftiger
rechtswidriger Aktivitäten zu verschaffen sowie die Solidarität mit anderen potentiellen Sympathisanten zu stärken. Das verstoße gegen das gegen die PKK verhängte Betätigungsverbot.
Aufgabe des Gerichtshofs ist danach nicht zu beurteilen, ob die Bf. eine bestimmte Meinung äußern durfte - was ihr unbestritten freistand -, sondern ob ihre strafrechtliche Verurteilung wegen Unterstützung einer illegalen
Organisation ihr Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 10 EMRK verletzt hat.
Die Regierung bestreitet nicht, dass die Verurteilung der Bf. durch die deutschen Gerichte in ihr Recht auf freie Meinungsäußerung eingegriffen hat. Ein solcher Eingriff verletzt die Konvention, wenn nicht die Voraussetzungen von
Art. 10 II EMRK vorliegen. Deswegen ist zu prüfen, ob er ‚gesetzlich vorgesehen' war, eines oder mehrere der in Art. 10 II EMRK genannten berechtigten Ziele verfolgte und ‚in einer demokratischen Gesellschaft notwendig' war, um
diese Ziele zu erreichen.
Die Verurteilung der Bf. beruhte auf § 20 I Nr. 4 i.V.m. § 18 S. 2 VereinsG. .
Das maßgebende innerstaatliche Recht muss so bestimmt gefasst sein, dass die Betroffenen - wenn nötig mit entsprechender Rechtsberatung - in einem Maß, das unter den jeweiligen Umständen angemessen ist, voraussehen können,
welche Folgen eine bestimmte Handlung für sie haben kann (siehe u.a. EGMR, Slg. 1997-VII Nr. 37 = ÖJZ 1998, 794 - Grigoriades/Griechenland). Die Folgen müssen nicht mit absoluter Sicherheit voraussehbar sein; die Erfahrung
zeigt, dass dies nicht zu erreichen ist. Rechtssicherheit ist zwar ein hohes Gut, kann aber auch übermäßige Starrheit zur Folge haben; das Gesetz muss sich den Veränderungen der Umstände anpassen können. Deswegen sind viele
Gesetze notwendig mehr oder weniger unbestimmt gefasst, und es ist Aufgabe der Praxis, sie auszulegen und anzuwenden (s. EGMR, 1979, Serie A, Bd. 30, Nr. 49 = EGMR-E 1, 366 - Sunday Times /Vereinigtes Königreich Nr. 1;
EGMR, Urt. v. 6.4.2010 - 25576/04 Nr. 65 - Flinkkilä u.a./Finnland).
§ 20 I VereinsG, nach dem sich strafbar macht, ‚wer … durch eine ... Tätigkeit einem vollziehbaren Verbot nach …§ 18 S. 2 zuwiderhandelt', ist sehr allgemein gefasst. Der BGH hat aber mit seinem Grundsatzurteil vom 27. 3. 2003
(BGHSt 42, 30 = NJW 2003, 2621 = NStZ 2003, 491) seine frühere Rechtsprechung bestätigt, wonach eine Person einem vollziehbaren Verbot zuwiderhandele, wenn ihr Verhalten auf die verbotene Vereinstätigkeit bezogen und
dieser förderlich sei. Das Handeln müsse konkret geeignet sein, eine für die verbotene Vereinstätigkeit vorteilhafte Wirkung hervorzurufen. Diese auslegende Rechtsprechung ist bestimmt genug, um für die Bf. die Folgen ihres
Handelns vorhersehbar zu machen. Ihre Verurteilung war deswegen ‚gesetzlich vorgesehen' i. S. von Art.10 II EMRK.
Die Verurteilung der Bf. diente dem Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit und verfolgte damit berechtigte Ziele i. S. von Art. 10 II EMRK.
Zu prüfen bleibt, ob der Eingriff ‚in einer demokratischen Gesellschaft notwendig' war, wofür Voraussetzung ist, dass ein ‚dringendes soziales Bedürfnis" für ihn bestand. Die Vertragsstaaten haben einen gewissen Ermessensspielraum
bei der Beurteilung, ob ein solches Bedürfnis besteht; dieser geht jedoch Hand in Hand mit einer Überwachung durch den Gerichtshof (s.EGMR, Slg. 2003-V Nr. 39 = NJW 2004, 2653 - Perna/Italien).
Die der Bf. auferlegte Strafe sollte die Einhaltung des gegen die PKK verhängten Betätigungsverbots sicherstellen. Es wäre wirkungslos, wenn ihre Anhänger de facto weiter verbotenen Vereinstätigkeiten nachgehen könnten (s.
mutatis mutandis EGMR, Urt. v. 30.6.2009 - 35579/03, 35613/03, 35626/03 und 35634/03 Nr. 52 - Etxeberria u.a./Spanien). Die deutschen Gerichte haben das Recht der Bf., eine Aufhebung des 1993 gegen die PKK verhängten
Verbots zu fordern, ausdrücklich anerkannt. Das BMI konnte das Verbot unstreitig erneut prüfen und aufheben. Daraus folgt, dass es der Beschwerdeführerin freistand, sich - auch öffentlich - an die zuständige Behörde zu wenden und
angesichts der angeblich veränderten Umstände eine Aufhebung des Verbots zu fordern. Die Bf. hätte also die Möglichkeit gehabt, sich wirksam für eine Aufhebung des Verbots einzusetzen, ohne sich der Gefahr strafrechtlicher
Verfolgung auszusetzen.
Die Bf. trägt vor, sie habe nicht die Absicht geäußert, das Verbot zu missachten. Die deutschen Gerichte haben aber den Inhalt der von ihr unterzeichneten Erklärung gründlich im allgemeinen Zusammenhang geprüft und dabei
berücksichtigt, dass die Bf.sie im Rahmen einer durch die Führung der PKK initiierten, groß angelegten Kampagne abgegeben hat. Außerdem haben sie berücksichtigt, dass die Bf. unbestritten auch auf andere Weise der
Verbotsverfügung zuwidergehandelt hatte, indem sie einer ebenfalls verbotenen Unterorganisation der PKK eine Spende hat zukommen lassen. Die deutschen Gerichte haben ausgeschlossen, dass die Erklärung so ausgelegt werden
könne, dass sie nicht strafbar sei. Angesichts der sorgfältigen Prüfung durch die deutschen Gerichte ist der Gerichtshof nicht der Auffassung, dass ihre Auslegung das Recht der Bf. aus Art. 10 EMRK verletzt hat.
Die Strafgerichte haben bei der Strafzumessung strafmildernd berücksichtigt, dass sich die Bf. auf ihr Recht auf freie Meinungsäußerung berufen hat. Das verhängte Strafmaß von 150 Tagessätzen zu je acht Euro ist nicht unverhältnismäßig.
Aus diesen Erwägungen kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die deutschen Gerichte die Meinungsfreiheit der Bf. in dem gegen sie geführten Strafverfahren ausreichend berücksichtigt haben. Folglich ist Art. 10 EMRK nicht
verletzt.
II. Behauptete Verletzung von Art. 10 i. V. mit Art. 7 EMRK
Die Bf. macht weiter geltend, ihre Verurteilung werfe eine Frage nach Art. 10 i. V. mit Art. 7 I EMRK auf. ...
Die Bf. hat sich in ihrer Verfassungsbeschwerde nicht auf Art. 103 II GG berufen, nach dem eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Die Garantien aus Art. 7 I
EMRK und aus Art. 103 II GG sind weitgehend identisch. Um den innerstaatlichen Rechtsweg gemäß Art. 35 I EMRK zu erschöpfen, hätte sich die Bf. daher vor dem BVerfG auf Art. 103 II GG berufen müssen. Daraus folgt, dass
diese Rüge nach Art. 35 I, IV EMRK wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs zurückzuweisen ist. ..."
***
Die Fortdauer der Sicherungsverwahrung über die ursprünglich im StGB vorgesehene Höchstdauer von zehn Jahren verstößt gegen Art. 5 I lit. a (Recht auf Freiheit und Sicherheit) und Art. 7 I EMRK (keine Strafe ohne Gesetz -
Anschluss an EGMR, Slg. 2009 = NJW 2010, 2495 - M./Deutschland). Nach Art. 5 z I lit. e EMRK kann einer Person die Freiheit wegen einer psychischen Krankheit nur entzogen werden, wenn sie zuverlässig nachgewiesen und so
schwerwiegend ist, dass sie eine zwangsweise Unterbringung notwendig macht. Die Fortdauer der Unterbringung ist nur so lange zulässig, wie die Störung fortbesteht. Eine Freiheitsentziehung wegen einer psychischen Erkrankung ist
nur rechtmäßig i. S. von Art. 5 I lit. e EMRK, wenn sie in einem Krankenhaus, einer Klinik oder einer anderen geeigneten Einrichtung vollzogen wird. Es gibt aber in Deutschland keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem
Vollzug einer langen Freiheitsstrafe und dem einer Sicherungsverwahrung. Die Feststellung einer Konventionsverletzung verpflichtet den beklagten Staat nach Art. 46 EMRK (Verbindlichkeit und Durchführung der Urteile) nicht nur
zur Zahlung des nach Art. 41 EMRK (gerechte Entschädigung) zugesprochenen Betrags an den Beschwerdeführer, sondern auch dazu, unter Aufsicht des Ministerkomitees des Europarats allgemeine oder individuelle Maßnahmen zu
treffen, um die Konventionsverletzung abzustellen und so weit wie möglich Wiedergutmachung zu leisten. Aus Art. 1 EMRK (Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte) ergibt sich, dass sich die Konventionsstaaten mit
Ratifizierung der Konvention verpflichtet haben sicherzustellen, dass ihre Rechtsordnung mit der Konvention übereinstimmt. Daraus folgt, dass der beklagte Staat jedes Hindernis in seiner Rechtsordnung für eine angemessene
Wiedergutmachung beseitigen muss. Nach dem Urteil in der Sache M./Deutschland (Slg. 2009 = NJW 2010, 2495) haben einige deutsche Gerichte die konventionswidrige Sicherungsverwahrung nicht beendet mit der Begründung, sie
könnten das StGB nicht konventionskonform auslegen. Einige Oberlandesgerichte und ein Senat des BGH halten das für möglich. Deswegen sieht der Gerichtshof davon ab, bestimmte allgemeine oder individuelle Maßnahmen zu
bezeichnen, die zur Durchführung des Urteils erforderlich sind. Er fordert die deutschen Behörden und Gerichte aber dringend dazu auf, ihrer Verantwortung für die Anwendung und Durchsetzung des Rechts des Beschwerdeführers
auf Freiheit nachzukommen (EGMR, Urteil vom 13.01.2011 - 17792/07).
***
Ein Verfahren zur Amtsenthebung des Präsidenten der Republik betrifft weder eine Entscheidung über „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen" noch über eine „strafrechtliche Anklage". Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires
Verfahren) ist deswegen nicht anwendbar. Art. 3 Zusatzprotokoll zur EMRK (Recht auf freie Wahlen) gilt nur für die Wahl der gesetzgebenden Körperschaften. Deswegen ist er auf die Wahl des Parlaments anwendbar, nicht aber auf
die Wahl des Präsidenten der Republik. Art. 17 EMRK (Verbot des Missbrauchs der Rechte) will Personen oder Gruppen mit totalitären Zielsetzungen daran hindern, die in der Konvention verankerten Grundsätze für ihre Interessen
auszunutzen. Die Vorschrift kann nur ausnahmsweise und in extremen Fällen angewendet werden, insbesondere wenn der Beschwerdeführer ein Konventionsrecht missbrauchen und für Ziele benutzen will, die Buchstaben und Geist
der Konvention widersprechen. Art. 3 Zusatzprotokoll zur EMRK enthält das Recht zu wählen und gewählt zu werden. Die Konventionsstaaten können Einzelheiten regeln und insbesondere Voraussetzungen für das aktive und
passive Wahlrecht festlegen. Sie haben dabei einen Ermessensspielraum. Der Gerichtshof prüft, ob die Einschränkungen gesetzlich vorgesehen sind, ein berechtigtes Ziel verfolgen und verhältnismäßig sind. Art. 3 Zusatzprotokoll zur
EMRK schließt nicht aus, das Wahlrecht von Personen zu beschränken, die ein öffentliches Amt in schwerwiegender Weise missbraucht haben und deren Verhalten die Rechtsstaatlichkeit oder andere demokratische Grundsätze
gefährdet hat. Bei Beurteilung der Verhältnismäßigkeit ist von besonderer Bedeutung, ob die Beschränkung des Rechts befristet ist und ob sie später geändert werden kann. Das ist in Litauen nicht der Fall, so dass Art. 3
Zusatzprotokoll zur EMRK verletzt ist. Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) verlangt nicht, dass es im staatlichen Recht einen Rechtsbehelf gibt, mit dem man geltend machen kann, ein Gesetz oder eine Entscheidung des
Verfassungsgerichts mit normativer Wirkung verstoße gegen die Konvention (EGMR, Urteil vom 06.01.2011 - 34932/04 zu EMRK Art. 6, 7, 13, 17, 35 III, IV, 41; Zusatzprotokoll zur EMRK Art. 3; Protokoll Nr. 7 zur EMRK Art. 4,
BeckRS 2011, 20426).
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Die Entscheidung der Kammer, die Beschwerde teilweise für unzulässig zu erklären, ist endgültig. Dieser Teil der Beschwerde ist deswegen nicht vor der Großen Kammer anhängig. Art. 7 II EMRK (Keine Strafe ohne Gesetz) soll
deutlich machen, dass Art. 7 I EMRK nicht für Gesetze gilt, die unter ganz außergewöhnlichen Umständen am Ende des Zweiten Weltkrieges erlassen worden sind, z.B. um Kriegsverbrechen zu bestrafen. Die Definition von
Kriegsverbrechen in der Charta des Internationalen Kriegsverbrechertribunals in Nürnberg ist als Kodifizierung des 1939 geltenden Kriegsvölkerrechts und der völkerrechtlichen Gebräuche zu verstehen. Kriegsverbrechen wurden im
Mai 1944 als Handlungen definiert, die gegen Recht und Gebräuche des Krieges verstoßen. Das Völkerrecht hatte die zugrundeliegenden Prinzipien bestimmt und einen umfangreichen Katalog von Kriegsverbrechen aufgestellt. Die
Misshandlung, Verletzung und Tötung der Bewohner des Dorfes Mazie Bati war 1944 nach dem Kriegsvölkerrecht ein Kriegsverbrechen.Das Völkerrecht und die Gebräuche des Krieges genügten 1944, eine persönliche strafrechtliche
Verantwortlichkeit zu begründen. Das hätte der Beschwerdeführer vorhersehen können. Die Handlungen des Beschwerdeführers waren nach Recht und Gebräuchen des Krieges 1944 ausreichend als Straftaten bestimmt, so dass die
Verurteilung des Beschwerdeführers Art. 7 I EMRK nicht verletzt (EGMR, Urteil vom 17.05.2010 - 36376/04 zu EMRK Art. 2, 3, 5, 6, 7, 13, 15, 18, 43).
***
Der Gerichtshof ist vom Argument des erkennenden Gerichts, dass die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers ohne Angabe einer Frist nur eine Verlängerung dieser Maßnahme betreffe und deshalb lediglich die Vollstreckung
der vom erkennenden Gericht gegen den Beschwerdeführer verhängten Sanktion darstellt, nicht überzeugt. Wie er bereits festgestellt hat, bedeutete zu dem Zeitpunkt, als der Beschwerdeführer seine Tat beging, die Anordnung der
Unterbringung in der Sicherungsverwahrung durch das erkennende Gericht in Verbindung mit § 67d Abs. 1 StGB in der damals geltenden Fassung, dass der Beschwerdeführer höchstens zehn Jahre in der Sicherungsverwahrung
untergebracht werden konnte. Die Verlängerung der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers, die von den Vollstreckungsgerichten nach der Neuregelung des § 67d StGB angeordnet wurde, betrifft deshalb nicht nur die
Vollstreckung der Sanktion (bis zu zehn Jahren Sicherungsverwahrung), die gegen den Beschwerdeführer in Übereinstimmung mit dem zur Tatzeit geltenden Recht verhängt wurde. Sie stellt eine zusätzliche Strafe dar, die gegen den
Beschwerdeführer nachträglich nach einem Gesetz verhängt wurde, das erst in Kraft trat, nachdem der Beschwerdeführer seine Straftat begangen hatte (EGMR, Urteil vom 17.12.2009 - 19359/04, juris zu Art 5 Abs 1, 7 Abs 1 MRK, §
66 Abs 1, § 67d Abs 2, § 67d Abs 3 StGB).
***
Der Grundsatz "nulla poena sine lege" des Art. 7 EMRK setzt voraus, dass der Einzelne aus dem Wortlaut einer Strafnorm erkennen können muss, welche Handlung strafbar und welche Strafe zu erwarten ist. Damit kann Art. 161 des
estnischen StGB in der Fassung von 1961 (vorsätzlicher Missbrauch einer amtlichen Stellung) nicht in Einklang gebracht werden. Denn der weite und vage Begriff des "moralischen Schadens für die nationalen Interessen" ist keines
Beweis zugänglich und ermöglicht letztlich ein nachträgliches Ermessensurteil des Gerichts (EGMR, Urteil vom 25.06.2009 - 12157/05).
***
Art. 8 EMRK Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens
(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.
(2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das
wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Echte und Freiheiten anderer.
Leitsätze/Entscheidungen:
Durchsuchung und Beschlagnahme elektronisch gespeicherter Daten in Anwaltskanzlei (EGMR, Urteil vom 03.07.2012 - 30457/06):
„... ..."
***
„... 55. Der Gerichtshof schließt nicht aus, dass die strafrechtliche Verurteilung des Beschwerdeführers sich auf sein Familienleben auswirkte und möglicherweise unter den Schutzbereich von Artikel 8 der Konvention fiel, da ihm
verboten wurde, mit der Mutter seiner vier Kinder Geschlechtsverkehr zu haben. In jedem Fall ist es zwischen den Parteien unstreitig, dass die strafrechtliche Verurteilung des Beschwerdeführers einen Eingriff in sein Recht auf
Achtung seines Privatlebens, das sein Sexualleben einschließt, darstellte (siehe Dudgeon, a.a.O., Rdnr. 41 und Norris, a.a.O., Rdnr. 38; vgl. auch Laskey, Jaggard und Brown ./. Vereinigtes Königreich, 19. Februar 1997, Rdnr. 36,
Urteils- und Entscheidungssammlung 1997-I). Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass es keinen Grund gibt, anders zu urteilen, und schließt sich dieser Einschätzung an. Die strafrechtliche Verurteilung des Beschwerdeführers griff
also zumindest in sein Recht auf Achtung seines Privatlebens ein.
56. Ein Eingriff in die Ausübung des Rechts auf Achtung des Privatlebens ist mit Artikel 8 Abs. 2 unvereinbar, es sei denn, er ist "gesetzlich vorgesehen", verfolgt ein oder mehrere Ziele, die nach diesem Absatz legitim sind und ist
"in einer demokratischen Gesellschaft notwendig", um das oder die genannten Ziele zu erreichen (siehe u.v.a. Pretty ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 2346/02, Rdnr. 68, ECHR 2002-III).
57. Der Gerichtshof stellt fest, dass die strafrechtliche Verurteilung des Beschwerdeführers auf § 173 Abs. 2 StGB beruhte, der einvernehmlichen Geschlechtsverkehr zwischen erwachsenen leiblichen Geschwistern verbietet
und dem Schutz der Moral und der Rechte anderer dient. Daraus folgt, dass die in Rede stehende Maßnahme ein legitimes Ziel im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 verfolgte.
58. Demnach ist nun zu bestimmen, ob die Verurteilung des Beschwerdeführers in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Diesbezüglich muss der Gerichtshof prüfen, ob ein dringendes soziales Bedürfnis für diese
Maßnahme bestand, und, insbesondere, ob der Eingriff in Bezug auf das verfolgte rechtmäßige Ziel verhältnismäßig war, wobei auf den gerechten Ausgleich zu achten ist, der zwischen den widerstreitenden Interessen und dem
Beurteilungsspielraum des Staates hergestellt werden muss (siehe u.v.a. A., B. und C. ./. Irland [GK], Individualbeschwerde Nr. 25579/05, Rdnr. 230, ECHR 2010).
59. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass bei der Bestimmung des Umfangs des Beurteilungsspielraums, den ein Staat bei der Entscheidung einer Artikel 8 der Konvention betreffenden Rechtssache haben sollte, eine Reihe von
Faktoren zu berücksichtigen sind. Geht es um einen besonders wichtigen Aspekt der Existenz oder Identität des Betroffenen, wird der dem Staat gewährte Spielraum normalerweise eingeschränkt sein (siehe z. B. Dudgeon, a.a.O.,
Rdnr. 52; Christine Goodwin ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 28957/95, Rdnr. 90, ECHR 2002-VI; und Evans ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 6339/05, Rdnr. 77, ECHR
2007/IV). Dementsprechend hat der Gerichtshof festgestellt, dass ein Eingriff der öffentlichen Behörden in einen so intimen Aspekt des Privatlebens wie die Ausprägung der Sexualität einer Person im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 nur
dann rechtmäßig sein kann, wenn schwerwiegende Gründe dafür vorliegen (siehe Dudgeon und Norris, beide a.a.O., Rdnr. 52 bzw. 46).
60. Wo es jedoch zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats weder in Bezug auf die relative Bedeutung der betroffenen Interessen noch in Bezug auf ihren bestmöglichen Schutz einen Konsens gibt, wird der Ermessensspielraum
weiter gefasst sein. Aufgrund ihres direkten und ständigen Kontakts zu den in ihren Ländern wirkenden Kräften sind die staatlichen Behörden grundsätzlich besser in der Lage als das internationale Gericht, sich zum "genauen Inhalt
der Anforderungen der Moral" in ihrem Land sowie zur Notwendigkeit einer Einschränkung zu äußern, mit der diesen Anforderungen entsprochen werden soll (siehe u.v.a. , A., B. und C., a.a.O., Rdnr. 232, und Handyside ./.
Vereinigtes Königreich, 7. Dezember 1976, Rdnr. 48, Serie A Band 24).
61. In Anwendung der oben aufgeführten Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass zwischen den Mitgliedstaaten kein Konsens hinsichtlich der Frage besteht, ob einvernehmliche sexuelle
Handlungen zwischen erwachsenen Geschwistern strafbar sein sollten (siehe Rdnrn. 28-30). Jedoch sieht eine Mehrheit von 28 der 44 untersuchten Staaten eine Strafbarkeit vor. Der Gerichtshof weist weiter darauf hin, dass alle
Rechtssysteme, einschließlich derjenigen, die keine Strafbarkeit vorsehen, die Ehe zwischen Geschwistern verbieten. Es ist also ein breiter Konsens dahingehend zu erkennen, dass sexuelle Beziehungen zwischen Geschwistern weder
von der Rechtsordnung noch von der Gesellschaft als Ganzes akzeptiert werden. Umgekehrt gibt es keinen hinreichenden empirischen Beleg für Annahme eines allgemeinen Trends zur Entkriminalisierung solcher Beziehungen. Der
Gerichtshof ist darüber hinaus der Auffassung, dass der vorliegende Fall eine Frage moralischer Maßstäbe betrifft. Aus den oben genannten Grundsätzen ergibt sich, dass die innerstaatlichen Behörden im Hinblick auf die
Entscheidung, wie sie mit einvernehmlichen inzestuösen Beziehungen zwischen Erwachsenen umgehen, einen weiten Beurteilungsspielraum genießen, obwohl diese Entscheidung einen intimen Aspekt des Privatlebens einer Person betrifft.
62. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass es in Rechtssachen, die sich aus Individualbeschwerden ergeben, nicht Aufgabe des Gerichtshofs ist, die innerstaatlichen Rechtsvorschriften abstrakt zu prüfen. Vielmehr muss er
prüfen, in welcher Weise die relevanten Rechtsvorschriften unter den konkreten Umständen des Einzelfalls auf den Beschwerdeführer angewandt wurden (siehe Pretty, a.a.O., Rdnr. 75, ECHR 2002-III; S. ./. Deutschland [GK]
Individualbeschwerde Nr. 31871/96, Rdnr. 86, ECHR 2003-VIII; und Z. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 22028/04, Rdnr. 45, 3. Dezember 2009). Darüber hinaus ist es nicht Aufgabe des Gerichtshofs, über die Schwere der
Schuld des Einzelnen zu entscheiden oder die angemessene Strafe für einen Straftäter zu bestimmen, denn diese Angelegenheiten fallen in die ausschließliche Zuständigkeit der innerstaatlichen Strafgerichte (siehe G. ./. Deutschland
[GK], Individualbeschwerde Nr. 22978/05, Rdnr. 123, ECHR 2010-..., und Önery?ld?z ./. Türkei [GK], Individualbeschwerde Nr. 48939/99, Rdnr. 116, ECHR 2004-XII). Daher beschränkt der Gerichtshof seine Prüfung auf die Frage,
ob die strafrechtliche Verurteilung des Beschwerdeführers in diesem Einzelfall einem dringenden sozialen Bedürfnis entsprach, wie dies nach Artikel 8 Abs. 2 der Konvention erforderlich ist.
63. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Bundesverfassungsgericht, das die Argumente für und gegen die Strafbarkeit analysiert und sich auf ein Sachverständigengutachten gestützt hatte, zu dem Ergebnis gelangte, dass eine
Kombination von Zwecken, zu denen der Schutz der Familie, die Selbstbestimmung und die öffentliche Gesundheit gehörten, vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Überzeugung, dass der Inzest strafwürdig sei, die Bestrafung
rechtfertige. Das Bundesverfassungsgericht war der Auffassung dass sexuelle Beziehungen zwischen Geschwistern Familienstrukturen, und folglich die Gesellschaft insgesamt, ernsthaft beeinträchtigen könnten. Die Strafbarkeit sei
darüber hinaus im Hinblick auf den Schutz der sexuellen Selbstbestimmung gerechtfertigt. Indem er spezifische, sich aus den gegenseitigen Abhängigkeiten und der Nähe in familiären Beziehungen ergebende Situationen im Blick
habe, könne § 173 StGB Schwierigkeiten bei der Einordnung und Abwehr von Übergriffen gegen die sexuelle Selbstbestimmung vermeiden.
64. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Schwester des Beschwerdeführers eine sexuelle Beziehung mit dem Beschwerdeführer einging, nachdem ihre Mutter gestorben war. Zu der Zeit war die Schwester sechzehn Jahre alt; der
Beschwerdeführer war sieben Jahre älter. Gemäß einem vom Amtsgericht in Auftrag gegebenen Sachverständigengutachten litt die Schwester an einer schweren Persönlichkeitsstörung, die zusammen mit einer mangelhaften
Familiensituation und einer leichten Leichtbehinderung dazu führte, dass sie in hohem Maße von dem Beschwerdeführer abhängig war. Das Amtsgericht kam zu dem Schluss, dass die Schwester nur teilweise schuldfähig war. Diese
Feststellungen wurden vom Oberlandesgericht Dresden und vom Bundesverfassungsgericht bestätigt.
65. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die oben erwähnten Zwecke, die von dem demokratischen Gesetzgeber bei der Überprüfung der einschlägigen Rechtsvorschriften in den siebziger Jahren bekräftigt wurden (siehe Rdnr. 46)
nicht unangemessen erscheinen. Darüber hinaus sind sie in der vorliegenden Rechtssache maßgeblich. Unter diesen Umständen erkennt der Gerichtshof an, dass die strafrechtliche Verurteilung des Beschwerdeführers einem
dringenden sozialen Bedürfnis entsprach.
66. Unter besonderer Berücksichtigung der oben angeführten Erwägungen und der sorgfältigen Herangehensweise des Bundesverfassungsgerichts an die vorliegende Rechtssache, die dadurch belegt wird, dass die von dem
Beschwerdeführer vorgebrachten Argumente gründlich geprüft wurden, und darüber hinaus daraus ersichtlich ist, dass dem Beschlusstext eine ausführliche abweichende Meinung beigefügt wurde, sowie im Hinblick auf den weiten
Beurteilungsspielraum, den ein Staat genießt, wenn es zwischen den Staaten des Europarats keinen Konsens hinsichtlich der Strafbarkeit gibt, kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die innerstaatlichen Gerichten ihren
Beurteilungsspielraum nicht überschritten, als sie den Beschwerdeführer wegen Inzests verurteilten. ..."(EGMR, Urteil vom 12.04.2012 - 43547/08)
***
„... VERFAHREN
1. Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 18734/09 und 9424/11) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die zwei österreichische Staatsangehörige, Herr B. B. und Frau F. B. („die Beschwerdeführer"),
am 31. März 2009 beziehungsweise am 22. Dezember 2010 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention") beim Gerichtshof eingereicht hatten. Der Kammerpräsident hat
dem Antrag der Beschwerdeführer stattgegeben, ihre Namen nicht offen zu legen (Artikel 47 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs).
2. Die Beschwerdeführer, denen Prozesskostenhilfe bewilligt worden war, wurden durch Frau T., Rechtsanwältin in D., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung") wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J.
Behrens und Frau K. Behr vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.
3. Die Beschwerdeführer behaupteten insbesondere, dass die Entscheidung, das elterliche Sorgerecht zu entziehen, ihr Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens unter Verstoß gegen Artikel 8 der Konvention verletzt habe.
4. Am 1. März 2012 wurden die Beschwerden der Regierung übermittelt. Nachdem sie über ihr Recht zur schriftlichen Stellungnahme informiert worden war, zeigte die österreichische Regierung an, dass sie sich am Verfahren nicht
beteiligen wolle.
SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE
5. Die 19.. bzw. 19.. geborenen Beschwerdeführer sind ursprünglich türkischer Herkunft und leben in D.
A. Verfahren über die Entziehung des elterlichen Sorgerechts
6. Am 23. Mai 2008 beantragte die Stadt Krefeld beim Familiengericht Krefeld, den Beschwerdeführern das Sorgerecht für ihre beiden Kinder, eine 19.. geborene Tochter und einen im Jahr 20.. geborenen Sohn, zu entziehen. Laut
Auskunft der Schulleiterin des Mädchens würden beide Kinder von ihrem Vater systematisch geschlagen, wenn sie keine guten Schulnoten erhielten. Die Schule habe bereits im vorausgegangenen Halbjahr erfahren, dass das Kind
geschlagen worden sei. Da die Eltern des Mädchens als sehr angepasst und überhöflich wahrgenommen würden, habe die Schule nicht sofort reagiert, sondern beschlossen, das Kind besser zu beobachten. So sei aufgefallen, dass das
Mädchen von der Familie über sein Handy streng kontrolliert werde. Der Vater habe das Kind auch aus dem Biologieunterricht abgemeldet, weil Sexualkunde auf dem Stundenplan stand. Das Mädchen dürfe nicht mit ins
Schullandheim fahren und werde stattdessen krankgemeldet.
7. Als eine Lehrerin das Kind beim Manipulieren der Note einer Klassenarbeit ertappte, habe es sich seiner Lehrerin endlich anvertraut. Das Mädchen habe auch geäußert, dass sein Bruder noch mehr unter Druck stehe, gute Noten zu
erzielen, und „drakonisch" bestraft werde, wenn er den Anforderungen nicht genüge. Die Schulleiterin nahm Kontakt zum Kinderschutzbund Krefeld auf, der das Jugendamt informiert hatte.
8. Am 23. Mai 2008 entzog das Amtsgericht - Familiengericht - Krefeld im Wege der einstweiligen Anordnung den Beschwerdeführern das elterliche Sorgerecht für ihre beiden Kinder und übertrug es vorübergehend dem Jugendamt;
es verwies insoweit auf die in dem Antrag der städtischen Behörde angeführte Begründung.
9. Am 28. Mai 2008 wurden die beiden Kinder durch das Jugendamt an ihrer Schule abgeholt und in eine Wohngruppe für Kinder gebracht. Noch am selben Tag informierte das Jugendamt die Beschwerdeführerin telefonisch und
persönlich über die Gründe der Inobhutnahme. Der Aufenthaltsort der Kinder wurde den Beschwerdeführern nicht mitgeteilt. Die Beschwerdeführerin betonte, dass die Kinder nie geschlagen worden seien.
10. Am 2. Juni 2008 trugen die anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer im Hauptsacheverfahren vor dem Amtsgericht vor, es stimme, dass sie es für wichtig hielten, dass ihre Kinder gute schulische Leistungen erzielten. Jedoch
seien sie gegenüber den Kindern nie gewalttätig geworden. Ferner legten sie zwei ärztliche Atteste ihrer Hausärztin Dr. D. vom 29. Mai 2008 vor, in denen bestätigt wurde, dass sie beide Kinder regelmäßig in ihrer Praxis untersucht
hatte. Beide Kinder hätten einen ausgeglichenen, stabilen und fröhlichen Eindruck gemacht. Es habe keine Hinweise darauf gegeben, dass sie Gewalt erfahren hätten. Die Ärztin führte ferner aus, dass sie den Jungen mit Ultraschall
untersucht habe. Es habe keine Hinweise auf eine Gewaltanwendung gegenüber dem Jungen gegeben, weder Hämatome noch Verletzungen oder Blutergüsse. Die Beschwerdeführer legten darüber hinaus ärztliche Atteste vor, um zu
zeigen, dass das Mädchen tatsächlich krank war, als sie nicht an dem Schulausflug teilnahm. Zudem legten sie eine Reihe von Zeugnissen vor, um darzulegen, dass die Kinder gute Noten hatten, ein angemessenes Sozialverhalten
zeigten und selten die Schule versäumten. Schließlich brachten sie vor, dass die Kinder regelmäßig am Sportunterricht teilgenommen hätten. Die Beschwerdeführer behaupteten, es sei möglich, dass das Mädchen die ganze Geschichte
erfunden habe, als sie beim Manipulieren von Schulnoten erwischt worden sei.
11. In einem ersten Termin vor dem Amtsgericht am 8. Juli 2008 einigten sich die Parteien darauf, dass eine persönliche Anhörung der Kinder seitens des Gerichts stattfinden solle.
12. Am 16. Juli 2008 hörte der Richter am Amtsgericht die beiden Kinder in Abwesenheit der anderen Verfahrensbeteiligten an. Wie aus dem Gerichtsprotokoll hervorgeht, wurden beide Kinder getrennt voneinander angehört. Das
Mädchen erklärte, dass die Beschwerdeführer erheblichen Druck bezüglich guter Schulnoten auf sie ausübten. Sobald die verlangten Ergebnisse nicht erzielt würden, werde sie von ihrem Vater mit Händen und Gegenständen
geschlagen. In den vergangenen Jahren habe ihr Vater sie mit einer Eisenstange auf die Fußsohlen geschlagen. Anschließend habe sie ihre Füße ins kalte Wasser halten müssen, um keine Spuren zu hinterlassen. Einmal habe ihre
Mutter ihre Beine ausgepeitscht. Sie erklärte ferner, dass sie sich in der Wohngruppe wohl fühle und nicht wieder nach Hause wolle, da sie Angst vor weiteren Gewalttätigkeiten habe.
13. Der Junge erklärte, dass er seit dem Eintritt in die Schule ständig geschlagen worden sei, wenn er nicht die besten Schulnoten erzielte. Sein Vater habe auch Gegenstände wie eine Eisenstange verwendet. Solange sein Vater
gewalttätig sei, wolle er nicht wieder zurück nach Hause.
14. Am 22. Juli 2008 richteten die Beschwerdeführer ein Schreiben an das Amtsgericht, in dem sie bestritten, die Kinder jemals geschlagen zu haben. Sie erklärten, dass ihre Tochter lüge und ihren Bruder manipuliere. Die Ärzte, die
bestätigen könnten, dass sie zu keinem Zeitpunkt Symptome körperlicher Gewalt festgestellt hätten, hätten beide Kinder regelmäßig untersucht. Die Kinder hätten regelmäßig am Schul- und Sportunterricht teilgenommen; dabei hätten
die Lehrer keine Misshandlungsspuren entdeckt. Die Beschwerdeführer verwiesen auch auf einen Mitarbeiter des städtischen Psychologischen Dienstes, der den Jungen mehrmals begutachtet und keine Anzeichen von körperlicher
Gewalt festgestellt habe.
15. Im Hauptsacheverfahren vom 4. August 2008 entzog das Amtsgericht Krefeld den Beschwerdeführern die elterliche Sorge für ihre beiden Kinder und übertrug sie dem Jugendamt. Aufgrund eigener Ermittlungen, insbesondere der
Anhörung der beiden Kinder, war das Gericht überzeugt, dass die Beschwerdeführer ihren Kindern gegenüber mehrfach gewalttätig geworden seien. Nach der Einschulung der Kinder hätten die Eltern erheblichen Druck ausgeübt, der
darin gipfelte, dass die Kinder bei schulischen Leistungen, die nicht den Erwartungen entsprachen, körperlich bestraft worden seien. Beide Kinder seien unter anderem mit einer Eisenstange auf die Fußsohlen geschlagen worden.
16. Da das Gericht von der Richtigkeit der Äußerungen der Kinder überzeugt war, hielt es die Einholung eines Glaubwürdigkeitgutachtens nicht für erforderlich. Beide Kinder hätten ihre Aussagen im Beisein ihrer Mutter gegenüber
dem Jugendamt bestätigt. Eine inhaltliche Beeinflussung des Jungen durch seine ältere Schwester sei auszuschließen, da die Mitarbeiter des Jugendamts ausdrücklich darauf geachtet hätten, dass die Kinder sich über die Vorfälle nicht
unterhalten konnten, bevor auch der Junge befragt worden sei. Obwohl zu berücksichtigen sei, dass das Mädchen möglicherweise über eine lebendige Phantasie verfüge, hielt das Gericht es für ausgeschlossen, dass das Kind seine
Eltern über einen so langen Zeitraum zu Unrecht belasten könnte. Ihre Aussagen seien vielmehr durch die Tendenz gekennzeichnet gewesen, ihre Eltern zu entlasten.
17. Das Amtsgericht war unter Berücksichtigung dieser Sachverhalte der Auffassung, dass die Beschwerdeführer derzeit erziehungsunfähig seien und eine Rückführung der Kinder in den elterlichen Haushalt mit einer
schwerwiegenden Gefährdung des Kindeswohls verbunden wäre.
18. Am 17. September 2008 legten die Beschwerdeführer, die anwaltlich vertreten waren, Beschwerde ein. Am 8. Oktober 2008 trugen die Beschwerdeführer vor, dass die angegriffene Entscheidung auf einer unrichtigen Darstellung
des Sachverhalts beruhe. Die Kinder seien insbesondere nie im Beisein ihrer Mutter befragt worden. Darüber hinaus habe das Amtsgericht es versäumt, den erheblichen Sachverhalt vor der Entscheidung über die endgültige
Entziehung des elterlichen Sorgerechts hinreichend zu prüfen. Vorliegend sei die Einholung eines Gutachtens über die Glaubwürdigkeit der Kinder unverzichtbar.
19. Zu keinem Zeitpunkt habe es objektive Anhaltspunkte wie blaue Flecken, Verletzungen, häufiges Fehlen in der Schule u. s. w., die auf Misshandlungen hindeuten könnten, gegeben. Jeder Mediziner könne bestätigen, dass auch das
Eintauchen ins kalte Wasser die Entstehung von blauen Flecken nicht verhindern könne, wenn die Kinder tatsächlich mit einer Eisenstange geschlagen worden wären. Zudem wären Einschränkung der Bewegungsfreiheit,
Taubheitsgefühl und Schmerzen die Folgen einer derartigen Misshandlung. Diese Symptome seien bei den Kindern zu keinem Zeitpunkt beobachtet worden.
20. Da die Eltern vehement bestritten, ihre Kinder je geschlagen zu haben, gab es ihres Erachtens außer den eigenen Angaben der Kinder keine objektiven Anhaltspunkte für die behauptete Misshandlung. Vor einer so einschneidenden
Entscheidung wie der Entziehung des elterlichen Sorgerechts war daher nach Auffassung der Beschwerdeführer ein Sachverständigengutachten einzuholen, um die Glaubwürdigkeit der Kinder zu überprüfen.
21. Am 6. November 2008 wies das Oberlandesgericht Düsseldorf die Beschwerde der Beschwerdeführer zurück. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts war das Amtsgericht nach persönlicher Anhörung der Beschwerdeführer und
der Kinder aus zutreffenden Gründen davon ausgegangen, dass die elterliche Sorge nach § 1666 BGB (siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht", unten) zu entziehen sei.
22. Das Oberlandesgericht teilte die von dem Amtsgericht vorgenommene Beweiswürdigung. Es komme nicht darauf an, dass das Amtsgericht davon ausgegangen sei, dass die Angaben auch in Gegenwart der Mutter gemacht worden seien.
23. Anhaltspunkte dafür, dass die Kinder, insbesondere das Mädchen, die Beschwerdeführer zu Unrecht belasteten, seien nicht ersichtlich. Dies ergebe sich aus den Gründen, auf die das Amtsgericht sich gestützt habe, und
insbesondere dem Umstand, dass die Kinder, denen die Konsequenzen ihrer Vorwürfe voll und ganz bewusst gewesen seien, diese Angaben über einen längeren Zeitraum widerspruchsfrei wiederholt hätten. Dass die Kinder ihre
Vorwürfe lediglich aus Angst vor der Reaktion der Lehrerin auf den Versuch des Mädchens, seine Schulnoten zu manipulieren, erfunden und daran festgehalten hätten, könne unter diesen Umständen ausgeschlossen werden.
24. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts hatte das Amtsgericht weitere Ermittlungen nicht anzustrengen. Insbesondere sei es nicht darauf angekommen, ob die die Kinder behandelnden Ärzte anlässlich der regelmäßigen
Konsultationen Verletzungen festgestellt hätten, weil die Verletzungshandlungen nicht zu sichtbaren Spuren geführt haben müssten bzw. von den Ärzten übersehen worden seien oder zu Zeitpunkten erfolgt sein könnten, in denen kein
Arztbesuch bevorstand.
25. Das Amtsgericht sei auch nicht verpflichtet, ein Gutachten über die Glaubwürdigkeit der Kinder einzuholen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sei die Würdigung von Zeugenaussagen und die Beurteilung der
Glaubwürdigkeit von Zeugen Aufgabe des Gerichts. Die Einholung eines Sachverständigengutachtens sei nur geboten, wenn konkrete Anhaltspunkte vorliegen, die die Zuverlässigkeit einer Zeugenaussage in Frage stellen könnten,
und wenn für die Feststellung solcher Faktoren und ihres Einflusses auf den Inhalt einer Zeugenaussage eine besondere Sachkunde erforderlich sei. Solch ein konkreter Anhaltspunkt könne nicht bereits von der Tatsache abgeleitet
werden, dass die Beweisperson in kindlichem oder jugendlichem Alter war. Amtsgericht und Oberlandesgericht seien mangels entgegenstehender konkreter Umstände in der Lage gewesen, die Glaubwürdigkeit der Angaben der vom
Amtsgericht angehörten Kinder ohne Hilfe eines Sachverständigen zu beurteilen.
26. Am 3. März 2009 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne weitere Begründung ab, die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführer zur Entscheidung anzunehmen.
B. Weitere Entwicklungen
27. Am 17. März 2009 beantragten die Beschwerdeführer beim Amtsgericht, ihnen ein Umgangsrecht mit ihren Kindern zu gewähren. In einem Termin vor dem Amtsgericht am 7. Juli 2009 wurde für den 16. Juli 2009 ein Treffen mit
den Eltern, den Kindern und dem Jugendamt vereinbart.
28. Während des Treffens am 16. Juli 2009 gestand die Tochter, dass sie gelogen habe und die Vorwürfe, die sie im vergangenen Jahr gemacht hatte, nicht wahr seien. Der Sohn bestätige dies. Das Mädchen übergab auch je einen an
ihre Eltern und an das Amtsgericht gerichteten Brief, in denen sie gestand, dass sie gelogen habe, und den Wunsch äußerte, zu ihrer Familie zurückzukehren.
29. Am 28. August 2009 bestätigten beide Kinder gegenüber dem Amtsrichter, dass ihre Eltern sie nie geschlagen hätten. Die Parteien vereinbarten, die Umgangskontakte zwischen den Beschwerdeführern und ihren Kindern mit dem
Ziel der Rückführung der Kinder in den elterlichen Haushalt auszubauen.
30. Am 9. Oktober 2009 kehrten die Kinder in den Haushalt der Beschwerdeführer zurück. Am 13. April 2010 hob das Amtsgericht seinen Beschluss vom 4. August 2008 auf und übertrug den Beschwerdeführern die elterliche Sorge zurück.
II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT
31. § 1666 BGB sieht vor, dass das Gericht bei einer Gefährdung des Kindeswohls die erforderlichen Maßnahmen zu treffen hat. Nach § 1666a Abs. 1 sind Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von den Eltern verbunden
ist, nur zulässig, wenn der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann. Die gesamte Personensorge darf nur entzogen werden, wenn andere Maßnahmen erfolglos geblieben sind oder
wenn anzunehmen ist, dass sie zur Abwendung der Gefahr nicht ausreichen (§ 1666a Abs.2).
32. Nach § 26 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen hat das Gericht von Amts wegen die zur Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen erforderlichen Ermittlungen durchzuführen.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 8 DER KONVENTION
33. Die Beschwerdeführer rügten, dass die Entziehung des Sorgerechts sie in ihrem Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens nach Artikel 8 der Konvention verletze; Artikel 8 lautet wie folgt:
"1. Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.
2. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche
Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer."
34. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.
A. Zulässigkeit
35. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerdeführer zwei Individualbeschwerden beim Gerichtshof eingereicht haben, die erste (Nr. 18734/09) betreffend die Inobhutnahme ihrer Kinder und die zweite (Nr. 9242/11) betreffend
die Verweigerung einer Entschädigung seitens der Behörden. Angesichts des ähnlichen Gegenstands der Individualbeschwerden hält es der Gerichtshof für angemessen, diese zu verbinden.
36. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht offensichtlich unbegründet im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 der Konvention ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Das Vorbringen der Beschwerdeführer
37. Die Beschwerdeführer rügten insbesondere, dass die innerstaatlichen Behörden den erheblichen Sachverhalt nicht hinreichend geprüft hätten. Das Jugendamt und die Familiengerichte stützten sich ausschließlich auf die Aussagen
der Kinder, die nicht durch Tatsachenbeweise bestätigt würden. Die Eltern hingegen hätten sämtliche Behauptungen häuslicher Gewalt fortwährend zurückgewiesen.
38. Im vorliegenden Fall gebe es genügend Gründe, den Behauptungen der Kinder zu misstrauen. Das Tagebuch des Mädchens, das auszugsweise den Gerichten vorgelegt worden sei, enthalte keine Hinweise darauf, dass sie Gewalt
erfahren hätte. Die Hausärztin der Familie habe keine Hinweise auf jegliche Form der Misshandlung feststellen können. Die ärztlichen Atteste seien den Gerichten vorgelegt worden. Es sei ferner dargelegt worden, dass die Kinder
regelmäßig an Freizeitaktivitäten teilgenommen hätten. Dasselbe gelte für die Zeugnisse der Kinder und die Tatsache, dass sie nur selten den Unterricht versäumt hätten. Wären sie den behaupteten Misshandlungen tatsächlich
ausgesetzt gewesen, hätten sie zwangsläufig für längere Zeit in der Schule fehlen müssen.
39. Die Beschwerdeführer wiesen ferner darauf hin, dass die innerstaatlichen Gerichte eine weitere Beweiserhebung ablehnten. Weder die Lehrer der Kinder, noch die Hausärztin der Familie seien formell angehört worden. Die
Gerichte ignorierten die ärztlichen Atteste und stellten keine Nachforschungen bei den Sportclubs der Kinder an. Zudem berücksichtigten sie nicht, dass auch der Mitarbeiter des Psychologischen Dienstes der Stadt, der beide Kinder
kenne, keine Hinweise auf körperliche Misshandlungen festgestellt habe.
40. Auch hätten die innerstaatlichen Behörden die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass sich die Kinder im Vorfeld über ihre Aussage vor Gericht verständigt hätten, und sie hätten die Kinder nicht getrennt voneinander angehört.
Entgegen der Annahme des Amtsgerichts seien die Kinder in der Lage gewesen, auf Türkisch zu kommunizieren, als sie in die Obhut des Jugendamts genommen worden seien.
2. Die Stellungnahmen der Regierung
41. Nach Auffassung der Regierung war die Entziehung der elterlichen Sorge notwendig, um das Wohl der Kinder zu schützen. Die Regierung wies darauf hin, dass der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung betont habe, dass bei der
Herbeiführung eines gerechten Ausgleichs zwischen den betroffenen Interessen das Kindeswohl im Vordergrund stehe. Die innerstaatlichen Entscheidungen in der vorliegenden Rechtssache seien ausschließlich so zu verstehen, dass
sie dem Kindeswohl dienten.
42. Das Amtsgericht habe alle Verfahrensbeteiligten angehört. Die Aussagen der Kinder sowohl beim Jugendamt als auch vor dem Richter reichten aus, um den Schluss des Gerichts zuzulassen, dass das Wohl der Kinder ernsthaft
gefährdet sei. Beide Kinder hätten beschrieben, wie sie von ihren Eltern geschlagen worden seien. Es gebe keinen Grund für eine weitere Beweisaufnahme. Die Regierung führte aus, dass hierbei die Bewertung des Sachverhalts durch
das Amtsgericht aus einer ex ante Perspektive zu betrachten sei. Die Tatsache, dass die Kinder ein Jahr später, im Jahr 2009, ausgesagt hätten, sie hätten damals vor Gericht gelogen, müsse unberücksichtigt bleiben.
43. Zum damaligen Zeitpunkt hätte für das Amtsgericht kein Grund bestanden, an der Glaubwürdigkeit der Kinder zu zweifeln. Das Gericht hörte die Kinder getrennt voneinander und in Abwesenheit anderer Personen an. Beide
Kinder schilderten dabei die gleichen Sachverhalte. Wenn es sich bei diesen Aussagen tatsächlich um Falschaussagen gehandelt haben sollte, dann hätte der Familienrichter davon ausgehen müssen, dass sich die Kinder im Vorfeld
über ihre Aussagen verständigt hätten. Diese Annahme sei jedoch bei einem 8- und einer 12-Jährigen fernliegend. Außerdem stimmten die Aussagen der Kinder mit ihrer früheren Darstellung gegenüber dem Jugendamt überein. Auch
sei zu berücksichtigen, dass die Kinder bereits zwei Monate von ihren Eltern getrennt gewesen seien. Dementsprechende habe zumindest der 12-jährigen Tochter die Auswirkungen einer etwaigen falschen Aussage bewusst sein
müssen. Schließlich hielten auch die Lehrerin der Kinder sowie der Leiter der Beratungsstelle des Deutschen Kinderschutzbundes in Krefeld, der den Kontakt mit dem Jugendamt aufgenommen hatte, die Aussagen der Kinder für
glaubhaft. Auch später hätten sich die Kinder stets entsprechend ihrer Aussage vor Gericht geäußert.
44. Allein der Umstand, dass minderjährige Kinder vor Gericht vernommen würden, impliziere nicht automatisch, dass ihnen nicht geglaubt werden könne und zwangsläufig ein Glaubwürdigkeitsgutachten einzuholen sei. Die
innerstaatlichen Gerichte hätten aufgrund der Aussagen der Kinder, an deren Glaubwürdigkeit kein Zweifel bestanden hätte, davon ausgehen müssen, dass die Beschwerdeführer gegenüber ihren Kindern massiv gewalttätig geworden
sind. Die Entscheidung sei somit zum damaligen Zeitpunkt notwendig und verhältnismäßig gewesen, um das Wohl der Kinder zu schützen.
3. Würdigung durch den Gerichtshof
45. Der Gerichtshof stellt eingangs fest, dass die Bundesregierung nicht bestreitet, dass die Entziehung des elterlichen Sorgerechts in das nach Artikel 8 der Konvention geschützte Recht der Beschwerdeführer auf Achtung ihres
Familienlebens eingriffen hat. Der Gerichtshof bestätigt diese Bewertung. Jeder Eingriff dieser Art stellt eine Verletzung von Artikel 8 dar, es sei denn, er ist „gesetzlich vorgesehen", verfolgte ein oder mehrere Ziele, die nach Absatz
2 dieser Bestimmung legitim sind, und kann als „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" angesehen werden.
46. Der Gerichtshof stellt fest, dass die angegriffene Maßnahme den Erfordernissen des innerstaatlichen Rechts entsprach und das legitime Ziel des Schutzes der Rechte anderer verfolgte, nämlich der Rechte der Kinder der
Beschwerdeführer. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass er bei der Frage, ob ein Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" war, zu prüfen hat, ob die zur Rechtfertigung der Maßnahmen angeführten Gründe,
im Lichte des Falles als Ganzem, „zutreffend und ausreichend" waren und ob der Entscheidungsprozess fair war und die gebührende Achtung der Rechte der Beschwerdeführer aus Artikel 8 sicherstellte.
47. Bei der Prüfung der zur Rechtfertigung der Maßnahmen angeführten Gründe und des Entscheidungsprozesses berücksichtigt der Gerichtshof gebührend die Tatsache, dass die innerstaatlichen Behörden den Vorteil hatten, mit allen
Beteiligten unmittelbar in Verbindung zu stehen. Es ist nicht Aufgabe des Gerichtshofs, an Stelle der nationalen Behörden deren Aufgaben in Fragen des Sorgerechts wahrzunehmen (vgl. u.v.a, H. ./. Deutschland,
Individualbeschwerde Nr. 11057/02, Rdnr. 89, ECHR 2004-III). Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Behörden einen großen Ermessensspielraum haben, insbesondere bei der Beurteilung der Frage, ob ein Kind in Pflege
zu nehmen ist. Dagegen ist eine genauere Kontrolle bei weitergehenden Beschränkungen erforderlich, wie beispielsweise bei Einschränkungen des Umgangsrechts der Eltern (siehe z.B. E. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde
Nr. 25735/94, Rdnr. 64, ECHR 2000-VIII und A.D. und O.D. ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 28680/06, Rdnr. 83, 16. März 2010).
48. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass Fehlurteile oder -einschätzungen von Fachkräften nicht per se dazu führen, dass Maßnahmen betreffend die Sorge für die Person des Kindes mit den Erfordernissen von Artikel 8 der
Konvention unvereinbar sind. Die Behörden, sowohl im medizinischen als auch im sozialen Bereich, sind zum Schutz von Kindern verpflichtet und können nicht jedes Mal dafür verantwortlich gemacht werden, wenn ein echter und
gerechtfertigter Anlass zur Besorgnis hinsichtlich der Sicherheit von Kindern im Verhältnis zu Mitgliedern ihrer Familie sich - rückblickend - als fehlgeleitet erweist (R.K. und A.K. ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde
Nr.. 38000/05, Rdnr. 36, 30. September 2008 und A.D. und O.D., a.a.O., Rdnr. 84). Daraus folgt, dass die innerstaatlichen Entscheidungen nur im Lichte der Sachlage geprüft werden können, wie sie sich den innerstaatlichen Behörden
zum Zeitpunkt der Entscheidungen dargestellt hat.
49. Im Hinblick auf die Umstände der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass sich die innerstaatlichen Behörden zumindest dem ersten Anschein nach glaubhaften Behauptungen schweren körperlichen Missbrauchs
gegenüber sahen. Der Gerichtshof ist daher der Ansicht, dass das Amtsgericht Krefeld auf der Grundlage der schweren Vorwürfe der Kinder hinreichende Gründe dafür hatte, die Kinder im Wege der einstweiligen Anordnung
unverzüglich aus ihrer Familie herauszunehmen, um einen möglichen weiteren Missbrauch zu verhindern. Daraus folgt, dass die einstweilige Anordnung des Amtsgerichts vom 23. Mai 2008 die Rechte der Beschwerdeführer aus
Artikel 8 der Konvention nicht verletzte.
50. Es bleibt noch festzustellen, ob die Entscheidung im Hauptsacheverfahren über die endgültige Entziehung der elterlichen Sorge die Rechte der Beschwerdeführer aus Artikel 8 der Konvention hinreichend gewährleistete. Der
Gerichtshof stellt fest, dass der einzige Beweis, auf den das Amtsgericht Krefeld seine Entscheidung vom 4. August 2008 stützte, die persönlichen Äußerungen der beiden Kinder gegenüber dem Jugendamt und vor dem Amtsgericht
waren. Es gab keinen objektiven Beweis für den behaupteten Missbrauch. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass das Amtsgericht zwar den Vorteil des unmittelbaren Kontakts zu den Kindern hatte, das Berufungsgericht hingegen
seine Bewertung ausschließlich auf den Inhalt der Verfahrensakte stützte, ohne die Kinder erneut persönlich anzuhören. Die Beschwerdeführer wiederum stützten sich auf die Aussagen der behandelnden Ärzte der Kinder und eines
Psychologen, die den Jungen wiederholt untersucht und keinen Hinweis auf einen Missbrauch festgestellt hatten. Sie wiesen ferner darauf hin, dass die Kinder regelmäßig die Schule besucht und an sportlichen Aktivitäten
teilgenommen hätten. Auch wurde vor den innerstaatlichen Gerichten nicht bestritten, dass das Mädchen eine lebhafte Phantasie hatte. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass diese Tatsachen Zweifel am Wahrheitsgehalt der
Behauptungen der Kinder aufkommen lassen.
51. Der Gerichtshof stellt weiterhin fest, dass die innerstaatlichen Gerichte bei ihrer Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht unter Druck standen, eine übereilte Entscheidung zu treffen, nachdem die Kinder sicher in einer
Wohngruppe für Kinder untergebracht waren. Darüber hinaus stellt der Gerichtshof fest, dass die deutschen Familiengerichte nach § 26 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen (siehe Rdnr. 33) verpflichtet sind, von Amts
wegen die zur Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen erforderlichen Ermittlungen durchzuführen, und dass die Bundesregierung keine tatsächlichen Gründe angeführt hat, aus denen die innerstaatlichen Gerichte daran
gehindert hätten sein können, den Sachverhalt vor Erlass einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren weiter zu untersuchen. Unter diesen Umständen und im Hinblick auf die schwerwiegenden Auswirkungen, die die vollständige
Entziehung der elterlichen Sorge der Beschwerdeführer auf die Familie insgesamt hatte, vertritt der Gerichtshof die Auffassung, dass die innerstaatlichen Gerichte im Hauptsacheverfahren keine hinreichenden Gründe dafür angeführt
haben, den Beschwerdeführern die elterliche Sorge zu entziehen.
52. Folglich ist Artikel 8 der Konvention verletzt worden.
II. ANDERE BEHAUPTETE KONVENTIONSVERLETZUNGEN
53. Die Beschwerdeführer rügen nach Artikel 8 der Konvention, dass ihnen der Umgang mit ihren Kindern während ihrer Obhutnahme verwehrt worden sei. Darüber hinaus beanstanden sie nach Artikel 14 der Konvention, gegenüber
Eltern deutscher Herkunft diskriminiert worden zu sein. Abschließend rügen sie nach Artikel 3 des Protokolls Nr. 7 zur Konvention, dass ihnen eine Entschädigung für die fehlerhaften Entscheidungen der deutschen Gerichte versagt
worden sei.
54. Unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und soweit die gerügten Angelegenheiten unter seine Zuständigkeit fallen, stellt der Gerichtshof allerdings fest, dass hier keine Anzeichen für eine Verletzung
der in der Konvention oder den Protokollen dazu bezeichneten Rechte und Freiheiten ersichtlich sind.
Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet ist und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
III. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION
55. Artikel 41 der Konvention lautet:
„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser
Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist."
A. Schaden
56. Die Beschwerdeführer verlangen die Zahlung von insgesamt 35.923,74 Euro in Bezug auf den materiellen Schaden. Sie trugen vor, sie hätten in eine andere Stadt ziehen müssen, weil sie es nicht hätten ertragen können, in Krefeld
zu leben, nachdem ihnen die Kinder weggenommen worden seien. Die Ausgaben für den Umzug in eine neue Wohnung, einschließlich der Anschaffung neuer Möbel und zusätzlicher Ausgaben, sowie die Unterbringungskosten in
Höhe von 1.834,93 Euro, die sie an das Jugendamt zahlen mussten, finanzierten sie mit einem Kredit in Höhe von 21.095,34 Euro. Darüber hinaus brachten sie vor, der erste Beschwerdeführer sei infolge erheblicher Traumatisierung
arbeitslos geworden, und errechneten einen Verdienstausfall in Höhe von 14.828,40 Euro.
57. Die Regierung führte aus, dass kein kausaler Zusammenhang zwischen dem behaupteten Verstoß und dem Umzug bestehe, der eine freiwillige Entscheidung der Beschwerdeführer gewesen sei. Darüber hinaus hätten die
Beschwerdeführer den behaupteten Verdienstausfall sowie den kausalen Zusammenhang zwischen der behaupteten Verletzung ihrer Konventionsrechte und des Verlusts des Arbeitsplatzes des Beschwerdeführers nicht substantiiert.
58. Der Gerichtshof kann keinen hinreichenden Kausalzusammenhang zwischen der festgestellten Verletzung, dem Umzug der Beschwerdeführer, der Anschaffung neuer Möbel, den Kosten des Privatkredits und dem behaupteten
Verdienstausfall erkennen. Jedoch spricht er den Beschwerdeführern 1.834,93 in Euro für die Unterbringungskosten der Kinder, als sie in behördlicher Obhut standen, zu.
59. Die Beschwerdeführer verlangten ferner jeweils 55.000 EUR als Entschädigung für den immateriellen Schaden. Sie trugen vor, dass sie 497 Tage von ihren Kindern getrennt gewesen seien, dass sie mit der Tatsache leben müssten,
dass ihre Tochter im Heim sexuell missbraucht worden sei, und dass der erste Beschwerdeführer seinen Arbeitsplatz verloren habe.
60. Die Regierung hielt den von den Beschwerdeführern geltend gemachten Betrag für überzogen. Angesichts der Tatsache, dass die innerstaatlichen Gerichte keinen Grund gehabt hätten, an der Glaubwürdigkeit der Behauptung der
Kinder zu zweifeln, sei es in der vorliegenden Rechtssache nicht angezeigt, eine Entschädigung für immaterielle Schäden zuzusprechen.
61. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Beschwerdeführer aufgrund der Verletzung ihrer Rechte vor den innerstaatlichen Gerichten große Angst und Frustration verspürt haben müssen. Im Hinblick ferner auf die
weitreichenden Folgen, die die angefochtenen Entscheidungen für die Familie der Beschwerdeführer insgesamt hatten, entscheidet der Gerichtshof nach Billigkeit und spricht jedem Beschwerdeführer unter dieser Rubrik 25.000 Euro zu.
B. Kosten und Auslagen
62. Die Beschwerdeführer, die sich auf Belege stützen, verlangten 3.078,74 EUR für Kosten und Auslagen vor den innerstaatlichen Gerichten. Darüber hinaus machten sie einen Pauschalbetrag in Höhe von 300 Euro für Fahrtkosten,
Porto, Papier und Arztkosten geltend.
63. Nach Auffassung der Regierung haben sie lediglich Gerichts- und Anwaltskosten in Höhe von 2.095,41 Euro nachgewiesen.
64. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur soweit Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese tatsächlich und notwendigerweise entstanden waren und der
Höhe nach angemessen sind. In der vorliegenden Rechtssache hält es der Gerichtshof unter Berücksichtigung der ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und der oben genannten Kriterien für angemessen, für Kosten und Auslagen
im innerstaatlichen Verfahren 2.095,41 EUR zuzusprechen.
C. Verzugszinsen
65. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Individualbeschwerden werden verbunden;
2. Die Rüge nach Artikel 8 der Konvention bezüglich der Entziehung der elterlichen Sorge wird für zulässig und die Individualbeschwerde im Übrigen für unzulässig erklärt;
3. Artikel 8 der Konvention ist verletzt worden;
4. a) Der beschwerdegegnerische Staat hat den Beschwerdeführern binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig wird, folgende Beträge zu zahlen:
i) an beide Beschwerdeführer zusammen 1.834,93 Euro (eintausendachthundertvierunddreißig Euro und dreiundneunzig Cent) für den materiellen Schaden, zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern;
ii) an jeden Beschwerdeführer 25.000 EUR (fünfundzwanzigtausend Euro) für den immateriellen Schaden, zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern;
iii) an beide Beschwerdeführer zusammen 2.095,41 Euro (zweitausendundfünfundneunzig Euro und einundvierzig Cent) für Kosten und Auslagen, zuzüglich der den Beschwerdeführern gegebenenfalls zu berechnenden Steuern;
b) Nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten fallen für die obengenannten Beträge bis zur Auszahlung einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der
Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;
5. Im Übrigen wird die Forderung der Beschwerdeführer nach gerechter Entschädigung zurückgewiesen. ..." (EGMR, Urteil vom 14.03.2013 - 18734/09, 9424/11)
***
„... SACHVERHALT
Der 19… geborene Beschwerdeführer, Herr D., ist deutscher Staatsangehöriger und in B. wohnhaft.
A. Die Umstände des Falls
Der vom Beschwerdeführer vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.
1. Der Hintergrund der Rechtssache
Der Beschwerdeführer hat einen Sohn, der 1995 nichtehelich geboren wurde. Noch im selben Jahr erkannte er die Vaterschaft für das Kind an. Da die Eltern keine gemeinsame Sorgeerklärung abgegeben hatten, erhielt die Mutter nach
§ 1626a Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs („BGB" - siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht") die alleinige elterliche Sorge.
Von 1995 bis Dezember 1997, als die Eltern sich trennten und die Mutter in eine andere Wohnung in der Nachbarschaft umzog, lebten der Beschwerdeführer und die Kindesmutter zusammen mit dem Kind in einem gemeinsamen
Haushalt in B. Im Zeitraum von Januar 1998 bis Januar 2002 betreuten beide Eltern das Kind wöchentlich abwechselnd im selben Umfang.
Im Januar 2002 verzog die Mutter mit dem Sohn von B. nach S., einer Stadt, die 650 km von B. entfernt ist, ohne dies mit dem Beschwerdeführer abgesprochen zu haben. Die Mutter behauptete, sie sei umgezogen, weil das Verhalten
des Beschwerdeführers in der Vergangenheit dem Wohl des Kindes geschadet habe.
2. Das Verfahren zur Regelung der elterlichen Sorge und des Umgangs
(a) Das Verfahren bis zur Regelung des Umgangsrechts des Beschwerdeführers
Mit Schriftsätzen vom 29. Januar und 1. Februar 2002 beantragte der Beschwerdeführer vor dem Amtsgericht B., ihm die elterliche Sorge, hilfsweise das Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind zu übertragen. Außerdem beantragte
der Beschwerdeführer Umgang mit seinem Sohn abwechselnd wöchentlich sowie darüber hinaus eine einstweilige Anordnung hinsichtlich einer vorläufigen Regelung seines Umgangs mit dem Kind.
Mit Schreiben vom 6. Februar 2002 teilte das Gericht dem Beschwerdeführer mit, dass die Sache an das Amtsgericht S. abgegeben worden sei; dort wurden zwei getrennte Verfahren eröffnet: ein Verfahren über die Übertragung des
Sorgerechts auf den Beschwerdeführer (Az.: 41 F 36/02) und ein weiteres Verfahren über den Antrag des Beschwerdeführers auf Umgang mit seinem Sohn (Az.: 41 F 37/02). In der Folgezeit wurden die Verfahren weitgehend
gleichzeitig geführt.
Am 1. März 2002 erstattete der Beschwerdeführer Strafanzeige gegen die Mutter u. a. wegen Kindesentziehung. Das daraufhin gegen die Mutter eingeleitete Ermittlungsverfahren wurde von der Staatsanwaltschaft eingestellt.
Nachdem die Mutter den Beschwerdeführer beschuldigt hatte, das Kind sexuell missbraucht zu haben, leitete die Staatsanwaltschaft B. gegen ihn ein Ermittlungsverfahren ein.
Am 21. Juni 2002 teilte das Jugendamt S. dem Amtsgericht mit, dass es eine Stellungnahme zu der Frage, wie der Umgang des Vaters mit dem Sohn geregelt werden sollte, nicht abgeben könne, da die Mutter Gesprächsangebote
abgelehnt habe.
Bei einer Anhörung im Verfahren über das Umgangsrecht (Az.: 41 F 37/02) am 26. Juni 2002 beantragte der Beschwerdeführer unbetreuten Umgang mit seinem Sohn.
Mit Beschluss vom 5. November 2002 räumte das Amtsgericht dem Beschwerdeführer im Wege der einstweiligen Anordnung betreuten Umgang unter Einschaltung des Ortsverbandes S. (nahe S.) des Deutschen Kinderschutzbundes
ein. Das Gericht wies den Antrag des Beschwerdeführers auf unbetreuten Umgang mit der Begründung ab, dass darüber erst im Hauptsacheverfahren entschieden werden könne, nachdem das Gericht ein Gutachten zu einer möglichen
Regelung des Umgangs zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Sohn eingeholt habe.
In den Hauptsacheverfahren (Az.: 41 F 37/02 and 41 F 36/02) wurden die Eltern und das Kind am 11. bzw. 18. Dezember 2002 angehört. Das Kind äußerte den Wunsch, abwechselnd eine Woche bei seiner Mutter und eine Woche bei
seinem Vater zu verbringen.
Mit Beschluss vom 14. Januar 2003 ordnete das Amtsgericht S. ein psychologisches Sachverständigengutachten zu der Frage an, welche Ausgestaltung des Sorge- und Umgangsrechts dem Kindeswohl dienlich wäre, und bestellte eine
Gutachterin. Beide Elternteile wandten sich gegen die Entscheidung des Gerichts und lehnten die Gutachterin ab. Später weigerte sich die Mutter, mit der Gutachterin zusammenzuarbeiten.
Zwischen dem 27. Dezember 2002 und dem 18. Juli 2003 hatte der Beschwerdeführer in etwa zwölf Mal betreuten Umgang mit seinem Sohn in den Räumlichkeiten des Kinderschutzbundes Schifferstadt. Dann stellte er die Besuche
ein, da er die Bedingungen, unter denen der Umgang mit seinem Sohn stattfand, als für das Wohl des Kindes schädlich ansah.
Mit Schreiben vom 25. Juni 2003 teilte die Staatsanwaltschaft B. dem Beschwerdeführer mit, dass das 2002 gegen ihn wegen sexuellen Missbrauchs seines Sohnes eingeleitete Ermittlungsverfahren eingestellt worden sei.
Am 2. und 16. Juli 2003 beantragte der Beschwerdeführer erneut im Wege einer einstweiligen Anordnung ein unbetreutes Umgangsrecht und verwies zur Begründung darauf, dass nach Einstellung des Ermittlungsverfahrens kein
Grund mehr bestehe, sein Recht auf Umgang mit seinem Sohn Einschränkungen zu unterwerfen.
In einem Beschluss vom 16. Januar 2004, mit dem die Zurückweisung eines Befangenheitsantrags des Beschwerdeführers gegen den mit der Sache befassten Richter am Amtsgericht S. bestätigt wurde, wies das Oberlandesgericht
Zweibrücken darauf hin, dass eine missbräuchliche Vereitelung des Umgangs des Beschwerdeführers mit dem Kind durch die Mutter Zweifel an ihrer Erziehungseignung begründen und sogar den Entzug des
Aufenthaltsbestimmungsrechts zur Folge haben könne.
Mit Beschluss vom 27. Januar 2004 gab das Amtsgericht den Parteien auf, mit der Sachverständigen zusammenzuarbeiten, und drohte im Fall der Zuwiderhandlung ein Zwangsgeld bis zu 2.000,00 Euro an.
Am 29. Januar 2004 verbrachte der Beschwerdeführer mit Einverständnis der Mutter vier Stunden allein mit seinem Sohn.
Ein erstes Treffen zwischen der Sachverständigen und der Mutter fand im März 2004 statt.
Am 11. März 2004 hob das Oberlandesgericht Zweibrücken den Beschluss des Amtsgerichts vom 27. Januar 2004 auf und stellte fest, dass Eltern zwar nach dem Gesetz nicht verpflichtet seien, ihr Kind begutachten zu lassen, und
ihnen deshalb auch kein Zwangsgeld angedroht werden könne, die beharrliche Weigerung der Mutter, mit der Sachverständigen zusammenzuarbeiten, im vorliegenden Fall jedoch Zweifel an ihrer Geeignetheit zur Ausübung der
elterlichen Sorge aufkommen lassen könne.
Mit Beschluss vom 27. Mai 2004 wies das Amtsgericht S. den Antrag des Beschwerdeführers ab, seinen Beschluss vom 5. November 2002 abzuändern und ihm nicht betreuten Umgang mit seinem Sohn einzuräumen. Das Gericht
stellte fest, dass in Anbetracht der von der Mutter erhobenen Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs ein nicht betreuter Umgang erst dann in Betracht kommen könne, wenn das Gutachten vorliege und Klarheit in Bezug auf den
Wahrheitsgehalt dieser Anschuldigungen bestehe.
Am 18. Juni 2004 sprach die Sachverständige mit dem Kind.
Am 5. und 8. Juli 2004 beantragte der Beschwerdeführer im Wege einer einstweiligen Anordnung erneut unbetreuten Umgang mit seinem Sohn.
Nachdem ein Richterwechsel stattgefunden hatte, bestellte das Amtsgericht mit Beschluss vom 29. Juli 2004 eine Verfahrenspflegerin für das Kind.
Am 5. August 2004 wurden die Eltern und das Kind erneut angehört.
Mit Beschluss vom 11. August 2004 bestellte das Amtsgericht einen neuen Sachverständigen, nachdem hinsichtlich der Kompetenz und Objektivität der zunächst bestellten Gutachterin Zweifel entstanden waren.
Mit Beschluss vom selben Tag wies das Amtsgericht nach Anhörung der Eltern und des Kindes sowie unter Bezugnahme auf eine schriftliche Stellungnahme der zunächst bestellten Gutachterin vom 8. Juli 2004 den erneuten Antrag
des Beschwerdeführers auf einstweilige Anordnung des unbetreuten Umgangs bis zur Fertigstellung eines Gutachtens durch den neu bestellten Sachverständigen ab. Das Gericht war nach Anhörung der Mutter der Auffassung, dass die
Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs nicht gänzlich unsubstantiiert seien und deshalb auf ein Sachverständigengutachten nicht verzichtet werden könne. Die ausdrückliche Weigerung des Beschwerdeführers, seinen Sohn unter den
Bedingungen eines betreuten Umgangs zu sehen oder andere Formen des betreuten Umgangs zu akzeptieren, ließen Zweifel an der Bedeutung aufkommen, die er dem Wohl des Kindes zumesse.
Das Gutachten wurde am 12. November 2004 erstattet, nachdem die Eltern und das Kind befragt worden waren. Der Sachverständige kam zu dem Ergebnis, dass es unter den gegebenen Umständen dem Kindeswohl abträglich wäre,
der Mutter das Sorgerecht zu entziehen und die alleinige Sorge dem Vater zu übertragen. Ein gemeinsames Sorgerecht diene dem Kindeswohl auch nicht, denn das Verhältnis zwischen den Eltern sei immer noch angespannt. Der
Sachverständige empfahl jedoch regelmäßigen Umgang des Beschwerdeführers mit seinem Sohn. Zunächst könne vorgesehen werden, dass der Vater seinen Sohn an jedem zweiten Wochenende in S. besucht; nach einer Probezeit von
sechs Monaten könnten längere Aufenthalte des Kindes im Haushalt des Vaters in Betracht gezogen werden.
Nachdem sie die Eltern und das Kind angehört hatte, sprach sich die Verfahrenspflegerin in ihren schriftlichen Stellungnahmen vom 3. und 27. Dezember 2004 ebenfalls gegen eine Übertragung des Sorgerechts auf den
Beschwerdeführer aus, empfahl aber, ihm sofort ein Recht auf unbetreuten Umgang mit seinem Sohn einzuräumen. Die Verfahrenspflegerin wies darauf hin, dass nach dem anwendbaren Recht die Übertragung der Alleinsorge auf den
nichtehelichen Vater, wenn die Zustimmung der Mutter nicht vorliege, nach § 1666 BGB nur dann möglich sei, wenn die Mutter erziehungsunfähig und dadurch das Wohl des Kindes gefährdet sei. Der Mutter könne zwar vorgeworfen
werden, dass sie den Sohn ohne einen triftigen Grund aus seiner vertrauten Umgebung in B. herausgerissen und ihm den Vater als Bezugsperson entzogen habe, aber es gebe keine Anhaltspunkte für die Behauptungen des
Beschwerdeführers, dass sie psychisch gestört und deshalb erziehungsunfähig sei. Die Verfahrenspflegerin war ferner der Meinung, dass in Anbetracht der anhaltenden Streitigkeiten und der Uneinigkeit zwischen den Eltern über die
Erziehung des Kindes ein gemeinsames Sorgerecht ebenfalls ausscheide.
Mit Beschluss vom 2. Februar 2005 räumte das Amtsgericht S. dem Beschwerdeführer unbetreuten Umgang mit dem Kind an jedem zweiten Wochenende mit der Maßgabe ein, dass die Begegnungen im Umkreis von 30 km vom
Wohnsitz der Mutter stattfinden müssten. Gegen diesen Beschluss legten beide Parteien Rechtsmittel ein.
Mit Beschluss vom 15. Juli 2005 änderte das Oberlandesgericht Zweibrücken den Beschluss des Amtsgerichts vom 2. Februar 2005 ab und gewährte dem Beschwerdeführer regelmäßigen unbetreuten Umgang mit dem Kind an jedem
dritten Wochenende sowie während der Hälfte der Schulferien.
In der Folgezeit konnte der Beschwerdeführer sein Umgangsrecht anscheinend dementsprechend ausüben.
(b) Das Sorgerechtsverfahren im Übrigen
Im Rahmen der Vorbereitung auf einen Sitzungstermin in dem noch immer anhängigen Sorgerechtsverfahren, in dem der Sachverständige sein Gutachten vom 12. November 2004 näher erläutern sollte, beantragte der
Beschwerdeführer beim Amtsgericht S. die Zulassung eines Diplom-Pädagogen, der den psychologischen Sachverständigen an seiner Stelle befragen sollte, da weder er noch sein Anwalt über den erforderlichen psychologischen
Sachverstand verfügten, um die relevanten Fragen zu stellen. Mit Beschluss vom 25. Juli 2005 wies das Gericht den Antrag des Beschwerdeführers mit der Feststellung zurück, sein Anwalt habe dem Sachverständigen bereits
schriftlich eine Liste mit relevanten Fragen vorgelegt, die den von ihm behaupteten Mangel an Sachverstand nicht erkennen lasse. Das Gericht war außerdem der Meinung, dass der vom Beschwerdeführer vorgeschlagene Pädagoge
nicht über die erforderlichen Qualifikationen verfüge. Unter Hinweis darauf, dass Verhandlungen in Familiensachen grundsätzlich nicht öffentlich seien und die Zulassung von weiteren Beiständen für die Parteien deshalb die
Ausnahme bleiben müsse, vertrat das Gericht die Auffassung, dass außergewöhnliche Umstände, die eine Abweichung von diesem Grundsatz rechtfertigen würden, im vorliegenden Fall nicht gegeben seien.
Am 19. Juni 2006 fand eine mündliche Verhandlung statt, in welcher der Sachverständige weitere Ausführungen machte. Die Verfahrenspflegerin berichtete, dass das Kind nach seinem letzten Besuch beim Vater Anfang Juni 2006
den Wunsch geäußert habe, er wolle jetzt bei seinem Vater wohnen und seine Mutter nur besuchen.
Mit Beschluss vom 23. August 2006 wies das Amtsgericht S. den Antrag des Beschwerdeführers zurück, ihm nach § 1672 bzw. 1666 BGB die alleinige elterliche Sorge für das Kind, hilfsweise das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu
übertragen. Seinen weiter hilfsweise gestellten Antrag, die gemeinsame Sorge herzustellen und die nach § 1672 Abs. 1 BGB erforderliche Zustimmung der Mutter hierzu nach Art. 224 § 2 Buchstabe a [sic] EGBGB, einer vom
deutschen Gesetzgeber am 31. Dezember 2003 eingeführten Übergangsvorschrift (siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht"), zu ersetzen, wies das Gericht ebenfalls zurück.
In Bezug auf die Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge stellte das Gericht zunächst fest, dass der Antrag des Beschwerdeführers, sofern er nach § 1672 BGB gestellt sei, als unzulässig zurückgewiesen werden müsse. Das
Gericht wies darauf hin, dass der Beschwerdeführer und die Kindesmutter niemals miteinander verheiratet gewesen seien und keine gemeinsame Sorgeerklärung abgegeben hätten und dass die elterliche Sorge daher nach § 1626a BGB
der Mutter allein zustehe. Gemäß § 1672 Abs. 1 könne, wenn die Kindeseltern nicht nur vorübergehend getrennt lebten und die elterliche Sorge für das Kind nach § 1626a BGB der Mutter zustehe, der Vater nur mit Zustimmung der
Mutter beantragen, dass ihm das Gericht die elterliche Sorge oder einen Teil der elterlichen Sorge allein übertrage. Da die Mutter im vorliegenden Fall ihre Zustimmung verweigert habe, scheide § 1672 Abs. 1 als Rechtsgrundlage für
den diesbezüglichen Antrag des Vaters aus. Auf die Gründe, aus denen die Mutter die Zustimmung verweigert habe, komme es nicht an, denn die genannte Vorschrift sehe die Möglichkeit einer gerichtlichen Ersetzung der
Zustimmung der Mutter grundsätzlich nicht vor. Dabei sei leider hinzunehmen, dass nach wie vor keine Gleichstellung von Vätern nichtehelicher Kinder mit den Vätern ehelicher Kinder erreicht sei.
Anschließend befasste sich das Gericht mit der Frage, ob eine Übertragung des Sorgerechts durch eine Gerichtsentscheidung ohne Zustimmung der Mutter unter den in § 1666 BGB genannten Ausnahmen in Betracht kommen könnte;
danach sei das Familiengericht befugt, die erforderlichen Schutzmaßnahmen anzuordnen, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet sei und die Eltern nicht gewillt seien, selbst Maßnahmen zu ergreifen.
Das Gericht war jedoch insbesondere unter Bezugnahme auf das Sachverständigengutachten vom 12. November 2004, das in der mündlichen Verhandlung am 19. Juni 2006 ergänzt worden war, der Auffassung, dass das Wohl des
Kindes im vorliegenden Fall durch das alleinige Sorgerecht der Mutter nicht gefährdet sei. Der Sachverständige hatte festgestellt, dass eine Übertragung der elterlichen Sorge auf den Vater dem Kindeswohl widersprechen würde,
insbesondere im Hinblick auf das angespannte Verhältnis zwischen den Eltern, das im Wesentlichen darauf zurückzuführen sei, dass der Vater versuche, die von der Mutter geleistete Erziehungsarbeit zu untergraben. Die früher von
der Mutter erhobenen sexuellen Missbrauchsvorwürfe könnten nicht zu einer anderen Einschätzung führen, denn sie habe diese Vorwürfe vor ihm nicht aufrechterhalten und aus der Exploration des Kindes ergäben sich keine
Anhaltspunkte dafür, dass das vertrauensvolle Verhältnis zwischen Vater und Sohn infolge der Behauptungen der Mutter Schaden genommen habe. Der Sachverständige führte weiter aus, dass es keine Anhaltspunkte für die
Behauptung des Vaters gebe, dass die Mutter an einer pathologischen Persönlichkeitsstörung leide und deshalb erziehungsunfähig sei. Dass das Kind nach seinem letzten Aufenthalt bei seinem Vater im Juni 2006 den Wunsch
geäußert habe, er wolle nunmehr auch einmal bei seinem Vater leben und seine Mutter nur besuchen, sei eine normale Konfliktreaktion eines Kindes, dessen Eltern sich getrennt haben. Doch da der Sohn erst 11 Jahre alt und deshalb
nicht fähig sei, sich die Konsequenzen eines Umzugs zu seinem Vater vorzustellen, könnten die Äußerungen des Kindes keine Änderung seiner Schlussfolgerung, nämlich die alleinige elterliche Sorge der Mutter beizubehalten, bewirken.
Die Schlussfolgerungen des Sachverständigen deckten sich mit den Schilderungen der Verfahrenspflegerin in der mündlichen Verhandlung am 19. Juni 2006; sie hatte kurz vor dem Verhandlungstermin mit dem Kind gesprochen und
bestätigt, dass das Kind emotional stabil sei. Nach alledem war das Gericht der Auffassung, dass eine weitere Anhörung des Kindes nicht erforderlich sei.
Abschließend stellte das Gericht fest, dass der Hilfsantrag des Beschwerdeführers auf Einrichtung der gemeinsamen elterlichen Sorge nach § 1626a Abs. 1 Nr. 1 BGB sowie Art. 224 § 2 Buchstabe a [sic] EGBGB zwar zulässig, aber
unbegründet sei. Nach dieser Übergangsvorschrift sei es zwar grundsätzlich möglich, die gemeinsame elterliche Sorge anzuordnen und die diesbezügliche Zustimmung der Mutter zu ersetzen, wenn sich die Eltern, wie im vorliegenden
Fall, vor dem 1. Juli 1998 getrennt und vor der Trennung mindestens sechs Monate ohne Unterbrechung mit dem Kind zusammengelebt hätten, aber Voraussetzung sei auch, dass die gemeinsame elterliche Sorge dem Kindeswohl
diene. Unter Bezugnahme auf seine Begründung hinsichtlich der Voraussetzungen für die Übertragung der alleinigen oder gemeinsamen elterlichen Sorge nach § 1666 BGB sowie die Einschätzung des Sachverständigen in der
Anhörung vom 19. Juni 2006 und die Stellungnahmen der Vertreterin des Jugendamts und der Verfahrenspflegerin gelangte das Gericht zu der Überzeugung, dass in Anbetracht der anhaltenden Spannungen zwischen den Eltern die
gemeinsame Sorge zu weiteren Auseinandersetzungen über die Erziehung des Sohnes, seine Betreuung und die Frage seines Aufenthaltsorts führen würde. Diese Auseinandersetzungen könnten die positive Entwicklung des
Verhältnisses zwischen Vater und Sohn gefährden und liefen somit dem Kindeswohl zuwider. Das Gericht hob ferner hervor, dass sich keine Zweifel an der Fachkompetenz des bestellten Gutachters oder der Richtigkeit seiner
Feststellungen ergeben hätten.
Der Beschwerdeführer legte gegen das Urteil mit Schriftsatz vom 6. November 2006 Beschwerde ein. Er machte insbesondere geltend, dass in Anbetracht der Tatsache, dass das Kind vom Gericht und von dem Sachverständigen
zuletzt im Jahr 2004 angehört worden sei, im Juni 2006 aber gegenüber der Verfahrenspflegerin erklärt habe, dass es nun bei seinem Vater leben wolle, eine erneute Anhörung seines Sohnes durch das Gericht sowie ein neues
Sachverständigengutachten unverzichtbar seien für eine Entscheidung über die Frage, welche Zuordnung der elterlichen Sorge dem Kindeswohl dienen würde.
Am 10. Januar 2007 wies das Oberlandesgericht Zweibrücken die Beschwerde des Beschwerdeführers zurück. Das Oberlandesgericht schloss sich den Feststellungen des Amtsgerichts S. an und wies ergänzend darauf hin, dass die
gemeinsame elterliche Sorge ein Mindestmaß an Kooperationsbereitschaft zwischen den Eltern voraussetze; im vorliegenden Fall, in dem die unüberbrückbaren Konflikte zwischen den Eltern durch eine gemeinsame Sorge eher noch
verschärft würden, sei diese Voraussetzung nicht erfüllt. Diese Feststellungen könnten aus dem Inhalt der Akten und ohne Einholung eines neuen Sachverständigengutachtens getroffen werden. Einer weiteren Anhörung des Kindes
oder der übrigen Prozessbeteiligten habe es ebenfalls nicht bedurft, da hiervon keine weiteren, für die Entscheidung bedeutsamen Erkenntnisse hinsichtlich der Übertragung der elterlichen Sorge zu erwarten gewesen seien.
Am 30. Januar 2007 erhob der Beschwerdeführer Anhörungsrüge zum Oberlandesgericht Zweibrücken.
Am 14. Februar 2007 erhob er Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts S. vom 23. August 2006 sowie gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Zweibrücken vom 10. Januar 2007 und focht die Ablehnung
seines Antrags auf Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge, hilfsweise der gemeinsamen Sorge für seinen Sohn gemäß § 1666 BGB bzw. Art. 224 § 2 Buchstabe a [sic] EGBGB an.
Mit Beschluss vom 22. Februar 2007 wies das Oberlandesgericht die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers als unbegründet zurück. In Ergänzung der in seinem Beschluss vom 10. Januar 2007 angeführten Gründe vertrat das
Oberlandesgericht die Auffassung, dass das Amtsgericht den Sachverhalt umfassend ermittelt und seine Entscheidung auf der Grundlage der Erklärungen der Verfahrensbeteiligten getroffen habe, die mit Ausnahme des Kindes zeitnah
angehört worden seien. Seit dem Beschluss des Amtsgerichts hätten sich keine entscheidungserheblichen tatsächlichen Änderungen ergeben, und es könne deshalb ausgeschlossen werden, dass eine erneute Anhörung zu einer anderen
Einschätzung des Sachverhalts führen würde. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass die Mutter erziehungsungeeignet sei oder das Kindeswohl in einem Maß gefährdet habe, das die Entziehung ihres Sorgerechts nach § 1666 BGB
rechtfertigen würde. Außerdem stehe außer Zweifel, dass der erhebliche Konflikt zwischen den Eltern eine gemeinsame elterliche Sorge unmöglich mache; ein weiteres Sachverständigengutachten oder eine erneute Anhörung des
Kindes könne daher für die Entscheidung darüber, wer das Sorgerecht erhalte, keine Rolle spielen.
Mit Schriftsatz vom 26. März 2007 erstreckte der Beschwerdeführer seine Verfassungsbeschwerde auf den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 22. Februar 2007.
Am 3. März 2009 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne weitere Begründung ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 846/07). Die Entscheidung wurde dem
Beschwerdeführer am 23. März 2009 zugestellt.
3. Das Verfahren vor dem Gerichtshof
Am 14. September 2005 erhob der Beschwerdeführer beim Gerichtshof eine erste Individualbeschwerde nach Artikel 34 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Individualbeschwerde Nr. 40014/05) betreffend das Sorgerecht
für seinen Sohn und das Recht auf Umgang mit ihm. Unter Berufung auf Artikel 6 Abs. 1 sowie die Artikel 8 und 14 der Konvention rügte er die Dauer des innerstaatlichen Verfahrens und die Weigerung der innerstaatlichen Gerichte,
ihm unbetreuten Umgang mit seinem Sohn zu gewähren.
In seinem Urteil hierüber vom 8. Juli 2010 entschied der Gerichtshof, dass zwar die Dauer des umgangsrechtlichen Verfahrens noch konventionskonform sei, die Dauer des Sorgerechtsverfahrens aber das in Artikel 6 der Konvention
verankerte Gebot der Entscheidung innerhalb „angemessener Frist" verletzt habe, und erklärte die Beschwerde im Übrigen für unzulässig. Der Gerichtshof erklärte dazu allerdings, dass die Rüge des Beschwerdeführers nach Artikel 8
ausschließlich das Umgangsrechtsverfahren betreffe und die Vereinbarkeit des Sorgerechtsverfahrens mit dieser Vorschrift Gegenstand einer gesonderten Individualbeschwerde sei (vorliegende Individualbeschwerde Nr. 50216/09).
B. Das einschlägige innerstaatliche Recht und die innerstaatliche Praxis
Nach Artikel 6 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) sind die Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
Die Gesetzesbestimmungen zu Sorge- und Umgangsrecht finden sich im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB). Nach § 1626 Abs. 1 BGB haben die Eltern die Pflicht und das Recht, für das Kind zu sorgen (elterliche Sorge).
Nach § 1666 BGB hat das Familiengericht die erforderlichen Schutzmaßnahmen zu treffen, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes durch Vernachlässigung gefährdet wird und die Eltern nicht gewillt sind,
diese Maßnahmen selbst zu treffen. Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von einem Elternteil verbunden ist, sind nur zulässig, wenn das Kind andernfalls in Gefahr wäre (§ 1666a BGB).
Nichtehelich geborene Kinder standen - nach § 1705 BGB in der früheren Fassung - automatisch unter der elterlichen Sorge der Mutter. Diese Bestimmung wurde jedoch 1996 vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig
erklärt. Am 1. Juli 1998 trat die Reform zum Kindschaftsrecht (Bundesgesetzblatt 1997, S. 2942) zur Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts von 1996 in Kraft. Die einschlägigen Bestimmungen im BGB wurden wie
folgt geändert: Nach § 1626a Abs. 1 können die Eltern eines nichtehelichen minderjährigen Kindes die elterliche Sorge gemeinsam ausüben, wenn sie eine entsprechende Erklärung abgeben (Sorgeerklärung) oder einander heiraten.
Andernfalls sieht § 1626a Abs. 2 vor, dass die Mutter das alleinige Sorgerecht erhält.
Leben die Eltern nicht nur vorübergehend getrennt und steht die alleinige elterliche Sorge nach § 1626a Abs. 2 BGB der Mutter zu, so sieht § 1672 Abs. 1 BGB vor, dass das Familiengericht die elterliche Sorge dem Vater allein
übertragen kann, wenn ein Elternteil mit Zustimmung des anderen Elternteils den entsprechenden Antrag stellt. Dem Antrag ist stattzugeben, wenn die Übertragung dem Wohl des Kindes dient.
Im Gegensatz hierzu führen Eltern nach ihrer Trennung das Sorgerecht gemeinsam fort, wenn sie vor ihrer Trennung die elterliche Sorge gemeinsam ausgeübt haben, entweder weil das Kind ehelich geboren wurde, weil die Eltern
einander nach der Geburt des Kindes geheiratet haben, oder weil sie eine Sorgeerklärung abgegeben haben, es sei denn, ein Gericht spricht einem Elternteil auf dessen Antrag hin, und wenn es dem Wohl des Kindes dient, nach § 1671
BGB das alleinige Sorgerecht zu.
Am 29. Januar 2003 befand das Bundesverfassungsgericht, dass § 1626a BGB nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sei, da eine Übergangsregelung für unverheiratete Eltern fehle, die 1996 zusammengelebt, sich aber noch vor
Inkrafttreten des Kindschaftsrechtsreformgesetzes am 1. Juli 1998 getrennt hätten (also diejenigen, denen es unmöglich war, eine Sorgeerklärung abzugeben). Um die oben genannte mangelnde Verfassungsmäßigkeit zu beheben,
führte der deutsche Gesetzgeber am 31. Dezember 2003 Artikel 224 § 2 Buchstabe a [sic] des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB) ein, wonach ein Gericht auf Antrag des Vaters die Sorgeerklärung der
Mutter ersetzen kann, wenn nicht miteinander verheiratete Eltern mindestens sechs Monate ohne Unterbrechung mit ihrem Kind zusammengelebt und sich vor dem 1. Juli 1998 getrennt haben, vorausgesetzt, die gemeinsame elterliche
Sorge dient dem Kindeswohl.
In seinem Urteil vom 29. Januar 2003 befand das Bundesverfassungsgericht auch, dass § 1626a Abs. 2 BGB - von der fehlenden Übergangsregelung abgesehen - das Recht von Vätern nichtehelich geborener Kinder auf Achtung ihres
Familienlebens nicht verletze.
In einem späteren Urteil vom 21. Juli 2010 stellte das Bundesverfassungsgericht jedoch u. a. unter Bezugnahme auf die Schlussfolgerungen des Gerichtshofs in der Rechtssache Z. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 22028/04,
3. Dezember 2009) fest, dass das nach Artikel 6 Abs. 2 GG garantierte Elternrecht des Vaters dadurch verletzt werde, dass dieser generell von der Sorgetragung für ein nichteheliches Kind ausgeschlossen werde, wenn die Mutter des
Kindes ihre Zustimmung verweigere, ohne dass ihm die Möglichkeit eingeräumt werde, gerichtlich überprüfen zu lassen, ob er aus Gründen des Kindeswohls an der elterlichen Sorge zu beteiligen oder die alleinige Sorge für das Kind
auf ihn selbst zu übertragen sei. Das Bundesverfassungsgericht entschied folglich, dass § 1626a Abs. 1 Nr. 1 und § 1672 Abs. 1 BGB verfassungswidrig und bis zum Inkrafttreten der erforderlichen gesetzlichen Neuregelung mit der
Maßgabe anzuwenden seien, dass das Familiengericht auf Antrag eines Elternteils die elterliche Sorge gemeinsam oder allein übertrage, soweit zu erwarten sei, dass dies dem Kindeswohl entspreche.
RÜGEN
Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 14 der Konvention, dass die Tatsache, dass ihm das Sorgerecht für seinen Sohn nur deshalb verwehrt worden sei, weil er mit der Kindesmutter nicht verheiratet
gewesen sei, einen Verstoß gegen sein Recht auf Achtung seines Familienlebens und eine ungerechtfertigte Diskriminierung wegen des Geschlechts darstelle. Ferner rügte er, dass die innerstaatlichen Gerichte seinen Antrag auf
Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge, hilfsweise der gemeinsamen Sorge für seinen Sohn gemäß § 1666 BGB sowie Art. 224 § 2 Buchstabe a [sic] EGBGB abgelehnt hätten.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
1. Unter Berufung auf Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 14 der Konvention rügte der Beschwerdeführer, dass die innerstaatlichen Behörden mit ihrer Entscheidung, ihm jegliches Sorgerecht für seinen Sohn mit der Begründung zu
verweigern, dieser sei nichtehelich geboren, seine Elternrechte im Vergleich zur Kindesmutter unverhältnismäßig stark beschnitten hätten.
Artikel 8 sieht Folgendes vor:
„(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.
(2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das
wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer."
Artikel 14 lautet wie folgt:
„Der Genuss der in [der] Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung,
der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten."
Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer in seiner Eigenschaft als Vater eines nichtehelich geborenen Kindes im vorliegenden Fall im Wesentlichen eine gegen Artikel 8 und 14 der Konvention verstoßende
Ungleichbehandlung gegenüber der Mutter rügte, da er keine Möglichkeit habe, ohne deren Zustimmung das alleinige oder gemeinsame Sorgerecht zu erlangen.
Der Gerichtshof stellt fest, dass die elterliche Sorge für ein nichteheliches Kind nach § 1626a BGB zunächst der Mutter zukommt, es sei denn, die beiden Elternteile einigen sich darauf, die gemeinsame elterliche Sorge zu beantragen.
Die einschlägigen Bestimmungen schließen zwar nicht kategorisch aus, dass der Vater künftig das gemeinsame Sorgerecht erlangen kann, doch nach §§ 1666 und 1672 BGB kann das Familiengericht das Sorgerecht nur dann auf den
Vater übertragen, wenn das Wohl des Kindes durch Vernachlässigung seitens der Mutter gefährdet ist oder wenn ein Elternteil mit Zustimmung des anderen Elternteils einen entsprechenden Antrag stellt. Lagen diese Voraussetzungen
nicht vor, d.h. war das Wohl des Kindes nicht gefährdet und stimmte die Mutter einer Übertragung des Sorgerechts nicht zu, wie im vorliegenden Fall festgestellt wurde, sah das zur Zeit des hier in Rede stehenden Verfahrens geltende
deutsche Recht grundsätzlich keine gerichtliche Überprüfung der Frage vor, ob dem Kindeswohl mit der Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge auf den Vater oder mit der Einrichtung der gemeinsamen Sorge beider Elternteile
gedient wäre.
Das Amtsgericht S. hat in seinem Beschluss vom 23. August 2006 mithin festgestellt, dass der Antrag des Beschwerdeführers auf Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge oder eines Teilbereichs davon, sofern er nach § 1672 Abs.
1 BGB gestellt sei, als unzulässig zurückzuweisen sei, da eine solche Übertragung nur mit Zustimmung der Mutter möglich sei. Dabei sei leider hinzunehmen, dass in dieser Hinsicht nach wie vor keine Gleichstellung von Vätern
nichtehelicher Kinder mit den Vätern ehelicher Kinder erreicht sei.
Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer im Rahmen seiner Beschwerde gegen den genannten Beschluss des Amtsgerichts S. und in seiner anschließenden Verfassungsbeschwerde lediglich das Ergebnis der
Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte in seinem besonderen Fall angefochten hat, nämlich deren Ablehnung seines Antrags auf Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge gemäß § 1666 BGB, hilfsweise der gemeinsamen
Sorge gemäß Artikel 224 § 2 Buchstabe a [sic] EGBGB. Er hat anscheinend nicht gerügt, dass er im Vergleich zur Mutter insoweit diskriminiert wurde, dass ihm nach §§ 1626a und 1672 BGB die Möglichkeit verwehrt war, das
alleinige Sorgerecht oder die gemeinsame Sorge ohne die Zustimmung der Mutter zu erlangen oder die Übertragung des alleinigen Sorgerechts auf die Mutter gerichtlich überprüfen zu lassen.
Selbst unter der Annahme, der innerstaatliche Rechtsweg wäre diesbezüglich erschöpft, weist der Gerichtshof darauf hin, dass er bereits die Frage geprüft hat, ob die Bestimmungen des BGB, nach denen die alleinige Sorge für ein
nichtehelich geborenes Kind der Mutter zusteht und eine Übertragung des Sorgerechts oder eines Teilbereichs davon auf den Vater ihrer Zustimmung bedarf, ohne dass eine gerichtliche Überprüfung für den Fall einer Verweigerung
der Zustimmung vorgesehen ist, mit Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 14 der Konvention vereinbar sind (siehe Z. ./. Deutschland, a. a. O., Rdnrn. 42 ff, und S. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 38102/04, 7.
Dezember 2010). Der Gerichtshof ließ zwar gelten, dass die ursprüngliche Zuweisung der Alleinsorge für ein nichteheliches Kind an die Mutter zum Schutz des Kindeswohls gerechtfertigt war, stellte aber fest, dass der grundsätzliche
Ausschluss einer gerichtlichen Überprüfung der ursprünglichen Zuweisung des alleinigen Sorgerechts an die Mutter hingegen nicht in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten Ziel stand, nämlich dem Schutz des Wohls
eines nichtehelichen Kindes. Der Gerichtshof stellte folglich fest, dass Artikel 14 i. V. m. Artikel 8 der Konvention verletzt wurde (siehe Z., a. a. O., Rdnrn. 55 und 63). Der Gerichtshof nimmt in diesem Zusammenhang zur Kenntnis,
dass das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 21. Juli 2010 u. a. unter Bezugnahme auf das Urteil Z. die Verfassungswidrigkeit der einschlägigen Bestimmungen des BGB (§§ 1626a Abs. 1 Nr. 1 und 1672 Abs. 1) festgestellt hat.
Das Bundesverfassungsgericht erließ bis zum Inkrafttreten der erforderlichen gesetzlichen Neuregelung eine verbindliche Übergangsregelung, nach der die genannten Bestimmungen mit der Maßgabe anzuwenden waren, dass das
Familiengericht auf Antrag eines Elternteils die elterliche Sorge für ein nichteheliches Kind gemeinsam oder allein überträgt, soweit zu erwarten ist, dass dies dem Kindeswohl entspricht.
Im Hinblick auf die besonderen Umstände der vorliegenden Rechtssache weist der Gerichtshof allerdings darauf hin, dass bereits zur Zeit des hier in Rede stehenden Verfahrens nach der Übergangsbestimmung in Artikel 224 § 2
Buchstabe a [sic] EGBGB eine Ausnahme vom Ausschluss der gerichtlichen Überprüfung der ursprünglichen Zuweisung der Alleinsorge an die Mutter einen nichtehelichen Kindes gegeben war. Nach dieser Bestimmung kann das
Familiengericht die gemeinsame elterliche Sorge anordnen und bei nicht miteinander verheirateten Eltern, die sich vor Inkrafttreten des Kindschaftsrechtsreformgesetzes am 1. Juli 1998 getrennt und vor ihrer Trennung mindestens
sechs Monate ohne Unterbrechung mit dem Kind zusammengelebt haben, die diesbezügliche Zustimmung der Mutter ersetzen, wenn die gemeinsame elterliche Sorge dem Kindeswohl dient. Während sich die Eltern im Fall Z. nach
dem 1. Juli 1998 getrennt hatten und die Übergangsregelung somit nicht galt, haben sich die Eltern in der vorliegenden Rechtssache im Dezember 1997 getrennt und die innerstaatlichen Gerichte konnten somit - anders als im
Sorgerechtsverfahren im Fall Z. - auf Antrag des Beschwerdeführers in vollem Umfang überprüfen, ob die gemeinsame elterliche Sorge dem Wohl des Sohnes des Beschwerdeführers dienen würde.
Nach alledem stellt der Gerichtshof fest, dass dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
2. Der Beschwerdeführer rügte ferner, dass der Verfahrensausgang sein Recht auf Achtung seines Familienlebens verletzt habe. Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass diese Rüge allein nach Artikel 8 der Konvention zu prüfen ist. Er
erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass die Rüge des Beschwerdeführers wegen der Dauer des Sorgerechtsverfahrens sowie seine Rügen in Bezug auf das Umgangsrechtsverfahren bereits im Urteil des Gerichtshofs vom 8. Juli
2010 (Individualbeschwerde Nr. 40014/05) behandelt wurden und nicht Gegenstand der vorliegenden Beschwerde sind. In der vorliegenden Rechtssache hat der Gerichtshof zu entscheiden, ob die innerstaatlichen Gerichte bei ihren
Entscheidungen in dem Sorgerechtsverfahren das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Familienlebens beachtet haben.
Der Gerichtshof weist in diesem Zusammenhang erneut darauf hin, dass für einen Elternteil und sein Kind das Zusammensein einen grundlegenden Bestandteil des Familienlebens darstellt, selbst wenn die Beziehung zwischen den
Eltern zerbrochen ist, und innerstaatliche Maßnahmen, welche die Betroffenen an diesem Zusammensein hindern, einen Eingriff in das durch Artikel 8 der Konvention geschützte Recht bedeuten (siehe u. a. E. ./. Deutschland [GK],
Individualbeschwerde Nr. 25735/94, Rdnr. 43, ECHR 2000-VIII).
Die angegriffenen Maßnahmen im vorliegenden Fall, nämlich die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte, mit denen die Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge auf den Beschwerdeführer, hilfsweise die Erstellung der
gemeinsamen Sorge, die das Recht auf Ausübung der elterlichen Sorge u. a. in Bezug auf die Erziehung und Betreuung seines Sohnes sowie die Bestimmung seines Aufenthalts einschließt, abgelehnt wurde, waren einen Eingriff in das
Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Familienlebens. Ein solcher Eingriff stellt eine Verletzung von Artikel 8 dar, es sei denn, er ist „gesetzlich vorgesehen", verfolgt ein oder mehrere Ziele, die nach Absatz 2 dieser
Bestimmung legitim sind, und kann als „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" angesehen werden.
Die maßgeblichen Entscheidungen des Amtsgerichts S., mit denen dieses ablehnte, der Mutter das alleinige Sorgerecht zu entziehen und es dem Beschwerdeführer zu übertragen bzw. die gemeinsame elterliche Sorge für seinen Sohn
herzustellen, beruhten auf innerstaatlichem Recht, nämlich auf § 1666 BGB bzw. Artikel 224 § 2 Buchstabe a [sic] EGBGB. Der Gerichtshof ist ferner überzeugt, dass die angegriffenen Gerichtsentscheidungen den Schutz des
Kindeswohls zum Ziel hatten und somit ein legitimes Ziel im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 verfolgten.
Bei der Entscheidung darüber, ob die angegriffenen Maßnahmen „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" waren, hat der Gerichtshof zu prüfen, ob die zur Rechtfertigung dieser Maßnahmen angeführten Gründe in
Anbetracht der Rechtssache insgesamt im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 zutreffend und ausreichend waren. Von entscheidender Bedeutung ist bei jeder Rechtssache dieser Art zweifellos die Überlegung, was dem Kindeswohl am besten
dient. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass die nationalen Behörden insoweit im Vorteil sind, als sie unmittelbaren Kontakt zu allen Beteiligten haben. Die Aufgabe des Gerichtshofs besteht demnach nicht darin, an Stelle der
nationalen Behörden deren Aufgaben in Fragen des Sorge- und Umgangsrechts wahrzunehmen, sondern er hat vielmehr im Lichte der Konvention die Entscheidungen zu überprüfen, die diese Behörden im Rahmen ihres
Beurteilungsspielraums getroffen haben (siehe S. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 30943/96, Rdnr. 64, EGMR 2003-VIII).
Welcher Beurteilungsspielraum den zuständigen innerstaatlichen Behörden dabei einzuräumen ist, hängt von der Art der streitigen Fragen und der Bedeutung der betroffenen Interessen ab. Insbesondere bei Sorgerechtsentscheidungen
hat der Gerichtshof anerkannt, dass die Behörden insofern einen großen Spielraum haben. Einer genaueren Kontrolle bedarf es jedoch bei weitergehenden Beschränkungen, wie beispielsweise bei Einschränkungen des Umgangsrechts
der Eltern durch diese Behörden, sowie bei allen gesetzlichen Maßnahmen, die einen wirksamen Schutz des Rechts von Eltern und Kindern auf Achtung ihres Familienlebens gewährleisten sollen. Solche weitergehenden
Beschränkungen bergen die Gefahr, dass die Familienbeziehungen zwischen einem kleinen Kind und einem oder beiden Elternteilen endgültig abgeschnitten werden (siehe N. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 39741/02,
Rdnr. 64, 12. Juli 2007).
Der Gericht weist insoweit erneut darauf hin, dass die innerstaatlichen Behörden nach Artikel 8 einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen des Kindes und denen der Eltern herbeizuführen und dabei dem Wohl des Kindes, das
je nach seiner Art und Bedeutung den Interessen der Eltern vorgehen kann, besonderes Gewicht beizumessen haben. Insbesondere kann ein Elternteil nach Artikel 8 der Konvention nicht beanspruchen, dass Maßnahmen getroffen
werden, die der Gesundheit und der Entwicklung des Kindes schaden würden (siehe S. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 31871/96, Rdnr. 64, ECHR 2003-VIII). In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof gelten
lassen, dass es triftige Gründe dafür geben kann, einem nicht verheirateten Vater die Teilhabe an der elterlichen Sorge zu versagen; wenn Streitigkeiten oder mangelnde Kommunikation zwischen den Eltern das Kindeswohl gefährden
können (siehe Z., a. a. O., Rdnr. 56).
Im Hinblick auf die Umstände der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass die innerstaatlichen Gerichte insbesondere unter Bezugnahme auf die Feststellungen des psychologischen Sachverständigen vom 12.
November 2004, die in der mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht am 19. Juni 2006 ergänzt wurden, zu dem Schluss kamen, dass es keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass das Wohl des Kindes durch die aktuelle
Sorgerechtsregelung gefährdet sei, und deshalb auch keine Veranlassung bestehe, der Mutter nach § 1666 BGB das alleinige Sorgerecht zu entziehen und es dem Vater zu übertragen. In Anbetracht der anhaltenden Spannungen
zwischen den Eltern und der Versuche des Vaters, die Erziehungsarbeit der Mutter zu untergraben, waren die Gerichte der Auffassung, dass vielmehr eine Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge auf den Vater dem Kindeswohl
abträglich wäre. Die Feststellungen des Sachverständigen deckten sich mit der Einschätzung der für das Kind bestellten Verfahrenspflegerin. Die innerstaatlichen Gerichte trugen dem Umstand, dass sich das Kind nach seinem letzten
Aufenthalt bei seinem Vater in B. im Jahr 2006 dahingehend geäußert hatte, nun bei seinem Vater leben und seine Mutter nur besuchen zu wollen, zwar Rechnung, waren aber gleichwohl von der Einschätzung des Sachverständigen
überzeugt, dass das Kind aufgrund seines jungen Alters nicht fähig sei, sich die Konsequenzen einer solchen Entscheidung vorzustellen, und sich deshalb durch eine entsprechende Äußerung des Kindes eine Änderung der
Einschätzung der Situation nicht ergeben könne. In seinem Beschluss vom 23. August 2006 führte das Amtsgericht S. auch aus, warum Zweifel an der Fachkompetenz des Sachverständigen oder der Richtigkeit seiner
Schlussfolgerungen nicht veranlasst seien.
Insbesondere in Anbetracht der anhaltenden und unüberbrückbaren Differenzen zwischen den Eltern sowie der mangelnden Einigung in Fragen der Erziehung, der Betreuung und des Aufenthaltsortes ihres Sohnes kamen die
innerstaatlichen Gerichte zu dem Schluss, dass die gemeinsame elterliche Sorge dem Kindeswohl auch nicht dienlich wäre, und wiesen deshalb den Antrag des Beschwerdeführers, die diesbezügliche Zustimmung der Mutter nach
Artikel 224 § 2 Buchstabe a [sic] EGBGB zu ersetzen, zurück.
Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die innerstaatlichen Gerichte die Begründung ihrer Beschlüsse auf Erwägungen gestützt haben, die auf eine Übertragung der elterlichen Sorge zum Wohl des Kindes gerichtet waren, und dass
diese Gründe daher im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 zutreffend und ausreichend waren.
Darüber hinaus gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass der erforderliche Schutz der Interessen des Beschwerdeführers im Entscheidungsprozess der innerstaatlichen Gerichte nicht gewährleistet war. Das Amtsgericht S. hörte die
Eltern an und berücksichtigte Äußerungen und Berichte der Verfahrenspflegerin und des zuständigen Jugendamts sowie die Feststellungen des psychologischen Sachverständigen. Der Beschwerdeführer konnte in den Verfahren vor
dem Amtsgericht und dem Oberlandesgericht alle Argumente für eine Übertragung des Sorgerechts für seinen Sohn auf ihn vorbringen. Es wurde ihm insbesondere Gelegenheit gegeben, den Sachverständigen in der mündlichen
Verhandlung am 19. Juni 2006 zu befragen, und er hatte auch Zugang zu allen maßgeblichen Informationen, auf die sich die Gerichte gestützt haben.
Im Hinblick auf den Antrag des Beschwerdeführers, den Sachverständigen von einem Pädagogen befragen zu lassen, stellte das Amtsgericht S. in seinem Beschluss vom 25. Juli 2005 fest, dass die beantragte Maßnahme im
innerstaatlichen Recht regelmäßig nicht vorgesehen sei, und führte schlüssig begründet aus, dass im Fall des Beschwerdeführers keine besonderen Umständen vorlägen, die eine Abweichung von dieser Regel rechtfertigen würden. Der
Gerichtshof erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass es generell Sache der nationalen Gerichte ist, die ihnen vorliegenden Beweise zu würdigen; dies gilt auch für die Mittel zur Feststellung des entscheidungserheblichen
Sachverhalts (Vidal ./. Belgien, 22. April 1992, Rdnr. 33, Serie A Band 235-B).
Hinsichtlich des Problems, dass das Kind vom Amtsgericht zuletzt im Jahr 2004, d.h. zwei Jahre vor dessen Beschluss vom 23. August 2006, angehört worden war, stellt der Gerichtshof fest, dass die Entscheidung der innerstaatlichen
Gerichte, das Sorgerecht für den Sohn allein bei der Mutter zu belassen, auf ihrer Einschätzung beruhte, dass eine Übertragung des Sorgerechts bzw. die Herstellung der gemeinsamen elterlichen Sorge dem Wohl des Kindes nicht
dienlich sei, weil die Eltern offensichtlich und unbestritten keine Kooperationsbereitschaft zeigten. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die Verfahrenspflegerin, die an der Gerichtsverhandlung am 19. Juni 2006 teilnahm, erst kurz
vor diesem Termin mit dem Kind gesprochen hatte. Unter diesen Umständen durften das Amtsgericht und das Oberlandesgericht zu der Einschätzung gelangen, dass eine erneute Anhörung des Kindes für die Entscheidung über eine
Sorgerechtsübertragung nicht nötig war und es keines weiteren psychologischen Sachverständigengutachtens bedurfte.
Der Gerichtshof erinnert außerdem daran, dass der Wunsch des Kindes, bei seinem Vater zu wohnen, im Rahmen des früheren Umgangsrechtsverfahrens berücksichtigt worden war. Mit Beschluss des Amtsgerichts S. vom 5.
November 2002 war dem Beschwerdeführer im Wege der einstweiligen Anordnung ein Recht auf betreuten Umgang mit seinem Sohn eingeräumt worden; dieses Recht wurde mit Beschluss des Oberlandesgerichts Zweibrücken vom
15. Juli 2005 durch ein Recht auf regelmäßigen nicht betreuten Umgang mit seinem Sohn ersetzt. Der Gerichtshof ist der Meinung, dass diese Entscheidungen darauf gerichtet waren, eine übermäßige Einschränkung des Verhältnisses
zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Sohn zu vermeiden.
Aus den vorstehenden Erwägungen und unter Berücksichtigung des großen Beurteilungsspielraums, der den innerstaatlichen Behörden in Sorgerechtsfragen zusteht, ist der Gerichtshof überzeugt, dass die Verfahrensweise der
deutschen Gerichte unter den gegebenen Umständen angemessen war und dass sie mit ihren Beschlüssen in dem Sorgerechtsverfahren einen gerechten Ausgleich zwischen dem Wohl des Kindes und den Interessen der Eltern
hergestellt haben.
Der Gerichtshof stellt daher fest, dass dieser Teil der Beschwerde ebenfalls offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof die Individualbeschwerde mit Stimmenmehrheit für unzulässig. ..." (EGMR, Entscheidung vom 21.02.2012 - 50216/09)
***
„... Die Bf., die Axel Springer AG, hat ihren Sitz in Hamburg. Die von ihr herausgegebenen Bild-Zeitung veröffentlichte am 29.9.2004 auf der Titelseite folgende Schlagzeile in großen Buchstaben : „Kokain ! TV-Kommissar Y auf
dem Oktoberfest erwischt !" Sie berichtete über die Festnahme des bekannten Schauspielers X in einem Bierzelt auf dem Münchner Oktoberfest, der seit 1998 die Rolle des Kommissars Y in einer bekannten Fernsehserie spielte. Der
Artikel wurde mit drei Fotos von X illustriert und im Inneren des Blatts fortgesetzt. Dort wurde unter der Überschrift „ TV-Star X mit Kokain erwischt. Eine Brezn, eine Maß und eine Nase Koks" berichtet. In dem Artikel heißt es, X
habe die Aufmerksamkeit der Polizei erregt, weil er seine Nase gewischt habe. Eine Überprüfung habe ergeben, dass er 0,23 Gramm Kokain bei sich hatte. X sei schon im Juli 2000 wegen Drogenbesitzes zu einer Gefängnisstrafe auf
Bewährung verurteilt worden. Am 7.7.2005 veröffentlichte die Bild-Zeitung im inneren Teil einen weiteren Artikel unter der Schlagzeile : "TV-Kommissar X. Kokain-Beichte vor Gericht. 18 000 Euro Strafe !" Auch dieser Artikel
war mit einem Foto von X illustriert.
X beantragte unmittelbar nach Erscheinen des ersten Artikels eine einstweilige Verfügung gegen die Bf.. Das LG Hamburg gab dem Antrag am 30.9.2004 statt und verbot der Bf. die weitere Veröffentlichung des Artikels und am
6.10.2004 auch der Fotos. Mit zwei Urteilen vom 12.11.2004 bestätigte es die einstweiligen Verfügungen. Die Bf. focht die Entscheidung nicht an, die sie sich auf die Fotos bezog. Die im Übrigen eingelegte Berufung blieb ohne
Erfolg. Im Hauptverfahren verbot das LG Hamburg mit Urteil vom 11.11.2005 jede weitere Veröffentlichung des nahezu vollständigen ersten Artikels unter Androhung eines Ordnungsgelds und verurteilte die Bf. zur Zahlung von
5000 Euro für die erste Veröffentlichung. Das Recht des X auf Achtung seines Privatlebens überwiege das Informationsinteresse der Öffentlichkeit. Das OLG Hamburg wies die Berufung dagegen am 21.3.2006 zurück und setzte den
zu zahlenden Betrag auf 1000 Euro herab. Der BGH wies die Beschwerde des Verlags gegen die Nichtzulassung der Revision am 7.11.2006 zurück, am 11.12.2006 eine Anhörungsrüge.
Wegen des zweiten Artikels über die Verurteilung des X hatte das LG Hamburg am 5.5.2006 ein entsprechendes Verbotsurteil erlassen, gegen das Berufung und Revision erfolglos blieben. Das BVerfG nahm die
Verfassungsbeschwerde des Verlags am 5.3.2008 nicht zur Entscheidungan.
Am 18.8.2008 hat die Bf. beim Gerichtshof Beschwerde eingelegt und sich gegen das Verbot der Berichterstattung über die Festnahme und Verurteilung des allgemein bekannten Schauspielers wegen eines Drogendelikts gewendet.
Am 30.3.2010 hat eine Kammer der V. Sektion die Sache nach Art. 30 EMRK an die Große Kammer abgegeben. Der Präsident hat der Media Lawyers Association, der Media Legal Defence Initiative, dem International Press Institute
und der World Association of Newspapers and News Publishers nach Art. 36 II EMRK, Art. 44 II VerfO Gelegenheit gegeben, schriftlich Stellung zu nehmen. Am 7.2.2012 hat der Gerichtshof aufgrund mündlicher Verhandlung vom
13.10.2012 die Beschwerde einstimmig für zulässig erklärt, mit 12 : 5 Stimmen festgestellt, dass Art. 10 EMRK verletzt ist, und Deutschland nach Art. 41 EMRK (Gerechte Entschädigung) verurteilt, an die Bf. binnen drei Monaten
17 734,80 Euro als Ersatz für Nichtvermögensschaden und
32 522, 80 Euro als Ersatz für Kosten und Auslagen zu zahlen. ...
II. Behauptete Verletzung von Art. 10 EMRK
[53] Die Bf. wendet sich gegen das ihr gegenüber ausgesprochene Verbot der Berichterstattung über die Festnahme und Verurteilung von X. Sie beruft sich auf Art. 10 EMRK. ...
A. Zulässigkeit
[54] Die Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet i. S. von Art. 35 III lit. a EMRK und auch nicht aus einem anderen Grund unzulässig. Deswegen ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
I. Vortrag der Parteien (zusammengefasst)
1. Die Regierung
[55 - 64] Die Regierung macht geltend, die Beschwerde sei unbegründet. Die Entscheidungen der deutschen Gerichte griffen zwar in den Schutzbereich von Art. 10 EMRK ein, seien aber „gesetzlich vorgesehen" und verfolgten ein
berechtigtes Ziel i. S. von Art. 10 II EMRK, nämlich den Schutz der Privatsphäre. Der Eingriff sei auch in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen. X sei ein allgemein bekannter Schauspieler und eine Person des
öffentlichen Lebens. Die Berichterstattung habe ein geringfügiges Drogendelikt betroffen. Bei der Beurteilung hätten die Gerichte einen Ermessensspielraum, den sie nicht überschritten hätten.
II. Die Bf.
[65 - 70] Die Bf. tragen vor, X sei ein allgemein bekannter Schauspieler, der die Hauptrolle in einer sehr beliebten Krimi-Serie im Fernsehen gespielt habe. Er sei also nicht eine gewöhnliche Person, für die sich die Medien nicht
interessierten. Eine Straftat sei nie eine private Angelegenheit und das Publikumsinteresse an Informationen darüber habe mehr Gewicht als das Recht von X auf Achtung seines Privatlebens. Er selbst habe die öffentliche
Aufmerksamkeit gesucht. Im Gegensatz dazu habe im Fall von Hannover/Deutschland Nr. 2 (in diesem Heft S. …) die Bf. zu 1 ständig versucht, ihr Privatleben abzuschirmen. Die Tatsachen, über die berichtet worden sei, seien
unstreitig richtig. Die Bild-Zeitung habe im Übrigen erst über die Verhaftung berichtet, nachdem die Strafverfolgungsbehörden die Tatsachen und die Identität von X bekannt gemacht habe. Die Aufgabe der Presse dürfe nicht darauf
reduziert werden, nur über Politiker zu berichten. ...
3. Beurteilung durch den Gerichtshofs
[75] Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass die Entscheidungen der deutschen Gerichte in das in Art. 10 EMRK geschützte Recht der Bf. auf Freiheit der Meinungsäußerung eingegriffen haben.
[76] Ein solcher Eingriff verletzt Art. 10 EMRK, wenn er nicht nach Art. 10 II EMRK gerechtfertigt ist. Deswegen ist zu prüfen, ob er „gesetzlich vorgesehen" war, eines oder mehrere der in dieser Vorschrift genannten berechtigten
Ziele verfolgte und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" war, um das Ziel zu erreichen.
[77] Der Eingriff war unstreitig in § 823 I BGB und § 1004 I BGB, ausgelegt unter Berücksichtigung des Rechts auf Schutz des Persönlichkeitsrechts, vorgesehen. ...Die Parteien stimmen auch darin überein, dass er ein berechtigtes
Ziel verfolgte, nämlich den Schutz des guten Rufs oder der Rechte anderer i.S. von Art. 10 II EMRK, was nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das in Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privatlebens umfassen kann
(s. EGMR, Slg. 2004-VI Nr. 70 - Chauvy u.a./Frankreich; EGMR, NJW-RR 2008, 1218 Nr. 35 - Pfeifer/Österreich). Streitig ist aber, ob der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" war.
(a) Grundsätze
(i) Freiheit der Meinungsäußerung
[78-79] (Der Gerichtshof wiederholt die im Urteil von Hannover/Deutschland Nr. 2 [in diesem Heft S. ] in Nrn. 101, 102 niedergelegten Grundsätze zu Art. 10 EMRK).
[80] Die Aufgabe der Presse bezieht sich auch auf die Berichterstattung und Kommentierung von Gerichtsverfahren, die, wenn sie die genannten Grundsätze berücksichtigt, zu deren Öffentlichkeit beitragen und deswegen mit dem
Erfordernis nach Art. 6 I EMRK, dass gerichtliche Verfahren öffentlich sind, im Einklang stehen. Es ist nicht vorstellbar, dass es über ein Gerichtsverfahren keine vorherige oder gleichzeitige Diskussion in Spezialzeitschriften oder in
der breiten Öffentlichkeit geben dürfte. Die Medien haben nicht nur die Aufgabe, solche Informationen und Ideen zu vermitteln, die Öffentlichkeit hat auch das Recht,sie zu erhalten (s. EGMR, Slg. 2000-I Nr. 56 = MR 2000, 221 -
News Verlags GmbH & Co. KG/Österreich; EGMR, Slg. 2007-VII Nr. 35 = NJW 2008, 3412 - Dupuis u. a./Frankreich; EGMR, Urt. v. 24.4.2008 - 17107/05 Nr. 31- Campos Dâmaso/Portugal).
[81] Zur journalistischen Freiheit gehört auch die Möglichkeit einer gewissen Übertreibung und sogar Provokation (s. EGMR, Slg. 2004-XI Nr. 71 = NJW 2006, 1645 - Pedersen u. Baadsgaard/Dänemark). Außerdem ist es nicht
Aufgabe des Gerichtshofs und auch nicht der staatlichen Gerichte, anstelle der Presse über die anzuwendende Technik zu entscheiden (s. EGMR, 1994, Serie A, Bd. 298 Nr. 31 = NStZ1995, 237 -Jersild/Dänemark; EGMR, Urt. v.
10.2.2009 -3514/02 Nr. 65 - Eerikäinen u.a./Finnland).
(ii) Grenzen der Meinungsfreiheit
[82] Art. 10 II EMRK bestimmt aber, dass die Freiheit der Meinungsäußerung „mit Pflichten und Verantwortung verbunden" ist. Das gilt für die Medien auch bei der Berichterstattung über Angelegenheiten großen öffentlichen
Interesses. Diese Pflichten und Verantwortung können von besonderer Bedeutung sein, wenn die Gefahr besteht, den guten Ruf eines namentlich Genannten zu schädigen oder die „Rechte anderer" zu verletzen. Daher müssen
besondere Gründe vorliegen, um die Medien von der sie grundsätzlich treffenden Verpflichtung zu entbinden, die Richtigkeit ehrverletzender Tatsachenbehauptungen über andere zu prüfen. Ob solche Gründe gegeben sind, hängt
insbesondere von Art und Gewicht solcher ehrverletzender Behauptungen ab und davon, wie weit die Medien ihre Quelle vernünftigerweise als vertrauenswürdig ansehen können (s. EGMR, Slg. 2004-XI Nr. 78 = NJW 2006, 1645 -
Pedersen u. Baadsgaard/Dänemark; EGMR, Slg. 2007-III Nr. 89 - Tønsbergs Blad A.S. u. Haukom/Norwegen).
[83] Das Recht auf Schutz des guten Rufs ist als Teil des Rechts auf Achtung des Privatlebens von Art. 8 EMRK geschützt (s. EGMR, Slg. 2004-VI Nr. 70 - Chauvy u.a./Frankreich; EGMR, NJW-RR 2008, 1218 Nr. 35 -
Pfeifer/Österreich; EGMR, Urt. v. 21.9.2010 - 34147/06 Nr. 40 - Polanco Torres u. Movilla Polanco/Spanien). Der Begriff „Privatleben" ist umfassend und einer erschöpfenden Definition nicht zugänglich. Darunter fallen die geistige
und körperliche Identität einer Person und damit zahlreiche Aspekte der Persönlichkeit, wie die geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung, der Name oder Aspekte, die das Recht einer Person am eigenen Bild betreffen (s.
EGMR, Slg. 2008 Nr. 66 = NJOZ 2010, 696 - S. u. Marper/Vereinigtes Königreich). Der Begriff umfasst auch persönliche Informationen, von denen der Betroffene berechtigterweise erwarten kann, dass sie nicht ohne seine
Einwilligung veröffentlicht werden (s. EGMR, Urt. v. 6.4.2010 - 25576/04 Nr. 75 - Flinkkilä u.a./Finnland; EGMR, Urt. v. 12.10.2010 - 184/06 Nr. 61 - Saaristo u.a./Finnland).
Um Art. 8 EMRK ins Spiel zu bringen, muss der Angriff auf den guten Ruf einer Person eine bestimmte Schwere erreichen und die Ausübung ihres Rechts auf Achtung des Privatlebens beeinträchtigen (s. EGMR, NJW-RR 2010,
1483 Nr. 64 - A./Norwegen). Außerdem hat der Gerichtshof entschieden, dass sich eine Person nicht nach Art. 8 EMRK über eine Verletzung ihres guten Rufs beschweren kann, wenn die Verletzung vorhersehbare Folge einer eigenen
Handlung ist, z.B. des Begehens einer Straftat (s. EGMR, Slg. 2004-VIII Nr. 49 - Sidabras u. Dziautas/Litauen).
[84] Wenn zu prüfen ist, ob ein Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft „zum Schutz des guten Rufs oder der Rechte anderer" notwendig ist, kann es erforderlich sein festzustellen, ob die staatlichen Behörden und Gerichte einen
gerechten Ausgleich beim Schutz von zwei in der Konvention geschützten Rechten hergestellt haben, die in bestimmten Fällen kollidieren können, z. B. die in Art. 10 EMRK geschützte Freiheit der Meinungsäußerung und das in Art.
8 EMRK garantierte Recht auf Achtung des Privatlebens (s. EGMR, Urt. v. 14.6.2007 - 71111/01 Nr. 43 - Hachette Filipacchi Associés/Frankreich; EGMR, NJOZ 2012, … Nr. 142 - MGN Limited/Vereinigtes Königreich).
(iii) Ermessensspielraum
[85 - 88] ( Der Gerichtshof führt aus, die staatlichen Behörden und Gerichte hätten einen Ermessensspielraum, und wieder- holt die im Urteil von Hannover/Deutschland Nr. 2 [in diesem Heft] Nrn. 104-107 wiedergegebenen Grundsätze).
(iv) Grundsätze für die Interessenabwägung
[89 - 92, 94] Wenn das Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens abgewogen werden muss, gelten die nachstehenden Grundsätze. (Der Gerichtshof weist darauf hin,dassdie im Urteil von
Hannover/Deutschland Nr. 2 [in diesem Heft] Nrn. 109 - 112 genannten Grundsätze zu beachten sind, nämlich ob der Bericht zu einer Diskussion allgemeinen Interesses beigetragen hat, der Bekanntheitsgrad des Betroffenen und der
Gegenstand des Berichts, das vorherige Verhalten des Betroffenen, die Umstände der Aufnahme von Fotos sowie Inhalt und Form der Veröffentlichung. Er fügt zwei Gesichtspunkte hinzu)
(dd) Wie die Information erlangt worden ist und ihre Richtigkeit
[93] Weiterere wichtige Gesichtspunkte sind die Art und Weise, wie die Information erlangt wurde, und ob sie zutreffend ist. Der Schutz, den Art. 10 EMRK Journalisten für ihre Berichterstattung über Fragen allgemeinen Interesses
gewährt, setzt voraus, dass sie sich in gutem Glauben auf der Grundlage exakter Tatsachen äußern und "zuverlässige und genaue" Informationen in Übereinstimmung mit ihrem Berufsethos liefern (s. u.a. EGMR, Slg. 1999-I Nr. 54 =
NJW 1999, 1315 - Fressoz u. Roire/Frankreich; EGMR, Slg. 2004-XI Nr. 78 = NJW 2006, 1645 - Pedersen u. Baadsgaard/Dänemark; EGMR, Slg. 2007-V Nr. 103 = NJW-RR 2008, 1141 - Stoll/Schweiz). ...
(ff) Schwere der verhängten Sanktion
[95] Schließlich müssen bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in die Freiheit der Meinungsäußerung Art und Schwere der verhängten Sanktion berücksichtigt werden (s. EGMR, Slg. 2004-XI Nr. 93 = NJW 2006,
1645 - Pedersen u. Baadsgaard/Dänemark; EGMR, Urt. v. 6.4.2010 - 43349/05 Nr. 77 -Jokitaipale u.a./Finnland).
(b) Anwendung im vorliegenden Fall
(i) Beitrag zu einer Diskussion allgemeinen Interesses
[96] Die Zeitungsartikel betrafen die Festnahme und Verurteilung des Schauspielers X , also öffentliche Tatsachen aus der Justiz, die in bestimmten Maß von allgemeinem Interesse sind. Die Öffentlichkeit hat in der Regel ein
Interesse, über Strafverfahren unterrichtet zu werden und sich unterrichten zu können, wobei die Unschuldsvermutung strikt beachtet werden muss (s. EGMR, Slg. 2000-I Nr. 56 = MR 2000, 221 - News Verlags GmbH & Co.
KG/Österreich; EGMR, Slg. 2007-VII Nr. 37 = NJW 2008, 3412 - Dupuis u. a./Frankreich; EGMR, Urt. v. 24.4.2008 - 17107/05 Nr. 32- Campos Dâmaso/Portugal; só auch die Empfehlung (2003)13 des Ministerkomitees des
Europarats über Informationen durch die Medien bezüglich Strafverfahren, insbes. Grundsätze 1 u. 2 der Anlage ...). Das Interesse ist allerdings unterschiedlich groß und kann nach der Festnahme im Lauf des Verfahrens größer
werden, wobei mehrere Faktoren eine Rolle spielen, wie der Bekanntheitsgrad des Betroffenen, die Unmstände des Falls und andere Entwicklungen während des Verfahrens.
(ii) Bekanntheit von X und Gegenstand der Artkel
[97] Die deutschen Gerichte sind bei der Beurteilung des Bekanntheitsgrads von X zu erheblich unterschiedlichen Ergebnissen gekommen. Das LG nahm an, X habe nicht im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gestanden und die
Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit nicht in einem Ausmaß gesucht, dass angenommen werden könne, er habe auf den Schutz seines Persönlichkeitsrechts verzichtet, wenn er auch ein bekannter Schauspieler sei und häufig im
Fernsehen aufgetreten sei … Das OLG nahm demgegenüber an, X sei allgemein bekannt und sehr populär, er habe lange Zeit die Rolle eines Kommissars gespielt, ohne das Idol oder ein Vorbildcharakter des Ordnungshüters
geworden zu sein, was ein gesteigertes Interesse der Öffentlichkeit hätte begründen können zu erfahren, ob er selbst einem solchen Leitbild entsprechend lebe...
[98] Grundsätzlich ist es in erster Linie Aufgabe der staatlichen Gerichte, den Bekanntheitsgrad einer Person festzustellen, insbesondere wenn die Person hauptsächlich im betroffenen Land bekannt ist. X war zur maßgebenden Zeit
Hauptdarsteller in einer sehr populären Krimi-Serie, in der er die Hauptrolle des Kommissars Y spielte. Seine Popularität geht im Wesentlichen auf die Fernseh-Serie zurück, von der bei Erscheinen des ersten Zeitungsartikels 103
Episoden gesendet worden waren, in 54 davon hatte X den Kommissar Y gespielt. Er war also nicht, wie das LG annahm, ein weniger bedeutender Schauspieler, dessen Bekanntheit trotz vieler Filmrollen (mehr als 200 …) begrenzt
geblieben sei. Das OLG hat nicht nur darauf hingewiesen, dass es X-Fan-Clubs gab, sondern auch darauf, dass seine Fans möglicherweise dazu ermutigt worden wären, ihn durch Drogenkonsum nachzuahmen, wenn die Straftat der
Öffentlichkeit nicht verborgen geglieben wäre. ...
[99] Es trifft zwar zu, dass die Öffentlichkeit im Allgemeinen zwischen dem Schauspieler und der Person, die er darstellt, unterscheidet. Trotzdem kann es eine enge Verbindung zwischen beiden geben, besonders, wenn der
Schauspieler, wie hier, hauptsächlich wegen einer bestimmten Rolle bekannt ist. Im Fall des X war das noch dazu die Rolle eines Polizeikommissars, dessen Aufgabe es ist, für Gesetzestreue zu sorgen und Verbrechen zu bekämpfen.
Das steigerte das Interesse der Öffentlichkeit daran, über die Festnahme des X wegen einer Straftat informiert zu werden. Unter Berücksichtigung dessen und der Begründung der deutschen Gerichte für seinen Bekanntsheitsgrad war X
jedenfalls so gut bekannt, dass er als Person des öffentlichen Lebens eingestuft werden kann. Das hat das Interesse der Öffentlichkeit, über seine Festnahme und das Strafverfahren gegen ihn informiert zu werden, verstärkt.
[100] Was den Gegenstand der zwei Zeitungsartikel angeht, haben die deutschen Gerichte festgestellt, dass die von X begangene Straftat nicht geringfügig war, weil Kokain eine harte Droge ist.Trotzdem habe die Straftat nur mittleres,
ja geringes Gewicht, weil X nur eine geringe Menge der Droge bei sich gehabt habe und nur für den eigenen Konsum, und wegen der großen Zahl von derartigen Straftaten und Strafverfahren. Die deutschen Gerichte haben der
Tatsache, dass X schon wegen eines ähnlichen Delikts verurteilt worden war, kein großes Gewicht beigemessen und darauf hingewiesen, dass es seine einzige Vortat gewesen sei, die außerdem schon vor einigen Jahren begangen
worden sei. Sie sind zu dem Schluss gekommen, das Interesse der Bf. an der Veröffentlichung der Artikel beruhe nur darauf, dass X eine Straftat begangen habe, über die vermutlich nie berichtet worden wäre, wenn eine in der
Öffentlichkeit unbekannte Person sie begangen hätte. ...
Dem ist im Wesentlichen zuzustimmen. Hinzuweisen ist aber darauf, dass X in der Öffentlichkeit festgenommen worden ist, in einem Zelt auf dem Münchner Oktoberfest. Das hat nach Auffassung des OLG in der Öffentlichkeit
großes Interesse erregt, wenn es sich auchnicht auf die Beschreibung und Charakterisierung der Straftat bezogen hat, die nicht in der Öffentlichkeit begangen worden war.
(iii) Verhalten des X vor der Veröffentlichung
[101] Zu berücksichtigen ist weiter das vorherige Verhalten des X gegenüber den Medien. Er hatte selbst in vielen Interviews Einzelheiten über sein Privatleben offenbart …, also die Öffentlichkeit aktiv gesucht, só dass angesichts
seines Bekanntheitsgrads seine "berechtigte Erwartung", dass sein Privatleben wirksam geschützt werde, reduziert war (s. mutatis mutandis EGMR, MR 2009, 298 Nr. 53 - Hachette Filipacchi Associés (ICI PARIS)/Frankreich und
andererseits EGMR, Urt. v. 10.2.2009 -3514/02 Nr. 66 - Eerikäinen u.a./Finnland).
(iv) Wie die Information erlangt wurde und ob sie richtig war.
[102] Was die Art und Weise angeht, wie sie zu den veröffentlichten Informationen gekommen ist, trägt die Bf. vor, sie habe über die Festnahme von X erst berichtet, nachdem die Strafverfolgungsbehörden die Tatsachen und die
Identität des X bekannt gemacht hätten. Alle von ihr veröffentlichten Informationen seien schon vorher , insbesondere auf einer Pressekonferenz und in einer Presseerklärung der StA der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ..
Die Regierung bestreitet, dass es eine Pressekonferenz der StA gegeben habe, und trägt vor, erst nach Erscheinen des ersten Artikels habe StA W anderen Medien gegenüber die Tatsachen bestätigt, über welche die Bf. berichtet hatte.
[103] Aus den Unterlagen, die dem Gerichtshof vorliegen, ergibt sich nicht nicht, dass die Behauptung der Bf. zutrifft, vor der Veröffentlichung des ersten Artikels seien eine Pressekonferenz abgehalten und eine Presseerklärung
herausgegeben worden. Im Gegenteil hat sich die Behauptung nach einer vom Gerichtshof in der mündlichen Verhandlung gestellten Frage als unzutreffend erwiesen. Das Verhalten der Bf. ist insoweit bedauerlich.
[104] Aus den im weiteren Verlauf ergangenen Entscheidungen der deutschen Gerichte und dem Parteivortrag dazu in den Gerichtsverfahren ergibt sich aber, dass die Gerichte auf diese Frage nicht eingegangen sind. Für die Prüfung
des vorliegenden Falls genügt die Feststellung, dass die Bf. allen ihren Stellungnahmen in den verschiedenen Verfahren vor den deutschen Gerichten die Erklärung einer ihrer Journalistinnen beigefügt hat, wie die am 29.9.2004
veröffentlichten Informationen erlangt worden sind, … und dass die Regierung das nicht bestritten hat. Die Bf. kann also nicht geltend machen, sie habe nur Informationen veröffentlicht, welche die StA München auf einer
Pressekonferenz schon vorher der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hätte. Doch bleibt, dass die veröffentlichten Informationen, insbesondere über die Identität von X, von der Polizei und StA W stammten,dem
damaligenPressesprecher der StA München.
[105] Der erste Zeitungsartikel hatte also eine ausreichende Tatsachengrundlage, weil er auf Informationen des Pressesprechers der Münchner StA beruhte (s. EGMR, Slg. 1999-IIINr. 72 = NJW 2000, 1015 - Bladet Tromsø u.
Stensaas/Norwegen; EGMR, Urt. v. 10.2.2009 -3514/02 Nr. 64 - Eerikäinen u.a./Finnland; EGMR, Entsch. v. 15.5.2009 - 4020/03 - Pipi/Türkei). Die Wahrheit der Informationen in den beiden Artikeln war vor den deutschen
Gerichten und ist vor dem Gerichtshof nicht streitig (s. EGMR, Slg. 2004-X Nr. 44 = NJW 2006, 591 - Karhuvaara u. Iltalehti/Finnland).
[106] Die deutschen Gerichte waren der Meinung, aus der Tatsache, dass die Informationen von der StA München stammten, ergebe sich nur, dass sich die Bf. auf ihre Richtigkeit verlassen konnte. Das habe sie aber nicht von der
Verpflichtung entbunden, ihr Interesse an der Veröffentlichung gegen das Recht des X auf Achtung seines Privatlebens abzuwägen. Nur die Presse könne diese Abwägung vornehmen, weil eine Behörde oder ein Gericht nicht wissen
könnten, wie und in welcher Form die Information veröffentlicht würde. ...
[107] Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass eine solche Abwägung nicht vorgenommen worden ist. Richtig ist aber, dass die Bf., welche eine Bestätigung der Information von den Strafverfolgungsbehörden selbst erhalten hatte,
unter Berücksichtigung der von X begangenen Straftat, seinem Bekanntheitsgrad in der Öffentlichkeit und den Umständen seiner Festnahme sowie der Richtigkeit der Information keine ausreichenden Gründe hatte anzunehmen, sie
müsse die Anonymität von X wahren. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass StA W anderen Zeitschriften und Fernsehkanälen noch am Tage des Erscheinens des ersten Artikels alle von der Bf. enthüllten Informationen
bestätigt hat. Als der zweite Artikel erschien, waren die der Verurteilung von X zugrunde liegenden Tatsachen der Öffentlichkeit bereits bekannt (s. mutatis mutandis EGMR, Urt. v. 16.12.2010 - 24061/04 Nr. 49 - Aleksey
Ovchinnikov/Russland). Auch das OLG nahm an, der Bf. könne nicht mehr als leichte Fahrlässigkeit vorgeworfen werden, weil die von der StA mitgeteilten Information sie dazu veranlassen konnte anzunehmen, der Bericht sei legal
… Danach ist nicht nachgewiesen, dass die Bf. bei der Veröffentlichung in bösem Glauben gehandelt hat.
(v) Inhalt, Form und Auswirkungen der Artikel
[108] Der erste Artikel berichtete nur über die Festnahme von X, die von der StA erhaltenen Informationen und eine rechtliche Beurteilung des Gewichts der Straftat durch einen juristischen Sachverständigen … Der zweite Artikel
schilderte das vom Gericht am Ende der mündlichen Verhandlung und nach dem Geständnis von X erlassene Urteil … Die Artikel enthielten also keine Einzelheiten über das Privatleben von X, sondern nur über die Umstände und
Ereignisse nach seiner Festnahme (s. EGMR, Urt. v. 6.4.2010 - 25576/04 Nr. 84 - Flinkkilä u.a./Finnland; EGMR, Urt. v. 6.4.2010 - 43349/05 Nr. 72 -Jokitaipale u.a./Finnland). Sie enthielten keine abschätzigen Bemerkungen oder
grundlose Behauptungen … Dass der erste Artikel Wendungen enthielt, welche die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregen sollten, wirft nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs keine Probleme auf (s. EGMR, Urt. v. 6.4.2010 -
25576/04 Nr. 74 - Flinkkilä u.a./Finnland; EGMR, Entsch. v. 15.5.2009 - 4020/03 - Pipi/Türkei).
Im Übrigen hat das LG die Veröffentlichung der Fotos, welche die Artikel illustrierten, verboten, und die Bf. hat das auch nicht angefochten. Deswegen ist anzunehmen, dass die Form der Artikel keinen Grund für ein Verbot ihrer
Veröffentlichung darstellten. Die Regierung hat im Übrigen nicht dargelegt, dass die Veröffentlichung der Artikel für X Schäden zur Folge hatte.
(vi) Schwere der Sanktion
[109] Die der Bf. auferlegte Sanktion war war zwar mild, konnte aber eine abschreckende Wirkung haben. Jedenfalls war sie aus den erwähnten Gründen nicht gerechtfertigt.
(c) Ergebnis
[110] Die von den deutschen Gerichten angeführten Gründe sind also zwar stichhaltig, aber nicht ausreichend, um zu belegen, dass der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Trotz des den Konventionsstaaten
zustehenden Ermessensspielraums gab es kein angemessenes Verhältnis zwischen den von den deutschen Gerichten verfügten Einschränkungen des Rechts der Bf. auf Freiheit der Meinungsäußerung einerseits und dem verfolgten
berechtigten Ziel andererseits. Deswegen ist Art. 10 EMRK verletzt. ..." (EGMR, Urteil 07.02.2012 - 39954/08)
***
„... 2. Würdigung durch den Gerichtshof
a) Gab es einen Eingriff?
Der Gerichtshof erinnert daran, dass sich der Begriff des ‚Familienlebens' nach Artikel 8 der Konvention nicht auf eheliche Beziehungen beschränkt und auch andere faktische ‚familiäre' Bindungen erfassen kann, wenn die Beteiligten
in nichtehelicher Gemeinschaft zusammenleben.
Ein Kind, das aus einer solchen Beziehung hervorgeht, ist vom Augenblick seiner Geburt an und schon allein durch seine Geburt ipso iure Teil dieser ‚Familien"-Einheit (siehe Keegan ./. Irland, 26. Mai 1994, Rdnr. 44, Serie A Bd.
290; Lebbink ./. die Niederlande, Individualbeschwerde Nr. 45582/99, Rdnr. 35, ECHR 2004-IV; und Znamenskaya ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 77785/01, Rdnr. 26, 2. Juni 2005).
Jedoch reicht die biologische Verwandtschaft zwischen einem leiblichen Elternteil und einem Kind allein - d. h. ohne weitere rechtliche oder tatsächliche Merkmale, die auf das Vorliegen einer engen persönlichen Beziehung
hindeuten - nicht aus, um unter den Schutz von Artikel 8 zu fallen (vgl. Lebbink, a. a. O., Rdnr. 37). In der Regel ist das Zusammenleben eine Voraussetzung für eine Beziehung, die einem Familienleben gleichkommt.
Ausnahmsweise können auch andere Faktoren als Nachweis dafür dienen, dass eine Beziehung beständig genug ist, um faktische ‚familiäre Bindungen' zu schaffen (siehe Kroon u. a. ./. die Niederlande, 27. Oktober 1994, Rdnr. 30,
Serie A Bd. 297-C, und Lebbink, a. a. O., Rdnr. 36).
Ferner hat der Gerichtshof die Auffassung vertreten, dass auch ein beabsichtigtes Familienleben ausnahmsweise unter Artikel 8 fallen kann, und zwar vor allem dann, wenn der Umstand, dass das Familienleben noch nicht vollständig
hergestellt war, nicht dem Beschwerdeführer zuzurechnen ist (vgl. Pini u. a. ./. Rumänien, Individualbeschwerden Nrn. 78028/01 und 78030/01, Rdnrn. 143 und 146, ECHR 2004-V). Sofern es die Umstände rechtfertigen, muss sich
das ‚Familienleben' insbesondere auch auf die potentielle Beziehung erstrecken, die sich zwischen einem nichtehelichen Kind und dessen leiblichem Vater entwickeln kann. Zu den maßgeblichen Kriterien für das tatsächliche und
praktische Vorliegen enger persönlicher Bindungen in diesen Fällen gehören unter anderem die Art der Beziehung zwischen den leiblichen Eltern sowie das nachweisbare Interesse des Vaters an dem Kind und sein Bekenntnis zu ihm
sowohl vor als auch nach der Geburt (siehe Rechtssachen Nylund; N.; Lebbink, Rdnr. 36; H.; und A., alle a. a. O.; und vergleiche Róz.an'ski ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 55330/00, Rdnr. 64, 18. Mai 2006).
Der Gerichtshof weist ferner erneut darauf hin, dass Artikel 8 nicht nur das ‚Familienleben', sondern auch das ‚Privatleben' schützt. Traditionell haben die Konventionsorgane die Auffassung vertreten, dass enge Beziehungen, bei
denen es sich nicht um ‚Familienleben' handelt, grundsätzlich unter den Aspekt des ‚Privatlebens' fallen (siehe Znamenskaya, a. a. O., Rdnr. 27 mit weiteren Nachweisen). Im Zusammenhang mit Verfahren über die Feststellung oder
Anfechtung der Vaterschaft hat der Gerichtshof daher festgestellt, dass die Feststellung der rechtlichen Beziehung eines Mannes zu seinem rechtlichen oder vermeintlichen Kind zwar sein ‚Familienleben' betreffen könnte, dieser Punkt
aber offen bleiben kann, weil die Sache zweifelsohne das Privatleben des Mannes nach Artikel 8 betrifft, der wichtige Aspekte der Persönlichkeit von Menschen umfasst (siehe Rasmussen ./. Dänemark, 28. November 1984, Rdnr. 33,
Serie A Bd. 87; Nylund, a. a. O.; Yildirim ./. Österreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 34308/96, 19. Oktober 1999; und Backlund ./. Finnland, Individualbeschwerde Nr. 36498/05, Rdnr. 37, 6. Juli 2010).
In der vorliegenden Rechtssache ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte, dem Beschwerdeführer den Umgang mit F. sowie Auskünfte über dessen persönliche Verhältnisse zu versagen,
keinen Eingriff in ein bestehendes ‚Familienleben' des Beschwerdeführers mit F. im Sinne von Artikel 8 darstellt. Anders als beispielsweise im Fall A. (a. a. O., Rdnrn. 10, 59) ist strittig und in dem Verfahren vor den innerstaatlichen
Gerichten nicht festgestellt worden, ob der Beschwerdeführer tatsächlich der leibliche Vater von F. ist. In jedem Fall hat zwischen ihm und F. nie eine enge persönliche Beziehung bestanden, die als ‚gefestigtes Familienleben'
anzusehen wäre. Der Beschwerdeführer hat bisher noch nie mit F. zusammengelebt oder ihn auch nur getroffen.
Der Gerichtshof muss daher prüfen, ob das beabsichtigte Familienleben des Beschwerdeführers mit F. unter Artikel 8 fällt. Nach seiner gefestigten Rechtsprechung (siehe Rdnr. 81) kann dies ausnahmsweise der Fall sein, wenn der
Umstand, dass das Familienleben nicht hergestellt ist, nicht dem Beschwerdeführer angelastet werden kann. Dies gilt insbesondere für die Beziehung zwischen einem nichtehelichen Kind und seinem biologischen Vater, deren
natürliche Bindung unveränderlich ist, während ihre tatsächliche Beziehung aus praktischen oder rechtlichen Gründen von der Kindesmutter und, wenn sie verheiratet ist, von ihrem Ehemann bestimmt werden kann (siehe auch A., a.
a. O., Rdnr. 60).
In der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass die Regierung vorgebracht hat, der Beschwerdeführer habe kein gesondertes Verfahren nach § 1600 Abs. 2 BGB eingeleitet. In dem hier in Rede stehenden
Umgangsverfahren stellten die innerstaatlichen Gerichte nicht fest, ob der Beschwerdeführer - der nach Aussage der Mutter ebenso wie ihr Ehemann der biologische Vater von F. sein könnte - der biologische Vater von F. ist. Sie
stellten jedoch fest, dass das Umgangs- und Auskunftsbegehren des Beschwerdeführers im Hinblick auf F. selbst unter der Annahme, er sei der biologische Vater, wegen einer fehlenden sozial-familiären Beziehung zwischen ihm und
F. zurückzuweisen sei (siehe Rdnrn. 13, 18 und 26).
Darüber hinaus ist der Gerichtshof nicht davon überzeugt, dass der Beschwerdeführer die Vaterschaft wirksam hätte anerkennen oder Herrn H.'s Vaterschaft wirksam hätte anfechten können, und dass es ihm somit möglich gewesen
wäre, nicht nur als biologischer, sondern auch als rechtlicher Vater von F. anerkannt zu werden. Als rechtlicher Vater hätte er nach den (günstigeren) Bedingungen von § 1684 BGB, und nicht nur, wir hier geschehen, nach § 1685
BGB Umgang mit F. beantragen können. Nach den anwendbaren Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs, wie sie zur maßgeblichen Zeit von den innerstaatlichen Gerichten ausgelegt wurden, war die Anerkennung der
Vaterschaft durch den Beschwerdeführer am 25. November 2003 (siehe Rdnr. 9) nicht wirksam, da die Vaterschaft von Herrn F. Vorrang hatte (§ 1594 Abs. 2 BGB). Darüber hinaus war der Beschwerdeführer nicht berechtigt, Herrn
H.'s Vaterschaft anzufechten, da dieser mit F. zusammenlebte (§ 1600 Abs. 2 BGB). Dies wird durch die Feststellungen der Familiengerichte bestätigt (siehe Rdnrn. 13 und 18). In jedem Fall beabsichtigte der Beschwerdeführer in
dem hier in Rede stehenden Verfahren nicht, die rechtliche Position als F.'s Vater von Herrn H. zu übernehmen, worauf ja das gesonderte Verfahren nach § 1600 BGB abzielt, das der Beschwerdeführer nicht eingeleitet hat (siehe
hierzu das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Rdnr. 23).
Darüber hinaus hatte der Beschwerdeführer niemals Kontakt mit F., da Herr und Frau H., seine rechtlichen Eltern, die das Recht haben, über seinen Umgang mit anderen Personen zu entscheiden (§ 1632 Abs. 2 BGB, Rdnr. 31), seine
Bitten, ihm Umgang zu gewähren, ablehnten. Unter diesen Umständen ist das Gericht der Auffassung, dass der Umstand, dass noch keine gefestigte familiäre Bindung zwischen F. und dem Beschwerdeführer bestanden hat, Letzterem
nicht vorgeworfen werden kann.
Der Gerichtshof muss prüfen, ob tatsächlich enge persönliche Bindungen zwischen dem Beschwerdeführer und F. bestanden haben, so dass das beabsichtigte Familienleben unter Artikel 8 fällt (siehe Rdnr. 81). Ein maßgebliches
Kriterium ist hierbei die Art der Beziehungen zwischen den (mutmaßlichen) biologischen Eltern. Obwohl der Beschwerdeführer und Frau H. nie zusammenzogen, ist unbestritten, dass sie, als Herr H. im Vereinigten Königreich
wohnhaft war, ein Jahr und vier Monate lang eine Beziehung führten und diese Beziehung daher nicht bloß zufällig war.
Darüber hinaus muss der Gerichtshof insbesondere das Interesse des Beschwerdeführers an F. und sein Bekenntnis zu ihm sowohl vor als auch nach der Geburt berücksichtigen. In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof fest,
dass - zumindest aus der Sicht des Beschwerdeführers - das Kind gemeinsam von ihm und Frau H. geplant war. Der Beschwerdeführer begleitete Frau H. zu mindestens zwei ärztlichen Untersuchungen im Zusammenhang mit ihrer
Schwangerschaft. Darüber hinaus erkannte er bereits vor der Geburt des Kindes die Vaterschaft für das ungeborene Kind an. Nach F.'s Geburt erhielt er auf seinen Wunsch hin Fotos des Babys und strengte relativ bald, weniger als
sechs Monate nach der Geburt des Kindes, ein Verfahren an, in dem er Umgang mit F. und Auskünfte über seine persönlichen Verhältnisse beantragte. Unter den Umständen des Falles, durch die der Beschwerdeführer, wie bereits
dargelegt, daran gehindert war, weitere Schritte zu unternehmen, um gegen den Willen der rechtlichen Eltern Verantwortung für F. zu übernehmen, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass er sein Interesse an F. hinreichend bekundet hat.
In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen schließt der Gerichtshof nicht aus, dass die von dem Beschwerdeführer beabsichtigte Beziehung zu F. unter den Aspekt des ‚Familienlebens' nach Artikel 8 fiel. Jedenfalls betraf die
Feststellung der rechtlichen Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer und F. - d. h. die Frage, ob der Beschwerdeführer ein Recht auf Umgang mit F. und auf Auskünfte über seine persönlichen Verhältnisse habe - einen wichtigen
Teil der Persönlichkeit des Beschwerdeführers und damit sein ‚Privatleben' im Sinne von Artikel 8 Abs. 1, selbst wenn es sich dabei nicht um Familienleben handelte. Die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte, ihm den Umgang
mit und Auskünfte über F. zu versagen, stellte demnach einen Eingriff in sein Recht auf Achtung zumindest seines Privatlebens dar (siehe, sinngemäß, A., a. a. O., Rdnr. 62).
b) War der Eingriff gerechtfertigt?
Ein derartiger Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens einer Person stellt eine Verletzung von Artikel 8 dar, es sei denn, er ist ‚gesetzlich vorgesehen', verfolgt ein oder mehrere Ziele, die nach Absatz 2 dieser Bestimmung
legitim sind, und kann als ‚in einer demokratischen Gesellschaft notwendig' angesehen werden.
Die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte, dem Beschwerdeführer den Umgang mit und Auskünfte über F. zu versagen, gründete sich auf § 1684 i. V. m. §§ 1592, 1685 und 1686 BGB. Sie bezweckte das Wohl eines Ehepaars,
Herr und Frau H., und der während ihrer Ehe geborenen (damals zwei) Kinder, die mit ihnen zusammenlebten und für die sie sorgten, und erging demnach zum Schutz ihrer Rechte und Freiheiten.
Hinsichtlich der Frage, ob der Eingriff ‚in einer demokratischen Gesellschaft notwendig' war, verweist der Gerichtshof auf die in seiner Rechtsprechung festgelegten Grundsätze. Er hat zu prüfen, ob die zur Rechtfertigung des
Eingriffs angeführten Gründe in Anbetracht der Rechtssache insgesamt im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 zutreffend und ausreichend waren (siehe u. a. T. P. und K. M. ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr.
28945/95, Rdnr. 70, ECHR 2001-V (Auszüge); und S. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 31871/96, Rdnr. 62, ECHR 2003-VIII (Auszüge)). Er kann nicht zufriedenstellend beurteilen, ob diese Gründe ‚ausreichend'
waren, ohne gleichzeitig festzustellen, ob der Entscheidungsprozess als Ganzes fair war und dem Beschwerdeführer den nach Artikel 8 erforderlichen Schutz seiner Interessen zuteil werden ließ (siehe u. a. T. P. und K. M. ./.
Vereinigtes Königreich, a. a. O., Rdnr. 72; und S., a. a. O., Rdnr. 66). Von entscheidender Bedeutung bei jeder Rechtssache dieser Art ist die Überlegung, was dem Kindeswohl am besten dient (siehe u. a. Yousef ./. die Niederlande,
Individualbeschwerde Nr. 33711/96, Rdnr. 73); je nach seiner Art und Bedeutung kann das Kindeswohl den Interessen der Eltern vorangehen (siehe S., a. a. O., Rdnr. 66; und G. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 74969/01,
Rdnr. 43, 26. Februar 2004).
Nach der gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs ist weiter zu bedenken, dass die nationalen Behörden insoweit im Vorteil sind, als sie unmittelbaren Kontakt zu allen Beteiligten haben. Aus diesen Überlegungen folgt, dass die
Aufgabe des Gerichtshofs nicht darin besteht, an Stelle der nationalen Behörden deren Aufgaben in Fragen des Umgangsrechts oder der Auskünfte über die persönliche Entwicklung des Kindes wahrzunehmen, sondern im Lichte der
Konvention die Entscheidungen zu überprüfen, die diese Behörden in Ausübung ihres Ermessens getroffen haben (siehe u. a. Hokkanen ./. Finnland, 23. September 1994, Rdnr. 55, Serie A, Bd. 299-A; G., a. a. O., Rdnr. 41; und S., a.
a. O., Rdnr. 62). Allerdings bedarf es bei Einschränkungen des Umgangsrechts der Eltern durch die innerstaatlichen Behörden einer strengen Prüfung, da sie die Gefahr bergen, dass die Familienbeziehungen zwischen einem kleinen
Kind und einem Elternteil endgültig abgeschnitten werden (siehe u. a. E. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 25735/94, Rdnrn. 48-49, ECHR 2000-VIII; S., a. a. O., Rdnrn. 62-63; und G. a. a. O., Rdnrn. 41-42). Die oben
genannten Grundsätze müssen auch in einem Fall wie dem vorliegenden gelten, in dem die Versagung des Umgangs zwischen einem biologischen Vater und seinem Kind sowie die Verweigerung von Auskünften über die persönlichen
Verhältnisse des Jungen zumindest als Eingriff in das ‚Privatleben' eingestuft werden (siehe sinngemäß A., a. a. O., Rdnr. 66).
In der vorliegenden Rechtssache nimmt der Gerichtshof zur Kenntnis, dass die innerstaatlichen Gerichte feststellten, dass der Beschwerdeführer, selbst unter der Annahme, er sei der leibliche Vater von F., nicht zu der Personengruppe
gehöre, die ein Recht auf Umgang mit F. und auf Auskünfte über die persönlichen Verhältnisse des Jungen habe. Er sei nicht der rechtliche Vater und auch keine enge Bezugsperson von F., weil zwischen den beiden nie eine
sozial-familiäre Beziehung bestanden habe. Da F. seit seiner Geburt bei Herrn und Frau H. gelebt habe, sei es dem Beschwerdeführer nicht möglich gewesen, eine solche Beziehung zu F. aufzubauen (siehe Rdnrn. 13-14, 16-18 und
24-27). Die innerstaatlichen Gerichte versagten daher dem Beschwerdeführer den Umfang mit F. - unter der Annahme, er sei sein Vater -, ohne zu prüfen, ob ein solcher Umgang unter den besonderen Umständen der Rechtssache dem
Wohl von F. dienen würde. Darüber hinaus lehnten sie auch den Antrag des Beschwerdeführers ab, ihm zumindest Auskunft über die persönliche Entwicklung von F. zu erteilen.
Auch hier trafen die innerstaatlichen Gerichte ihre Entscheidung, ohne entsprechend den besonderen Umständen der Rechtssache zu prüfen, ob die Erteilung solcher Auskünfte dem Wohl des Kindes dienen würde (z. B. um
wenigstens eine lockere Beziehung zu dem mutmaßlichen biologischen Vater aufrecht zu erhalten) oder ob, zumindest in dieser Hinsicht, das Interesse des Beschwerdeführers als vorrangig vor dem Interesse der rechtlichen Eltern zu
gelten hatte.
Hinsichtlich der Entscheidung darüber, ob die Gründe, welche die innerstaatlichen Gerichte für ihre Entscheidung anführten, dem Beschwerdeführer Umgang mit F. sowie Auskünfte über ihn zu verwehren, im Sinne von Artikel 8
Abs. 2 ‚ausreichend' waren, und der Eingriff in das Privatleben des Beschwerdeführers daher ‚in einer demokratischen Gesellschaft notwendig' war, verweist der Gerichtshof zunächst auf die Feststellungen in seinem Urteil vom 21.
Dezember 2010 in der Rechtssache A. (a. a. O.). Dieser Fall betraf die Weigerung der deutschen Gerichte, Herrn A., der unstreitig der leibliche Vater von Zwillingen war, die mit ihrer Mutter und deren Ehemann zusammenlebten,
Umgang mit seinen Kindern zu gewähren. In jenem Beschwerdeverfahren stellte der Gerichtshof fest, dass das Oberlandesgericht unter Anwendung der §§ 1684 und 1685 BGB dem Beschwerdeführer den Umgang mit seinen Kindern
versagt habe, ohne überhaupt zu prüfen, ob Umgangskontakte zwischen den Zwillingen und dem Beschwerdeführer unter den besonderen Umständen des Falles dem Wohl der Kinder dienen würde. Das innerstaatliche Gericht hatte
vorgebracht, der Beschwerdeführer gehöre nicht zu dem Personenkreis, dem ein Umgangsrecht zustehe, da er nicht der rechtliche Vater der Kinder sei, keine Verantwortung für sie getragen und somit keine sozial-familiäre Beziehung
zu ihnen habe. Der Gerichtshof stellte folglich fest, dass das innerstaatliche Gericht keinen fairen Ausgleich zwischen den betroffenen widerstreitenden Interessen herbeigeführt hatte. Da die Gründe, die das innerstaatliche Gericht für
die Entscheidung anführte, dem Beschwerdeführer den Umgang mit seinen Kindern zu versagen, im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 also nicht ‚ausreichend' waren, war Artikel 8 verletzt worden (siehe ebenda, Rdnrn. 67-73).
Darüber hinaus stellt der Gerichtshof fest, dass sich der Sachverhalt in dem vorliegenden Beschwerdeverfahren von dem in der Rechtssache A. vor allem im Hinblick auf die Gewissheit der Vaterschaft des jeweiligen
Beschwerdeführers unterscheidet. In der Rechtssache A. war unbestritten, dass der Beschwerdeführer der leibliche Vater der betroffenen Kinder war. In der vorliegenden Rechtssache hat die Mutter des Jungen F. zwar eingeräumt, dass
der Beschwerdeführer der Vater von F. sein könne, aber angegeben, auch ihr Ehemann könne der Vater sein, und von den innerstaatlichen Gerichten ist nicht festgestellt worden, ob der Beschwerdeführer der Vater von F. ist oder nicht.
Der Gerichtshof ist jedoch der Auffassung, dass dieser Unterschied unter den Umständen der Rechtssache nicht bedeutet, dass die vorliegende Beschwerde sich anders darstellt als die Rechtssache A. Tatsächlich geht aus der
Argumentation der innerstaatlichen Gerichte klar hervor, dass die Tatsache, dass der Beschwerdeführer nur mutmaßlich und nicht unbestritten der biologische Vater von F. ist, für ihre Entscheidung unerheblich war. Bei der
Begründung ihrer Entscheidungen gingen die innerstaatlichen Gerichte für die Zwecke des Verfahrens von der Vaterschaft des Beschwerdeführers aus (siehe Rdnrn. 13, 18 und 26). Sie wiesen den Antrag des Beschwerdeführers auf
Umgang mit (und Auskünfte über) F. - genau wie die innerstaatlichen Gerichte im Fall A. - zurück, weil der Beschwerdeführer nicht der rechtliche Vater von F. sei und zwischen ihm und F. nie eine sozial-familiäre Beziehung
bestanden habe. In beiden Fällen waren die Gründe dafür, dass der biologische Vater nicht bereits eine ‚sozial-familiäre Beziehung' zu den Kindern/dem Kind aufgebaut hatte, für die Feststellungen der innerstaatlichen Gerichte
unerheblich. Die Gerichte maßen somit der Tatsache, dass der jeweilige Beschwerdeführer aus rechtlichen und praktischen Gründen nicht in der Lage war, die Beziehung zu den Kindern/dem Kind zu ändern, kein Gewicht bei (siehe
A., a. a. O., Rdnrn. 67 und 69, sowie Rdnrn. 14, 17-18 und 26 des vorliegenden Urteils)
Der Gerichtshof möchte in diesem Zusammenhang erneut darauf hinweisen, dass es Aufgabe der innerstaatlichen Gerichte, die den Vorteil des unmittelbaren Kontakts zu allen betroffenen Personen haben, ist, in Ausübung ihres
Ermessens festzustellen, ob der Umgang zwischen einem biologischen Vater und seinem Kind dem Wohl des Kindes dient. Er hat darüber hinaus zur Kenntnis genommen, dass die Regierung unter Verweis auf eine
rechtsvergleichende Analyse und das allgemeine psychologische Gutachten des Sachverständigen K. gegenüber dem Gerichtshof vorbrachte, dass die in dem vorliegenden Fall von den Gerichten angewandten deutschen
Rechtsvorschriften dem Wohl der betroffenen Kinder dienten. Darüber hinaus hatte sie vorgebracht, dass es Stabilität gewährleiste, einer bestehenden rechtlichen Familie generell Vorrang gegenüber den Rechten des biologischen
Vaters einzuräumen, wohingegen das Verfahren, das mit einer Prüfung des Kindeswohls unter den besonderen Umständen der Rechtssache verbunden wäre, eine Belastung für die rechtliche Familie darstellen würde (siehe Rdnr. 75).
Der Gerichtshof kommt nicht umhin, seinen im Urteil A. (a. a. O., Rdnrn. 67-73) sowie in der Rechtssache Z. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 22028/04, Rdnrn. 44 f., 3. Dezember 2009, betreffend den grundsätzlichen
Ausschluss einer gerichtlichen Überprüfung der Zuweisung der Alleinsorge an die Mutter eines nichtehelichen Kindes; auch erachteten die innerstaatlichen Gerichte unter Anwendung der einschlägigen Bestimmungen des BGB die
Elternrechte eines Vaters ohne weitere Prüfung der Sache prima facie als dem Kindeswohl nicht dienlich) verfolgten Ansatz zu bestätigen. Unter Berücksichtung der tatsächlichen Gegebenheiten des Familienlebens im 21. Jahrhundert,
wie sie unter anderem auch aus seiner eigenen rechtsvergleichenden Studie (siehe Rdnrn. 38-46) ersichtlich sind, ist der Gerichtshof nicht überzeugt, dass sich das Wohl von Kindern, die mit ihrem rechtlichen Vater zusammenleben,
aber einen anderen leiblichen Vater haben, wirklich anhand einer allgemeinen rechtlichen Vermutung bestimmen lässt. Bei jeder Rechtssache dieser Art ist hingegen die Überlegung, was dem Kindeswohl am besten dient, von
entscheidender Bedeutung (siehe Rdnr. 93). Im Hinblick auf die große Vielfalt möglicher familiärer Konstellationen ist der Gerichtshof daher der Meinung, dass eine Prüfung der besonderen Umstände der Rechtssache für eine faire
Abwägung der Rechte aller Beteiligten erforderlich ist. Darüber hinaus berücksichtigte er auch das Vorbringen der Regierung, dieser Ansatz bedeute, dass die rechtliche Familie durch ein Verfahren belastet würde (siehe Rdnr. 75).
Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass biologische Väter bereits die Möglichkeit haben, Verfahren hinsichtlich der Gewährung von Umgangskontakten mit Kindern einzuleiten, und diese Möglichkeit in der Praxis auch bereits nutzen.
Unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen kommt der Gerichtshof weiterhin zu dem Ergebnis, dass der Einwand der Regierung, der Beschwerdeführer habe den innerstaatlichen Rechtsweg hinsichtlich seiner
Beschwerde gegen die Nichtfeststellung seiner Vaterschaft in Bezug auf F. nicht erschöpft, da er kein gesondertes Statusverfahren eingeleitet habe, aus folgenden Gründen zurückzuweisen ist.
Der Gerichtshof ist nicht davon überzeugt, dass ein gesondertes Statusverfahren ein wirksames Rechtsmittel gewesen wäre, das der Beschwerdeführer in dem hier in Rede stehenden Umgangs- und Auskunftsverfahren hätte erschöpfen
müssen. Ein solches Verfahren hätte nach geltendem innerstaatlichen Recht nicht nur keine Erfolgsaussichten gehabt, da der Beschwerdeführer kein Recht hatte, Herrn H.'s Vaterschaft anzufechten, da letzterer mit F. zusammenlebte
(§ 1600 Abs. 2 BGB, siehe Rdnr. 37), sondern zielt auch darauf ab, den Status als rechtlicher Vater eines Kindes zu erhalten und die Vaterschaft eines anderen Mannes zu beenden, was als ein grundsätzlich anderes und viel
weitergehendes Ziel anzusehen ist als die bloße Feststellung der biologischen Vaterschaft zum Zweck des Umgangs mit dem betroffenen Kind und der Information über die Entwicklung dieses Kindes.
In diesem Zusammenhang nimmt der Gerichtshof das Vorbringen der Regierung zur Kenntnis, es bestehe eine Missbrauchsgefahr, wenn jeder Mann, der angebe, Vater eines ehelich geborenen Kindes zu sein, das Recht habe, die
Feststellung seiner Vaterschaft zu beantragen (siehe Rdnr. 70). Er ist jedoch nicht der Auffassung, dass seine Feststellung, die innerstaatlichen Gerichte hätten es unterlassen, unter den besonderen Umständen der Rechtssache zu
prüfen, ob ein Umgang zwischen F. und dem Beschwerdeführer dem Wohl von F. gedient hätte, zu einem solchen Ergebnis geführt hätte. Die Frage der Feststellung der biologischen - im Gegensatz zur rechtlichen - Vaterschaft in
einem Umgangsverfahren wird sich nur dann stellen, wenn man unter den besonderen Umständen der Rechtssache davon ausgeht, dass ein Umgang zwischen dem mutmaßlichen biologischen Vater - unter der Annahme, er sei
tatsächlich der biologische Vater des Kindes - und dem Kind dem Kindeswohl dient.
Unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen ist der Gerichtshof, der sinngemäß auf die in seinem Urteil in der Rechtssache A. enthaltene ausführliche Begründung (Rdnrn. 67-73) verweist, der Auffassung, dass die
innerstaatlichen Gerichte die widerstreitenden Interessen im Entscheidungsprozess nicht fair gegeneinander abgewogen haben und dem Beschwerdeführer daher nicht den nach Artikel 8 erforderlichen Schutz seiner Interessen zu Teil
werden ließen. Sie haben in keiner Weise geprüft, ob der Umgang zwischen F. und dem Beschwerdeführer unter den besonderen Umständen der Rechtssache dem Wohl des Kindes dienen würde. Darüber hinaus haben sie nicht
geprüft, ob es unter den besonderen Umständen der Rechtssache dem Kindeswohl dienen würde, dem Antrag des Beschwerdeführers, zumindest Auskünfte über die persönliche Entwicklung von F. zu erhalten, stattzugeben, oder ob,
zumindest in dieser Hinsicht, das Interesse des Beschwerdeführers als vorrangig vor dem Interesse der rechtlichen Eltern zu gelten hatte. Daher haben sie keine ausreichenden Gründe angeführt, um ihren Eingriff im Sinne von Artikel
8 Abs. 2 zu rechtfertigen. Der Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privatlebens war daher nicht ‚in einer demokratischen Gesellschaft notwendig'.
Folglich ist Artikel 8 der Konvention verletzt worden.
II. RÜGE BEZÜGLICH DER DISKRIMINIERUNG
Der Beschwerdeführer rügte darüber hinaus, dass er durch die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte in Bezug auf sein Umgangs- und Auskunftsrecht im Vergleich zu Vätern von ehelich und außerehelich geborenen Kindern
sowie im Vergleich zu Müttern, Großeltern und Geschwistern diskriminiert worden sei. Er berief sich auf Artikel 14 i. V. m. Artikel 8 der Konvention; Artikel 8 lautet wie folgt:
‚Der Genuss der in [der] Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung,
der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten.'
Die Regierung bestritt dieses Vorbringen.
Der Gerichtshof nimmt auf seine obigen Feststellungen Bezug, nach denen die Rechte des Beschwerdeführers nach Artikel 8 verletzt wurden. Die innerstaatlichen Gerichte haben in keiner Weise geprüft, ob der Umgang zwischen F.
und dem Beschwerdeführer unter den besonderen Umständen des Falles dem Wohl des Kindes dienen würde. Darüber hinaus haben sie nicht geprüft, ob es dem Wohl des Kindes oder dem vorrangigen Interesse des Beschwerdeführers
entsprochen hätte, dem Antrag des Beschwerdeführers, zumindest Auskünfte über die persönliche Entwicklung von F. zu erhalten, stattzugeben. Der Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privatlebens war
daher nicht ‚in einer demokratischen Gesellschaft notwendig' (siehe Rdnrn. 91-105). Im Hinblick auf diese Schlussfolgerung hält es der Gerichtshof nicht für erforderlich, zu prüfen, ob die innerstaatlichen Gerichte den
Beschwerdeführer hierdurch unter Verletzung von Artikel 8 i. V. m. Artikel 14 der Konvention diskriminierten.
III. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION
Artikel 41 der Konvention lautet: ...
A. Schaden
Der Beschwerdeführer forderte mindestens 25.000 EUR (fünfundzwanzigtausend Euro) in Bezug auf den immateriellen Schaden. Die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte, ihm jeglichen Umgang mit seinem Sohn und
Auskünfte über seine Entwicklung zu versagen, habe ihm Kummer bereitet.
Die Regierung vertrat die Ansicht, eine Entschädigung für immateriellen Schaden komme nicht in Betracht, da nicht erwiesen sei, dass der Beschwerdeführer der Vater von F. sei. In jedem Fall sei die Forderung des
Beschwerdeführers überzogen.
Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte, dem Beschwerdeführer keinen Umgang mit F. und keine Auskünfte über seine Entwicklung zu gewähren, ohne die Frage zu prüfen, ob ein
solcher Umgang unter den besonderen Umständen der Rechtssache dem Wohl von F. oder dem vorrangigen Interesse des Beschwerdeführers entspreche, bei dem Beschwerdeführer Kummer ausgelöst haben muss, der durch die
Feststellung einer Konventionsverletzung allein nicht angemessen wieder gutgemacht wird. Daher spricht der Gerichtshof, der die Summe nach Billigkeit festsetzt, dem Beschwerdeführer unter dieser Rubrik 5.000 EUR zuzüglich
gegebenenfalls zu berechnender Steuern zu.
B. Kosten und Auslagen
Unter Vorlage von Belegen (einschließlich aller Rechnungen und Gebührenvereinbarungen) forderte der Beschwerdeführer auch 12.354,39 EUR (einschließlich Mehrwertsteuer) für Kosten und Auslagen, darunter 6.387,18 EUR für
Kosten und Auslagen vor den innerstaatlichen Gerichten (Amtsgericht Fulda, Oberlandesgericht Frankfurt, Bundesverfassungsgericht) sowie 4.279,89 EUR für die ihm vor dem Gerichtshof entstandenen Kosten (d. h. insgesamt
10.667,07 EUR).
Die Regierung brachte vor, sie sei auf der Grundlage der von dem Beschwerdeführer vorgelegten Unterlagen nicht in der Lage zu beurteilen, ob die von dem Beschwerdeführer geltend gemachten Kosten und Auslagen
notwendigerweise entstanden und der Höhe nach angemessen seien.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur soweit Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese tatsächlich und notwendigerweise entstanden sind und der Höhe
nach angemessen waren. In der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof unter Berücksichtung der ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und der oben genannten Kriterien fest, dass die für die Verfahren vor den
innerstaatlichen Gerichten entstandenen Kosten und Auslagen darauf abzielten, die Verletzung der Rechte des Beschwerdeführers aus Artikel 8 wieder gutzumachen. Unter Berücksichtigung der von dem Beschwerdeführer
vorgelegten Dokumente hält der Gerichtshof es für angebracht, 10.000 EUR (einschließlich Mehrwertsteuer) zur Deckung der unter allen Rubriken entstandenen Kosten zuzusprechen, zuzüglich der dem Beschwerdeführer
gegebenenfalls zu berechnenden Steuern.
C. Verzugszinsen
Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Einwendung der Regierung in Bezug auf die Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs im Hinblick auf die Nichteinleitung eines gesonderten Statusverfahrens wird mit der Hauptsache verbunden und zurückgewiesen;
2. Die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;
3. Artikel 8 der Konvention ist verletzt worden;
4. Es ist nicht erforderlich, die Rüge nach Artikel 8 i. V. m. Artikel 14 der Konvention gesondert zu prüfen;
5. a) Der beschwerdegegnerische Staat hat dem Beschwerdeführer binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig wird, folgende Beträge zu zahlen:
i) 5.000 EUR (fünftausend Euro) für immateriellen Schaden, zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern;
ii) 10.000 EUR (zehntausend Euro) für Kosten und Auslagen, zuzüglich der dem Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuern;
b) Nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten fallen für die obengenannten Beträge bis zur Auszahlung einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der
Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;
6. Im Übrigen wird die Forderung des Beschwerdeführers nach gerechter Entschädigung zurückgewiesen.
Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 15. September 2011 nach Artikel 77 Absätze 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs. ..." (EGMR, Urteil vom 15.09.2011 - 17080/07)
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„... 6. Ab 2001 lebten die Eheleute Herr und Frau H. an unterschiedlichen Wohnorten, da Herr H. im Vereinigten Königreich arbeitete, wohingegen Frau H. in Deutschland blieb. Das Ehepaar hat eine 1997 geborene Tochter. Im Mai
2002 gingen Frau H. und der Beschwerdeführer eine Beziehung ein. Im Juni 2003 wurde Frau H. schwanger.
7. Der Beschwerdeführer machte geltend, dass er der Vater des ungeborenen Kindes sei und dass die Geburt von ihm und Frau H. geplant gewesen sei. Dies wurde von der Regierung und den Drittbeteiligten bestritten.
8. Im September 2003 verließ Frau H. den Beschwerdeführer und zog anschließend ins Vereinigte Königreich um, um dort mit ihrem Ehemann zusammenzuleben.
9.Am 25. November 2003 gab der Beschwerdeführer vor dem Kinder- und Jugendamt der Stadt H. ein Vaterschaftsanerkenntnis für das ungeborene Kind ab.
10.Am 6. März 2004 brachte Frau H. ihren Sohn F. im Vereinigten Königreich zur Welt. Herr und Frau H. leben seitdem im Vereinigten Königreich; sie erziehen F. zusammen mit ihrer Tochter. Sie erkannten an, dass der
Beschwerdeführer der leibliche Vater von F. sein könne. Sie behaupteten aber, dass Herr H. genauso gut der leibliche Vater sein könne, da es zur maßgeblichen Zeit auch zwischen ihnen zu Intimkontakten gekommen sei. Letzteres
wird vom Beschwerdeführer bestritten. Die Eheleute zogen es im Interesse ihres familiären Zusammenlebens vor, die Vaterschaft nicht überprüfen zu lassen.
B. Das in Rede stehende Verfahren
1.Das Verfahren vor dem Amtsgericht
11. Am 20. Oktober 2005 wies das Amtsgericht Fulda die Anträge des Beschwerdeführers vom 24. August 2004 zurück, mit denen er zwei Mal pro Monat Umgang mit F. und regelmäßige Auskünfte über die Entwicklung des Jungen
beantragt hatte.
12. Das Amtsgericht stellte fest, dass der Beschwerdeführer behaupte, der leibliche Vater von F. zu sein. Der Beschwerdeführer hatte vorgetragen, dass er und Frau H. - die zu jener Zeit eine Scheidung in Betracht gezogen habe -
geplant hätten, ein Kind zu bekommen. Als Frau H. schwanger geworden sei, habe der Beschwerdeführer sie als Vater des Kindes zu ihren ärztlichen Untersuchungen begleitet. Herr und Frau H. hatten ihrerseits nicht bestritten, dass
zur maßgeblichen Zeit eine intime Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer und Frau H. bestanden habe. Frau H. habe jedoch nicht geplant, ein Kind zu bekommen, und Herr H. könne genauso gut der leibliche Vater von F. sein.
13. Das Amtsgericht befand, dass der Beschwerdeführer, selbst wenn er der leibliche Vater von F. wäre, nicht zu dem Personenkreis gehöre, dem ein Umgangs- und Auskunftsrecht nach § 1684 oder § 1685 BGB zustehe (siehe Rdnrn.
32 und 33). Er habe kein Umgangsrecht nach § 1684 BGB, da er nicht der rechtliche Vater von F. sei. Nach § 1592 BGB (siehe Rdnr. 35) sei Herr H., der Ehemann der Kindesmutter, der rechtliche Vater des Jungen. Die Anerkennung
der Vaterschaft durch den Beschwerdeführer vor dem Jugendamt sei nach § 1594 Abs. 2 BGB nicht wirksam, da die Vaterschaft des Herrn H. Vorrang habe (siehe Rdnr. 36). Auch sei er nicht berechtigt, die Vaterschaft von Herrn H.
anzufechten, da die Voraussetzungen des § 1600 Abs. 2 BGB nicht erfüllt seien (siehe Rdnr. 37). Das Recht, die Vaterschaft des Herrn H. anzufechten, habe er nicht, weil zwischen Herrn H. und dem mit Herrn und Frau H.
zusammenlebenden F. eine sozial-familiäre Beziehung bestehe. 14. Das Amtsgericht befand weiterhin, dass der Beschwerdeführer auch keinen Umgangsanspruch nach § 1685 Abs. 2 BGB habe. Er mache zwar geltend, der leibliche
Vater von F. zu sein; ob das tatsächlich zutreffe, sei jedoch unklar. Darüber hinaus sei er keine enge Bezugsperson des Kindes und habe keine sozial-familiäre Beziehung zu ihm. Die Tatsache, dass Frau H. und der Beschwerdeführer
seinen eigenen Angaben zufolge geplant hätten, ein Kind zu bekommen und zusammenzuleben, ändere daran nichts. Der Beschwerdeführer habe zu keiner Zeit mit Frau H. oder dem Kind zusammengelebt. Vielmehr habe das Kind
seit seiner Geburt bei dem verheirateten Ehepaar Herr und Frau H. gelebt. Während dieser Zeit habe der Beschwerdeführer keine Möglichkeit gehabt, eine sozial-familiäre Beziehung zu F. aufzubauen.
2. Das Verfahren vor dem Oberlandesgericht
15. Am 9. Februar 2006 wies das Oberlandesgericht Frankfurt am Main, ohne die Parteien persönlich anzuhören, die Beschwerde des Beschwerdeführers sowie seinen Antrag auf Einräumung der Befugnis, F. zu besonderen Anlässen
Geschenke machen zu dürfen, zurück.
16. Das Oberlandesgericht bestätigte die Feststellung des Amtsgerichts, dass der Beschwerdeführer kein Umgangs- und Auskunftsrecht nach den §§ 1684 und 1686 BGB habe (siehe Rdnr. 34), da diese Rechte den gesetzlich
legitimierten Eltern vorbehalten seien. Gemäß § 1592 Nr. 1 BGB sei jedoch Herr H., der zur Zeit der Geburt von F. mit Frau H. verheiratet gewesen sei, der rechtliche Vater von F. Die Anerkennung der Vaterschaft durch den
Beschwerdeführer ändere daran nichts, da diese nicht wirksam sei (§ 1594 Abs. 2 BGB).
17. Darüber hinaus habe der Beschwerdeführer kein Umgangs- und Auskunftsrecht nach § 1685 BGB. Es bestehe keine sozial-familiäre Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer und F., denn der Beschwerdeführer habe F. bisher
nicht einmal zu Gesicht bekommen, geschweige denn eine Beziehung zu ihm begründet.
18. Das Oberlandesgericht vertrat die Auffassung, dass sich aus dem Grundrecht auf Achtung des Familienlebens nach Artikel 6 Abs. 1 Grundgesetz (siehe Rdnr. 30) und aus Artikel 8 der Konvention keine weitergehenden Rechte für
den Beschwerdeführer herleiten ließen. Es sei nicht einmal gesichert, dass der Beschwerdeführer der leibliche Vater von F. sei. Die Vaterschaft könne jedoch nur in einem gesonderten Verfahren und unter bestimmten
Voraussetzungen, die der Beschwerdeführer aller Voraussicht nach nicht erfüllen könne, geklärt werden. Jedenfalls hätte der Beschwerdeführer selbst dann, wenn er der leibliche Vater von F. wäre, kein Umgangs- und Auskunftsrecht,
da er keine sozial-familiäre Beziehung zu F. habe. Die Rechtssache Keegan ./. Irland, in welcher der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Rechte von leiblichen Vätern, die noch keine sozial-familiäre Beziehung mit ihren
Kindern aufgebaut hätten, gestärkt habe, sei mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbar. Der Sachverhalt in diesem Fall, in dem die Kindesmutter das Kind zur Adoption freigegeben habe, sei mit dem des vorliegenden Falles nicht
vergleichbar, da die Interessen aller Beteiligten gegeneinander abgewogen werden müssten. Im vorliegenden Fall könne das Recht des Beschwerdeführers als leiblicher Vater keine stärkere Kraft haben als der Schutz der Familie, der
Mutter und des Kindes gemäß Artikel 6 Abs. 2 GG (siehe Rdnr. 30). Angesichts dieses Interessenkonflikts müsse alles vermieden werden, was das Vertrauen des Kindes zu seiner Familie erschüttern könne. Es sei besser, wenn F. in
seinem Familienverband aufwachsen könne, ohne über die problematischen Verhältnisse seiner Herkunft Kenntnis zu erlangen.
19. Der Beschluss des Oberlandesgerichts wurde dem Anwalt des Beschwerdeführers am 14. Februar 2006 zugestellt.
20. Am 18. April 2006 wies das Oberlandesgericht Frankfurt am Main die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers zurück.
3. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht
21. In seiner Verfassungsbeschwerde vom 14. März 2006 machte der Beschwerdeführer geltend, dass er durch die Beschlüsse der Familiengerichte, mit denen ihm der Umgang mit seinem Kind und Auskünfte über dessen
Lebenssituation versagt worden seien, insbesondere in seinem Recht auf Achtung seines Familienlebens nach Artikel 6 GG und Artikel 8 der Konvention sowie in seinem Recht auf Gleichbehandlung nach Artikel 3 Abs. 1 und 2 GG
(siehe Rdnr. 29) und nach den Artikeln 8 und 14 der Konvention verletzt worden sei. Er vertrat die Ansicht, dass es als Voraussetzung für ein enges Verbundenheitsgefühl eines leiblichen Vaters zu seinem Kind und das damit
verbundene Umgangs- und Auskunftsrecht ausreiche, wenn der Vater bereit sei, Verantwortung für sein Kind zu übernehmen. Andernfalls hätte die Kindesmutter das Recht, jeglichen Kontakt zwischen Vater und Kind zu unterbinden.
Dieser Kontakt jedoch sei, genau wie das Wissen um seine Herkunft, im Interesse des Kindes. Der Beschwerdeführer trug weiterhin vor, dass die Familiengerichte durch ihre Weigerung, Feststellungen darüber zu treffen, ob er der
leibliche Vater von F. sei, und indem sie nicht im Hinblick auf seinen konkreten Fall und durch Beweiserhebung geprüft hätten, ob sein Umgang mit F. dem Kindeswohl dienlich wäre, unverhältnismäßig in sein Recht auf Achtung
seines Familienlebens eingegriffen hätten. Darüber hinaus sei er durch die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte in Bezug auf sein Umgangs- und Auskunftsrecht im Vergleich zu Vätern von ehelich und außerehelich
geborenen Kindern sowie im Vergleich zu Müttern, Großeltern und Geschwistern diskriminiert worden.
22. Am 20. September 2006 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 1337/06). Es befand, dass die Beschwerde keine Aussicht auf Erfolg
habe, da sie jedenfalls unbegründet sei.
23. Soweit der Beschwerdeführer gerügt habe, die Familiengerichte hätten die Vaterschaft von F. nicht festgestellt, sei die Beschwerde auf Grund der Subsidiarität von Verfassungsbeschwerden unzulässig. Der Beschwerdeführer hätte
die Vaterschaft von Herrn H. in einem gesonderten Verfahren nach § 1600 Abs. 1 BGB vor Erhebung seiner Verfassungsbeschwerde anfechten müssen.
24. Soweit der Beschwerdeführer gerügt habe, dass die Familiengerichte seine Ansprüche auf Umgang mit F. und Auskunft über ihn zurückgewiesen hätten, seien seine Rechte nach Artikel 6 Abs. 1 oder 2 und Artikel 3 Abs. 1 GG
nicht verletzt worden.
25. Das in Artikel 6 Abs. 2 GG garantierte Elternrecht schütze diejenigen Personen, welche die Elternverantwortung trügen, unabhängig davon, ob sich die Elternschaft auf Abstammung oder auf Rechtszuweisung gründe. Im
vorliegenden Fall werde also Herr H. und nicht der Beschwerdeführer durch diese Bestimmung geschützt. Weder § 1684 noch § 1686 BGB, die das Umgangs- und Auskunftsrecht nur für die rechtlichen Eltern vorsähen, noch die
Entscheidungen der Familiengerichte, die auf diese Bestimmungen gegründet seien, verletzten demnach Artikel 6 Abs. 2 GG.
26. Auch die Entscheidungen der Familiengerichte, mit denen ein Umgangsrecht des Beschwerdeführers aus § 1685 Abs. 2 BGB zurückgewiesen worden sei, hätten seine Rechte nach Artikel 6 Abs. 1 GG nicht verletzt. Artikel 6 Abs.
1 schütze die Beziehung des leiblichen, aber nicht rechtlichen Vaters zu seinem Kind, soweit zwischen ihnen eine soziale Beziehung bestehe, die darauf beruhe, dass der Vater zumindest eine Zeit lang tatsächlich Verantwortung für
das Kind getragen habe. Umgekehrt reiche der Wunsch des (mutmaßlichen) leiblichen Vaters, Verantwortung zu tragen oder eine sozial-familiäre Beziehung mit dem Kind entstehen zu lassen, nicht aus, um unter den Schutz von
Artikel 6 Abs. 1 GG zu fallen. Da zu keiner Zeit eine sozial-familiäre Beziehung zwischen F. und dem Beschwerdeführer bestanden habe, stehe die Entscheidung der Familiengerichte, dem Beschwerdeführer ein Umgangsrecht nach §
1685 Abs. 2 BGB zu versagen, in Einklang mit Artikel 6 Abs. 1 GG.
27. Des Weiteren begründe allein der Umstand, dass der mutmaßliche leibliche Vater im Gegensatz zur leiblichen Mutter kein Umgangsrecht mit dem Kind habe, nicht die Annahme einer willkürlichen Entscheidung der
Familiengerichte und verstoße demnach nicht gegen Artikel 3 Abs. 1 GG.
28. Die Entscheidung wurde dem Anwalt des Beschwerdeführers am 4. Oktober 2006 zugestellt.
II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT UND RECHTSVERGLEICHUNG
A. Innerstaatliches Recht und innerstaatliche Praxis
1. Bestimmungen des Grundgesetzes
29. Nach Artikel 3 GG sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich (Abs. 1); Männer und Frauen sind gleichberechtigt (Abs. 2).
30. Artikel 6 GG, soweit maßgeblich, lautet:
(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
2. Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs
a) Bestimmungen über Umgang mit einem Kind und Auskunft über ein Kind
31. Die elterliche Sorge schließt das Recht ein, den Umgang des Kindes zu bestimmen (§ 1632 Abs. 2 BGB).
32. Nach § 1684 Abs. 1 BGB hat das Kind das Recht auf Umgang mit jedem Elternteil, und jeder Elternteil ist umgekehrt zum Umgang mit dem Kind verpflichtet und berechtigt. Das Familiengericht kann über den Umfang des
Umgangsrechts entscheiden und seine Ausübung, auch gegenüber Dritten, näher regeln (§ 1684 Abs. 3 BGB). Es kann dieses Recht einschränken oder ausschließen, wenn dies zum Wohle des Kindes erforderlich ist. Eine
Entscheidung, die das Umgangsrecht für längere Zeit oder auf Dauer einschränkt oder ausschließt, kann nur ergehen, wenn andernfalls das Wohl des Kindes gefährdet wäre. Das Familiengericht kann anordnen, dass das Umgangsrecht
nur in Anwesenheit eines Dritten, z. B. eines Trägers der Jugendhilfe oder eines Vereins, ausgeübt werden darf (§ 1684 Abs. 4 BGB).
33. Nach § 1685 Abs. 1 BGB haben Großeltern und Geschwister ein Recht auf Umgang mit dem Kind, wenn dieser dem Wohl des Kindes dient. § 1685 Abs. 2 BGB in der zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung sieht ferner für
enge Bezugspersonen des Kindes ein Umgangsrecht vor, wenn dies dem Wohl des Kindes dient und wenn sie für das Kind tatsächliche Verantwortung tragen oder getragen haben (sozial-familiäre Beziehung). Eine Übernahme
tatsächlicher Verantwortung ist in der Regel anzunehmen, wenn die Person mit dem Kind längere Zeit in häuslicher Gemeinschaft zusammengelebt hat. § 1684 Abs. 3 und 4 BGB gilt sinngemäß (siehe § 1685 Abs. 3 BGB).
34. Nach § 1686 BGB kann jeder Elternteil vom anderen Elternteil bei berechtigtem Interesse Auskunft über die persönlichen Verhältnisse des Kindes verlangen, soweit dies dem Wohl des Kindes nicht widerspricht.
b) Bestimmungen über die Vaterschaft 35. Nach § 1592 BGB ist Vater eines Kindes entweder der Mann, der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist (Nr. 1), oder der Mann, der die Vaterschaft anerkannt
hat (Nr. 2), oder dessen Vaterschaft nach § 1600d BGB gerichtlich festgestellt ist (Nr. 3).
36. Eine Anerkennung der Vaterschaft ist nicht wirksam, solange die Vaterschaft eines anderen Mannes besteht (§ 1594 Abs. 2 BGB).
37. Die Vaterschaft kann angefochten werden. Nach § 1600 Abs. 1 BGB sind zur Anfechtung der Vaterschaft berechtigt: der Mann, dessen Vaterschaft nach § 1592 Nrn. 1 und 2 besteht, die Mutter, das Kind und der Mann, der an
Eides Statt versichert, der Mutter des Kindes während der Empfängniszeit beigewohnt zu haben. Nach § 1600 Abs. 2 BGB kann Letzterer die Vaterschaft desjenigen Mannes, der nach § 1592 Nr. 1 oder 2 BGB der rechtliche Vater des
Kindes ist, jedoch nur anfechten, wenn er der leibliche Vater des Kindes ist und wenn zwischen dem rechtlichen Vater und dem Kind keine sozial-familiäre Beziehung besteht. Besteht keine Vaterschaft nach § 1592 Nr. 1 oder 2 BGB,
so ist die Vaterschaft durch das Familiengericht festzustellen (§ 1600d Abs. 1 BGB).
B. Rechtsvergleichung
38. Eine 23 Mitgliedstaaten erfassende Studie des Gerichtshofs ergab, dass es unter den Europaratsmitgliedern keine einheitliche Herangehensweise an die Frage gibt, ob und gegebenenfalls unter welchen Umständen ein biologischer
Vater (der nicht nur ein Samenspender ist) ein Recht auf Umgang mit seinem Kind hat, wenn der rechtliche Vater ein anderer ist.
39. In einer beträchtlichen Anzahl von Staaten (darunter Bosnien und Herzegowina, Estland, Frankreich, Großbritannien, Irland, Portugal, Russland, Slowenien, Spanien sowie die Ukraine) muss ein biologischer Vater zur Wahrung
seiner Umgangsrechte mit einem Kind, das von einer mit ihrem Ehemann zusammenlebenden Frau geboren wurde, zunächst - in bestimmten Fällen innerhalb einer vorgeschriebenen Zeitspanne - die bestehende Vaterschaftsvermutung
anfechten. In diesen Staaten, wie auch in allen anderen untersuchten Ländern, gilt laut Gesetz die Vermutung, dass ein von einer verheirateten Frau innerhalb einer bestehenden Ehe geborenes Kind auch das Kind ihres Ehemannes ist.
Wurde der biologische Vater als (rechtlicher) Vater des betreffenden Kindes anerkannt, so hat er, nach Maßgabe des Kindeswohls, ein Recht auf Umgang mit seinem Kind wie jeder andere nicht sorgeberechtigte Elternteil.
40. Gemäß einem von der Regierung vorgelegten Gutachten des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht e. V. vom März 2010, in das neben Deutschland siebzehn weitere Mitgliedstaaten des Europarats einbezogen
wurden, gilt Gleiches in Griechenland. Die in Frankreich und Spanien geltenden Bestimmungen wurden in diesem Gutachten jedoch abweichend interpretiert. Der Beschwerdeführer trug vor, dass es in verschiedenen anderen Ländern,
beispielsweise in Aserbaidschan, Litauen, der Republik Moldau, Norwegen, San Marino und Serbien, einem biologischen Vater möglich sei, die Vaterschaft eines rechtlichen Vaters anzufechten, und zwar unter weniger strengen
Voraussetzungen als in Deutschland (zu den Untersuchungsergebnissen des Gerichtshofs bezüglich Aserbaidschan siehe Rdnrn. 41 und 43). Er stellte die von der Regierung vorgelegte rechtsvergleichende Analyse allgemein in Frage,
da die Rechtslage von lediglich siebzehn der siebenundvierzig Mitgliedstaaten des Europarats nicht als repräsentativ angesehen werden könne.
41. Laut Untersuchung des Gerichtshofs könnte in einer beträchtlichen Anzahl von Europaratsmitgliedstaaten ein biologischer Vater hingegen unter Umständen, die denen der vorliegenden Individualbeschwerde entsprechen, diese
Vaterschaftsvermutung nicht anfechten (siehe insbesondere Aserbaidschan, Belgien, Finnland, Italien, Kroatien, Lettland, Luxemburg, Monaco, die Niederlande, Polen, die Slowakei, die Schweiz und Ungarn). In diesen Ländern
besteht für biologische Väter keine Anfechtungsberechtigung, und zwar entweder unter keinen Umständen oder zumindest nicht, sofern die Mutter noch mit ihrem Ehemann zusammenlebt (im Hinblick auf Letzteres siehe geltendes
Recht in Belgien und Luxemburg).
42. Laut dem von der Regierung vorgelegten Gutachten des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht gilt Gleiches auch in Dänemark, Liechtenstein, Österreich, Schweden, der Tschechischen Republik und der Türkei.
43. In diesen Mitgliedstaaten kann der biologische Vater nur als Dritter, nicht als Elternteil, Umgang beantragen. In einigen dieser Staaten (Aserbaidschan, Finnland, Italien, Kroatien, Luxemburg, Polen und Ungarn) hat der
biologische Vater aber selbst als Dritter kein Recht, Umgang zu beantragen, da in den Rechtsordnungen nur Umgangsrechte für rechtliche Eltern und (teilweise) für andere Verwandte vorgesehen sind.
44. Laut diesem Gutachten des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht gewährt das Gesetz dem biologischen Vater in Liechtenstein und der Tschechischen Republik ebenfalls keine Möglichkeit, ein Umgangsrecht zu beanspruchen.
45. In den übrigen vom Gerichtshof untersuchten Ländern, in denen ein biologischer Vater die Vaterschaftsvermutung nicht anfechten kann (Belgien, Lettland, Monaco, Niederlande, Slowakei und Schweiz), müssen unterschiedliche
Voraussetzungen erfüllt sein, damit diesem Vater Umgang gewährt wird, sofern der Umgang dem Kindeswohl dient. Gemäß Artikel 375bis des belgischen Zivilgesetzbuchs muss "ein besonderes affektives Verhältnis […] zum Kind"
nachgewiesen werden, gemäß Artikel 181 § 3 des lettischen Zivilgesetzbuchs muss der Vater mit dem Kind über einen längeren Zeitraum in einem gemeinsamen Haushalt zusammengelebt haben. In Monaco kann ein Richter einem
Dritten - wenn es dem Kindeswohl dient - Umgang gewähren, ohne dass dies an zusätzliche Voraussetzungen geknüpft wäre (vgl. Artikel 300 des monegassischen Zivilgesetzbuchs). In den Niederlanden kann Dritten (einschließlich
bloßen Samenspendern), wenn eine enge persönliche Beziehung zwischen ihnen und dem Kind besteht, gemäß Artikel 1:377f und 1:377a Abs. 3 des Niederländischen Bürgerlichen Gesetzbuches ein Umgangsrecht eingeräumt werden,
sofern dies nicht dem Kindeswohl zuwiderläuft. Artikel 25 Abs. 5 des slowakischen Familiengesetzbuchs sieht vor, dass dem biologischen Vater ein Umgangsrecht eingeräumt werden kann, wenn er als dem Kind "nahestehend"
angesehen wird (aus dem von der Regierung vorgelegten Gutachten geht hervor, dass auch in Schweden eine ähnliche Bestimmung existiert) und gemäß Artikel 274a des schweizerischen Zivilgesetzbuchs kann beim Vorliegen
außerordentlicher Umstände der Anspruch auf persönlichen Verkehr eingeräumt werden (laut dem von der Regierung vorgelegten Gutachten gilt die gleiche Bedingung auch in der Türkei).
46. Laut dem von der Regierung vorgelegten Gutachten ergibt sich aus § 20 des dänischen Gesetzes über die elterliche Verantwortung ein Umgangsrecht nur für die nächsten Angehörigen, mit denen das Kind eng verbunden ist, und
nur sofern die Eltern keinen oder nur in äußerst begrenztem Umfang Umgang mit dem Kind haben. Das Gutachten legt außerdem dar, dass nach § 148 Abs. 3 des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs von Österreich ein biologischer
Vater ein Besuchsrecht erhalten kann, wenn andernfalls das Wohl des Kindes gefährdet wäre.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. RÜGE BEZÜGLICH DER VERWEIGERUNG DES UMGANGS MIT F. UND DER AUSKUNFT ÜBER IHN
47. Der Beschwerdeführer rügte; dass er durch die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte, mit denen ihm der Umgang mit seinem Sohn sowie Auskünfte über dessen persönliche Verhältnisse versagt worden seien, in seinem
Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens verletzt worden sei. Er brachte ferner vor, dass die innerstaatlichen Gerichte die maßgeblichen Tatsachen bezüglich seiner Beziehung zu seinem Sohn, insbesondere die
Vaterschaft, und die Frage, ob der Umgang dem Wohl des Kindes diene, nicht ausreichend untersucht und somit Artikel 8 i. V. m. Artikel 6 der Konvention verletzt hätten.
48. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Rüge allein nach Artikel 8 zu prüfen ist, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:
"(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, […].
(2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das
wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer."
49. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.
A. Zulässigkeit
1. Die Vorbringen der Regierung
50. Die Regierung vertrat die Ansicht, dass die Individualbeschwerde unzulässig sei. Sie trug vor, dass der Beschwerdeführer zu dem in Rede stehenden Verfahren insgesamt fünf Individualbeschwerden beim Gerichtshof erhoben
habe. Bei seinen ersten vier Beschwerden vom 1. September 2004, 22. Dezember 2005, 21. März 2006 und 30. Mai 2006 habe er den innerstaatlichen Rechtsweg nicht entsprechend dem Erfordernis nach Artikel 35 Abs. 1 der
Konvention erschöpft. Diese Beschwerden seien erhoben worden, als die Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten noch nicht abgeschlossen gewesen seien und noch bevor der Beschwerdeführer eine Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts erwirkt habe. Was seine fünfte Individualbeschwerde angehe, so habe er nicht nachgewiesen, dass er die in Artikel 35 Abs. 1 der Konvention festgelegte Sechs-Monats-Frist eingehalten habe. Das auf den 4.
April 2007 datierte Original seiner Beschwerdeschrift sei erst am 11. April 2007 beim Gerichtshof eingegangen und er habe nicht nachgewiesen, dass die Beschwerde fristgerecht per Fax beim Gerichtshof eingetroffen sei. Da die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts dem Anwalt des Beschwerdeführers am 4. Oktober 2006 zugestellt worden sei, sei die Sechs-Monats-Frist für die Erhebung einer Individualbeschwerde am 4. April 2007 abgelaufen.
51. Die Regierung brachte ferner vor, dass die Individualbeschwerde insoweit unzulässig sei, als der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte hinsichtlich seiner Kenntnisse auf Abstammung des F. geltend mache. Der
Beschwerdeführer habe diesbezüglich kein gesondertes Verfahren nach § 1600 Abs. 2 BGB angestrengt (siehe Rdnr. 37). Entsprechend habe das Bundesverfassungsgericht seine Beschwerde in dieser Hinsicht ausdrücklich als
unzulässig verworfen. Auch könne der Beschwerdeführer nicht geltend machen, dass ein derartiges Verfahren die Regelung des Umgangs übermäßig verzögert hätte; das Umgangsverfahren habe er erst ein halbes Jahr nach F.'s Geburt
angestrengt. Außerdem bestritt die Regierung, dass ein Statusverfahren aussichtslos gewesen wäre, da der § 1600 BGB in der geänderten Fassung noch nicht Gegenstand einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung gewesen sei.
2. Die Vorbringen des Beschwerdeführers
52. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass seine Individualbeschwerde vom 4. April 2007 an diesem Tag, und somit innerhalb der Sechs-Monats-Frist nach Artikel 35 Abs. 1 der Konvention, per Fax beim Gerichtshof eingegangen
sei. Hilfsweise machte er geltend, dass nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und den geltenden Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs eine Beschwerde zum Bundesverfassungsgericht und eine
Beschwerde zum Oberlandesgericht Frankfurt am Main keine wirksamen Rechtsbehelfe gewesen seien, die hätten ausgeschöpft werden müssen.
53. Im Hinblick auf die Behauptung der Regierung, er habe den Rechtsweg nicht erschöpft, da er die Vaterschaft von Herrn H. nicht in einem gesonderten Verfahren nach § 1600 BGB angefochten habe, trug der Beschwerdeführer vor,
dass die Regierung nicht nachgewiesen habe, dass ein derartiges Verfahren ein wirksamer Rechtsbehelf sei, den er ausschöpfen müsse. Wie von den Familiengerichten überzeugend festgestellt worden sei, wäre ein derartiges Verfahren
aussichtslos gewesen, da Herr H. in einer sozial-familiären Beziehung mit F. lebte. Überdies sei es, wie in der Begründung der innerstaatlichen Gerichte explizit ausgeführt, unerheblich gewesen, ob er der leibliche Vater von F. sei
oder nicht. Sein Umgangs- und Auskunftsbegehren sei, selbst unter der Annahme, dass er der biologische Vater von F. wäre, wegen der fehlenden sozial-familiären Beziehung zwischen ihm und F. zurückgewiesen worden. Jedenfalls
habe er als leiblicher Vater von F. nur eine Regelung des Umgangs mit ihm und Auskünfte über die persönliche Entwicklung des Jungen erreichen wollen. Er habe nicht beabsichtigt, im Wege eines gesonderten Statusverfahrens F.'s
rechtlicher Vater zu werden; überdies hätte das eine Entscheidung in Bezug auf seinen Antrag auf Umgang mit F. ungebührlich verzögert. Dieser Weg hätte im Erfolgsfall das Ende der rechtlichen Vaterschaft von Herrn H. bedeutet,
was möglicherweise nicht F.'s Wohl entsprochen hätte.
3. Würdigung durch den Gerichtshof
54. Der Gerichtshof stellt fest, dass die hier in Rede stehende und der Regierung übermittelte Individualbeschwerde die Beschwerde vom 4. April 2007 ist. Sie betraf das Umgangs- und Auskunftsbegehren des Beschwerdeführers im
Hinblick auf F. und wurde erhoben, nachdem dem Anwalt des Beschwerdeführers am 4. Oktober 2006 die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zugestellt worden war. Die Individualbeschwerde ging laut Verfahrensakte am 4.
April 2007 per Fax (und anschließend am 11. April 2007 auch als Postsendung) beim Gerichtshof ein. Folglich wurde die Individualbeschwerde nach der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs in Bezug auf das Umgangs- und
Auskunftsbegehren erhoben. Sie wurde auch unter Einhaltung von Artikel 35 Abs. 1 der Konvention innerhalb von sechs Monaten nach der Zustellung der endgültigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an den Anwalt des
Beschwerdeführers erhoben. Die diesbezüglichen Einwendungen der Regierung sind daher zurückzuweisen.
55. Der Gerichtshof nimmt den weiteren Einwand der Regierung zur Kenntnis, demzufolge die Individualbeschwerde insoweit unzulässig sei, als der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte hinsichtlich seiner
Kenntnisse auf Abstammung des F. geltend mache. Nach Ansicht der Regierung hätte der Beschwerdeführer zur Klärung dieser Angelegenheit ein gesondertes Verfahren nach § 1600 Abs. 2 BGB anstrengen müssen. Der Gerichtshof
stellt fest, dass der Beschwerdeführer mit dem in Rede stehenden Verfahren die Einräumung eines Umgangs- und Auskunftsrechts im Hinblick auf F. begehrte. Nur vor diesem Hintergrund machte der Beschwerdeführer geltend, dass
die innerstaatlichen Gerichte, um den Sachverhalt aufklären und über seine Anträge entscheiden zu können, u. a. hätten feststellen müssen, ob er tatsächlich F.´s leiblicher Vater sei. Mit dem in Rede stehenden Verfahren beabsichtigte
er demnach nicht, als der rechtliche Vater von F. anerkannt zu werden - worauf ja Verfahren nach § 1600 BGB abzielen.
56. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Frage, ob der Beschwerdeführer dennoch verpflichtet gewesen wäre, vor seinem Antrag auf Gewährung von Umgangs- und Auskunftsrechten in Bezug auf F. ein Statusverfahren
anzustrengen, eng mit dem wesentlichen Inhalt seiner Beschwerde nach Artikel 8 und dem Umfang seiner Rechte aus diesem Artikel verbunden ist. Daher verbindet er den Einwand der Regierung in diesem Punkt mit der Prüfung der
Begründetheit der Rechtssache.
57. Der Gerichtshof stellt weiterhin fest, dass die Rüge nicht nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet oder aus anderen Gründen unzulässig ist. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
a) Der Beschwerdeführer
i) Stellungnahme zu der Frage, ob ein Eingriff stattgefunden hat
58. Der Beschwerdeführer vertrat die Ansicht, die Beziehung zwischen F. und ihm als seinem leiblichen Vater stelle Familienleben im Sinne von Artikel 8 Abs. 1 der Konvention dar. Er trug vor, er habe eine längere Beziehung mit
der Mutter von F., Frau H., geführt, und zwar von Mai 2002 bis September 2003. Frau H. habe ihm mitgeteilt, dass ihre Ehe zerbrochen sei und dass ihr Ehemann im Vereinigten Königreich mit einer neuen Partnerin zusammenlebe.
Frau H. und er hätten abwechselnd bei ihm und bei ihr gewohnt. Sie hätten das Kind F. geplant. Der Beschwerdeführer habe Frau H. zu vier ärztlichen Untersuchungen im Zusammenhang mit ihrer Schwangerschaft begleitet und Frau
H. habe ihn anderen gegenüber, auch gegenüber ihren Eltern und Schwiegereltern, als den Vater des Kindes vorgestellt. Er habe die Vaterschaft für das ungeborene Kind bereits am 25. November 2003 anerkannt. Auch habe er auf
seinen Wunsch hin einige Fotos von F. bekommen.
59. Der Beschwerdeführer argumentierte, dass das von ihm beabsichtigte Familienleben in jedem Fall unter den Schutz von Artikel 8 fallen würde, da ihn die rechtlichen Eltern des Kindes daran gehindert hätten, eine enge persönliche
Beziehung zu dem Jungen aufzubauen. Unter diesen Umständen reiche es aus, dass er vor und nach der Geburt echtes Interesse an dem Kind gezeigt habe, indem er eine gemeinsame Zukunft mit der Mutter und dem Kind geplant, die
Vaterschaft vor der Geburt des Kindes anerkannt und Umgang mit sowie Auskünfte über das Kind begehrt habe.
60. Der Beschwerdeführer brachte ferner vor, dass die innerstaatlichen Gerichte die Art der Beziehung zwischen ihm und Frau H. nicht hinreichend geklärt hätten. Diese habe sich von ihrem Ehemann, der mit einer anderen Frau
zusammenlebte, getrennt und beabsichtigt, sich scheiden zu lassen. Überdies hätten es die Gerichte unterlassen, zu klären, ob er der leibliche Vater von F. sei, obwohl sie diesen Umstand im Hinblick auf die Frage, ob er eine familiäre
Beziehung zu F. habe, für relevant gehalten hätten. Diese Unterlassung habe auch einen Eingriff in sein durch Artikel 8 geschütztes Recht auf Achtung seines Privatlebens dargestellt (er verwies auf Nylund ./. Finnland (Entsch.),
Individualbeschwerde Nr. 27110/95, ECHR 1999-VI; und Mikulic' ./. Kroatien, Individualbeschwerde Nr. 53176/99, ECHR 2002-I). Seiner Ansicht nach seien die innerstaatlichen Gerichte verpflichtet, in Umgangsverfahren die
Abstammung zu klären, wenn diese von den rechtlichen Eltern angezweifelt werde.
ii) Stellungnahme zu der Frage, ob der Eingriff gerechtfertigt war
61. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass der Eingriff in seine Rechte aus Artikel 8 nicht nach Artikel 8 Abs. 2 gerechtfertigt gewesen sei. Insbesondere sei er nicht "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" gewesen.
62. § 1685 Abs. 2 BGB sei von den innerstaatlichen Gerichten unverhältnismäßig ausgelegt und angewendet worden, da man ihm den Umgang mit seinem Kind verwehrt habe, ohne zu prüfen, ob dieser Umgang dem Wohl des Kindes
dienen würde. Hier verwies er auf das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache A. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 20578/07, 21. Dezember 2010), in der der Gerichtshof festgestellt habe, dass ein biologischer Vater ein
Recht auf Umgang mit seinem Kind habe, wenn dieser Umgang dem Wohl des Kindes diene. Dem Beschwerdeführer zufolge hätten die innerstaatlichen Gerichte bei dem Verfahren keine Abwägung der verschiedenen betroffenen
Interessen vorgenommen und dem bestehenden Familienverband absoluten Vorrang eingeräumt, was unverhältnismäßig sei. Sie hätten nicht berücksichtigt, dass Umgangskontakte mit dem leiblichen Vater für die persönliche Identität
und Entwicklung des Kindes grundsätzlich notwendig seien.
63. Daher sei die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte, ihm den Umgang mit und Auskünfte über F. zu verweigern, nicht hinreichend begründet. Sie hätten die Auffassung vertreten, dass einem biologischen Vater, der sein Kind
nie gesehen habe, ungeachtet der jeweiligen besonderen Umstände des Einzelfalls keinesfalls Umgang mit dem Kind gewährt werden sollte. Die Frage, ob der Umgang dem Wohl des Kindes diene, sei jedoch unter den Umständen des
Falles zu prüfen und könne nicht durch standardisierte rechtliche Vermutungen ersetzt werden.
64. Ferner bestritt der Beschwerdeführer das Vorbringen der Regierung, wonach eine rechtsvergleichende Analyse ergeben habe, dass die Bestimmungen des deutschen Rechts das Recht biologischer Väter auf Umgang mit ihren
Kindern gebührend schützten und dass das Kindeswohl keine andere Lösung rechtfertige. Er war der Ansicht, dass das deutsche Recht dem leiblichen Vater eine bedeutend schwächere Stellung einräume als die in den meisten
europäischen Staaten geltenden Bestimmungen (siehe auch Rdnr. 40). Die Ergebnisse eines im März 2010 im Auftrag der Regierung erstellten Gutachtens des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht seien nicht
überzeugend und nicht repräsentativ für die Rechtslage in Europa (siehe auch Rdnr. 40).
65. Überdies bestritt der Beschwerdeführer das Vorbringen der Regierung, demzufolge Umgangskontakte mit dem leiblichen Vater sich nicht generell positiv auf das Kindeswohl auswirken würden, wie die Regierung unter Berufung
auf ein von ihr in der Rechtssache A. in Auftrag gegebenes allgemeines psychologisches Gutachten des Sachverständigen K. geltend gemacht habe. Er war der Ansicht, dass Umgangskontakte zwischen ihm und F. dem Wohl des
Jungen dienen würden, da er ein Interesse an dem Kind habe und dieses ein Recht auf Kenntnis seiner Abstammung habe. Die fortgesetzte Verschleierung seiner Abstammung könne vielmehr einen Vertrauensverlust gegenüber seinen
rechtlichen Eltern nach sich ziehen. Da F.´s Abstammung beiden rechtlichen Elternteilen bereits vor seiner Geburt bekannt gewesen sei, bestehe nicht die Gefahr, dass Umgangskontakte zwischen F. und dem Beschwerdeführer die
Familie H. oder ihren Ruf bedrohen würden, schließlich hätten sowohl Herr H. als auch Frau H. eine außereheliche Beziehung gehabt.
b) Die Regierung
i) Stellungnahme zu der Frage, ob ein Eingriff stattgefunden hat
66. Die Regierung vertrat die Ansicht, dass Artikel 8 der Konvention nicht verletzt worden sei. Die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte hinsichtlich der Ansprüche des Beschwerdeführers auf Umgang mit F. und Auskunft
über ihn hätten keinen Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Familienlebens dargestellt. Unter Berufung auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs (insbesondere unter Bezugnahme auf die Rechtssachen
Lebbink ./. die Niederlande, Individualbeschwerde Nr. 45582/99; und H. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 33375/03, 18. März 2008) brachte die Regierung vor, dass sich aus der rein biologischen Vaterschaft ohne
enge persönliche Beziehung keine Rechte gemäß Artikel 8 Abs. 1 ableiten ließen. Im vorliegenden Fall würde F. mit seiner Mutter und seinem rechtlichen Vater in einem stabilen Familienverband zusammenleben.
67. Überdies machte die Regierung (unter Verweis auf die Rechtssache Nylund, a. a. O; N. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 46165/99, 19. Juni 2003; und H., a. a. O) geltend, dass der Gerichtshof zwar die
Auffassung vertreten habe, dass auch ein beabsichtigtes Familienleben ausnahmsweise unter Artikel 8 fallen könne, dies aber unter den Umständen der vorliegenden Individualbeschwerde nicht zutreffe. Die Regierung unterstrich, dass
nicht nachgewiesen sei, dass der Beschwerdeführer der leibliche Vater von F. sei und dass das Kind Bestandteil der gemeinsamen Zukunftsplanung von Frau H. und dem Beschwerdeführer gewesen sei. Doch selbst wenn man dies
annähme, reiche es nicht aus, dass er Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung zum Ausdruck gebracht habe.
68. Ferner vertrat die Regierung die Auffassung, dass der Umstand, dass die innerstaatlichen Gerichten es unterließen, festzustellen, ob der Beschwerdeführer der leibliche Vater von F. sei, keinen Eingriff in sein Recht auf Achtung
seines Privat- und Familienlebens aus Artikel 8 dargestellt habe. Die innerstaatlichen Gerichte seien für die Zwecke des Verfahrens davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer F.´s biologischer Vater sei, und hätten ihm den
begehrten Umgang mit F. versagt, weil zwischen ihnen keine sozial-familiäre Beziehung bestehe. Sie seien nicht verpflichtet gewesen, die Vaterschaft des Beschwerdeführers in dem in Rede stehenden Umgangsverfahren festzustellen,
da der Beschwerdeführer ein gesondertes Statusverfahren (§ 1600 BGB, siehe Rdnr. 37) hätte anstrengen müssen. ii) Stellungnahme zu der Frage, ob der Eingriff gerechtfertigt war 69. Selbst unter der Annahme, dass es durch die
Weigerung der innerstaatlichen Gerichte, dem Beschwerdeführer Umgang mit F. und Auskünfte über seine Entwicklung zu gewähren, zu einem Eingriff in die Rechte des Beschwerdeführers aus Artikel 8 Abs. 1 gekommen sei, sei
dieser Eingriff nach Artikel 8 Abs. 2 gerechtfertigt gewesen. Der behauptete Eingriff in die Rechte des Beschwerdeführers habe eine gesetzliche Grundlage in den §§ 1685 und 1686 BGB. Er diene dem legitimen Ziel, die Rechte und
Freiheiten von F. und seinen rechtlichen Eltern, Herrn und Frau H., zu schützen.
70. Auch sei dieser Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig. Die innerstaatlichen Gerichte hätten ihre Feststellung, dass der Beschwerdeführer keine sozialen Bindungen zu F. aufgebaut habe, die dazu führen könnten,
dass Umgangskontakte zwischen ihnen dem Wohl des Kindes dienen würden, auf zutreffende und hinreichende Gründe gestützt. Die Regierung unterstrich, dass der Gerichtshof in der Rechtssache A. (a. a. O.) befunden habe, dass ein
Mann, dessen biologische Vaterschaft unbestritten sei, ein Recht darauf habe, dass die innerstaatlichen Gerichte feststellten, ob Umgangskontakte mit seinem Kind dem Wohl des Kindes dienlich wären. In der vorliegenden
Rechtssache werde die Vaterschaft des Beschwerdeführers jedoch von den rechtlichen Eltern angezweifelt. Würde man jedem Mann, der angebe, Vater eines ehelich geborenen Kindes zu sein, gestatten, die Feststellung seiner
Vaterschaft zu beantragen, könnte dies massiv in die Rechte der Mitglieder der rechtlichen Familie eingreifen. Überdies würden solche Begehren nicht zwangsläufig dem Kindeswohl dienen. In Fällen wie dem vorliegenden dürfe nicht
außer Acht gelassen werden, dass die Grundrechte der unterschiedlichen Betroffenen fair gegeneinander abgewogen werden müssten.
71. Die Regierung vertrat ferner die Auffassung, dass der deutsche Gesetzgeber mit den §§ 1592, 1594, 1600, 1684 und 1685 BGB einen Ausgleich der betroffenen widerstreitenden Interessen vorgenommen habe, der den
Anforderungen aus Artikel 8 gerecht werde. Aus einer rechtsvergleichenden Analyse gehe hervor, dass diese Bestimmungen - im Vergleich zu dem in anderen europäischen Ländern geltenden Recht - das Recht biologischer Väter auf
Umgang mit ihren Kindern gebührend schützten und dass das Kindeswohl keine andere Herangehensweise rechtfertige. Das deutsche Recht, das biologische Väter nicht unter allen Umständen vom Umgangsrecht mit ihren Kindern
ausschließe, sondern ein solches Umgangsrecht nur gewähre, wenn eine sozial-familiäre Beziehung zwischen dem biologischen Vater und dem Kind bestehe und der Umgang dem Kindeswohl diene, entspreche den allgemeinen
europäischen Standards in diesem Bereich.
72. In diesem Zusammenhang stützte sich die Regierung auf die Ergebnisse eines im März 2010 in ihrem Auftrag vom Deutschen Institut für Jugendhilfe und Familienrecht erstellten Gutachtens, in dem die Umgangsrechte
biologischer Väter in 17 anderen Mitgliedstaaten des Europarats analysiert wurden (siehe auch Rdnrn. 40, 42 und 44-46; das Gutachten war bereits in der Rechtssache A. - a. a. O. - vorgelegt worden).
73. Überdies hätten die innerstaatlichen Gerichte die Grundrechte aller Betroffenen fair gegeneinander abgewogen. Für das Wohl von Kindern sei es äußerst wichtig, nicht nur ihre Abstammung zu kennen, sondern vor allem zu
verstehen, welcher Familie sie zugeordnet seien und wer als Mutter oder Vater Verantwortung für sie trage. Außerdem sei es gerechtfertigt, eine bestehende familiäre Beziehung zwischen den rechtlichen Eltern und dem Kind sowie
die Ehe der rechtlichen Eltern zu schützen, indem dem biologischen Vater der Zugang zur rechtlichen Vaterschaft verwehrt werde. Es liege innerhalb des staatlichen Ermessenssielraums, zu entscheiden, dass die Interessen der Familie,
der Mutter und des Kindes dem konkurrierenden Interesse des biologischen Vaters an Umgangskontakten in den Fällen vorgehen müssten, in denen Letzterer seine Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung lediglich durch die
Äußerung des Wunsches nach einer gemeinsamen Zukunft mit dem von ihm gezeugten Kind zum Ausdruck gebracht habe. Gleiches gelte auch für das Begehren des biologischen Vaters, über die Entwicklung des Kindes unterrichtet
zu werden.
74. In diesem Zusammenhang hob die Regierung hervor, dass sich Umgangskontakte zwischen einem leiblichen Vater und seinen Kindern nicht generell positiv auf das Kindeswohl auswirken würden; dies hänge von der individuellen
familiären Situation ab. Die Regierung nahm auf die Ergebnisse eines allgemeinen psychologischen Gutachtens des Sachverständigen K. Bezug, das es für das Verfahren in der Rechtssache A. (a. a. O.) zu der Frage in Auftrag gegeben
hatte, ob die Bestimmungen des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs zum Umgangsrecht leiblicher Väter mit ihren Kindern mit dem Kindeswohl vereinbar seien.
75. Entsprechend diesem Gutachten würden Umgangskontakte zwischen den Kindern und dem Elternteil, mit dem sie nicht zusammenlebten, in der Regel zur Belastung für die Kinder und dienten somit nicht ihrem Wohl, wenn es den
betroffenen Eltern nicht gelinge, ihre Konflikte nach der Trennung zu begrenzen.Zudem gehe das vollständige Fehlen von Kontakten zum leiblichen Vater dem Sachverständigengutachten zufolge in der Regel nicht mit
Beeinträchtigungen im Bereich der sozialen und emotionalen Entwicklung des Kindes einher. Die deutschen Rechtsvorschriften, durch die einer bestehenden rechtlichen Familie generell Vorrang gegenüber den Rechten von
biologischen Vätern eingeräumt werde, gewährleisteten demnach Stabilität und dienten dem Wohl des Kindes. Wenn es, wie vom Gerichtshof in der Rechtssache A. (a. a. O.) befunden, erforderlich wäre, das Kindeswohl unter den
besonderen Umständen der Rechtssache zu prüfen, dann könnte das Verfahren - das der mutmaßliche biologische Vater möglicherweise aus Gründen anstrengt, die nichts mit dem Wohl des Kindes zu tun haben - eine Belastung für
die rechtliche Familie darstellen.
c) Die Drittbeteiligten
76. In ihrer Stellungnahme gegenüber dem Gerichtshof bestritt Frau H., eine Scheidung erwogen und eine gemeinsame Zukunft mit dem Beschwerdeführer geplant zu haben. Sie habe vorgehabt, nach Abschluss ihrer ärztlichen
Ausbildung in das Vereinigte Königreich umzuziehen, und sie habe ihren Ehemann in der Zeit, in der sie an unterschiedlichen Wohnorten lebten, regelmäßig getroffen. Sie habe kein Kind mit dem Beschwerdeführer geplant und sie
unterstrich, dass auch ihr Ehemann der Vater des Kindes sein könne. Sie habe den Beschwerdeführer einmal pro Woche getroffen. Der Beschwerdeführer habe sie auf seinen Wunsch hin zu zwei gynäkologischen Untersuchungen
begleitet, sei aber nicht als ihr Lebensgefährte vorgestellt worden. Auch ihr Ehemann habe sie zu gynäkologischen Untersuchungen begleitet. F. sei nunmehr sechs Jahre alt und vollständig in die Familie H. integriert. 77. Frau H. war
der Auffassung, dass Umgangskontakte zwischen dem Beschwerdeführer und F. das Wohl des Kindes und das ihrer gesamten Familie, einschließlich ihres Ehemannes, ihrer Tochter und eines weiteren, 2007 geborenen Kindes
gefährden und den guten Ruf der Familie beschädigen würden.
78. Die Drittbeteiligten schlossen sich der rechtlichen Stellungnahme der Regierung an.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
a) Gab es einen Eingriff?
79. Der Gerichtshof erinnert daran, dass sich der Begriff des "Familienlebens" nach Artikel 8 der Konvention nicht auf eheliche Beziehungen beschränkt und auch andere faktische "familiäre" Bindungen erfassen kann, wenn die
Beteiligten in nichtehelicher Gemeinschaft zusammenleben.
Ein Kind, das aus einer solchen Beziehung hervorgeht, ist vom Augenblick seiner Geburt an und schon allein durch seine Geburt ipso iure Teil dieser "Familien"-Einheit (siehe Keegan ./. Irland, 26. Mai 1994, Rdnr. 44, Serie A Bd.
290; Lebbink ./. die Niederlande, Individualbeschwerde Nr. 45582/99, Rdnr. 35, ECHR 2004-IV; und Znamenskaya ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 77785/01, Rdnr. 26, 2. Juni 2005).
80. Jedoch reicht die biologische Verwandtschaft zwischen einem leiblichen Elternteil und einem Kind allein - d. h. ohne weitere rechtliche oder tatsächliche Merkmale, die auf das Vorliegen einer engen persönlichen Beziehung
hindeuten - nicht aus, um unter den Schutz von Artikel 8 zu fallen (vgl. Lebbink, a. a. O., Rdnr. 37). In der Regel ist das Zusammenleben eine Voraussetzung für eine Beziehung, die einem Familienleben gleichkommt.
Ausnahmsweise können auch andere Faktoren als Nachweis dafür dienen, dass eine Beziehung beständig genug ist, um faktische "familiäre Bindungen" zu schaffen (siehe Kroon u. a. ./. die Niederlande, 27. Oktober 1994,
Rdnr. 30, Serie A Bd. 297-C, und Lebbink, a. a. O., Rdnr. 36).
81. Ferner hat der Gerichtshof die Auffassung vertreten, dass auch ein beabsichtigtes Familienleben ausnahmsweise unter Artikel 8 fallen kann, und zwar vor allem dann, wenn der Umstand, dass das Familienleben noch nicht
vollständig hergestellt war, nicht dem Beschwerdeführer zuzurechnen ist (vgl. Pini u. a. ./. Rumänien, Individualbeschwerden Nrn. 78028/01 und 78030/01, Rdnrn. 143 und 146, ECHR 2004-V). Sofern es die Umstände rechtfertigen,
muss sich das "Familienleben" insbesondere auch auf die potentielle Beziehung erstrecken, die sich zwischen einem nichtehelichen Kind und dessen leiblichem Vater entwickeln kann. Zu den maßgeblichen Kriterien für das
tatsächliche und praktische Vorliegen enger persönlicher Bindungen in diesen Fällen gehören unter anderem die Art der Beziehung zwischen den leiblichen Eltern sowie das nachweisbare Interesse des Vaters an dem Kind und sein
Bekenntnis zu ihm sowohl vor als auch nach der Geburt (siehe Rechtssachen Nylund; N.; Lebbink, Rdnr. 36; H.; und A., alle a. a. O.; und vergleiche Róz.an'ski ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 55330/00, Rdnr. 64, 18. Mai 2006).
82. Der Gerichtshof weist ferner erneut darauf hin, dass Artikel 8 nicht nur das "Familienleben", sondern auch das "Privatleben" schützt. Traditionell haben die Konventionsorgane die Auffassung vertreten, dass enge Beziehungen, bei
denen es sich nicht um "Familienleben" handelt, grundsätzlich unter den Aspekt des "Privatlebens" fallen (siehe Znamenskaya, a. a. O., Rdnr. 27 mit weiteren Nachweisen). Im Zusammenhang mit Verfahren über die Feststellung oder
Anfechtung der Vaterschaft hat der Gerichtshof daher festgestellt, dass die Feststellung der rechtlichen Beziehung eines Mannes zu seinem rechtlichen oder vermeintlichen Kind zwar sein "Familienleben" betreffen könnte, dieser
Punkt aber offen bleiben kann, weil die Sache zweifelsohne das Privatleben des Mannes nach Artikel 8 betrifft, der wichtige Aspekte der Persönlichkeit von Menschen umfasst (siehe Rasmussen ./. Dänemark, 28. November 1984,
Rdnr. 33, Serie A Bd. 87; Nylund, a. a. O.; Yildirim ./. Österreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 34308/96, 19. Oktober 1999; und Backlund ./. Finnland, Individualbeschwerde Nr. 36498/05, Rdnr. 37, 6. Juli 2010).
83. In der vorliegenden Rechtssache ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte, dem Beschwerdeführer den Umgang mit F. sowie Auskünfte über dessen persönliche Verhältnisse zu
versagen, keinen Eingriff in ein bestehendes "Familienleben" des Beschwerdeführers mit F. im Sinne von Artikel 8 darstellt. Anders als beispielsweise im Fall A. (a. a. O., Rdnrn. 10, 59) ist strittig und in dem Verfahren vor den
innerstaatlichen Gerichten nicht festgestellt worden, ob der Beschwerdeführer tatsächlich der leibliche Vater von F. ist. In jedem Fall hat zwischen ihm und F. nie eine enge persönliche Beziehung bestanden, die als "gefestigtes
Familienleben" anzusehen wäre. Der Beschwerdeführer hat bisher noch nie mit F. zusammengelebt oder ihn auch nur getroffen.
84. Der Gerichtshof muss daher prüfen, ob das beabsichtigte Familienleben des Beschwerdeführers mit F. unter Artikel 8 fällt. Nach seiner gefestigten Rechtsprechung (siehe Rdnr. 81) kann dies ausnahmsweise der Fall sein, wenn der
Umstand, dass das Familienleben nicht hergestellt ist, nicht dem Beschwerdeführer angelastet werden kann. Dies gilt insbesondere für die Beziehung zwischen einem nichtehelichen Kind und seinem biologischen Vater, deren
natürliche Bindung unveränderlich ist, während ihre tatsächliche Beziehung aus praktischen oder rechtlichen Gründen von der Kindesmutter und, wenn sie verheiratet ist, von ihrem Ehemann bestimmt werden kann (siehe auch A., a.
a. O., Rdnr. 60).
85. In der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass die Regierung vorgebracht hat, der Beschwerdeführer habe kein gesondertes Verfahren nach § 1600 Abs. 2 BGB eingeleitet. In dem hier in Rede stehenden
Umgangsverfahren stellten die innerstaatlichen Gerichte nicht fest, ob der Beschwerdeführer - der nach Aussage der Mutter ebenso wie ihr Ehemann der biologische Vater von F. sein könnte - der biologische Vater von F. ist. Sie
stellten jedoch fest, dass das Umgangs- und Auskunftsbegehren des Beschwerdeführers im Hinblick auf F. selbst unter der Annahme, er sei der biologische Vater, wegen einer fehlenden sozial-familiären Beziehung zwischen ihm und
F. zurückzuweisen sei (siehe Rdnrn. 13, 18 und 26).
86. Darüber hinaus ist der Gerichtshof nicht davon überzeugt, dass der Beschwerdeführer die Vaterschaft wirksam hätte anerkennen oder Herrn H.'s Vaterschaft wirksam hätte anfechten können, und dass es ihm somit möglich
gewesen wäre, nicht nur als biologischer, sondern auch als rechtlicher Vater von F. anerkannt zu werden. Als rechtlicher Vater hätte er nach den (günstigeren) Bedingungen von § 1684 BGB, und nicht nur, wir hier geschehen, nach §
1685 BGB Umgang mit F. beantragen können. Nach den anwendbaren Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs, wie sie zur maßgeblichen Zeit von den innerstaatlichen Gerichten ausgelegt wurden, war die Anerkennung der
Vaterschaft durch den Beschwerdeführer am 25. November 2003 (siehe Rdnr. 9) nicht wirksam, da die Vaterschaft von Herrn F. Vorrang hatte (§ 1594 Abs. 2 BGB). Darüber hinaus war der Beschwerdeführer nicht berechtigt, Herrn
H.'s Vaterschaft anzufechten, da dieser mit F. zusammenlebte (§ 1600 Abs. 2 BGB). Dies wird durch die Feststellungen der Familiengerichte bestätigt (siehe Rdnrn. 13 und 18). In jedem Fall beabsichtigte der Beschwerdeführer in
dem hier in Rede stehenden Verfahren nicht, die rechtliche Position als F.'s Vater von Herrn H. zu übernehmen, worauf ja das gesonderte Verfahren nach § 1600 BGB abzielt, das der Beschwerdeführer nicht eingeleitet hat (siehe
hierzu das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Rdnr. 23).
87. Darüber hinaus hatte der Beschwerdeführer niemals Kontakt mit F., da Herr und Frau H., seine rechtlichen Eltern, die das Recht haben, über seinen Umgang mit anderen Personen zu entscheiden (§ 1632 Abs. 2 BGB, Rdnr. 31),
seine Bitten, ihm Umgang zu gewähren, ablehnten. Unter diesen Umständen ist das Gericht der Auffassung, dass der Umstand, dass noch keine gefestigte familiäre Bindung zwischen F. und dem Beschwerdeführer bestanden hat,
Letzterem nicht vorgeworfen werden kann.
88. Der Gerichtshof muss prüfen, ob tatsächlich enge persönliche Bindungen zwischen dem Beschwerdeführer und F. bestanden haben, so dass das beabsichtigte Familienleben unter Artikel 8 fällt (siehe Rdnr. 81). Ein maßgebliches
Kriterium ist hierbei die Art der Beziehungen zwischen den (mutmaßlichen) biologischen Eltern. Obwohl der Beschwerdeführer und Frau H. nie zusammenzogen, ist unbestritten, dass sie, als Herr H. im Vereinigten Königreich
wohnhaft war, ein Jahr und vier Monate lang eine Beziehung führten und diese Beziehung daher nicht bloß zufällig war.
89. Darüber hinaus muss der Gerichtshof insbesondere das Interesse des Beschwerdeführers an F. und sein Bekenntnis zu ihm sowohl vor als auch nach der Geburt berücksichtigen. In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof fest,
dass - zumindest aus der Sicht des Beschwerdeführers - das Kind gemeinsam von ihm und Frau H. geplant war. Der Beschwerdeführer begleitete Frau H. zu mindestens zwei ärztlichen Untersuchungen im Zusammenhang mit ihrer
Schwangerschaft. Darüber hinaus erkannte er bereits vor der Geburt des Kindes die Vaterschaft für das ungeborene Kind an. Nach F.'s Geburt erhielt er auf seinen Wunsch hin Fotos des Babys und strengte relativ bald, weniger als
sechs Monate nach der Geburt des Kindes, ein Verfahren an, in dem er Umgang mit F. und Auskünfte über seine persönlichen Verhältnisse beantragte. Unter den Umständen des Falles, durch die der Beschwerdeführer, wie bereits
dargelegt, daran gehindert war, weitere Schritte zu unternehmen, um gegen den Willen der rechtlichen Eltern Verantwortung für F. zu übernehmen, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass er sein Interesse an F. hinreichend bekundet hat.
90. In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen schließt der Gerichtshof nicht aus, dass die von dem Beschwerdeführer beabsichtigte Beziehung zu F. unter den Aspekt des "Familienlebens" nach Artikel 8 fiel. Jedenfalls betraf die
Feststellung der rechtlichen Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer und F. - d. h. die Frage, ob der Beschwerdeführer ein Recht auf Umgang mit F. und auf Auskünfte über seine persönlichen Verhältnisse habe - einen wichtigen
Teil der Persönlichkeit des Beschwerdeführers und damit sein "Privatleben" im Sinne von Artikel 8 Abs. 1, selbst wenn es sich dabei nicht um Familienleben handelte. Die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte, ihm den Umgang
mit und Auskünfte über F. zu versagen, stellte demnach einen Eingriff in sein Recht auf Achtung zumindest seines Privatlebens dar (siehe, sinngemäß, A., a. a. O., Rdnr. 62).
b) War der Eingriff gerechtfertigt?
91. Ein derartiger Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens einer Person stellt eine Verletzung von Artikel 8 dar, es sei denn, er ist "gesetzlich vorgesehen", verfolgt ein oder mehrere Ziele, die nach Absatz 2 dieser
Bestimmung legitim sind, und kann als "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" angesehen werden.
92. Die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte, dem Beschwerdeführer den Umgang mit und Auskünfte über F. zu versagen, gründete sich auf § 1684 i. V. m. §§ 1592, 1685 und 1686 BGB. Sie bezweckte das Wohl eines
Ehepaars, Herr und Frau H., und der während ihrer Ehe geborenen (damals zwei) Kinder, die mit ihnen zusammenlebten und für die sie sorgten, und erging demnach zum Schutz ihrer Rechte und Freiheiten.
93. Hinsichtlich der Frage, ob der Eingriff "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" war, verweist der Gerichtshof auf die in seiner Rechtsprechung festgelegten Grundsätze. Er hat zu prüfen, ob die zur Rechtfertigung des
Eingriffs angeführten Gründe in Anbetracht der Rechtssache insgesamt im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 zutreffend und ausreichend waren (siehe u. a. T. P. und K. M. ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr.
28945/95, Rdnr. 70, ECHR 2001-V (Auszüge); und S. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 31871/96, Rdnr. 62, ECHR 2003-VIII (Auszüge)). Er kann nicht zufriedenstellend beurteilen, ob diese Gründe "ausreichend"
waren, ohne gleichzeitig festzustellen, ob der Entscheidungsprozess als Ganzes fair war und dem Beschwerdeführer den nach Artikel 8 erforderlichen Schutz seiner Interessen zuteil werden ließ (siehe u. a. T. P. und K. M. ./.
Vereinigtes Königreich, a. a. O., Rdnr. 72; und S., a. a. O., Rdnr. 66). Von entscheidender Bedeutung bei jeder Rechtssache dieser Art ist die Überlegung, was dem Kindeswohl am besten dient (siehe u. a. Yousef ./. die Niederlande,
Individualbeschwerde Nr. 33711/96, Rdnr. 73); je nach seiner Art und Bedeutung kann das Kindeswohl den Interessen der Eltern vorangehen (siehe S., a. a. O., Rdnr. 66; und G. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 74969/01,
Rdnr. 43, 26. Februar 2004).
94. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs ist weiter zu bedenken, dass die nationalen Behörden insoweit im Vorteil sind, als sie unmittelbaren Kontakt zu allen Beteiligten haben. Aus diesen Überlegungen folgt, dass
die Aufgabe des Gerichtshofs nicht darin besteht, an Stelle der nationalen Behörden deren Aufgaben in Fragen des Umgangsrechts oder der Auskünfte über die persönliche Entwicklung des Kindes wahrzunehmen, sondern im Lichte
der Konvention die Entscheidungen zu überprüfen, die diese Behörden in Ausübung ihres Ermessens getroffen haben (siehe u. a. Hokkanen ./. Finnland, 23. September 1994, Rdnr. 55, Serie A, Bd. 299-A; G., a. a. O., Rdnr. 41; und
S., a. a. O., Rdnr. 62). Allerdings bedarf es bei Einschränkungen des Umgangsrechts der Eltern durch die innerstaatlichen Behörden einer strengen Prüfung, da sie die Gefahr bergen, dass die Familienbeziehungen zwischen einem
kleinen Kind und einem Elternteil endgültig abgeschnitten werden (siehe u. a. E. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 25735/94, Rdnrn. 48-49, ECHR 2000-VIII; S., a. a. O., Rdnrn. 62-63; und G. a. a. O., Rdnrn. 41-42).
Die oben genannten Grundsätze müssen auch in einem Fall wie dem vorliegenden gelten, in dem die Versagung des Umgangs zwischen einem biologischen Vater und seinem Kind sowie die Verweigerung von Auskünften über die
persönlichen Verhältnisse des Jungen zumindest als Eingriff in das "Privatleben" eingestuft werden (siehe sinngemäß A., a. a. O., Rdnr. 66).
95. In der vorliegenden Rechtssache nimmt der Gerichtshof zur Kenntnis, dass die innerstaatlichen Gerichte feststellten, dass der Beschwerdeführer, selbst unter der Annahme, er sei der leibliche Vater von F., nicht zu der
Personengruppe gehöre, die ein Recht auf Umgang mit F. und auf Auskünfte über die persönlichen Verhältnisse des Jungen habe. Er sei nicht der rechtliche Vater und auch keine enge Bezugsperson von F., weil zwischen den beiden
nie eine sozial-familiäre Beziehung bestanden habe. Da F. seit seiner Geburt bei Herrn und Frau H. gelebt habe, sei es dem Beschwerdeführer nicht möglich gewesen, eine solche Beziehung zu F. aufzubauen (siehe Rdnrn. 13-14,
16-18 und 24-27). Die innerstaatlichen Gerichte versagten daher dem Beschwerdeführer den Umfang mit F. - unter der Annahme, er sei sein Vater -, ohne zu prüfen, ob ein solcher Umgang unter den besonderen Umständen der
Rechtssache dem Wohl von F. dienen würde. Darüber hinaus lehnten sie auch den Antrag des Beschwerdeführers ab, ihm zumindest Auskunft über die persönliche Entwicklung von F. zu erteilen.
Auch hier trafen die innerstaatlichen Gerichte ihre Entscheidung, ohne entsprechend den besonderen Umständen der Rechtssache zu prüfen, ob die Erteilung solcher Auskünfte dem Wohl des Kindes dienen würde (z. B. um
wenigstens eine lockere Beziehung zu dem mutmaßlichen biologischen Vater aufrecht zu erhalten) oder ob, zumindest in dieser Hinsicht, das Interesse des Beschwerdeführers als vorrangig vor dem Interesse der rechtlichen Eltern zu
gelten hatte.
96. Hinsichtlich der Entscheidung darüber, ob die Gründe, welche die innerstaatlichen Gerichte für ihre Entscheidung anführten, dem Beschwerdeführer Umgang mit F. sowie Auskünfte über ihn zu verwehren, im Sinne von Artikel 8
Abs. 2 "ausreichend" waren, und der Eingriff in das Privatleben des Beschwerdeführers daher "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" war, verweist der Gerichtshof zunächst auf die Feststellungen in seinem Urteil vom 21.
Dezember 2010 in der Rechtssache A. (a. a. O.). Dieser Fall betraf die Weigerung der deutschen Gerichte, Herrn A., der unstreitig der leibliche Vater von Zwillingen war, die mit ihrer Mutter und deren Ehemann zusammenlebten,
Umgang mit seinen Kindern zu gewähren. In jenem Beschwerdeverfahren stellte der Gerichtshof fest, dass das Oberlandesgericht unter Anwendung der §§ 1684 und 1685 BGB dem Beschwerdeführer den Umgang mit seinen Kindern
versagt habe, ohne überhaupt zu prüfen, ob Umgangskontakte zwischen den Zwillingen und dem Beschwerdeführer unter den besonderen Umständen des Falles dem Wohl der Kinder dienen würde. Das innerstaatliche Gericht hatte
vorgebracht, der Beschwerdeführer gehöre nicht zu dem Personenkreis, dem ein Umgangsrecht zustehe, da er nicht der rechtliche Vater der Kinder sei, keine Verantwortung für sie getragen und somit keine sozial-familiäre Beziehung
zu ihnen habe. Der Gerichtshof stellte folglich fest, dass das innerstaatliche Gericht keinen fairen Ausgleich zwischen den betroffenen widerstreitenden Interessen herbeigeführt hatte. Da die Gründe, die das innerstaatliche Gericht für
die Entscheidung anführte, dem Beschwerdeführer den Umgang mit seinen Kindern zu versagen, im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 also nicht "ausreichend" waren, war Artikel 8 verletzt worden (siehe ebenda, Rdnrn. 67-73).
97. Darüber hinaus stellt der Gerichtshof fest, dass sich der Sachverhalt in dem vorliegenden Beschwerdeverfahren von dem in der Rechtssache A. vor allem im Hinblick auf die Gewissheit der Vaterschaft des jeweiligen
Beschwerdeführers unterscheidet. In der Rechtssache A. war unbestritten, dass der Beschwerdeführer der leibliche Vater der betroffenen Kinder war. In der vorliegenden Rechtssache hat die Mutter des Jungen F. zwar eingeräumt, dass
der Beschwerdeführer der Vater von F. sein könne, aber angegeben, auch ihr Ehemann könne der Vater sein, und von den innerstaatlichen Gerichten ist nicht festgestellt worden, ob der Beschwerdeführer der Vater von F. ist oder nicht.
98. Der Gerichtshof ist jedoch der Auffassung, dass dieser Unterschied unter den Umständen der Rechtssache nicht bedeutet, dass die vorliegende Beschwerde sich anders darstellt als die Rechtssache A. Tatsächlich geht aus der
Argumentation der innerstaatlichen Gerichte klar hervor, dass die Tatsache, dass der Beschwerdeführer nur mutmaßlich und nicht unbestritten der biologische Vater von F. ist, für ihre Entscheidung unerheblich war. Bei der
Begründung ihrer Entscheidungen gingen die innerstaatlichen Gerichte für die Zwecke des Verfahrens von der Vaterschaft des Beschwerdeführers aus (siehe Rdnrn. 13, 18 und 26). Sie wiesen den Antrag des Beschwerdeführers auf
Umgang mit (und Auskünfte über) F. - genau wie die innerstaatlichen Gerichte im Fall A. - zurück, weil der Beschwerdeführer nicht der rechtliche Vater von F. sei und zwischen ihm und F. nie eine sozial-familiäre Beziehung
bestanden habe. In beiden Fällen waren die Gründe dafür, dass der biologische Vater nicht bereits eine "sozial-familiäre Beziehung" zu den Kindern/dem Kind aufgebaut hatte, für die Feststellungen der innerstaatlichen Gerichte
unerheblich. Die Gerichte maßen somit der Tatsache, dass der jeweilige Beschwerdeführer aus rechtlichen und praktischen Gründen nicht in der Lage war, die Beziehung zu den Kindern/dem Kind zu ändern, kein Gewicht bei (siehe
A., a. a. O., Rdnrn. 67 und 69, sowie Rdnrn. 14, 17-18 und 26 des vorliegenden Urteils)
99. Der Gerichtshof möchte in diesem Zusammenhang erneut darauf hinweisen, dass es Aufgabe der innerstaatlichen Gerichte, die den Vorteil des unmittelbaren Kontakts zu allen betroffenen Personen haben, ist, in Ausübung ihres
Ermessens festzustellen, ob der Umgang zwischen einem biologischen Vater und seinem Kind dem Wohl des Kindes dient. Er hat darüber hinaus zur Kenntnis genommen, dass die Regierung unter Verweis auf eine
rechtsvergleichende Analyse und das allgemeine psychologische Gutachten des Sachverständigen K. gegenüber dem Gerichtshof vorbrachte, dass die in dem vorliegenden Fall von den Gerichten angewandten deutschen
Rechtsvorschriften dem Wohl der betroffenen Kinder dienten. Darüber hinaus hatte sie vorgebracht, dass es Stabilität gewährleiste, einer bestehenden rechtlichen Familie generell Vorrang gegenüber den Rechten des biologischen
Vaters einzuräumen, wohingegen das Verfahren, das mit einer Prüfung des Kindeswohls unter den besonderen Umständen der Rechtssache verbunden wäre, eine Belastung für die rechtliche Familie darstellen würde (siehe Rdnr. 75).
100. Der Gerichtshof kommt nicht umhin, seinen im Urteil A. (a. a. O., Rdnrn. 67-73) sowie in der Rechtssache Z. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 22028/04, Rdnrn. 44 f., 3. Dezember 2009, betreffend den grundsätzlichen
Ausschluss einer gerichtlichen Überprüfung der Zuweisung der Alleinsorge an die Mutter eines nichtehelichen Kindes; auch erachteten die innerstaatlichen Gerichte unter Anwendung der einschlägigen Bestimmungen des BGB die
Elternrechte eines Vaters ohne weitere Prüfung der Sache prima facie als dem Kindeswohl nicht dienlich) verfolgten Ansatz zu bestätigen. Unter Berücksichtung der tatsächlichen Gegebenheiten des Familienlebens im 21. Jahrhundert,
wie sie unter anderem auch aus seiner eigenen rechtsvergleichenden Studie (siehe Rdnrn. 38-46) ersichtlich sind, ist der Gerichtshof nicht überzeugt, dass sich das Wohl von Kindern, die mit ihrem rechtlichen Vater zusammenleben,
aber einen anderen leiblichen Vater haben, wirklich anhand einer allgemeinen rechtlichen Vermutung bestimmen lässt. Bei jeder Rechtssache dieser Art ist hingegen die Überlegung, was dem Kindeswohl am besten dient, von
entscheidender Bedeutung (siehe Rdnr. 93). Im Hinblick auf die große Vielfalt möglicher familiärer Konstellationen ist der Gerichtshof daher der Meinung, dass eine Prüfung der besonderen Umstände der Rechtssache für eine faire
Abwägung der Rechte aller Beteiligten erforderlich ist. Darüber hinaus berücksichtigte er auch das Vorbringen der Regierung, dieser Ansatz bedeute, dass die rechtliche Familie durch ein Verfahren belastet würde (siehe Rdnr. 75).
Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass biologische Väter bereits die Möglichkeit haben, Verfahren hinsichtlich der Gewährung von Umgangskontakten mit Kindern einzuleiten, und diese Möglichkeit in der Praxis auch bereits nutzen.
101. Unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen kommt der Gerichtshof weiterhin zu dem Ergebnis, dass der Einwand der Regierung, der Beschwerdeführer habe den innerstaatlichen Rechtsweg hinsichtlich seiner
Beschwerde gegen die Nichtfeststellung seiner Vaterschaft in Bezug auf F. nicht erschöpft, da er kein gesondertes Statusverfahren eingeleitet habe, aus folgenden Gründen zurückzuweisen ist.
102. Der Gerichtshof ist nicht davon überzeugt, dass ein gesondertes Statusverfahren ein wirksames Rechtsmittel gewesen wäre, das der Beschwerdeführer in dem hier in Rede stehenden Umgangs- und Auskunftsverfahren hätte
erschöpfen müssen. Ein solches Verfahren hätte nach geltendem innerstaatlichen Recht nicht nur keine Erfolgsaussichten gehabt, da der Beschwerdeführer kein Recht hatte, Herrn H.'s Vaterschaft anzufechten, da letzterer mit F.
zusammenlebte (§ 1600 Abs. 2 BGB, siehe Rdnr. 37), sondern zielt auch darauf ab, den Status als rechtlicher Vater eines Kindes zu erhalten und die Vaterschaft eines anderen Mannes zu beenden, was als ein grundsätzlich anderes
und viel weitergehendes Ziel anzusehen ist als die bloße Feststellung der biologischen Vaterschaft zum Zweck des Umgangs mit dem betroffenen Kind und der Information über die Entwicklung dieses Kindes.
103. In diesem Zusammenhang nimmt der Gerichtshof das Vorbringen der Regierung zur Kenntnis, es bestehe eine Missbrauchsgefahr, wenn jeder Mann, der angebe, Vater eines ehelich geborenen Kindes zu sein, das Recht habe, die
Feststellung seiner Vaterschaft zu beantragen (siehe Rdnr. 70). Er ist jedoch nicht der Auffassung, dass seine Feststellung, die innerstaatlichen Gerichte hätten es unterlassen, unter den besonderen Umständen der Rechtssache zu
prüfen, ob ein Umgang zwischen F. und dem Beschwerdeführer dem Wohl von F. gedient hätte, zu einem solchen Ergebnis geführt hätte. Die Frage der Feststellung der biologischen - im Gegensatz zur rechtlichen - Vaterschaft in
einem Umgangsverfahren wird sich nur dann stellen, wenn man unter den besonderen Umständen der Rechtssache davon ausgeht, dass ein Umgang zwischen dem mutmaßlichen biologischen Vater - unter der Annahme, er sei
tatsächlich der biologische Vater des Kindes - und dem Kind dem Kindeswohl dient.
104. Unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen ist der Gerichtshof, der sinngemäß auf die in seinem Urteil in der Rechtssache A. enthaltene ausführliche Begründung (Rdnrn. 67-73) verweist, der Auffassung, dass die
innerstaatlichen Gerichte die widerstreitenden Interessen im Entscheidungsprozess nicht fair gegeneinander abgewogen haben und dem Beschwerdeführer daher nicht den nach Artikel 8 erforderlichen Schutz seiner Interessen zu Teil
werden ließen. Sie haben in keiner Weise geprüft, ob der Umgang zwischen F. und dem Beschwerdeführer unter den besonderen Umständen der Rechtssache dem Wohl des Kindes dienen würde. Darüber hinaus haben sie nicht
geprüft, ob es unter den besonderen Umständen der Rechtssache dem Kindeswohl dienen würde, dem Antrag des Beschwerdeführers, zumindest Auskünfte über die persönliche Entwicklung von F. zu erhalten, stattzugeben, oder ob,
zumindest in dieser Hinsicht, das Interesse des Beschwerdeführers als vorrangig vor dem Interesse der rechtlichen Eltern zu gelten hatte. Daher haben sie keine ausreichenden Gründe angeführt, um ihren Eingriff im Sinne von Artikel
8 Abs. 2 zu rechtfertigen. Der Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privatlebens war daher nicht "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig".
105. Folglich ist Artikel 8 der Konvention verletzt worden.
II. RÜGE BEZÜGLICH DER DISKRIMINIERUNG
106. Der Beschwerdeführer rügte darüber hinaus, dass er durch die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte in Bezug auf sein Umgangs- und Auskunftsrecht im Vergleich zu Vätern von ehelich und außerehelich geborenen
Kindern sowie im Vergleich zu Müttern, Großeltern und Geschwistern diskriminiert worden sei. Er berief sich auf Artikel 14 i. V. m. Artikel 8 der Konvention; Artikel 8 lautet wie folgt:
"Der Genuss der in [der] Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung,
der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten."
107. Die Regierung bestritt dieses Vorbringen.
108. Der Gerichtshof nimmt auf seine obigen Feststellungen Bezug, nach denen die Rechte des Beschwerdeführers nach Artikel 8 verletzt wurden. Die innerstaatlichen Gerichte haben in keiner Weise geprüft, ob der Umgang zwischen
F. und dem Beschwerdeführer unter den besonderen Umständen des Falles dem Wohl des Kindes dienen würde. Darüber hinaus haben sie nicht geprüft, ob es dem Wohl des Kindes oder dem vorrangigen Interesse des
Beschwerdeführers entsprochen hätte, dem Antrag des Beschwerdeführers, zumindest Auskünfte über die persönliche Entwicklung von F. zu erhalten, stattzugeben. Der Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines
Privatlebens war daher nicht "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" (siehe Rdnrn. 91-105). Im Hinblick auf diese Schlussfolgerung hält es der Gerichtshof nicht für erforderlich, zu prüfen, ob die innerstaatlichen Gerichte
den Beschwerdeführer hierdurch unter Verletzung von Artikel 8 i. V. m. Artikel 14 der Konvention diskriminierten.
III. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION
109. Artikel 41 der Konvention lautet:
"Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser
Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist."
A. Schaden
110. Der Beschwerdeführer forderte mindestens 25.000 EUR (fünfundzwanzigtausend Euro) in Bezug auf den immateriellen Schaden. Die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte, ihm jeglichen Umgang mit seinem Sohn und
Auskünfte über seine Entwicklung zu versagen, habe ihm Kummer bereitet.
111. Die Regierung vertrat die Ansicht, eine Entschädigung für immateriellen Schaden komme nicht in Betracht, da nicht erwiesen sei, dass der Beschwerdeführer der Vater von F. sei. In jedem Fall sei die Forderung des
Beschwerdeführers überzogen.
112. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte, dem Beschwerdeführer keinen Umgang mit F. und keine Auskünfte über seine Entwicklung zu gewähren, ohne die Frage zu prüfen, ob ein
solcher Umgang unter den besonderen Umständen der Rechtssache dem Wohl von F. oder dem vorrangigen Interesse des Beschwerdeführers entspreche, bei dem Beschwerdeführer Kummer ausgelöst haben muss, der durch die
Feststellung einer Konventionsverletzung allein nicht angemessen wieder gutgemacht wird. Daher spricht der Gerichtshof, der die Summe nach Billigkeit festsetzt, dem Beschwerdeführer unter dieser Rubrik 5.000 EUR zuzüglich
gegebenenfalls zu berechnender Steuern zu.
B. Kosten und Auslagen
113. Unter Vorlage von Belegen (einschließlich aller Rechnungen und Gebührenvereinbarungen) forderte der Beschwerdeführer auch 12.354,39 EUR (einschließlich Mehrwertsteuer) für Kosten und Auslagen, darunter 6.387,18 EUR
für Kosten und Auslagen vor den innerstaatlichen Gerichten (Amtsgericht Fulda, Oberlandesgericht Frankfurt, Bundesverfassungsgericht) sowie 4.279,89 EUR für die ihm vor dem Gerichtshof entstandenen Kosten (d. h. insgesamt
10.667,07 EUR).
114. Die Regierung brachte vor, sie sei auf der Grundlage der von dem Beschwerdeführer vorgelegten Unterlagen nicht in der Lage zu beurteilen, ob die von dem Beschwerdeführer geltend gemachten Kosten und Auslagen
notwendigerweise entstanden und der Höhe nach angemessen seien.
115. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur soweit Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese tatsächlich und notwendigerweise entstanden sind und der
Höhe nach angemessen waren. In der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof unter Berücksichtung der ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und der oben genannten Kriterien fest, dass die für die Verfahren vor den
innerstaatlichen Gerichten entstandenen Kosten und Auslagen darauf abzielten, die Verletzung der Rechte des Beschwerdeführers aus Artikel 8 wieder gutzumachen. Unter Berücksichtigung der von dem Beschwerdeführer
vorgelegten Dokumente hält der Gerichtshof es für angebracht, 10.000 EUR (einschließlich Mehrwertsteuer) zur Deckung der unter allen Rubriken entstandenen Kosten zuzusprechen, zuzüglich der dem Beschwerdeführer
gegebenenfalls zu berechnenden Steuern.
C. Verzugszinsen
116. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Einwendung der Regierung in Bezug auf die Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs im Hinblick auf die Nichteinleitung eines gesonderten Statusverfahrens wird mit der Hauptsache verbunden und zurückgewiesen;
2. Die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;
3. Artikel 8 der Konvention ist verletzt worden; 4. Es ist nicht erforderlich, die Rüge nach Artikel 8 i. V. m. Artikel 14 der Konvention gesondert zu prüfen; 5. a) Der beschwerdegegnerische Staat hat dem Beschwerdeführer binnen
drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig wird, folgende Beträge zu zahlen:
i) 5.000 EUR (fünftausend Euro) für immateriellen Schaden, zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern;
ii) 10.000 EUR (zehntausend Euro) für Kosten und Auslagen, zuzüglich der dem Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuern;
b) Nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten fallen für die obengenannten Beträge bis zur Auszahlung einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der
Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;
6. Im Übrigen wird die Forderung des Beschwerdeführers nach gerechter Entschädigung zurückgewiesen.
Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 15. September 2011 nach Artikel 77 Absätze 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs. ... (EGMR, Urteil vom 5.09.2011 - 17080/07 zu §§ 1685 II, 686 BGB, Art 8 MRK)
***
Im Lichte des Rechts auf Achtung des Familienlebens kann das Umgangsrecht des Vaters mit dem Kind nicht dauerhaft ausgeschlossen werden. Vielmehr müssen sich die staatlichen Stellen in regulären Abständen von höchstens
einem Jahr des Falls erneut annehmen. Eine Ausnahme von der Jahresfrist kann aber gelten, wenn ein Gutachter feststellt, dass allein eine Überprüfung des Umgangsrechts schon dem Kindeswohl schaden würde. In einem solchen
Fall überwiegen die Interessen des Kindes gegenüber denen des Vaters (EGMR, Entscheidung vom 17.05.2011 - 9732/10 zu Art 8 Abs 1 MRK, § 1684 Abs 4 BGB).
***
Die Mitgliedsstaaten sind nicht gehalten, das Recht auf Achtung des Privatlebens der Bürger in den Medien dadurch zu schützen, dass diese verpflichtet werden, Betroffene über eine beabsichtigte Berichterstattung über sie vorab zu
informieren, damit diese in die Lage versetzt werden, durch einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zu versuchen, die Verbreitung von Nachrichten bzw. Bildmaterial zu verhindern, die ihre Privat- oder Intimsphäre
verletzen (EGMR, Urteil vom 10.05.2011 - 48009/08).
***
Weder Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) noch eine andere Vorschrift der Konvention garantiert einem Ausländer das Recht auf eine Aufenthaltserlaubnis in einem Konventionsstaat. Doch müssen die
Staaten ihre Ausländerpolitik so handhaben, dass sie mit den Grundrechten der Ausländer vereinbar bleibt, insbesondere mit den Rechten in Art. 8 EMRK und dem Verbot der Diskriminierung nach Art. 14 EMRK. Zum Begriff des
Familienlebens i.S. von Art. 8 I EMRK gehören jedenfalls die Beziehungen aus einer rechtmäßigen Ehe, wie sie zwischen dem Beschwerdeführer und seiner russischen Ehefrau besteht. Art. 14 EMRK verbietet eine Diskriminierung
auch wegen einer Behinderung und allgemein wegen des Gesundheitszustands einer Person einschließlich einer HIV-Infektion. Daher ist Art. 14 EMRK i.V. mit Art. 8 EMRK im vorliegenden Fall anwendbar. Behandelt ein
Konventionsstaat Einzelpersonen oder Personengruppen unterschiedlich, muss er nachweisen, dass es dafür sachliche und vernünftige Gründe gibt, er also ein berechtigtes Ziel verfolgt und die angewendeten Mittel zu diesem Ziel
verhältnismäßig sind. Dabei hat er einen Ermessensspielraum. Der ist allerdings eng, wenn es um eine besonders verletzliche Gruppe von Personen geht, die in der Vergangenheit unter erheblicher Diskriminierung gelitten hat.
HIV-Infizierte wie der Beschwerdeführer sind eine solche Gruppe. Seit dem Ausbruch der Pandemie in den 80iger Jahren haben sie verbreitet unter Stigmatisierung und Ausschluss gelitten, auch in den Mitgliedstaaten des Europarats.
Nach übereinstimmender Auffassung aller Sachkenner innerhalb und außerhalb internationaler Organisationen sind Reisebeschränkungen ein unwirksames Mittel, die Verbreitung der HIV-Infektion zu verhindern. Untersuchungen auf
HIV sind in Russland im Übrigen für Kurzzeitbesucher und Touristen nicht vorgeschrieben und auch nicht für russische Staatsbürger bei Rückkehr von einer Reise ins Ausland. HIV-infizierte Ausländer belasten dort auch nicht den
öffentlichen Gesundheitsdienst, denn Ausländer haben in Russland keinen Anspruch auf kostenlose medizinische Versorgung. Nach dem russischen AusländerG können die Behörden und Gerichte bei ihrer Entscheidung über den
Antrag eines HIV-infizierten Ausländers auf eine Aufenthaltserlaubnis auch nicht seine besondere Situation und seine familiären Bindungen in Russland berücksichtigen. Daher ist Art. 14 EMRK i.V. mit Art. 8 EMRK im
vorliegenden Fall verletzt. Der Beschwerdeführer, obwohl juristisch nicht bewandert und anwaltlich nicht vertreten, hätte die russischen Gerichte bitten können, seinen Fall nicht öffentlich zu verhandeln. Unter den gegebenen
Umständen waren die Gerichte nicht gehalten, von Gerichts wegen die Öffentlichkeit auszuschließen. Insoweit ist die auf Art. 6 I EMRK gestützte Beschwerde offensichtlich unbegründet und nach Art. 35 III lit a, IV EMRK
unzulässig (EGMR, Urteil vom 10.03.2011 - 2700/10 zu EMRK Art. 6 I, 8, 13, 14, 15, 35 III, 41, BeckRS 2011, 26127).
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Für die Berechnung der Sechsmonatsfrist des Art. 35 I EMRK ist im vorliegenden Fall das Datum des Eingangs der dem Beschwerdeführer mit gewöhnlichem Brief zugestellten Entscheidung des BVerfG maßgebend. Anhaltspunkte
dafür, dass der Eingangsstempel des Anwalts auf der Entscheidung nicht ordnungsgemäß angebracht wurde, liegen nicht vor. Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK ist ein Grundpfeiler der
"demokratischen Gesellschaft" i. S. der Konvention. Sie ist in ihrer religiösen Dimension eines der wichtigsten Elemente, das die Identität der Gläubigen und ihre Auffassung vom Leben bestimmt. Doch sie ist auch ein wertvolles Gut
für Atheisten, Agnostiker, Skeptiker und Gleichgültige. Der von einer demokratischen Gesellschaft untrennbare Pluralismus - teuer erkauft über die Jahrhunderte - hängt von ihr ab. Zur Religionsfreiheit gehört auch die Freiheit, seine
Religionszugehörigkeit oder seine religiösen Überzeugungen nicht angeben zu müssen. Staatliche Behörden haben nicht das Recht, in die Gewissensfreiheit des Einzelnen einzugreifen und nach seinen religiösen Überzeugungen zu
fragen oder ihn zu zwingen, seine Glaubensüberzeugungen zu offenbaren. Die Pflicht des Beschwerdeführers, auf der Lohnsteuerkarte seine Mitgliedschaft in einer Kirche oder Religionsgemeinschaft anzugeben, ist ein Eingriff in
seine nach Art. 9 I EMRK geschützte Religionsfreiheit. Der Eingriff war "gesetzlich vorgesehen" und verfolgte ein berechtigtes Ziel i. S. von Art. 9 II EMRK, nämlich das den Kirchen und Religionsgemeinschaften nach dem GG
garantierte Recht zu sichern, Kirchensteuer zu erheben. Der Eingriff war verhältnismäßig, denn der Vermerk auf der Steuerkarte besagt lediglich, dass der Beschwerdeführer keiner Kirche oder Religionsgemeinschaft angehört, die
Steuern zu erheben berechtigt ist. Außerdem wird die Steuerkarte nur zur Vorlage beim Arbeitgeber verwendet, und im Übrigen hält sich die Regelung im Rahmen des Ermessensspielraums, der den Konventionsstaaten in diesem
Bereich zusteht. Obwohl der Beschwerdeführer vor dem BVerfG nur Verletzung seiner Religionsfreiheit gerügt hat, ist seine Beschwerde nach Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) nicht unzulässig nach
Art. 35 I EMRK, denn nach der Rechtsprechung des BVerfG wird bei einer mit der Religionsfreiheit vereinbarten Maßnahme eine Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung nicht mehr geprüft. Der Eingriff in die
Rechte nach Art. 8 I EMRK ist jedoch nach Art. 8 II gerechtfertigt. Diskriminierung (Art. 14 EMRK) hat der Beschwerdeführer nicht vor dem BVerfG gerügt, obwohl die Verfassungsbeschwerde eine wirksame Beschwerde i. S. von
Art. 13 EMRK ist, die ein Beschwerdeführer grundsätzlich erheben muss, bevor er den Gerichtshof anruft. Die Beschwerde ist daher insoweit nach Art. 35 I EMRK unzulässig (EGMR, Urteil vom 17.02.2011 - 12884/03 zu EMRK
Art. 8, 9, 13, 14, 35 I, IIIa, IV).
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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat im Fall Sporer gegen Österreich entschieden, dass der Ausschluss einer gerichtlichen Einzelfallprüfung der Sorgerechtsregelung den Vater eines unehelichen Kindes diskriminiert.
Der Beschwerdeführer Sporer ist österreichischer Staatsangehöriger, 1976 geboren, und lebt in Schalchen. Im Mai 2000 wurde sein Sohn K. unehelich geboren. Die Mutter des Kindes lebte zu diesem Zeitpunkt im selben Haus wie
Herr Sporer, der in einer anderen Wohnung mit seiner langjährigen Partnerin und ihrem gemeinsamen Sohn zusammenlebte. Im ersten Lebensjahr K.s kümmerten sich Herr Sporer und K.s Mutter abwechselnd um das Kind und
nahmen nacheinander Erziehungsurlaub. Nachdem K.s Mutter im Januar 2002 ausgezogen war, beantragte Herr Sporer beim Bezirksgericht die Übertragung des alleinigen Sorgerechts auf sich mit dem Argument, dass K.s Mutter
nicht angemessen in der Lage sei, sich um das Kind zu kümmern. K.s Mutter stellte sich der Übertragung des Sorgerechts entgegen und das Jugendamt vertrat die Auffassung, dass beide Eltern in der Lage seien, sich um das Kind zu
kümmern. In einer mündlichen Verhandlung vor dem Bezirksgericht einigten sich die Parteien zunächst, dass K. bis zu einer Entscheidung mit beiden Elternteilen jeweils die halbe Woche verbringen würde. Ein auf Antrag Herrn
Sporers vom Gericht berufener kinderpsychologischer Sachverständiger vertrat in einem Gutachten, das in einer zweiten Gerichtsverhandlung erörtert wurde, dass K.s Mutter unreif und nicht in der Lage sei, sich um das Kind zu
kümmern. Ein anschließend vom Gericht berufener zweiter Sachverständiger widersprach dieser Einschätzung. Ein dritter Sachverständiger bestätigte in einem Obergutachten die Auffassung des zweiten Gutachters und vertrat, dass
das Kindeswohl durch den Verbleib des Sorgerechts bei der Mutter nicht gefährdet sei. Herr Sporer machte nicht von der Möglichkeit Gebrauch, eine schriftliche Stellungnahme einzureichen, beantragte aber die Erörterung des
Gutachtens in einer weiteren Verhandlung.
Das Gericht lehnte den Antrag Herrn Sporers auf Übertragung des alleinigen Sorgerechts im Dezember 2002 ohne eine weitere Verhandlung ab und verwies darauf, dass das alleinige Sorgerecht nach dem Allgemeinen Bürgerlichen
Gesetzbuch automatisch der Mutter zufalle, es sei denn, das Kindeswohl würde dadurch gefährdet. Das Landesgericht Ried bestätigte die Entscheidung und der Oberste Gerichtshof lehnte die Berufung Herrn Sporers dagegen im Juni
2003 ab. K.s Mutter hat weiterhin das alleinige Sorgerecht für das Kind, während Herr Sporer Recht auf Umgang mit ihm gemäß einer vom Gericht empfohlenen Regelung hat.
Unter Berufung auf Art. 6 § 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) (Recht auf ein faires Verfahren) machte Herr Sporer geltend, dass ihm das Bezirksgericht nicht die Möglichkeit gegeben habe, in einer mündlichen
Verhandlung zu dem entscheidenden Obergutachten Stellung zu nehmen. Unter Berufung auf Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) i.V.m. Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) sah er sich zudem nach
dem Bürgerlichen Gesetzbuch als Vater eines unehelichen Kindes diskriminiert, zum einen gegenüber der Mutter, da er gegen deren Willen keine Möglichkeit habe, das gemeinsame Sorgerecht zu erhalten, und zum anderen gegenüber
verheirateten und geschiedenen Vätern, da diese nach Trennung oder Scheidung von der Kindsmutter das gemeinsame Sorgerecht behalten könnten. Die Beschwerde wurde am 12.11.2003 beim EGMR eingelegt.
Der EGMR hat eine Verletzung von Art. 14 EMRK i.V.m. Art. 8 EMRK festgestellt.
1. Nach Auffassung des Gerichtshofs liegt keine Verletzung von Art. 6 § 1 EMRK vor. Herr Sporer hatte das Recht auf eine Verhandlung, da weder außerordentliche Umstände vorgelegen haben, die den Verzicht darauf gerechtfertigt
hätten noch betraf das Verfahren lediglich formale oder rein rechtliche Fragen. Der persönliche Eindruck der Eltern in einem Sorgerechtsverfahren stelle zudem einen wichtigen Aspekt dar.
Vor dem Bezirksgericht hatten zwei Verhandlungen, eine zur Vorbereitung und eine weitere in der Sache, stattgefunden. Sie hatten es dem Gericht ermöglicht, einen persönlichen Eindruck beider Parteien zu gewinnen, und den
Parteien die Gelegenheit gegeben, die verschiedenen Gesichtspunkte des Falls zu erörtern. Der Gerichtshof zeigte sich vom Argument des Bezirksgerichts überzeugt, dass eine weitere Verhandlung nicht notwendig gewesen sei, da das
dritte Sachverständigengutachten schlüssig und alle Sach- und Rechtsfragen hinreichend geklärt gewesen seien. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass Herr Sporer nicht weitere schriftliche Stellungnahmen hätte einreichen können,
sofern er dies gewünscht hätte. Das entscheidende Obergutachten war adversatorisch auf Grundlage von Interviews und schriftlichen Stellungnahmen beider Parteien erstellt worden.
2. Es liegt eine Verletzung von Art. 14 EMRK i.V.m. Art. 8 EMRK vor. Der Gerichtshof unterstrich zunächst, dass, wie zwischen den Parteien unumstritten war, die Beziehung Herrn Sporers zu seinem Sohn angesichts der Tatsache,
dass er Erziehungsurlaub genommen und sich weiterhin regelmäßig um ihn gekümmert hatte, als "Familienleben" i.S.v. Art. 8 EMRK zu gelten hat. Im Verfahren um das Sorgerecht hatten die österreichischen Gerichte nicht darüber
zu befinden gehabt, ob ein gemeinsames Sorgerecht im Kindeswohlinteresse läge, da für die gerichtliche Prüfung dieser Frage nach dem österreichischen Bürgerlichen Gesetzbuch die Zustimmung der Mutter erforderlich war; K.s
Mutter hatte ihre Zustimmung dazu aber nicht gegeben. Die Gerichte hatten auch nicht darüber zu entscheiden, welcher Elternteil besser in der Lage wäre, das Sorgerecht auszuüben.
Sie hatten lediglich festzustellen, ob K.s Mutter das Kindeswohl gefährdete. Auf Grundlage des entscheidenden Obergutachtens hatten sie den Antrag Herrn Sporers auf Übertragung des alleinigen Sorgerechts abgelehnt. Folglich lag
hinsichtlich der Zuweisung des Sorgerechts eine Ungleichbehandlung Herrn Sporers in seiner Eigenschaft als Vater eines unehelichen Kindes gegenüber der Mutter, und zugleich gegenüber verheirateten Vätern, vor.
Im Hinblick auf die anfängliche Zuweisung des Sorgerechts für ein uneheliches Kind an dessen Mutter sah der Gerichtshof keinen Grund, zu einem anderen Schluss zu kommen als im Fall Zaunegger gegen Deutschland. In diesem
Fall hatte er befunden, dass, sofern keine gemeinsame Sorgeerklärung vorliegt, eine solche Regelung gerechtfertigt ist, um zu gewährleisten, dass das Kind ab seiner Geburt eine Person hat, die klar als gesetzlicher Vertreter handeln
kann.
Im Fall Zaunegger hatte der Gerichtshof allerdings nicht die Annahme geteilt, dass ein gemeinsames Sorgerecht gegen den Willen der Mutter grundsätzlich dem Kindeswohl zuwiderlaufe. Zwar gibt es in den Europaratsmitgliedstaaten
keine einheitliche rechtliche Herangehensweise an die Frage, ob Väter unehelicher Kinder das Recht haben, das gemeinsame Sorgerecht auch gegen den Willen der Mutter zu beantragen. In einer Mehrheit der Staaten müssen sich
Sorgerechtsentscheidungen allerdings am Kindeswohlinteresse orientieren und im Fall eines Konflikts zwischen den Eltern gerichtlich überprüft werden. Das österreichische Recht sah im Fall Herrn Sporers keinerlei gerichtliche
Prüfungsmöglichkeiten der Frage vor, ob ein gemeinsames Sorgerecht im Kindeswohlinteresse läge, oder ob ihm, falls das gemeinsame Sorgerecht diesem Interesse zuwiderliefe, besser durch die Zuweisung des Sorgerechts an die
Mutter oder den Vater gedient wäre. Die österreichische Regierung hatte keine hinreichenden Gründe angegeben, warum die Situation Herrn Sporers, der seine Rolle als K.s Vater von Anfang an angenommen hatte, weniger
gerichtliche Prüfungsmöglichkeiten zulassen sollte als diejenige von Vätern, die zunächst das Sorgerecht hatten und sich später von der Kindesmutter trennten oder scheiden ließen.
3. Der EGMR hat entschieden, dass Österreich Herrn Sporer 3.500 Euro nach Art. 41 EMRK (gerechte Entschädigung) für die entstandenen Kosten zu zahlen hat. Der Gerichtshof hat außerdem entschieden, dass die Feststellung einer
Verletzung der Konvention eine ausreichende gerechte Entschädigung für den erlittenen immateriellen Schaden darstellt (EGMR, Entscheidung vom 03.02.2011 - 35637/03 zu Art 6 § 1, Art 8 , Art 14 , Art 41 MRK).
***
Das Recht einer Person zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt ihr Leben beendet sein soll, ist Teil des Rechts auf Achtung des Privatlebens i. S. von Art. 8 EMRK, vorausgesetzt, sie kann ihren Willen frei bilden und
entsprechend handeln. Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) verpflichtet Behörden, eine Person an einer Selbsttötung zu hindern, wenn sie die Entscheidung dazu nicht frei und in Kenntnis aller Umstände getroffen hat. Es gibt unter den
Mitgliedsstaaten des Europarats keinen Konsens über das Recht einer Person zu entscheiden, wann und auf welche Weise sie ihr Leben beenden möchte. Deswegen haben die Staaten insoweit einen erheblichen Ermessensspielraum.
Die mit einem Rechtssystem, das die Beihilfe zum Selbstmord erleichtert, verbundene Missbrauchsgefahr darf nicht unterschätzt werden. Eine Verschreibungspflicht für tödliche Substanzen dient dem Schutz der Gesamtheit, der
öffentlichen Sicherheit und der Verhütung von Straftaten. Selbst wenn eine Verpflichtung der Staaten bestünde, Maßnahmen zur Erleichterung einer Selbsttötung zu treffen, hätten die Schweizer Behörden im vorliegenden Fall
angesichts des ihnen zustehenden Ermessensspielraums nicht gegen diese Pflicht verstoßen (EGMR, Urteil vom 20.01.2011 - 31322/07 zu EMRK Art. 2, 8 II, 36 II, BeckRS 2011, 80449).
***
Der EGMR hat entschieden, dass die grundsätzliche Weigerung der deutschen Gerichte, einem Vater den Umgang mit seinen leiblichen Kindern zu gewähren, mit denen er nie zusammengelebt hat, das Kindeswohlinteresse
vernachlässigt.
Der Beschwerdeführer ist nigerianischer Staatsbürger und 1967 geboren. Er reiste 2003 nach Deutschland ein und lebte in Achern, bevor er 2008 nach Spanien zog. Sein Antrag auf Asyl in Deutschland wurde im Februar 2006
rechtskräftig abgelehnt. Etwa zwei Jahre lang hatte er eine Beziehung mit Frau B., die mit ihrem Ehemann drei Kinder hat. Im Dezember 2005, vier Monate nachdem sie sich von dem Beschwerdeführer getrennt hatte, brachte Frau B.
Zwillinge zur Welt, deren biologischer Vater er ist. Frau B. zieht die Kinder gemeinsam mit ihrem Ehemann auf, der rechtlich deren Vater ist. Das Ehepaar lehnte die Bitten des Beschwerdeführers vor und nach der Geburt, ihm
Umgang mit den Zwillingen zu gewähren, wiederholt ab.
Im September 2006 räumte das AG Baden-Baden dem Beschwerdeführer betreuten Umgang mit den Zwillingen einmal monatlich für eine Stunde ein. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass er nach § 1685 Abs. 2 BGB als enge
Bezugsperson Recht auf Umgang mit den Kindern habe. Es stützte sich auf ein psychologisches Sachverständigengutachten und befand, dass der Kontakt zwischen dem Beschwerdeführer und den Zwillingen im Kindeswohlinteresse
liege, da es wichtig für sie sei, ihre Herkunft zu kennen. Weiter befand das Gericht, dass diese Umgangsregelung für die anderen Kinder des Ehepaars B. nicht von Nachteil sei, da ein offener Umgang mit den Tatsachen am ehesten
den Interessen aller Beteiligten dienen würde.
Im Dezember 2006 gab das OLG Karlsruhe der Beschwerde des Ehepaars B. statt, hob den Beschluss des Amtsgerichts auf und wies den Antrag des Beschwerdeführers auf Umgang mit den Zwillingen ab. Es befand, dass er kein
umgangsberechtigter Elternteil i.S.v. § 1684 BGB sei, da sich diese Regelung auf die Eltern im Rechtssinne und nicht auf den rein biologischen Vater beziehe. Da der Beschwerdeführer keinerlei Verantwortung für die Kinder getragen
und folglich keine sozial-familiäre Beziehung zu ihnen aufgebaut habe, erfülle er außerdem nicht die Voraussetzungen, um als enge Bezugsperson ein Umgangsrecht nach § 1685 Abs. 2 BGB zu beanspruchen. Nach Auffassung des
Gerichts sei es daher unerheblich, ob der Kontakt zwischen dem Beschwerdeführer und den Kindern in deren Interesse läge. Das Grundgesetz schütze den Umgang des biologischen Vaters mit seinem Kind nur insoweit, als eine
sozial-familiäre Beziehung bereits bestehe; es schütze nicht seinen Wunsch, eine Beziehung zum Kind aufzubauen, wobei der Grund, warum bisher keine solche Beziehung bestehe, unerheblich sei.
Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers nicht zur Entscheidung angenommen. Der Beschwerdeführer sah durch die Weigerung der deutschen Gerichte, ihm Umgang mit seinen Kindern zu gewähren, seine
Rechte aus Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt.
Der EGMR hat einstimmig entschieden, dass die Entscheidungen der deutschen Gerichte, dem Beschwerdeführer den Umgang mit seinen Kindern zu verwehren, einen Eingriff in seine Rechte aus Artikel 8 der Europäischen
Menschenrechtskonvention darstellen.
Nach den Ausführungen des EGMR war seine Beziehung zu den Kindern, da er mit den Zwillingen nie zusammengelebt und sie nie kennengelernt hatte, zwar nicht beständig genug um als bestehendes "Familienleben" zu gelten. Der
Wunsch, eine familiäre Beziehung aufzubauen, könne allerdings in den Geltungsbereich von Artikel 8 fallen, sofern die Tatsache, dass noch kein Familienleben besteht, nicht dem Beschwerdeführer zuzuschreiben ist. Dies war bei
dem Beschwerdeführer der Fall, der nur deswegen keinen Kontakt zu den Zwillingen hatte, weil deren Mutter und rechtlicher Vater seine entsprechenden Bitten abgelehnt hatten. Der Beschwerdeführer hatte ein ernsthaftes Interesse an
den Kindern gezeigt, indem er, sowohl vor als auch nach deren Geburt, den Wunsch nach Kontakt mit ihnen geäußert und zügig ein Umgangsverfahren eingeleitet hatte. Auch wenn er mit Frau B. nie zusammengelebt hatte, waren die
Kinder aus einer nicht bloß zufälligen, sondern zwei Jahre dauernden Beziehung hervorgegangen. Selbst angenommen, dass die Beziehung des Beschwerdeführers zu seinen Kindern nicht als "Familienleben" gelten konnte, so betraf
sie doch einen wichtigen Teil seiner Identität und folglich sein "Privatleben" im Sinne von Artikel 8.
Der Eingriff in das Privatleben des Beschwerdeführers war nach deutschem Recht gesetzlich vorgesehen. In Anwendung der maßgeblichen Bestimmungen des BGB hatte das Oberlandesgericht argumentiert, dass er nicht zum Kreise
der zum Umgang mit den Kindern berechtigten Personen gehörte. Das deutsche Recht sah nach Auslegung des Oberlandesgerichts im vorliegenden Fall folglich keine Untersuchung der Frage vor, ob Kontakte zwischen dem
biologischen Vater und seinen Kindern in deren Interesse lägen, sofern ein anderer Mann ihr rechtlicher Vater war und der biologische Vater noch keine Verantwortung für sie getragen hatte, und dies unabhängig von den Gründen für
die Unterlassung. Die maßgeblichen Bestimmungen betrafen also auch Fälle, in denen die Tatsache, dass eine solche Beziehung noch nicht bestand, dem biologischen Vater nicht zuzuschreiben war.
Der EGMR nahm zur Kenntnis, dass es in den Europaratsmitgliedstaaten keine einheitliche rechtliche Herangehensweise an die Frage gibt, ob und gegebenenfalls unter welchen Umständen ein biologischer Vater ein Recht auf
Umgang mit seinem Kind hat, wenn der rechtliche Vater ein anderer ist. In vielen Staaten haben die nationalen Gerichte allerdings die Möglichkeit zu überprüfen, ob der Kontakt zwischen dem biologischen Vater und seinem Kind in
einer Situation, die dem vorliegenden Fall vergleichbar ist, im Kindeswohlinteresse liegt, und können dem Vater gegebenenfalls Umgang gewähren.
Der EGMR war sich dessen bewusst, dass die Entscheidung der deutschen Gerichte, dem Beschwerdeführer Kontakt mit seinen Kindern zu verwehren, darauf abzielte, dem Willen des Gesetzgebers zu entsprechen, bestehenden
Familienbindungen Vorrang gegenüber der Beziehung eines biologischen Vaters zu seinem Kind einzuräumen. Der EGMR erkannte an, dass diese bestehenden Bindungen gleichermaßen schutzbedürftig waren. Folglich wäre eine
gerechte Abwägung zwischen den konkurrierenden Rechten nach Artikel 8 notwendig gewesen, nicht nur denjenigen zweier Elternteile und eines Kindes, sondern denjenigen mehrerer betroffener Einzelpersonen - der Mutter, des
rechtlichen Vaters, des biologischen Vaters, der gemeinsamen biologischen Kinder des Ehepaars und der aus der Beziehung der Mutter und des biologischen Vaters hervorgegangenen Kinder.
Der EGMR war nicht davon überzeugt, dass die deutschen Gerichte letztinstanzlich eine gerechte Abwägung der konkurrierenden Interessen vorgenommen hatten. Insbesondere hatten sie es unterlassen, die Frage auch nur zu prüfen,
ob der Kontakt zwischen den Zwillingen und dem Beschwerdeführer unter den besonderen Umständen des Falls im Interesse der Kinder läge.
Nach Artikel 41 (gerechte Entschädigung) entschied der EGMR, dass Deutschland dem Beschwerdeführer 5.000 Euro für den erlittenen immateriellen Schaden und 4.030,76 Euro zur Erstattung der entstandenen Kosten zu zahlen hat
(EGMR, Entscheidung vom 21.12.2010 - 20578/07 zu §§ 1685, 1684 BGB).
***
Art. 8 EMRK (Recht auf Schutz des Familien- und Privatlebens) ist nicht dahin auszulegen, dass die Schwangerschaft und der Schwangerschaftsabbruch ausschließlich zum Privatleben der Frau gehören, weil es, wenn die Frau
schwanger ist, eng mit dem sich entwickelnden Fötus verbunden ist. Das Recht der Frau auf Achtung ihres Privatlebens muss gegen andere Rechte und Freiheiten abgewogen werden, einschließlich der Rechte des ungeborenen Kindes.
Art. 8 EMRK kann auch nicht so ausgelegt werden, dass es ein Recht auf Abtreibung gibt. Das in Irland geltende Verbot der Abtreibung aus Gründen der Gesundheit oder des Wohlbefindens der Frau sowie das Fehlen von
Durchführungsbestimmungen für eine rechtmäßige Abtreibung sind jedoch Eingriffe in das durch Art. 8 EMRK garantierte Recht auf Achtung des Privatlebens. Ein solcher Eingriff ist nur dann nach Art. 8 EMRK gerechtfertigt, wenn
er in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist, also einem dringenden sozialen Bedürfnis entspricht, und verhältnismäßig ist. Insoweit muss ein gerechter Ausgleich geschaffen werden zwischen den Rechten von schwangeren
Frauen auf Achtung ihres Privatlebens und den moralischen Überzeugungen der Mehrheit der irischen Bevölkerung hinsichtlich der Vorstellungen über den Schutz des Lebens Ungeborener. Bei der Beurteilung, ob ein gerechter
Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen hergestellt worden ist, besteht ein Ermessensspielraum des irischen Staats. Dieser ist als weit zu beurteilen und wird nicht durch das Bestehen eines Konsenses zwischen den
Konventionstaaten reduziert. Denn es existiert zwar ein Konsens unter der großen Mehrheit der Konventionsstaaten, eine Abtreibung im weiteren Sinne zu erlauben, als dies in Irland der Fall ist, nicht aber ein Konsens über die
wissenschaftliche und rechtliche Definition des Beginns des Lebens, so dass es keine übereinstimmende Antwort auf die Frage gibt, ob das Ungeborene eine Person ist, die durch Art. 2 EMRK geschützt ist. Der Ermessensspielraum
ist jedoch nicht unbeschränkt. Das Verbot der Abtreibung aus Gründen der Gesundheit und des Wohlbefindens der Frau muss mit den Pflichten Irlands nach der Konvention vereinbar sein. Wegen seiner Zuständigkeit nach Art. 19
EMRK muss der Europäische Gerichtshof überwachen, ob der Eingriff einen verhältnismäßigen Ausgleich der widerstreitenden Interessen herstellt. Angesichts der Tatsache, dass Frauen in Irland rechtmäßig für eine Abtreibung ins
Ausland reisen können und freien Zugang zu angemessenen Informationen und medizinischer Behandlung haben, überschreitet das Verbot der Abtreibung aus Gründen der Gesundheit und des Wohlbefindens der Frau, das auf
tiefwurzelnden moralischen Überzeugungen der irischen Bevölkerung über den Schutz des Rechts auf Leben für das Ungeborene beruht, den insoweit dem irischen Staat zustehenden Ermessensspielraum nicht. Da Irland in seiner
Verfassung eine Entscheidung darüber getroffen hat, unter welchen Voraussetzungen die Abtreibung zugelassen ist, nämlich für den Fall einer Gefahr für das Leben der werdenden Mutter, muss der irische Staat entsprechende
Durchführungsregelungen erlassen, die es ermöglichen, die unterschiedlichen betroffenen Interessen angemessen und im Einklang mit den Verpflichtungen aus der Konvention zu berücksichtigen. Da in Irland keine
Durchführungsbestimmungen existieren, insbesondere hinsichtlich eines wirksamen und zugänglichen Verfahrens, in dem das Recht auf Abtreibung begründet werden kann, besteht ein auffälliger Widerspruch zwischen dem
theoretisch gewährten Recht auf Abtreibung wegen einer Gefahr für das Leben der Frau einerseits und seiner praktischen Anwendung andererseits. Dies stellt eine Verletzung des Art. 8 EMRK dar (EGMR, Urteil vom 16.12.2010 -
25579/05 zu Art 2, Art 8 Abs 1, Art 8 Abs 2, Art 19, Art 35 MRK).
***
„... Renate Jaeger, die für Deutschland gewählte Richterin, erklärte sich für befangen (Artikel 28 der Verfahrensordnung). Die Regierung benannte deshalb an ihrer Stelle Herrn Bertram Schmitt als Richter ad hoc (Artikel 26 Abs. 4
der Konvention und Artikel 29 Abs. 1 der Verfahrensordnung).
A) Die Umstände des Falls
Der von den Parteien vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.
Der Beschwerdeführer ist Vater einer 1992 nichtehelich geborenen Tochter ("das Kind"), die an Trisomie 21 (dem sogenannten Down-Syndrom) leidet.
Der Beschwerdeführer erkannte die Vaterschaft 1992 vor dem Jugendamt Bergedorf an. Da die Eltern keine gemeinsame Sorgeerklärung abgegeben hatten, erhielt die Mutter nach § 1626a Abs. 2 BGB die alleinige elterliche Sorge.
Der Beschwerdeführer und seine frühere Lebensgefährtin hatten seit 1990 in einer Lebensgemeinschaft zusammengelebt. Von 1995 an übernahm der Beschwerdeführer, nachdem er einen Arbeitsunfall erlitten hatte, die
Betreuung des Kindes, während die Mutter einer Arbeit nachging, um für den Lebensunterhalt der Familie zu sorgen. Das Kind besuchte eine Grundschule, wo es mit Hilfe einer sonderpädagogischen Lehrkraft im
Klassenverband unterrichtet wurde.
Im Februar 2003 zog die Mutter mit dem Kind aus dem gemeinsamen Haushalt aus und brachte das Kind bei ihren Eltern unter, wo es eine Sonderschule für behinderte Kinder besuchte. Später kehrte das Kind wieder an seine
frühere Grundschule zurück, wo es mit Hilfe einer sonderpädagogischen Lehrkraft wieder im Klassenverband unterrichtet wurde.
Der Beschwerdeführer beantragte die Übertragung des Sorgerechts auf ihn selbst, weil es dem Wohl des Kindes besser entspreche, wenn es weiter eine Integrationsklasse besuche, weil er mehr Erfahrung habe und deshalb für die
Betreuung des Kindes hinsichtlich seiner besonderen Bedürfnisse besser geeignet sei und weil es von der Mutter unverantwortlich gewesen sei, das Kind aus seiner gewohnten Umgebung herauszunehmen.
Am 17. Juni 2003 wies das Amtsgericht Winsen (Luhe) den Antrag des Beschwerdeführers mit der Begründung zurück, dass § 1671 BGB nicht zur Anwendung käme, weil es an der gemeinsamen elterlichen Sorge fehle und die
Übertragung des Sorgerechts nach § 1672 BGB die Zustimmung der Mutter voraussetze. Überdies lägen die Voraussetzungen für eine Übertragung der elterlichen Sorge nach § 1666 BGB nicht vor.
Am 13. Mai 2004 wies das Oberlandesgericht Celle die Beschwerde des Beschwerdeführers zurück, weil die Voraussetzungen des § 1666 BGB nicht vorlägen.
Am 8. Juli 2004 trafen der Beschwerdeführer und die Kindesmutter vor dem Amtsgericht Winsen (Luhe) eine Vereinbarung über den Umgang des Beschwerdeführers mit seiner Tochter.
Am 8. September 2004 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne weitere Begründung ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 1379/04).
Die Mutter und das Kind zogen anschließend an einen anderen Ort um.
Am 30. März 2006 wies das Amtsgericht Fürstenwalde einen weiteren Antrag auf Übertragung der elterlichen Sorge zurück, weil die Voraussetzungen der §§ 1671 und 1672 sowie des § 1666 BGB nicht vorlägen.
Das Brandenburgische Oberlandesgericht wies am 27. Juni 2006 die Beschwerde des Beschwerdeführers und am 16. November 2006 seine Anhörungsrüge zurück.
Im Parallelverfahren über den Umgang des Beschwerdeführers mit seiner Tochter vereinbarten der Beschwerdeführer und die Kindesmutter am 7. Dezember 2006 vor dem Brandenburgischen Oberlandesgericht eine Regelung. Diese
Regelung trat an die Stelle der früheren Vereinbarung vom 8. Juli 2004.
Am 12. April 2007 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne weitergehende Begründung ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen, weil sie unzulässig sei (1 BvR 3183/06).
B) Einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis
1. Die einschlägigen Bestimmungen des Grundgesetzes und des Bürgerlichen Gesetzbuchs
Nach Artikel 6 Abs. 2 des Grundgesetzes sind die Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
Die gesetzlichen Bestimmungen über das Sorgerecht und Umgangsrecht finden sich im Bürgerlichen Gesetzbuch. Gemäß § 1626 Abs. 1 BGB haben die Eltern die Pflicht und das Recht, für das Kind zu sorgen (elterliche Sorge).
§ 1626a Abs. 1 BGB bestimmt, dass den Eltern nichtehelicher Kinder die elterliche Sorge gemeinsam zusteht, wenn sie eine entsprechende Erklärung abgeben (gemeinsame Sorgerechtserklärung nach § 1626a Abs. 1 Nr. 1) oder
einander heiraten (§ 1626a Abs. 1 Nr. 2). Andernfalls sieht § 1626a Abs. 2 vor, dass die Mutter das alleinige Sorgerecht erhält.
Leben die Eltern nicht nur vorübergehend getrennt und steht die alleinige elterliche Sorge nach § 1626a Abs. 2 BGB der Mutter zu, so sieht § 1672 Abs. 1 BGB vor, dass das Familiengericht die elterliche Sorge dem Kindesvater allein
übertragen kann, wenn er mit Zustimmung der Kindesmutter den entsprechenden Antrag stellt. Dem Antrag ist stattzugeben, wenn die Übertragung dem Wohl des Kindes dient.
Im Gegensatz hierzu führen Eltern nach ihrer Trennung das Sorgerecht gemeinsam fort, wenn sie vor ihrer Trennung die elterliche Sorge gemeinsam ausgeübt haben, entweder weil das Kind ehelich geboren wurde, weil die Eltern
einander nach der Geburt des Kindes geheiratet haben, oder weil sie eine gemeinsame Sorgeerklärung abgegeben haben, es sei denn, ein Gericht spricht einem Elternteil auf dessen Antrag hin, und wenn es dem Wohl des Kindes dient,
nach § 1671 BGB das alleinige Sorgerecht zu.
Nach § 1666 BGB hat das Familiengericht die erforderlichen Schutzmaßnahmen zu treffen, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes durch Vernachlässigung gefährdet wird und die Eltern nicht gewillt sind,
diese Maßnahmen selbst zu treffen. Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von einem Elternteil verbunden ist, sind nur zulässig, wenn das Kind andernfalls in Gefahr wäre (§ 1666a BGB).
2. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
In einem Urteil vom 21. Juli 2010 verwies das Bundesverfassungsgericht u. a. auf die Feststellungen des Gerichtshofs in der Rechtssache Z. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 22028/04, 3. Dezember 2009, und stellte fest, dass
das nach Artikel 6 Abs. 2 des Grundgesetzes garantierte Elternrecht des Vaters dadurch verletzt werde, dass dieser generell von der Sorgetragung für ein nichteheliches Kind ausgeschlossen werde, wenn die Mutter des Kindes ihre
Zustimmung verweigert, ohne dass ihm die Möglichkeit eingeräumt ist, gerichtlich überprüfen zu lassen, ob er aus Gründen des Kindeswohls an der elterlichen Sorge zu beteiligen oder die alleinige Sorge für das Kind auf ihn selbst zu
übertragen ist. Das Bundesverfassungsgericht entschied daher, dass § 1626a Absatz 1 Nr. 1 und § 1672 Absatz 1 BGB verfassungswidrig seien und bis zum Inkrafttreten der erforderlichen gesetzlichen Neuregelung mit der Maßgabe
anzuwenden seien, dass das Familiengericht den Eltern auf Antrag eines Elternteils die elterliche Sorge oder einen Teil der elterlichen Sorge gemeinsam überträgt, soweit zu erwarten ist, dass dies dem Kindeswohl entspricht.
RÜGEN
Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 8 der Konvention, dass die Gerichtsentscheidungen, mit denen das Sorgerecht für seine Tochter abgelehnt worden sei, sein Recht auf Achtung seines Familienlebens verletzt hätten, und nach
Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 8 der Konvention, dass die Anwendung von § 1626a Abs. 2 und 1672 BGB eine ungerechtfertigte Diskriminierung unverheirateter Väter wegen des Geschlechts und im Vergleich zu geschiedenen
Vätern darstelle.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
Unter Berufung auf Artikel 8 der Konvention sowohl für sich genommen als auch in Verbindung mit Artikel 14 der Konvention rügte der Beschwerdeführer, dass das deutsche Recht eine gemeinsame elterliche Sorge für ein
nichteheliches Kind mit der Anerkennung der Vaterschaft nicht vorsehe. Die nationalen Gerichte hätten seine Anträge auf Übertragung des Sorgerechts für das Kind nach §§ 1626a Abs. 2, 1672 und 1666 BGB daher mit der
Begründung abgelehnt, dass die Kindesmutter nicht zugestimmt habe, und hätten nicht geprüft, ob die Übertragung des Sorgerechts auf ihn selbst dem Kindeswohl entsprochen hätte.
Artikel 8 lautet:
"(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.
(2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das
wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer."
Artikel 14 lautet wie folgt:
"Der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen
Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten."
Mit Schreiben vom 16. Juli 2010 unterrichtete die Regierung den Gerichtshof von ihrem Vorschlag, eine einseitige Erklärung zur Erledigung der in der Beschwerde aufgeworfenen Frage abzugeben. Ferner hat sie beantragt, die
Beschwerde gemäß Artikel 37 der Konvention im Register zu streichen.
Die Erklärung, soweit maßgeblich, lautet wie folgt:
"3. Die Parteien haben Vergleichsgespräche geführt, die jedoch nicht erfolgreich zum Abschluss gebracht werden konnten.
4. In Ansehung des Urteils des Gerichtshofs in der Rechtssache Z. vom 3. Dezember 2009 erkennt die Bundesregierung daher - durch eine einseitige Erklärung - an, dass der Beschwerdeführer durch den grundsätzlichen Ausschluss
einer gerichtlichen Überprüfung der ursprünglichen Zuweisung der Alleinsorge an die Mutter in der vorliegenden Rechtssache in seinem Recht aus Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 8 der Konvention verletzt worden ist.
5. Darüber hinausgehende Erwägungen zu Artikel 8 der Konvention sind im vorliegenden Fall nicht notwendig (vgl. Rechtssache Z. ./. Deutschland, Urteil vom 3. Dezember 2009, Individualbeschwerde Nr. 22028/04, Randnr. 65).
6. Die Bundesregierung berücksichtigt dabei die Tatsache, dass der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall nicht nur die fehlende gemeinsame Sorge nichtverheirateter Eltern problematisiert, sondern auch die alleinige Sorge gemäß §
1672 Abs. 1 BGB beantragt hat. Es ergeben sich aber keine anderen Rückschlüsse auf Konventionsverstöße als im Verfahren Z. . Denn der Beschwerdeführer ist hinsichtlich der Übertragung der alleinigen Sorge gemäß § 1672 Abs. 1
Satz 1 BGB (Getrenntleben bei alleiniger Sorge der Mutter gemäß § 1626a BGB) ebenfalls auf die Zustimmung der Mutter angewiesen. Stimmt die Kindesmutter nicht zu, steht ihm keine Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung offen.
7. Die Umgangssituation des Beschwerdeführers ist ausweislich seines Vortrags ebenfalls geklärt (zuletzt Umgangsregelung vom 7. November 2006).
8. Die Anerkennung des Konventionsverstoßes erfolgt auch unter Beachtung der Tatsache, dass die Tochter des Beschwerdeführers im Jahr 2010 volljährig wird. Die Bundesregierung berücksichtigt insoweit, dass es Aufgabe des
Gerichtshofs ist, ex post darüber zu befinden, ob die Entscheidungen in den innerstaatlichen Verfahren mit den Vorgaben der Konvention vereinbar waren. Dafür ist es unerheblich, ob die seitdem verstrichene Zeit - wofür der
Beschwerdeführer keine Verantwortung trägt - wegen Volljährigkeit zu einer unumkehrbaren Situation geführt hat (vgl. Rechtssache S. ./. Deutschland, Urteil vom 10. November 2005, Individualbeschwerde Nr. 40324/98, Randnr. 72).
9. Die Bundesregierung ist bereit, im Falle der Streichung dieses Individualbeschwerdeverfahrens durch den Gerichtshof die Entschädigungsforderungen des Beschwerdeführers in Höhe von 8.000 Euro anzuerkennen. Mit diesem
Betrag gelten sämtliche Ansprüche im Zusammenhang mit der oben genannten Individualbeschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland und die Bundesländer Niedersachsen und Brandenburg als abgegolten.
10. Den Betrag von 8.000 Euro hält die Bundesregierung im Hinblick auf das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Z. für angemessen, da dem Beschwerdeführer lediglich eine Pauschale für die Verfahrenskosten, nicht jedoch
der Ersatz von Nichtvermögensschäden, zusteht.
11. Wie die Rechtssache Z., so weist auch die vorliegende Beschwerde keine Vergleichbarkeit mit der Rechtssache E. (Individualbeschwerde Nr. 25735/94) auf. Ebenso wie in der Rechtssache Z. bleibt im vorliegenden Fall offen, ob
die nationalen Gerichte im Falle der Überprüfung der Alleinsorge der Mutter dem Beschwerdeführer das Sorgerecht bzw. die gemeinsame Sorge zugesprochen hätten. Darüber hinaus genießt der Beschwerdeführer aufgrund der
Vereinbarungen von 2004 und 2006 Umgang mit seiner Tochter. Nach alledem kommt eine Entschädigung für Nichtvermögensschäden nicht in Betracht.
12. In Bezug auf die Verfahrenskosten berücksichtigt die Bundesregierung, dass der Beschwerdeführer zwei innerstaatliche Sorgerechtsverfahren betrieb und erhöht daher den entsprechenden in der Rechtssache Z. zugesprochenen Betrag.
13. Die Bundesregierung beantragt, dass dieses Individualbeschwerdeverfahren gemäß Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c der Konvention aus dem Register gestrichen wird. Die Anerkennung der Verletzung von Artikel 14 in Verbindung
mit Art. 8 der Konvention sowie einer Entschädigungsforderung in Höhe von 8.000 Euro durch die Bundesregierung stellt einen "anderen Grund" im Sinne dieser Vorschrift dar (vgl. Rechtssache Van Houten ./. Niederlande, Urteil
vom 29. September 2005, Individualbeschwerde Nr. 25149/03).
Mit Schreiben vom 15. September 2010 ersuchte der Beschwerdeführer das Gericht, den Antrag der Regierung auf Streichung der Individualbeschwerde abzulehnen. Er machte geltend, dass aus ihrer einseitigen Erklärung nicht
hervorgehe, wem gegenüber er diskriminiert worden sei; ferner habe sie nicht zu seiner Rüge Stellung genommen, dass dem Vater eines nichtehelichen Kindes mit Anerkennung der Vaterschaft kraft Gesetzes nicht das gemeinsame
Sorgerecht eingeräumt werde. Er trug ferner vor, dass der in der Erklärung der Regierung genannte Entschädigungsbetrag unzumutbar niedrig sei, und verlangte 25.000 Euro für immateriellen Schaden und 9.876,65 Euro für Kosten
und Auslagen.
Der Gerichtshof erinnert daran, dass er nach Artikel 37 der Konvention jederzeit während des Verfahrens entscheiden kann, eine Beschwerde in seinem Register zu streichen, wenn die Umstände Grund zu einer der in Absatz 1
Buchstabe a, b oder c genannten Annahmen geben. Insbesondere kann der Gerichtshof nach Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c eine Rechtssache in seinem Register streichen, wenn
"eine weitere Prüfung der Beschwerde aus anderen vom Gerichtshof festgestellten Gründen nicht gerechtfertigt ist."
Er erinnert auch daran, dass er unter bestimmten Umständen eine Beschwerde auch dann nach Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c aufgrund einer einseitigen Erklärung einer beschwerdegegnerischen Regierung streichen kann, wenn der
Beschwerdeführer die Fortsetzung der Prüfung der Rechtssache wünscht.
Zu diesem Zweck prüft der Gerichtshof die Erklärung sorgfältig im Lichte der Kriterien, die sich aus seiner Rechtsprechung ergeben, insbesondere in dem Urteil Tahsin Acar ( siehe Rechtssachen Tahsin Acar ./. Türkei [GK],
Individualbeschwerde Nr. 26307/95, Randnrn. 75-77, EGMR 2003-VI, und Haran ./. Türkei (Streichung), Individualbeschwerde Nr. 25754/94, Randnr. 23, 26. März 2002).
Der Gerichtshof merkt an, dass in vorliegendem Fall die Frage aufgeworfen wird, ob die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs, die der Mutter eines nichtehelichen Kindes das alleinige Sorgerecht einräumen und die Übertragung
der elterlichen Sorge auf den Vater von der Zustimmung der Mutter abhängig machen, ohne die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung einzuräumen, wenn diese Zustimmung verweigert wird, und die in der vorliegenden
Rechtssache ergangenen einschlägigen Entscheidungen der nationalen Gerichte mit Artikel 8 sowohl für sich genommen als auch in Verbindung mit Artikel 14 vereinbar sind.
Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass er in seinem Urteil in der Rechtssache Z. zwar anerkannt hat, dass die ursprüngliche Zuweisung der Alleinsorge für ein nichteheliches Kind an die Mutter zum Schutz des Kindeswohls
gerechtfertigt war, aber festgestellt hat, dass der grundsätzliche Ausschluss einer gerichtlichen Überprüfung der ursprünglichen Zuweisung des alleinigen Sorgerechts an die Mutter nicht in einem angemessenen Verhältnis stand zu
dem verfolgten Ziel, nämlich dem Schutz des Wohls eines nichtehelichen Kindes (Rechtssache Z. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 22028/04, Randnrn. 55 und 63, 3. Dezember 2009). Somit stellte der Gerichtshof eine
Verletzung von Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 8 der Konvention fest und hielt es angesichts dieser Schlussfolgerung nicht für erforderlich zu prüfen, ob auch Artikel 8 der Konvention für sich genommen verletzt worden ist.
Der Gerichtshof stellt fest, dass die Erklärung der Regierung die Anerkennung umfasst, dass der Beschwerdeführer auch durch den grundsätzlichen Ausschluss einer gerichtlichen Überprüfung der ursprünglichen Zuweisung der
Alleinsorge an die Kindesmutter in der vorliegenden Rechtssache in seinem Recht aus Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 8 der Konvention verletzt worden ist.
Der Gerichtshof merkt ferner an, dass das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil vom 14. Juli 2010, in dem es u. a. auf das Urteil Z. verwies, festgestellt hat, dass die maßgeblichen Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs (§§
1626a Abs. 1 Nr. 1 und 1672 Abs. 1) verfassungswidrig seien. Das Bundesverfassungsgericht erließ bis zum Inkrafttreten der erforderlichen gesetzlichen Neuregelung eine verbindliche Übergangsregelung, nach der die genannten
Bestimmungen mit der Maßgabe anzuwenden sind, dass das Familiengericht den Eltern auf Antrag eines Elternteils die elterliche Sorge oder einen Teil der elterlichen Sorge für ein nichteheliches Kind gemeinsam überträgt, soweit zu
erwarten ist, dass dies dem Kindeswohl entspricht.
Unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Falls, der Art des in der Erklärung der Regierung enthaltenen Eingeständnisses und der vorgeschlagenen Entschädigungssumme, die den in der Rechtssache Z. zugesprochenen
Beträgen entspricht, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass eine weitere Prüfung der Beschwerde nicht gerechtfertigt ist (Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c).
Im Lichte der vorstehenden Erwägungen ist der Gerichtshof überzeugt, dass die Achtung der Menschenrechte, wie sie in der Konvention und den Protokollen dazu definiert sind, keine weitere Prüfung der Beschwerde erfordert
(Artikel 37 Abs. 1 in fine).
In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen ist es angezeigt, die Rechtssache im Register zu streichen. ..." (EGMR, Entscheidung vom 07.12.2010 - 38102/04)
***
Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) ist anwendbar, wenn der Gegenstand der Benachteiligung eine Form der Ausübung eines in der Konvention garantierten Rechts oder damit verbunden ist. Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des
Privat- und Familienlebens) verpflichtet den Staat nicht dazu, kinderreiche Familien finanziell zu unterstützen. Diese Unterstützung fällt aber in den Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK, so dass auch Art. 14 EMRK anwendbar ist.
Eine unterschiedliche Behandlung ausschließlich wegen der Staatsangehörigkeit ist mit der Konvention nur vereinbar, wenn es dafür besonders wichtige Rechtfertigungsgründe gibt. Weil das im vorliegenden Fall nicht so
ist, ist Art. 14 i. V. mit Art. 8 EMRK verletzt (EGMR, Urteil vom 28.10.2010 - 40080/07 zu EMRK Art. 8, 14, 41, BeckRS 2011, 17202).
***
Die Kündigung des Beschwerdeführers wegen Ehebruchs und Bigamie greift in sein Recht auf Achtung des "Privatlebens" i. S. von Art. 8 EMRK ein, ein umfassender Begriff, der einer erschöpfenden Definition nicht zugänglich ist.
Dabei geht es um die Frage, ob Deutschland im Rahmen seiner positiven Pflichten aus Art. 8 EMRK verpflichtet war, dem Beschwerdeführer dieses Recht der katholischen Kirchengemeinde gegenüber zu garantieren. In dem
Zusammenhang kommt es entscheidend darauf an, ob die deutschen Gerichte das Interesse der katholischen Kirchengemeinde auf Schutz ihrer Glaubwürdigkeit und die Interessen des Beschwerdeführers zu einem fairen Ausgleich
gebracht haben. Für die katholische Kirche ist die eheliche Treue ein zentrales Gebot ihrer Glaubens- und Sittenlehre, Ehebruch eine schwere sittliche Verfehlung. Nach Auffassung der deutschen Gerichte widersprechen diese
Vorgaben der Kirche nicht der Rechtsordnung. Zu ihr gehören aber auch die Grund- und Freiheitsrechte der Konvention, darunter das Recht des Art. 8 EMRK. Mit Unterzeichnung seines Arbeitsvertrags hat der Beschwerdeführer der
Kirche gegenüber aus freien Stücken Loyalitätspflichten übernommen, die seine Rechte nach Art. 8 EMRK bis zu einem gewissen Grad eingeschränkt haben. Das ist grundsätzlich zulässig. Allerdings hatte der Beschwerdeführer nicht
versprochen, im Fall einer Trennung oder Scheidung von seiner Ehefrau bis an das Ende seiner Tage enthaltsam zu leben. Bei Abwägung der unterschiedlichen Interessen haben die Arbeitsgerichte die Rechte und Interessen des
Beschwerdeführers nicht ausreichend berücksichtigt. Das betrifft insbesondere die beruflichen Folgen der Kündigung für den Betroffenen. Damit haben sie das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privat- und
Familienlebens nicht ausreichend geschützt und folglich gegen Art. 8 EMRK verstoßen (EGMR, Urteil vom 23.09.2010 - 1620/03 zu EMRK Art. 8, 9, 11, 35 III, 41, BeckRS 2010, 24772).
***
Der Begriff des "Privatlebens" i. S. von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) ist umfassend und schließt u. a. die geschlechtliche Identität, die sexuelle Orientierung und das Sexualleben ein. Auch eine
über Jahre gelebte Gefühls- und Sexualbeziehung zweier Personen gehört zum Privatleben i. S. dieser Vorschrift. Das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK gilt nur für Rechte und Freiheiten, welche die Konvention und die
Protokolle garantieren, d. h. der Sachverhalt, um den es in einem konkreten Fall geht, muss in den Anwendungsbereich wenigstens einer ihrer materiellen Vorschriften fallen. Art. 8 EMRK gibt einen Anspruch auf eine
Hinterbliebenenrente, doch das französische Recht garantiert ausdrücklich ein solches Recht. Frankreich ist also über seine Verpflichtungen nach Art. 8 EMRK hinausgegangen, was es nach Art. 53 EMRK tun kann. Damit ist Art. 8
EMRK in diesem Fall anwendbar, und folglich greift auch Art. 14 EMRK. Nach französischem Recht ist die Ehe Voraussetzung für die Zahlung einer Hinterbliebenenrente. Der Beschwerdeführer, der eine Lebenspartnerschaft nach §
515-1 ff. französischer Code civil ("PACS") eingegangen war, war damit beim Tod seines Partners nicht in derselben Lage wie ein überlebender Ehegatte. Dass das französische Recht die Eheschließung gleichgeschlechtlicher Partner
nicht gestattet, genügt allein nicht, den Beschwerdeführer hinsichtlich des Anspruchs auf eine Hinterbliebenenrente mit einem überlebenden Ehegatten gleichzustellen. Im Übrigen war seine sexuelle Orientierung nicht der Grund für
die Weigerung, ihm eine Hinterbliebenenrente zu zahlen. Nach französischem Recht haben Partner einer PACS keinen Anspruch auf eine solche Rente. Das französische Gesetz, das den Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente an die
Ehe knüpft, verfolgt damit ein berechtigtes Ziel, nämlich den Schutz der durch das Band der Ehe begründeten Familie. Eine Diskriminierung liegt insofern nicht vor. Die Beschwerde ist also offensichtlich unbegründet (EGMR,
Entscheidung vom 21.09.2010 - 66686/09 zu EMRK Art. 8, 14, 35 III, IV).
***
Eine Beschwerde kann nach Art. 37 I lit. b EMRK im Register gestrichen werden, wenn der vom Beschwerdeführer gerügte Umstand nicht mehr besteht und die Wirkungen einer möglichen Verletzung wieder gutgemacht worden
sind. Seit Verabschiedung der Konvention hat es bei der Institution der Ehe erhebliche soziale Veränderungen gegeben. Es gibt aber keinen europäischen Konsens über die Zulässigkeit einer Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen
Partnern, die zur Zeit von nicht mehr als sechs der 47 Vertragsstaaten erlaubt wird. Art. 9 der Europäischen Grundrechtecharta (GR-Charta, Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen) hat bewusst abweichend von Art.
12 EMRK (Recht auf Eheschließung) den Hinweis auf Männer und Frauen weggelassen. Art. 9 GR-Charta verweist aber auf die einzelstaatlichen Gesetze und überlässt ihnen die Entscheidung, ob eine Ehe zwischen Partnern
desselben Geschlechts zugelassen werden soll. Dabei wird nicht verlangt, dass die staatliche Gesetzgebung solche Ehen erleichtert. Unter Berücksichtigung von Art. 9 GR-Charta nimmt der Gerichtshof nicht mehr an, dass das in Art.
12 EMRK garantierte Recht, eine Ehe einzugehen, unter allen Umständen auf eine Ehe zwischen zwei Personen unterschiedlichen Geschlechts beschränkt ist. Die Vorschrift verpflichtet die Staaten aber nicht dazu,
gleichgeschlechtliche Ehen zu ermöglichen. Die gleichgeschlechtliche Partnerschaft eines Paares fällt unter den Begriff „Privatleben" i. S. von Art. 8 EMRK (Schutz des Privat- und Familienlebens). Unter Aufgabe seiner bisherigen
Rechtsprechung nimmt der Gerichtshof an, dass die Beziehung der Bf., die als gleichgeschlechtliches Paar in einer stabilen de facto-Partnerschaft zusammenleben, auch unter den Begriff des „Familienlebens" i. S. von Art. 8 EMRK
fällt. Die Staaten haben einen Ermessensspielraum, welche Rechte sie einem gleichgeschlechtlichen Paar in einer eingetragenen Partnerschaft einräumen (EGMR, Urteil vom 24.06.2010 - 30141/04 zu EMRK Art. 8, 12, 14, 34, 35, 37;
Zusatzprotokoll zur EMRK Art. 1, BeckRS 2011, 01470).
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Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) garantiert einen Rechtsbehelf für Beschwerden, die nach der Konvention vertretbar sind. Er muss "wirksam" sein, das heißt insbesondere, er muss der "innerstaatlichen Instanz"
ermöglichen, über die Begründetheit der Beschwerde zu entscheiden und im Fall einer Rechtsverletzung angemessene Abhilfe zu schaffen. Dass den Beschwerdeführern in Griechenland ein solcher Rechtsbehelf zur Verfügung stand,
hat der beklagte Staat nicht nachgewiesen. Damit ist Art. 13 EMRK verletzt und die von der Regierung erhobene Einrede der Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe (Art. 35 I EMRK) zurückzuweisen. Die Gedanken-,
Gewissens- und Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK ist ein Grundpfeiler der "demokratischen Gesellschaft" i.S. der Konvention. Sie ist in ihrer religiösen Dimension einer der wichtigsten Elemente, das die Identität der Gläubigen und
ihre Auffassung vom Leben bestimmt. Doch sie ist auch ein wertvolles Gut für Atheisten, Agnostiker, Skeptiker und Gleichgültige. Der von einer demokratischen Gesellschaft untrennbare Pluralismus - teuer erkauft über die
Jahrhunderte - hängt von ihr ab. Zur Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK gehört auch die Freiheit, einer Religion nicht anzugehören oder sie nicht zu praktizieren, sowie das Recht des Einzelnen, seine Religionszugehörigkeit oder seine
religiösen Überzeugungen nicht bekunden zu müssen. Staatliche Behörden haben nicht das Recht, in die Gewissensfreiheit des Einzelnen einzugreifen und nach seinen religiösen Überzeugungen zu fragen oder ihn zu zwingen, seine
Glaubensüberzeugungen zu offenbaren. Um vor Beginn ihrer Vernehmung als Zeugen eine feierliche Erklärung abgeben zu können, anstatt einen Eid auf die Bibel zu leisten, mussten die Beschwerdeführer angeben, dass sie nicht
orthodoxe Christen seien. Damit mussten sie vor den griechischen Gerichten, öffentlich oder nicht, ihre religiösen Überzeugungen offen legen. Diese Regelung, die für den Strafprozess, aber nicht für den Zivilprozess in Griechenland
gilt, verstößt gegen die Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK (EGMR, Urteil vom 03.06.2010 - 42837/06, 3237/07, 3269/07, 35793/07 u. 6099/08, 42837/06 u a zu EMRK Art. 6, 8, 9, 13, 14, 34, 35 III, IV, 41, 46).
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Eine gerichtliche Sorgerechtsregelung, die das Sorgerecht für ein Kind dem Vater und das Sorgerecht für das andere Kind der Mutter zuspricht und darüber hinaus vorsieht, dass zu bestimmten Zeiten des Jahres die Kinder
ausgetauscht werden, ohne zugleich ein regelmäßig wiederkehrendes Umgangsrecht vorzusehen, hat zur Folge, dass die Kinder einander entfremdet werden, weil sie sich zu keiner Zeit bei einem Elternteil begegnen. Eine solche
Regelung verletzt das Recht des einen Elternteils und des bei ihm lebenden Kindes auf Schutz des Familienlebens (Art. 8 EMRK; EGMR, Entscheidung vom 06.04.2010 - 4694/03):
„... ALLEGED VIOLATION OF ARTICLE 8 OF THE CONVENTION
14. The applicants complained that the decision of the domestic court preventing the two children from seeing each other infringed their right to respect for their family life within the meaning of Article 8 of the Convention, the
relevant part of which reads as follows:
‚1. Everyone has the right to respect for his ... family life,...
2. There shall be no interference by a public authority with the exercise of this right except such as is in accordance with the law and is necessary in a democratic society ... for the protection of health or morals, or for the protection of
the rights and freedoms of others."
15. The Government contested that argument.
A. Admissibility
16. The Court notes that this complaint is not manifestly ill-founded within the meaning of Article 35 § 3 of the Convention. It further notes that it is not inadmissible on any other grounds. It must therefore be declared admissible.
B. Merits
17. The applicants argued that the domestic court's decision amounted to an unjustified interference with their right to respect for their family life, Moreover, in reaching their decisions the domestic court had failed to observe and
protect the best interests of the two children.
18. The Government were of the opinion that the decisions adopted by the domestic courts had not prevented the two siblings from seeing each other; as the children were living in the same neighbourhood, contact was possible. In any
event, if the applicants' requests had been accepted by the domestic courts, Damla would have spent one weekend with her mother and the next weekend with her father. This, in the opinion of the Government, would have adversely
affected her development.
19. The Court considers at the outset that there can be no doubt that a bond amounting to family life within the meaning of Article 8 § 1 of the Convention exists between the parents and the children born from their marriage-based
relationship, as is the case in the present application. Such a natural family relationship is not terminated by reason of the fact that the parents separate or divorce, as a result of which the child ceases to live with one of its parents (see
Ciliz v. the Netherlands, no. 29192/95, § 59, ECHR 2000-VIII and the cases cited therein). Likewise, the Court considers that family life within the meaning of the same provision also exists between the second applicant Armagan and
his sister Damla, with whom he lived in the same house until the divorce of his parents in 2000 (see, inter alia, Olsson v. Sweden (no. 1), 24 March 1988, § 81, Series A no. 130). Noting, in any event, that the existence of a family life
in the instant case is not disputed by the parties, the Court will proceed to examine whether the applicants' right to respect for their family life has been adequately protected.
20. The Court reiterates that the essential object of Article 8 is to protect the individual against arbitrary action by the public authorities. There are in addition positive obligations inherent in effective ‚respect" for family life. However,
the boundaries between the State's positive and negative obligations under this provision do not lend themselves to precise definition. The applicable principles are, nonetheless, similar. In both contexts regard must be had to the fair
balance that has to be struck between the competing interests and in both contexts the State enjoys a certain margin of appreciation (see Tuquabo-Tekle and Others v. the Netherlands, no. 60665/00, § 42, 1 December 2005).
21. In the present case the Court considers that the decision of the Ödemis Court separating the two siblings constituted an interference with the applicants' right to respect for their family life. It not only prevented the two siblings from
seeing each other, but also made it impossible for the first applicant to enjoy the company of both his children at the same time. Having regard to the facts of the present application, and in particular the fact that the domestic courts
have been requested on a number of occasions by the applicants to reconsider their decisions, the Court deems it more appropriate to examine whether the respondent State complied with its positive obligation and whether its
authorities acted with a view to maintaining and developing the family ties.
22. In its examination the Court will take into account its case-law under Article 8 of the Convention, which emphasises the authorities' obligation to have regard to the best interests of the child (see Maslov v. Austria [GC], no.
1638/03, § 82, 23 June 2008). Moreover, an assessment of the quality of the decision-making process requires the Court to establish whether the conclusions of the domestic authorities had a sufficient evidentiary basis (including, as
appropriate, statements by witnesses, reports by competent authorities, psychological and other expert assessments and medical notes) and whether the interested parties, including the children themselves, were able to express their
views (see, for example, Havelka and Others v. the Czech Republic, no. 23499/06, § 62, 21 June 2007; Haase v. Germany, no. 11057/02, § 97, ECHR 2004-III (extracts)).
23. The Court notes at the outset that the custody of the second applicant and his younger sister was determined by the Ödemis Court of its own motion; neither parent had requested the judge to make such a determination. In fact, the
mother had asked the Ödemis Court for the custody of both children (see paragraph 6 above). The Court is thus struck by the absence of reasoning justifying the separation of the children.
24. The Government submitted that the decisions adopted by the domestic courts had not prevented the two siblings from seeing each other because the children were living in the same neighbourhood and it was thus possible for them
to keep in contact. The Court cannot accept that argument and considers that maintaining the ties between the children is too important to be left to the discretion and whim of their parents. Indeed, it is not disputed by the Government
that the children were prevented by their mother from even speaking to each other when they saw each other in the street.
25. On two occasions the applicants made pertinent submissions to the Ödemis Court and argued that the access arrangements was rupturing the family ties between them and Damla (see paragraphs 8 and 10). They also submitted that
the situation was causing irreversible psychological problems for the children. The Ödemis Court was informed about the mother's uncooperative behaviour. Nevertheless, it concluded that regulating contact between the applicants and
Damla in the way sought by the applicants would mean ‚a continual change of environment for her and would confront her with variations in discipline".
26. The Court cannot concur with that conclusion for a number of reasons. Firstly, it notes that no explanation was given by the Ödemis Court as to exactly how and why allowing the two siblings to spend time together every weekend
would confront Damla with variations in discipline or would amount to an unacceptable change of environment, especially given the fact that they lived in the same neighbourhood. In the alternative, even if it deemed the access
arrangements proposed by the applicants to be unsuitable, it would have been possible for the Ödemis Court to consider other methods of access between the two children and thus uphold their rights under Article 8 of the Convention.
27. Neither did the Ödemis Court seek to differentiate the case from those of the Court of Cassation's previous decisions which had been relied on by the applicants in support of their submissions and from which it appears that the
established practice of the judiciary in Turkey is to ensure that contact between the children of divorced couples is maintained (see paragraph 12 above). Moreover, the Court observes that the Ödemis Court did not only fail to seek the
opinion of the children but also failed to base its decision on any evidence, such as psychological and other expert assessments, despite the fact that it was informed by the applicants that the situation had been causing them
psychological problems.
28. Neither can the Court accept the Government's argument that allowing Damla to spend every other weekend with her father would have adversely affected her development, in the absence of solid evidence in support of that
submission, such as the psychological or other expert assessments referred to in the preceding paragraph. At this juncture the Court reiterates that, contrary to the Government's submission, the mutual enjoyment by parents and
children of each other's company constitutes a fundamental element of ‚family life" within the meaning of Article 8 of the Convention (see Kutzner v. Germany, no. 46544/99, § 58, ECHR 2002-I and the cases cited therein).
29. The Court also observes with regret that, despite the importance of the case it had before it, in its decision rejecting the appeal the Court of Cassation did not address the two detailed submissions made by the applicants which
included references to its own case-law concerning the need for siblings to keep in contact (see paragraphs 12-13 above) but merely held that the Ödemis Court had ‚adequately examined the evidence available to it and that its
conclusion had been in accordance with the applicable legislation".
30. In the light of the foregoing, the Court considers that the domestic courts' handling of the applicants' case, during which they failed to have due regard to the best interests of the family, fell short of the State's positive obligation.
There has therefore been a violation of Article 8 of the Convention. ..."
***
Ausweisung eines Ausländers und Achtung des Familienlebens (EGMR, Entscheidung vom 25.03.2010 - 40601/05):
„... I. DIE UMSTÄNDE DES FALLES
5. Der Beschwerdeführer wurde im Mai 1981 in F. (im Folgenden als „F." bezeichnet) geboren. Seine Eltern sind jordanische Staatsangehörige und stammen aus der Region von Dschenin im Westjordanland. Sein (1993 verstorbener)
Vater war Anfang der sechziger Jahre nach Deutschland ausgewandert. Seine (1999 eingebürgerte) Mutter war ihrem Ehemann 1978 nachgezogen. Zwei Brüder des Beschwerdeführers leben in Deutschland, gegen den Dritten ist eine
Ausweisungsverfügung ergangen, er lebt seit Oktober 2004 in Amman in Jordanien.
6. Der Beschwerdeführer hat seine gesamte Schulzeit in Deutschland verbracht. Er begann zwei Ausbildungen, die er nach drei bzw. fünf Monaten abbrach. Im Januar 1992 erhielt er eine Aufenthaltsgenehmigung für die Dauer von
fünf Jahren. Am 25. Juni 1997 erteilten ihm die Verwaltungsbehörden eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Im Rahmen eines Einbürgerungsverfahrens erteilte das Regierungspräsidium Darmstadt am 26. Oktober 1999 eine
Einbürgerungszusicherung, mit der dem Beschwerdeführer die Einbürgerung für den Fall zugesagt wurde, dass der Verlust der jordanischen Staatsangehörigkeit nachgewiesen werde. Diese bis zum 30. Oktober 2000 geltende
Zusicherung wurde unter dem Vorbehalt erteilt, dass sich die Sach- und Rechtslage des Beschwerdeführers, insbesondere die persönlichen Verhältnisse nicht ändern.
A. Die verschiedenen strafrechtlichen Verurteilungen des Beschwerdeführers
7. Im Juli 1997 wurde gegen den Beschwerdeführer ein Ermittlungsverfahren geführt, weil er das Opfer mit einer Bierflasche geschlagen und mit einer Schreckschusspistole auf das Opfer geschossen hatte. Der Beschwerdeführer hatte
die Handlungen teilweise eingeräumt. Über den Ausgang dieses Verfahrens ist nichts bekannt. Ein Ermittlungsverfahren wegen mehrerer Ladendiebstähle wurde in Anbetracht der Straftaten, die zur Verurteilung des
Beschwerdeführers wegen räuberischer Erpressung führten, eingestellt (Randnummer 9).
8. Die Staatsanwaltschaft in Frankfurt nahm am 18. Dezember 1997 davon Abstand, die gegen den Beschwerdeführer insbesondere wegen gefährlicher Körperverletzung eingeleiteten Ermittlungsverfahren fortzuführen, weil dieser
sich bemüht hatte, einen Ausgleich mit dem Opfer zu erreichen.
9. Am 28. April 1998 wurde der Beschwerdeführer wegen räuberischer Erpressung und gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von elf Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Das Strafgericht hob hervor,
der Beschwerdeführer habe nach einer Auseinandersetzung in einer S-Bahnstation dem Opfer einen 3cm langen Messerstich in den Bauch versetzt. Es warnte den Beschwerdeführer davor, künftig ein Messer mit sich zu führen, und
legte dar, dass bereits die Bedrohung eines anderen Menschen mit einer solchen Waffe zum Widerruf der Strafaussetzung führen dürfte.
10. Am 22. Juni 1998 stellte die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen Köperverletzung in Anbetracht der Straftaten ein, die zu dessen strafrechtlicher Verurteilung vom 14. Juli 1998 führten
(Randziffer 11 unten).
11. Am 14. Juli 1998 verurteilte das Amtsgericht in Frankfurt den Beschwerdeführer wegen Diebstahls und Führens eines Kraftfahrzeugs ohne Fahrerlaubnis und gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtjugendstrafe von einem
Jahr und zehn Monaten. In dieser Strafe war die vorausgegangene Verurteilung einbezogen worden. Die zur Last gelegten Straftaten sind zwischen November 1997 und Februar 1998 begangen worden. Den Feststellungen des Gerichts
zufolge hatte der Beschwerdeführer das Opfer im Lauf eines Streits in einer S-Bahnstation aufgefordert, sich mit ihm zu schlagen. Da dieses sich weigerte, hatte er es verfolgt und ihm einen Messerstich in den Oberarm versetzt. Das
Strafgericht stellte fest, dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Handlungen bereits wegen gefährlicher Körperverletzung strafrechtlich verfolgt worden ist, was ihn aber nicht davon abhalten konnte, erneut Taten gleicher Art zu
begehen. Es hob hervor, das Opfer habe nur deshalb keine schwereren (Rücken-) Verletzungen erlitten, weil dieses sich in dem Augenblick, als der Beschwerdeführer ihm einen Messerstich versetzen wollte, plötzlich umgedreht habe.
Zu Gunsten des Beschwerdeführers stellte es fest, dieser habe die Taten in vollem Umfang eingeräumt, stehe seit längerem in Kontakt mit einer Sozialarbeiterin und es sei bei ihm eine Verhaltensänderung festzustellen.
12. Am 29. März 2000 wurde der Beschwerdeführer wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte zur Ableistung von zwanzig Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt. Bei dieser Gelegenheit wurde er ausdrücklich über die
Folgen einer erneuten Verurteilung belehrt.
13. Zwischen Mai und Juli 2000 beging der Beschwerdeführer fünf Straftaten, nämlich (gefährliche) Körperverletzung, Sachbeschädigung und Beleidigung, deretwegen er am 13. Februar 2001 zu einer unbedingten
Gesamtjugendstrafe von zwei Jahren und elf Monaten verurteilt wurde. Bei dieser Strafe fanden die anlässlich der beiden vorangegangenen Verurteilungen verhängten Strafen Berücksichtigung. Den Feststellungen des Gerichts
zufolge hatte der Beschwerdeführer unter anderem eines der Opfer, eine junge Frau, die er bei einem Straßenfest in Frankfurt getroffen hatte, aufgefordert, ihm eine Telefonnummer zu geben. Da diese sich weigerte und ihm gegenüber
eine obszöne Geste machte, hatte der Beschwerdeführer sie beschimpft und ins Gesicht geschlagen, sie danach gegen eine Schaufensterscheibe geschleudert und einer Freundin des Opfers, die eingeschritten war, einen heftigen Tritt in
den Unterleib versetzt. Danach hatte der Beschwerdeführer das Opfer heftig mit der Faust auf ihr rechtes Auge geschlagen. Die durch diesen Schlag verursachten Verletzungen erforderten mehrere ärztliche Eingriffe.
Bei der Bemessung der Strafe hob das Strafgericht hervor, der Beschwerdeführer habe diese neuen Straftaten im Laufe der Bewährungsfrist begangen und die Schwere der Taten habe sich gesteigert. Außerdem habe die in der
Hauptverhandlung vom 14. Juli 1998 ausgesprochene Warnung bezüglich der Gefahr eines Widerrufs seiner Bewährung den Beschwerdeführer nicht bremsen können, der nicht in der Lage sei, seine Aggressionen zu zügeln, und seine
Gewalttätigkeit zu Lasten Anderer auslebe. Das Gericht führte aus, dass es eine Strafe unter drei Jahren festgesetzt hatte, um dem Beschwerdeführer - zumindest theoretisch - eine Ausweisungsverfügung zu ersparen.
B. Das Ausweisungsverfahren
1. Das Eilverfahren und die Abschiebungen des Beschwerdeführers
14. Am 19. März 2002 verfügte die Stadt Wiesbaden die Ausweisung des Beschwerdeführers mit unbefristeter Wirkung und ordnete seine Abschiebung nach Jordanien an. Sie wies insbesondere darauf hin, dass der Beschwerdeführer
zwar auf Integrationsprobleme in Jordanien stoße, das ihm als Land teilweise fremd sei, das er nur von drei Urlaubsaufenthalten kenne und dessen Sprache er nur bedingt beherrsche, diese Schwierigkeiten jedoch im Falle der
Abschiebung eines Ausländers nach einem langen Aufenthalt im Aufnahmestaat typisch seien. Sie fügte hinzu, dass seine Integration, da ein Halbbruder des Beschwerdeführers in Jordanien lebe, leichter sein dürfte als für Ausländer,
die keine verwandtschaftlichen Beziehungen im Heimatland haben.
15. Am 13. Juni 2002 wies das Verwaltungsgericht Wiesbaden den Antrag des Beschwerdeführers auf vorläufige Aussetzung seiner Abschiebung zurück. Sie hob insbesondere hervor, der Beschwerdeführer habe selbst erklärt, so gut
arabisch zu sprechen, wie ein Russe oder Pole deutsch spreche, der sich seit zwei Jahren in Deutschland aufhalte. Nach Ansicht des Gerichts durfte dies zur Orientierung des Beschwerdeführers in Jordanien ausreichen, zumal dort
zwei Halbbrüder aus jeweils erster Ehe seiner Eltern lebten. Im Übrigen könne, da der Beschwerdeführer keine weiteren Aspekte geltend gemacht habe, die auch eine unzulängliche Beherrschung des Arabischen unter Beweis stellen,
davon ausgegangen werden, dass diese Sprache innerhalb der Familie gesprochen worden und dem Beschwerdeführer nicht völlig fremd gewesen sei. Unzulängliche schriftliche Sprachkompetenzen des Arabischen würden kein
Hindernis für eine Abschiebung darstellen. 16. Am 14. Juni 2002 wies der Hessische Verwaltungsgerichtshof die von dem Beschwerdeführer am Vortag erhobene Beschwerde zurück. 17. An demselben Tag wurde er aus der Haft
entlassen und nach Jordanien abgeschoben. 18. Am 7. Oktober 2002 kehrte er heimlich und ohne Wissen seines Anwalts nach Deutschland zurück. Ein erneuter Antrag auf Abänderung der Entscheidung des Verwaltungsgerichts
wurde von diesem Gericht und anschließend vom Verwaltungsgerichtshof zurückgewiesen.
19. Am 7. Oktober 2004 wurde der Beschwerdeführer verhaftet und zur Verbüßung der Reststrafe in Haft genommen. Am 26. Oktober 2004 wurde er wegen unerlaubter Einreise ins Bundesgebiet und unerlaubten Aufenthalts im
Bundesgebiet zu einer Geldstrafe verurteilt. Das Strafgericht stellte u.a. fest, der Beschwerdeführer spreche akzentfrei Deutsch und beherrsche die arabische Sprache nur schlecht. Seine illegale Rückkehr sei mangels Bindungen zu
Jordanien menschlich zwar nachvollziehbar, seine Abschiebung habe er aber selbst verschuldet. Als erwachsener Mann könne ihm das Leben in einem fremden Land zugemutet werden.
20. Am 24. Juli 2006 wurde der Beschwerdeführer erneut nach Jordanien abgeschoben. Er lebt zurzeit mit einem Bruder, dessen Ausweisung im Oktober 2004 ebenfalls verfügt worden war, in einer Wohnung in Amman.
2. Das Hauptverfahren
a. Das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht
21. Im Anschluss an die Zurückweisung seines Widerspruchs am 26. August 2002 durch das Regierungspräsidium Darmstadt strengte der Beschwerdeführer das Hauptverfahren vor dem Verwaltungsgericht Wiesbaden an.
22. Im Verlauf dieses Verfahrens legte er zwei eidesstattliche Versicherungen vor, eine von seiner Mutter und eine andere von T., einer Beschäftigten der Jugendberatung, die ihn seit einiger Zeit betreute.
23. In ihrer Versicherung vom 2. September 2002 schilderte T. die Schwierigkeiten, denen der Beschwerdeführer und sein Bruder W. wegen ihrer unzulänglichen Beherrschung der arabischen Sprache in der Jordanischen Botschaft in
Deutschland begegnet seien. Der Bruder sei nicht in der Lage gewesen, mit dem Bediensteten der Botschaft zu sprechen, und man habe der Mutter vorgeworfen, ihre Muttersprache nicht an ihre Kinder weitergegeben zu haben. T.
erklärte auch, dass sie sich vom 13. bis zum 18. August 2002 in Amman aufgehalten habe. Ihren Ausführungen zufolge ist der Beschwerdeführer nicht in der Lage gewesen, ohne seine Mutter zu leben, insbesondere die
Behördengänge wegen seines Passes zu unternehmen oder ein Taxi in der Innenstadt Ammans zu nehmen, um zu seiner am Stadtrand gelegenen Wohnung zu gelangen. T. merkte auch an, dass der Halbbruder des Beschwerdeführers
diesen nicht unterstütze, dass die Mutter des Beschwerdeführers hierzu nicht über ausreichende Mittel verfüge und dass der Beschwerdeführer selbst wegen seiner fehlenden Arabischkenntnisse keine Arbeitsmöglichkeiten habe. In
ihrer Versicherung vom 28. Oktober 2002 bestätigte die Mutter des Beschwerdeführers, dass sie sich in dem Zeitpunkt, in dem der Beschwerdeführer nach Jordanien abgeschoben worden sei, in Amman in Urlaub befunden habe. Sie
erklärte, dass sie mit dem Sohn ihres ersten Ehemannes, den sie nur zweimal in ihrem Leben gesehen und zu dem sie auch kein gutes Verhältnis habe, Kontakt aufgenommen hatte. Da sie sich um die Angelegenheiten ihres Sohnes
habe kümmern müssen, der nicht in der Lage gewesen sei, diese selbst zu regeln, sei sie schließlich erst am 15. Oktober 2002 nach Deutschland zurückgekehrt.
24. In der mündlichen Verhandlung vom 28. April 2004 hörte das Verwaltungsgericht die Mutter des Beschwerdeführers und T. an. Dem Verwaltungsgericht zufolge hatte die Mutter angegeben, dass ihre sieben Geschwister alle mit
ihren Familien in der Nähe von Dschenin im Westjordanland leben, ebenso ihr ältester Sohn aus ihrer ersten Ehe. Von ihren vier Söhnen aus ihrer zweiten Ehe, die alle in Deutschland lebten, arbeite einer, zwei seien in Haft und der
Jüngste sei arbeitslos. Sie erklärte, dass ihr Mann Alkoholiker gewesen sei und sie geschlagen habe. Innerhalb der Familie hätten sie mit dem Beschwerdeführer bis zu dessen dritten Lebensjahr arabisch gesprochen. Danach hätten die
Kinder ab dem Zeitpunkt, zu dem der Betroffene den Kindergarten besucht habe, deutsch mit ihr und untereinander gesprochen, während sie selbst weiterhin arabisch mit ihnen gesprochen habe.
25. Mit Urteil vom 3. Mai 2004 wies das Verwaltungsgericht die Klage des Beschwerdeführers ab. Es stellte heraus, dass es sich angesichts der Verurteilung des Beschwerdeführers zu einer Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren
und des Fehlens besonderer Umstände um eine Regelausweisung nach § 47 Abs. 2 Nr. 1 des Ausländergesetzes (Randnummer 33 unten) handele, zumal die Strafe nur einen Monat unter der Schwelle von drei Jahren geblieben sei, die
gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 1 des genannten Gesetzes zu einer Ist-Ausweisung führe. Es führte auch aus, dass die Tatsache, dass der Beschwerdeführer in Deutschland geboren sei, kein besonderer Umstand im Sinne des § 47 Abs. 2 sei,
dass dieser Aspekt bereits bei der Anwendung des § 48 Abs. 1 des Ausländergesetzes Berücksichtigung gefunden habe, dem zufolge ein Ausländer besonderen Schutz genießt, so dass die Ausweisung nicht mehr die Regel sei, sondern
im Ermessen der Verwaltung liege.
26. Das Verwaltungsgericht betonte die Schwere der begangenen Straftaten und wies darauf hin, dass sich die kriminelle Energie des Beschwerdeführers mit den weiteren Verurteilungen verstärkt habe. Es wies daraufhin, dass
Jordanien zwar ein nahezu unbekanntes Land für den Beschwerdeführer sei, dies jedoch auch keinen außergewöhnlichen Umstand darstelle. Der Erklärung der Mutter zufolge hat der Beschwerdeführer in seinen ersten Lebensjahren
arabisch mit seinen Eltern gesprochen und sie selbst habe weiterhin mit ihm in dieser Sprache gesprochen. Das Gericht war daher der Meinung, dass der Betroffene folglich über so viel Kenntnisse der arabischen Sprache verfügt, dass
er diese versteht und sich im Alltagsleben in dieser Sprache - wenn auch holprig und weniger flüssig - artikulieren kann. Die von T. bei ihrem Aufenthalt in Amman gemachte Beobachtung, dass die Mutter für den Beschwerdeführer
das Wort ergriffen habe, hielt das Verwaltungsgericht für eine vorübergehende Situation. Angesichts seiner schulischen Leistungen und seiner geistigen Fähigkeiten stehe außer Zweifel, dass der 23-jährige Beschwerdeführer in der
Lage sei, sich in das kulturelle und ökonomische Umfeld in Jordanien zu integrieren. Es sei ihm im Übrigen zuzumuten, dass er sich im Bedarfsfall an seinen Halbbruder wendet, auch wenn, wie die Mutter vorgetragen hatte, er sich
nicht gern etwas von diesem sagen lässt. Schließlich meinte das Gericht, dass dem Beschwerdeführer trotz der schwierigen familiären Verhältnisse, die er in seiner Kinder- und Jugendzeit erlebt habe und die außerdem von den
Verwaltungsbehörden berücksichtigt worden seien, hätte klar gewesen sein müssen, dass seine kriminellen Handlungen, die fast schon als exzessiv zu nennen seien, zu drastischen Konsequenzen führen würden, zu denen nicht nur
strafrechtliche Sanktionen, sondern auch ausländerrechtliche Maßnahmen zählten. Das Verwaltungsgericht legte dar, dass der Beschwerdeführer zwar faktisch als Inländer zu betrachten sei, jedoch weiterhin dem Ausländerrecht unterliege.
27. Das Verwaltungsgericht war der Auffassung, dass die Ausweisung Artikel 8 der Konvention nicht entgegenstehe. Die Ausweisung eines Ausländers könne zwar den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzen, insbesondere wenn es
sich um einen Ausländer der zweiten Generation handele, jedoch sei dies nur unter außergewöhnlichen Umständen der Fall, die vorliegend nicht gegeben seien. Es bestünde weiterhin die Gefahr der Begehung weiterer Gewalttaten
durch den Beschwerdeführer. Dem Gericht erschien es eher zufällig, dass das Opfer der Straftat, die zur Verurteilung des Beschwerdeführers im April 1998 führte, nicht seinen Verletzungen erlegen ist. So hätte auch das Opfer der
Straftat, derentwegen er im Juli 1998 verurteilt worden ist, einen noch schwereren körperlichen Schaden davontragen können. Das letzte Opfer des Betroffenen musste sich schließlich mehreren operativen Eingriffen unterziehen und
es bestand die Gefahr dauerhafter Folgen für die Augen. Das Gericht konnte dabei nicht den Optimismus von T. teilen, die keine Gefahr sah, dass der Beschwerdeführer weitere Taten begeht. Für das Gericht hatten das familiäre
Umfeld des Beschwerdeführers und insbesondere der Kontakt mit zwei von seinen Brüdern hingegen eher einen destabilisierenden Einfluss auf ihn, so dass wenig Hoffnung bestand, dass er künftig keine Straftaten mehr begeht. Das
Verwaltungsgericht gelangte zu dem Schluss, dass der Beschwerdeführer sich mit Sicherheit in Jordanien zurechtfinden werde und er vielleicht mehr Möglichkeiten hätte, dort ein ruhigeres Leben als in Deutschland unter den
derzeitigen Lebensbedingungen zu führen. Neben den Anfangsschwierigkeiten könne nämlich dieser Neustart in einem Umfeld, das ihm stärker zu verstehen gebe, dass Gewaltanwendung nicht akzeptiert werde, vorteilhaft für den
Beschwerdeführer sein.
28. Das Verwaltungsgericht fügte hinzu, dass die Verwaltungsbehörden ihren Ermessensspielraum nicht überschritten hätten. Deren Feststellung, dass der Beschwerdeführer in Deutschland keine schutzwürdigen Bindungen habe, sei
nicht zu beanstanden. Der Beschwerdeführer sei nämlich nicht verheiratet und habe keine Kinder in Deutschland. Zwar lebten seine Mutter und seine drei Brüder in Deutschland und seien zum Teil eingebürgert, doch erscheine der
volljährige Beschwerdeführer, der im Vollbesitz seiner körperlichen und geistigen Kräfte sei, hingegen nicht auf die Hilfe und Unterstützung seiner Mutter angewiesen, die im Übrigen den Betroffenen nicht von strafbaren Handlungen
habe abhalten können, ebenso wenig wie seine Geschwister, die ihrerseits eher in der Gefahr stehend seien, weiterhin Kontakt zum kriminellen Milieu aufrechtzuerhalten. Trotz seiner Fähigkeiten und der Betreuung von T. sei es dem
Beschwerdeführer nicht gelungen, eine Ausbildung zu Ende zu führen. Die Teilnahme an einer Ausbildung zum Tischler während seiner Haft ändere nichts an dieser Feststellung, da es sich als viel schwieriger erweisen könne, ein
Ausbildungsverhältnis oder eine Arbeit in Freiheit als während des Strafvollzugs auszuüben, bei dem das Leben stark reglementiert sei. In Bezug auf die Beherrschung der arabischen Sprache verweist das Verwaltungsgericht auf die
Ausführungen in seiner Entscheidung vom 13. Juni 2002.
b. Das Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof
29. Am 10. September 2004 stellte der Beschwerdeführer beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof einen Antrag auf Zulassung der Berufung. In seinem Antrag gab er an, dass die Schlussfolgerung des Verwaltungsgerichts, dass er in
der Lage sei, sich in arabischer Sprache zu verständigen und sich rasch diese Sprache anzueignen, in Anbetracht der Versicherungen seiner Mutter und von T. Zweifel hervorrufen würde. Er war auch der Meinung, dass die
Schlussfolgerungen des Verwaltungsgerichts bezüglich seiner Bindungen an Jordanien und insbesondere der Anwesenheit seines Halbbruders in Amman nicht den Aussagen seiner Mutter entsprachen. Er vertrat die Auffassung, dass
das Verwaltungsgericht die Versicherungen einseitig gewürdigt hat.
30. Mit Beschluss vom 22. März 2005 ließ der Verwaltungsgerichtshof die Berufung nicht zu. Soweit der Beschwerdeführer die Würdigung der Versicherungen von T. und seiner Mutter beanstandete, hatte der Verwaltungsgerichtshof
die von diesen geltend gemachten Aspekte berücksichtigt und war zu einer zutreffenden oder - zumindest - vertretbaren Schussfolgerung gelangt. Der Verwaltungsgerichtshof führte weiter aus, dass T., die nicht arabisch sprach, nur
Zeugin der Schwierigkeiten geworden sei, denen der Beschwerdeführer bei der Verständigung in dieser Sprache und durch die Tatsache, dass er seine Mutter das Gespräch hat führen lassen, begegnet sei. Dies belege nicht, dass der
Beschwerdeführer kein arabisch verstehe oder dass er es überhaupt nicht spreche. Wie das Verwaltungsgericht vertrat auch der Verwaltungsgerichtshof die Auffassung, dass aufgrund der schulischen Leistungen des Betroffenen im
Zeitpunkt der Zurückweisung seines Widerspruchs (22 Jahre) und des Gebrauchs der arabischen Sprache in seinen ersten Lebensjahren davon ausgegangen werden könne, dass der Beschwerdeführer die erforderlichen Fähigkeiten
besitze, um sich in der in dem Land seiner Staatsangehörigkeit gesprochenen Sprache hinlängliche Kenntnisse anzueignen. Er bestätigte auch die Schlussfolgerungen des Verwaltungsgerichts hinsichtlich des Halbbruders des
Beschwerdeführers und merkte an, dass ihr Verhältnis zwar nicht gut sei, jedoch von dem Betroffenen erwartet werden könne, dass er sich um die Hilfe seines Halbbruders bemühe und seine Antipathien im Hinblick auf seine
Integration in Jordanien zurückstelle.
c. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht
31. Am 28. April 2005 erhob der Beschwerdeführer vor dem Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde (2 BvR 669/05). Er erinnerte daran, dass keine wirklichen Bindungen zum Staat Jordanien bestünden, der nur sein
formaler Herkunftsstaat sei und zu dem er keine Beziehung habe. Er beanstandete auch die unzutreffende Würdigung der Versicherungen seiner Mutter und von T. durch die Verwaltungsgerichte. Er sei im Übrigen wegen seiner
mangelhaften Arabischkenntnisse nach seiner Abschiebung im Jahr 2002 wieder nach Deutschland zurückgekommen. Der Beschwerdeführer behauptete, dass eine Sprache, die er nach seinem dritten Lebensjahr nicht mehr benutzt
habe, ihm im Erwachsenenalter nicht als ‚Verkehrssprache' dienen könne, um in einer fremden Umgebung zu überleben. Er stellte schließlich heraus, dass die Ausweisung eines im Inland geborenen Ausländers eine besonders
sorgfältige Ermittlung der betroffenen Belange und einer sorgfältigen Abwägung zwischen diesen verlange und dass die Ausweisung nicht, wie es das Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall getan habe, durch zwingende
Erfordernisse der Verteidigung der Ordnung gerechtfertigt werden könne.
32. Am 10. August 2005 hat eine mit drei Richtern besetzte Kammer die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers ohne Angabe von Gründen nicht zur Entscheidung angenommen.
II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT UND DIE EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS
A. Die Bestimmungen über die Ausweisung von Ausländern
33. Der einschlägige Passus des § 47 des Ausländergesetzes vom 9. Juli 1990, das zum Zeitpunkt der Geschehnisse in Kraft war, lautet wie folgt:
„(1). Ein Ausländer wird ausgewiesen, wenn er wegen (…) vorsätzlicher Straftaten innerhalb von fünf Jahren zu mehreren Freiheits- oder Jugendstrafen von zusammen mindestens drei Jahren rechtskräftig verurteilt (…) worden ist (…).
(2). Ein Ausländer wird in der Regel ausgewiesen, wenn er
1. wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren oder zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist (…).
(3) Ein Ausländer, der nach § 48 Abs. 1 erhöhten Ausweisungsschutz genießt, wird in den Fällen des Absatzes 1 in der Regel ausgewiesen. In den Fällen des Absatzes 2 wird über seine Ausweisung nach Ermessen entschieden. (…)".
§ 48 des Ausländergesetzes bestimmt insbesondere, dass ein Ausländer, der eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besitzt, nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, wie sie in den Fällen des § 47
Abs. 1 vorliegen, ausgewiesen werden kann.
In den §§ 53, 54 und 56 des Aufenthaltsgesetzes vom 30. Juli 2004, das am 1. Januar 2005 in Kraft getreten ist, wird der Wortlaut des § 47 Abs. 1 und 2 und § 48 des Ausländergesetzes im Wesentlichen übernommen.
B. Die Bestimmungen über die Einschränkung der Wirkungen einer Ausweisungsmaßnahme
34. § 11 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes, der im Wesentlichen den Wortlaut des § 8 Abs. 2 des Ausländergesetzes übernimmt (siehe Y. ./. Deutschland , Nr. 52853/99, Rdnr. 27, 17. April 2003), sieht insbesondere vor, dass ein
Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen oder sich darin aufhalten darf. Dem Ausländer wird selbst bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs
nach diesem Gesetz kein Aufenthaltstitel erteilt. Auf Antrag werden die Wirkungen einer solchen Maßnahme in der Regel befristet. Die Frist beginnt mit der Ausreise des Ausländers.
Nach der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Ausländergesetz vom 28. Juni 2000 konnte ein Ausländer seinen Antrag auf Befristung bei seiner Anhörung über die Ausweisung stellen. Im Falle der Befristung einer
Ausweisungsmaßnahme sollte der Ausländer darauf hingewiesen werden, dass die von dieser Maßnahme ausgehenden Wirkungen erneut unbefristet entstehen, wenn er nach der Ausweisung abgeschoben oder erneut ausgewiesen oder
abgeschoben wird. Die Entscheidung über die Befristung konnte zurückgestellt werden, bis die Frist zwecks Ausreise aus dem deutschen Hoheitsgebiet abgelaufen ist oder ein Nachweis über die freiwillige Ausreise vorliegt (siehe
Ziffer 8.2.3.2 und 8.2.3.3). Die (neue) Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom Juli 2009 (die vom Bundesrat am 18. September 2009 verabschiedet wurde) übernimmt im Wesentlichen den vorgenannten Wortlaut im Passus
zu § 11 des Aufenthaltsgesetzes (Ziffer 11.1.3.3 und 11.1.3.4). Ziffer 11.1.3 legt dar, dass die Notwendigkeit, bereits mit Erlass einer Ausweisung deren Wirkungen zu befristen, sich weder aus Gemeinschafts- noch aus
Konventionsrecht ergibt.
2. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts
35. Das Bundesverwaltungsgericht hat am 3. August 2004 zwei Grundsatzentscheidungen in Sachen Ausweisung von Unionsbürgern und von türkischen Staatsangehörigen erlassen, die Berechtigte im Sinne der Beschlüsse des
Assoziationsrates EWG-Türkei sind. In den beiden Rechtssachen behandelte das Gericht u.a. die Frage der Notwendigkeit einer von Amts wegen zu prüfenden Befristung der Ausweisungsmaßnahme im Hinblick auf Artikel 8 der
Konvention (unter Bezugnahme insbesondere auf das Urteil in der Sache Y. ./. Deutschland , Nr. 52853/99, 17. April 2003). In der ersten Sache (Az. 1 C 30.02) betreffend die Ausweisung eines portugiesischen Staatsangehörigen
aufgrund strafrechtlicher Verurteilungen war es der Auffassung, dass eine unbefristete Ausweisung des Betroffenen im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erheblichen Bedenken begegnen würde (Verweis auf das
Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften in der Sache Calfa , Rs. C 348/96, vom 19. Januar 1999). Es fügte hinzu, dass, auch wenn der Betroffene nicht freizügigkeitsberechtigt sein sollte, vom Gericht zu prüfen ist,
ob eine Ausweisung ohne Befristung einen unverhältnismäßigen Eingriff darstellt. In der anderen Rechtssache (Az. 1 C 29.02) betreffend die Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen, hat es unterstrichen, die Ausweisung des
Betroffenen habe nicht deshalb gegen Grundrechte verstoßen, weil sie ohne Befristung verfügt worden war. Angesichts der Schwere der begangenen Straftaten, seiner familiären Situation und seiner nach wie vor vorhandenen
Beziehungen zur Türkei würde der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit keine Befristung von Amts wegen gebieten. Dieselbe Argumentation ist in einem Urteil vom 15. März 2005 (Az. 1 C 2.04) enthalten.
36. Mit Beschluss vom 10. Mai 2007 (2 BvR 304/07) hat ein mit drei Richtern besetzter Senat des Bundesverfassungsgerichts einen Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (betreffend ein Verfahren zwecks
Erlasses einer einstweiligen Anordnung aus dem Jahr 2006) aufgehoben und u.a. ausgeführt, dass die Befristung der Ausweisungswirkungen nur eines von mehreren Kriterien bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung
gemäß Artikel 8 der Konvention ist. Da es sich um einen in Deutschland geborenen und aufgewachsenen serbischen Staatsangehörigen handele, der keine durch die Konvention geschützten familiären Bindungen habe, habe das
Verwaltungsgericht prüfen müssen, ob der Beschwerdeführer durch den Zwang, das Bundesgebiet nicht nur kurzzeitig zu verlassen, die für sein Privatleben konstitutiven Beziehungen unwiederbringlich verliert. Sollte sich erweisen,
dass das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung des Privatlebens durch die Ausweisung schwerwiegend beeinträchtigt wird, müssten die für die Ausweisung sprechenden Gründe überragendes Gewicht haben. Das
Bundesverfassungsgericht fuhr fort, dass in diesem Fall die Verhältnismäßigkeit einer Ausweisungsmaßnahme nicht durch eine Befristung erreicht werden könne, zumal das Aufenthaltsrecht nach dem Wegfall der Bindungen in
Deutschland eine Wiedereinreise grundsätzlich nicht vorsehe und der Wegfall des Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes daher ohne praktische Wirkung bleibe.
III. EINSCHLÄGIGE INTERNATIONALE RECHTSINSTRUMENTE
37. Die Empfehlung Rec(2000) 15 des Ministerkomitees über den sicheren Aufenthalt von langjährigen Einwanderern führt insbesondere aus:
„4. In Bezug auf den Schutz vor Ausweisung
a) Jeder Ausweisungsbeschluss für einen langjährigen Einwanderer sollte unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und der anwendbaren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die
folgenden Kriterien berücksichtigen:
- das persönliche Verhalten des Betroffenen;
- die Aufenthaltsdauer;
- die Folgen für den Einwanderer und seine Familie;
- die zwischen dem Einwanderer und seiner Familie und dem Herkunftsland bestehende Verbindung.
b) In Anwendung des unter Ziffer 4 Buchstabe a) niedergelegten Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit sollen die Mitgliedstaaten die Dauer oder Art des Aufenthalts sowie die Schwere des vom langjährigen Einwanderer begangenen
Delikts gebührend berücksichtigen. Die Mitgliedstaaten können insbesondere vorsehen, dass der langjährige Einwanderer nicht ausgewiesen werden darf:
- nach fünf Aufenthaltsjahren, außer wenn er wegen einer Straftat zu einer Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren ohne Strafaussetzung verurteilt wurde;
- nach zehn Aufenthaltsjahren, außer wenn er wegen einer Straftat zu einer Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren ohne Strafaussetzung verurteilt wurde.
Nach zwanzig Aufenthaltsjahren sollte ein langjähriger Einwanderer nicht mehr ausgewiesen werden können.
c) Die langjährigen Einwanderer, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates geboren oder dort vor ihrem zehnten Lebensjahr aufgenommen wurden und dort ihren gesetzlichen und gewöhnlichen Aufenthalt haben, sollten nach ihrem
achtzehnten Lebensjahr nicht ausgewiesen werden dürfen.
Gegen minderjährige langjährige Einwanderer kann grundsätzlich keine Ausweisungsmaßnahme getroffen werden.
d) Auf jeden Fall sollte jeder Mitgliedstaat in seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften die Möglichkeit vorsehen, einen langjährigen Einwanderer auszuweisen, wenn dieser eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit
oder die Sicherheit des Staates darstellt."
Andere einschlägige internationale Texte sind in dem genannten Urteil Maslov , Rdnrn. 33-44, aufgeführt.
RECHTLCHE WÜRDIGUNG
I. DIE BEHAUPTETE VERLETZUNG DES ARTIKELS 8 DER KONVENTION
38. Der Beschwerdeführer rügt seine Abschiebung nach Jordanien. Er beruft sich auf Artikel 8 der Konvention, dessen einschlägiger Passus wie folgt lautet:
„(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens (...)
(2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist (...) zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von
Straftaten (…) oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer."
39. Die Regierung widerspricht dieser Auffassung
A. Zur Zulässigkeit
40. Die Regierung behauptet, die Beschwerde sei unzulässig, soweit der Beschwerdeführer die fehlende Befristung der Ausweisungsverfügung rügt. Der Beschwerdeführer habe in der Tat nie einen Antrag auf Befristung gestellt, was
nach § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (Randnummer 34 oben) möglich sei, und daher insoweit den innerstaatlichen Rechtsweg nicht ausgeschöpft.
41. Der Beschwerdeführer bestreitet diese These.
42. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass diese Frage im Rahmen der Prüfung hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit der Ausweisungsverfügung zu prüfen ist (siehe o.a. Sache Maslov , Rdnr. 98) und fügt sie der Hauptsache bei. Der
Gerichtshof stellt ferner fest, dass in Bezug auf diese Rüge kein weiterer Unzulässigkeitsgrund vorliegt. Sie ist daher für zulässig zu erklären.
B. Zur Hauptsache
1. Die Argumente der Parteien
a. Der Beschwerdeführer
43. Der Beschwerdeführer behauptet, dass seine gesamten familiären Beziehungen und sozialen Bindungen in Deutschland begründet seien und Jordanien nur das Land sei, das ihm einen Reisepass ausgestellt habe. Er unterstreicht, er
spreche kaum arabisch, weil er mit seiner Mutter stets deutsch gesprochen habe. Die unzureichende Beherrschung dieser Sprache sei im Übrigen die Ursache für Probleme gewesen, die er bei der Botschaft Jordaniens in Deutschland
gehabt habe. Die Versicherungen seiner Mutter und von T. hätten diese Defizite unter Beweis gestellt. Nach seiner ersten Abschiebung nach Jordanien habe seine Mutter die notwendigen Dinge selbst erledigt, weil er nicht einmal in
der Lage gewesen sei, einem Taxifahrer die korrekte Anschrift anzugeben. Er fügt hinzu, dass er keine schriftliche Sprachkompetenz im Arabischen habe.
44. Was seine Bindungen zu Jordanien anbelangt, so hebt der Beschwerdeführer hervor, dass die Geschwister seiner Mutter, auf die sich die Regierung bezieht, weiterhin in Dschenin im Westjordanland leben, wohin ihm die Einreise
von der Palästinensischen Autonomiebehörde versagt wird. Nach seiner zweiten Abschiebung habe man ihm den jordanischen Reisepass weggenommen und ihm einen palästinensischen Ersatzpass ausgestellt, der es ihm nicht
gestatte, einer Erwerbstätigkeit in Jordanien nachzugehen. Der einzige in Jordanien lebende Bekannte sei sein Halbbruder aus der ersten Ehe seines verstorbenen Vaters, den er aber nicht kenne. Derjenige Bruder, gegen den ebenfalls
eine Verfügung zwecks Abschiebung aus Deutschland vom Oktober 2004 vorliegt, lebe zwar mit ihm in Jordanien zusammen, habe aber die gleichen Schwierigkeiten wie er. Seine Anwesenheit könne demnach in dieser Hinsicht nicht
berücksichtigt werden. Sie würden nur dank der finanziellen Unterstützung ihrer Mutter in Jordanien leben, die ihre Rentenansprüche an eine Bank abgetreten habe und übrigens erkrankt und bei ihrem ältesten Sohn in Deutschland
eingezogen sei. Der Beschwerdeführer unterstreicht, dass den Verwaltungsbehörden all diese Umstände bekannt waren, als sie ihre Entscheidung trafen.
45. Was die strafrechtlichen Verurteilungen anbelangt, so gesteht der Beschwerdeführer zwar ein, dass sie eine gewisse Schwere haben, weist aber auf die Tatsache hin, dass er zum Zeitpunkt der Handlungen Minderjähriger oder
Heranwachsender und von der häuslichen Gewalt seines Vaters geprägt gewesen sei. Er habe seit Juli 2000 keine Straftaten mehr begangen. Die letzte Verurteilung wegen illegaler Einreise könne hier keine Beachtung finden, denn er
sei nach Deutschland zurückgekehrt, weil ihm in Jordanien jegliche Perspektive fehle.
b. Die Regierung
46. Die Regierung stellt fest, dass der Beschwerdeführer zwar in Deutschland geboren und aufgewachsen ist und fließend Deutsch spricht, in Deutschland aber nicht vollständig integriert ist. Er sei einerseits unverheiratet und
kinderlos und seine sozialen Beziehungen im Gastland würden sich auf diejenigen zu seiner Mutter, den Brüdern und seiner ihn betreuenden Sozialarbeiterin beschränken. Seine familiären Bindungen, insbesondere zu zwei Brüdern,
hätten übrigens nicht dazu beigetragen, dieses Verhalten zu ändern. Andererseits habe der Beschwerdeführer, nachdem er zwei Ausbildungen abgebrochen hatte, nur mit Mühe eine Berufsausbildung beendet und auch nur, weil er sich
in Haft befand.
47. Was die Sprachkenntnisse anbelangt, so unterstreicht die Regierung, der Beschwerdeführer habe bis zum Besuch des Kindergartens zu Hause ausschließlich arabisch gesprochen und seine Mutter habe weiterhin in der
Muttersprache mit ihrem Sohn kommuniziert. Der Beschwerdeführer habe selbst erklärt, so gut arabisch zu sprechen, wie ein Russe oder Pole deutsch spreche, der sich seit zwei Jahren in dem Land aufhält. Schließlich sei der
Beschwerdeführer in der Lage, sich verständlich zu machen, zumal er seit seiner erneuten Abschiebung im Juli 2006 in Jordanien lebe. Hinsichtlich seiner Bindungen zu Jordanien legt die Regierung dar, dass sieben Geschwister der
Mutter und zwei Halbbrüder aus der jeweils ersten Ehe der Eltern weiterhin dort leben. Außerdem lebe der ältere Bruder, gegen den ebenfalls eine Ausweisungsverfügung vorliegt, seit Oktober 2004 in Jordanien. Die Regierung ist der
Ansicht, dass es dem Beschwerdeführer zuzumuten sei, sich bei Bedarf an diese Personen zu wenden. 48. Die Regierung unterstreicht, dass der Beschwerdeführer wegen schwerer Delikte verurteilt worden ist und ein erhebliches
Aggressionspotential erkenn ließ, selbst im Laufe der Bewährungszeit. Weder der Widerruf der Bewährung noch die Aussetzung seines Einbürgerungsantrags oder die Gefahr der Ausweisung hätten ihn davon abgehalten, sein
kriminelles Verhalten fortzuführen.
49. Die Regierung behauptet sodann, die fehlende Befristung der Wirkungen der Verfügung zur Ausweisung des Beschwerdeführers könne nicht Gegenstand der hiesigen Beschwerde sein, weil der Beschwerdeführer nie einen solchen
Antrag gestellt habe. Eine unbefristete Ausweisung sei nicht in jedem Fall an sich unverhältnismäßig. Die Situation des Beschwerdeführers würde sich von derjenigen des Betroffenen in der Rechtssache K. ./. Deutschland (Nr.
32231/02, 27. Oktober 2005) unterscheiden.
2. Die Würdigung des Gerichtshofs
50. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die gegen den Beschwerdeführer verhängte und vollzogene Ausweisung einen Eingriff in die Ausübung des Rechts des Beschwerdeführers auf Achtung seines „Privat- und Familienlebens"
darstellt ( Maslov ./. Österreich [GK], Nr. 1638/03, Rdnrn. 61-64, 23. Juni 2008).
51. Ein solcher Eingriff verletzt Artikel 8 der Konvention, es sei denn, er ist unter dem Blickwinkel des Absatzes 2 dieses Artikels gerechtfertigt, d.h. wenn er „gesetzlich vorgesehen ist", eines oder mehrere der in dieser Bestimmung
aufgeführten legitimen Ziele verfolgt oder „in einer demokratischen Gesellschaft notwenig" ist, um dieses Ziel oder diese Ziele zu erreichen.
a. „Gesetzlich vorgesehen"
52. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Ausweisung eine Grundlage nach innerstaatlichem Recht hatte, nämlich § 47 Abs. 2 Satz 1 des Ausländergesetzes (Randnummer 33).
b. Legitimes Ziel
53. Es wird nicht bestritten, dass der Eingriff ein legitimes Ziel verfolgt, nämlich die „Aufrechterhaltung der Ordnung und die Verhütung von Straftaten".
c. „Notwendig in einer demokratischen Gesellschaft"
54. Was die Frage anbelangt, ob der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" ist, so erinnert der Gerichtshof daran, dass er die einschlägigen Kriterien hierzu in seinem Urteil Üner ./. Niederlande [GK], Nr.
46410/99, Rdnrn. 54-58, CEDH 2006-XII) zusammengefasst hat. In dem o.a. Urteil des Gerichtshofs in der Sache Maslov , Rdnrn. 71-76, hat er diese Kriterien spezifiziert und angeführt:
„71. In einem Fall wie dem vorliegenden, in dem die auszuweisende Person ein junger Erwachsener ist, der noch keine eigene Familie gegründet hat, gelten als einschlägige Kriterien:
- die Art und Schwere der vom Beschwerdeführer begangenen Straftaten;
- die Dauer seines Aufenthalts in dem Land, aus dem er auszuweisen ist;
- die zwischen der Tatbegehung verstrichene Zeit und das Verhalten des Beschwerdeführers während dieser Zeit;
- die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielstaat.
72. Der Gerichtshof stellt auch klar, dass das Alter der betroffenen Person bei der Anwendung einiger dieser Kriterien eine Rolle spielen kann. So ist bei der Beurteilung der Art und Schwere der von einem Beschwerdeführer
begangenen Straftat zu prüfen, ob er diese als Jugendlicher oder als Erwachsener begangen hat (...).
73. Außerdem ist bei der Prüfung der Dauer des Aufenthalts des Beschwerdeführers in dem Land, aus dem er auszuweisen ist, und der Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland die Situation
offenkundig nicht dieselbe, je nachdem ob der Betroffene bereits als Kind oder in jugendlichem Alter in das Land gekommen ist oder sogar hier geboren wurde oder erst als Erwachsener hierher kam. Diese Differenzierung ergibt sich
auch aus verschiedenen Instrumenten des Europarats, insbesondere aus den Empfehlungen Rec(2001) 15 und Rec(2002) 4 des Ministerkomitees (…).
75. Zusammenfassend ist der Gerichtshof der Ansicht, dass es sich um einen langjährigen Einwanderer handelt, der den größten - wenn nicht den gesamten - Teil seiner Kindheit und Jugend rechtmäßig im Aufnahmestaat verbracht
hat, und daher zur Rechtfertigung der Ausweisung sehr gewichtige Gründe vorgebracht werden müssen; dies gilt umso mehr, wenn der Betroffene die für die Ausweisung maßgeblichen Straftaten als Jugendlicher begangen hat."
55. Was die Art und Schwere der begangenen Straftaten anbelangt, hebt der Gerichtshof zunächst hervor, dass der Beschwerdeführer wiederholt wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt wurde und dass diese Delikte von
erheblicher Schwere und Gewalttätigkeit geprägt waren. Er stellt in diesem Zusammenhang fest, das Verwaltungsgericht habe unterstrichen, dass die jeweiligen Opfer dieser Delikte schwerere Schäden hätten erleiden beziehungsweise
in einem Fall ihren Verletzungen hätten erliegen können. Der Beschwerdeführer habe außerdem eine im Laufe seiner Verurteilungen gesteigerte kriminelle Energie erkennen lassen. Der Gerichtshof stellt sodann fest, dass seine ersten
Verurteilungen zwar Straftaten betreffen, die er als (sechzehn Jahre alter) Minderjähriger begangen hat, die Verurteilung des Beschwerdeführers durch das Amtsgericht im Februar 2001 aber eine Reihe von Straftaten betrifft, die er im
Alter von neunzehn Jahren begangen hat. Es mag zwar zutreffen, dass das Amtsgericht dennoch eine unbedingte Jugendstrafe verhängt hat, gleichwohl kann nicht erachtet werden, dass es sich hierbei um in der Jugendzeit begangene
Delikte handelt ( Onur ./. Vereinigtes Königreich , Nr. 27319/07, Rdnr. 55, 17. Februar 2009, Grant ./. Vereinigtes Königreich , Nr. 10606/07, Rdnr. 40, 8. Januar 2009, Yesufa ./. Vereinigtes Königreich (Entsch.), Nr. 7347/08, 26.
Januar 2010 und zum Beweis des Gegenteils o.a. Maslov , Rdnr. 81). Der Gerichtshof hebt auch hervor, der Beschwerdeführer habe diese letztgenannten Straftaten begangen, obwohl er von den Verwaltungsbehörden über die Folgen
einer erneuten strafrechtlichen Verurteilung gewarnt worden war (Randnummer 12 oben) und er sich in der Bewährungszeit befand. Er stellt ebenfalls fest, das Amtsgericht habe das Strafmaß unter drei Jahren festgesetzt, um dem
Beschwerdeführer zumindest theoretisch eine Ausweisungsverfügung zu ersparen. Er stellt schließlich fest, der Beschwerdeführer sei zum Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung fast 21 Jahre alt gewesen und fast 24 Jahre, als der
Verwaltungsgerichtshof diese Verfügung bestätigte. Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers wurde nur wenige Monate später nicht zur Entscheidung angenommen. Die hiesige Beschwerde weist demnach in dieser
Hinsicht eine Reihe von Unterschieden zur Rechtssache Maslov auf.
56. Was die Aufenthaltsdauer anbelangt, so stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer seit seiner Geburt im Mai 1981 bis zum Tag seiner Abschiebung nach Jordanien am 14. Juni 2002 rechtmäßig bei seinen Eltern und
den Geschwistern in Deutschland wohnhaft war. Ihm wurde im Jahr 1997 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt. Zwischen seiner Rückkehr im Oktober 2002 und seiner erneuten Abschiebung nach Jordanien lebte er versteckt
in Deutschland.
57. Was die zwischen der Tatbegehung verstrichene Zeit und das Verhalten des Beschwerdeführers während dieser Zeit anbelangt, so erinnert der Gerichtshof daran, dass die Berücksichtigung des Verhaltens des Betroffenen im
Anschluss an seine strafrechtlichen Verurteilungen insbesondere in Sachen geboten ist, in denen eine beträchtliche Zeitspanne zwischen der endgültigen Ausweisungsverfügung und der tatsächlichen Abschiebung liegt (o.a. Maslov ,
Rdnr. 92), was im vorliegenden Fall nicht zutraf. Wenn auch der Beschwerdeführer seit Juli 2000 keine weiteren einschlägigen Straftaten begangen zu haben scheint, stellt der Gerichtshof gleichwohl fest, dass er sich entweder in Haft
oder an einem verborgenen Ort befand, d.h. in besonderen Situationen, die geeignet sind, in erheblichem Maße auf die Möglichkeit zur Begehung von Straftaten einzuwirken. Der Gerichtshof möchte daher diesem Umstand im
vorliegenden Fall keine besondere Bedeutung beimessen.
58. Was die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Herkunftsstaat anbelangt, stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer in Deutschland geboren ist und dort die prägenden
Jahre seiner Kindheit und Jugend verbracht hat. Er beherrscht die deutsche Sprache in Wort und Schrift und erfuhr seine gesamte Erziehung in Deutschland, wo alle seine Verwandten leben. Seine wichtigsten sozialen, kulturellen und
familiären Bindungen sind demnach in diesem Land begründet. Der Gerichtshof stellt aber fest, dass weder aus den zwecks Unterstützung der Beschwerde vorgelegten Stellungnahmen noch den Unterlagen hervorgeht, dass der
Beschwerdeführer andere soziale Beziehungen als diejenigen zu seiner Familie und seiner Therapeutin entwickelt hat.
59. Was die Bindungen des Beschwerdeführers zu Jordanien angeht, so stellt der Gerichtshof fest, dass die Ansichten der Parteien zu diesem Thema auseinandergehen. Er erinnert daran, dass der Betroffene in der o.a. Sache Maslov
(Rdnr. 97) „glaubhaft dargelegt hat, im Zeitpunkt seiner Ausweisung nicht Bulgarisch gesprochen zu haben, da seine Familie zur türkischen Minderheit gehörte". Angesichts aller Umstände des Einzelfalles kann aber nicht behauptet
werden, der Beschwerdeführer habe überhaupt keine Kenntnis der Muttersprache seiner Eltern gehabt, weil er diese zweifellos in seinen ersten Lebensjahren und auch über nahezu vier Monate zwischen seiner ersten Abschiebung und
der heimlichen Rückkehr nach Deutschland gesprochen hat (Randnummern 17 und 18 oben). Außerdem hat die Mutter des Beschwerdeführers ihren Aussagen vor dem Verwaltungsgericht (Randnummer 24 oben) zufolge weiterhin
arabisch mit ihren Kindern gesprochen, sogar nach dem Zeitpunkt, zu dem der Beschwerdeführer den Kindergarten besuchte, und der Beschwerdeführer hatte einen Halbbruder in Amman, der ihn aufgenommen hat. Der Gerichtshof
ist somit der Auffassung, dass die Situation des Beschwerdeführers von derjenigen des Betroffenen in der Sache Maslov unterschieden werden kann. Im Übrigen hat der Beschwerdeführer keine einschlägigen Informationen zu seinem
Aufenthalt in Jordanien erteilt.
60. Was schließlich die Dauer des Aufenthaltsverbots anbelangt, stellt der Gerichtshof fest, dass die Verwaltungsbehörden eine unbefristete Ausweisung verfügt haben. Die Regierung erwidert, der Beschwerdeführer habe keinen nach
§ 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes vorgesehenen Antrag auf Befristung der Wirkungen dieser Maßnahme gestellt (Randnummer 34 oben). Ein solcher Antrag hätte es dem Beschwerdeführer gestattet, die gegen ihn vorliegende
Maßnahme abzuschwächen. Der Gerichtshof hätte infolgedessen bei der Würdigung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisungsmaßnahme die Frage der fehlenden Befristung nicht behandeln müssen. Der Beschwerdeführer behauptet,
ein solcher Antrag hätte keine Aussicht auf Erfolg gehabt. Er erinnert zunächst daran, seine Beschwerde sei gegen die Ausweisungsverfügung als solche gerichtet. Wäre er verpflichtet gewesen, zunächst ein gesondertes Verfahren zur
Befristung einzuleiten und den Ausgang dieses Verfahrens abzuwarten, hätte seine Beschwerde die nach Artikel 35 Abs. 1 der Konvention vorgesehene Frist von sechs Monaten nicht beachtet, wenn man von der üblichen Dauer der
Befristungsverfahren ausgeht. Der Beschwerdeführer unterstreicht sodann, er hätte keine Chance, dass ihm die Erlaubnis zur Rückkehr nach Deutschland erteilt wird, wenn man seine strafrechtlichen Verurteilungen berücksichtigt und
die Tatsache bedenkt, dass er kein Angehöriger eines Mitgliedstaates der Europäischen Union ist und angesichts seines Status als unverheirateter kinderloser Ausländer, dessen sozialen Bindungen mit seiner Abschiebung aus dem
deutschen Hoheitsgebiet verlorengehen, obwohl diese den wesentlichen Aspekt seines Privatlebens darstellen. Eine einfache Befristung des Aufenthaltsverbots ohne Aufhebung der Ausweisungsverfügung hätte demnach den
rechtswidrigen Eingriff in sein Recht auf Achtung des Privatlebens nicht geheilt.
61. Der Gerichtshof erinnert daran, er habe bereits die Auffassung vertreten, dass eine Ausweisungsverfügung aufgrund ihrer unbegrenzten Dauer unverhältnismäßig ist (siehe K. ./. Deutschland , Nr. 31753/02, Rdnr. 68, 28. Juni 2007
m.w.N.), und zwar selbst dann, wenn ein Antrag wie beispielsweise derjenige nach § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht gestellt oder betrieben wird ( Y. ./. Deutschland , Nr. 52853/99, Rdnr. 48, 17. April 2003, und K. ./.
Deutschland , Nr. 32231/02, Rdnr. 66, 27. Oktober 2005). Im Licht der von den Parteien vorgebrachten Argumente hat der Gerichtshof Zweifel bezüglich der Frage, ob ein Befristungsantrag unerlässlich und überhaupt geeignet war,
die behauptete Verletzung angesichts der besonderen Umstände des Falles zu verhüten oder abzumildern (siehe zum Beweis des Gegenteils o.a. Sache Kaya , Rdnr. 69; siehe hierzu auch die in den o.a. Randnummern 35-36 zitierte
innerstaatliche Rechtsprechung). Er hält es hingegen nicht für nötig, diese Frage zu klären, weil die anderen Umstände des konkreten Falles und insbesondere die Schwere der vom Beschwerdeführer begangenen Straftaten und deren
gewalttätiger und wiederholter Charakter dem Gerichtshof ausreichen, um zu folgern, dass die deutschen Behörden hinlänglich gewichtige Gründe vorgebracht haben, um die Ausweisung des Beschwerdeführers aus dem Bundesgebiet
zu rechtfertigen.
62. Er gelangt daher zu dem Schluss, dass die Ausweisungsverfügung in Bezug auf das verfolgte legitime Ziel, nämlich die Aufrechterhaltung der Ordnung und die Verhütung von Straftaten, nicht unverhältnismäßig war und somit als
in einer demokratischen Gesellschaft notwenig gelten kann.
63. Der Gerichtshof weist infolgedessen die Einrede der Regierung in Bezug auf die fehlende Befristung ab und stellt fest, dass Artikel 8 der Konvention nicht verletzt worden ist.
II. ZUR BEHAUPTETEN VERLETZUNG DES ARTIKELS 3 DER KONVENTION
64. Der Beschwerdeführer behauptet, dass seine Abschiebung nach Jordanien eine unmenschliche Behandlung darstellt, die gegen Artikel 3 der Konvention verstößt, der folgenden Wortlaut hat:
„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden".
65. Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass das nach Artikel 3 erforderliche Mindestmaß an Schwere nicht erreicht ist ( Maslov ./. Österreich (Entsch.), Nr. 1638/03, 2. Juni 2005). Hieraus ergibt sich, dass diese Rüge offensichtlich
unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 und 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG WIE FOLGT:
1. Die prozessuale Einrede der Nichterschöpfung des Rechtswegs, die von der Regierung auf die Tatsache begründet wird, dass der Beschwerdeführer nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, einen Antrag auf Befristung der
Ausweisungsverfügung zu stellen, wird der Hauptsache beigefügt und vom Gerichtshof abgewiesen.
2. Die Beschwerde wird in Bezug auf die Rüge aufgrund der Achtung des Privat- und Familienlebens für zulässig und im Übrigen für unzulässig erklärt.
3. Artikel 8 der Konvention ist nicht verletzt worden. ..."
***
Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass die Konvention nicht so weit führen kann, dass die deutschen Gerichte dazu verpflichtet würden, den Staatsvertrag zu missachten und den Versorgungsausgleich als Teil des deutschen ordre public
einzustufen. Der Begriff der "Achtung (...) ihres Familienlebens" verpflichtet den Vertragsstaat nicht dazu, einem Ehepartner einen finanziellen Vorteil zu gewähren, zumal dieser den finanziellen Nachteil des anderen Ehepartners
nach sich zieht (EGMR, Entscheidung vom 09.03.2010 - 51625/08 - BeckRS 2011, 81080).
***
Deutschland diskriminiert Väter außerehelich geborener Kinder beim Zugang zur (gemeinsamen) elterlichen Sorge. Eine unterschiedliche Behandlung i. S. von Art. 14 EMRK ist dann diskriminierend, wenn es für sie keine objektive
und angemessene Rechtfertigung gibt, d. h., wenn sie kein legitimes Ziel verfolgt oder zwischen den eingesetzten Mitteln und dem angestrebten Zweck kein angemessenes Verhältnis besteht. Die Vertragsstaaten haben einen
Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Frage, ob und in welchem Umfang Unterschiede bei im Übrigen vergleichbaren Sachverhalten eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen. Der bei der Regelung der elterlichen Sorge
bestehende weite Beurteilungsspielraum der Vertragsstaaten ist umso enger, je mehr sich ein europäischer Standard herausgebildet hat. Insoweit ist die Konvention als lebendiges Instrument im Lichte der heutigen Verhältnisse
auszulegen. Nur sehr gewichtige Gründe können die Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts oder einer außerehelichen Geburt rechtfertigen. Dieser Maßstab gilt auch für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der
unterschiedlichen Behandlung des Vaters eines aus einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft hervorgegangenen Kindes im Vergleich zum Vater eines ehelichen Kindes. Der Ausschluss einer gerichtlichen Einzelfallprüfung der
Alleinsorge der Mutter gemäß § 1626a Abs. 2 BGB verstößt gegen Art. 14 EMRK i. V. mit Art. 8 EMRK, da die Ungleichbehandlung von Vätern außerehelich geborener Kinder im Vergleich zu Müttern und geschiedenen Vätern
nicht durch das Kindeswohl gerechtfertigt ist (gegen BVerfG, Senatsurteil v. 29. Januar 2003, 1 BvL 20/99, FamRZ 2003, 285, m. Anm. Henrich, S. 359; EGMR, Urteil vom 03.12.2009 - 22028/04 zu § 1626a Abs 2 BGB, Art 8, 14
MRK, Art 6 V GG).
***
„... Eine Ausweisung selbst nach Verurteilung wegen einer Sexualstraftat kann in Abwägung zu dem Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens im Einzelfall unverhältnismäßig sein (hier: insbesondere wegen
der Stabilität der familiären Bindungen des Beschwerdeführers, seiner Aufenthaltsdauer und der Schwierigkeiten, denen seine jüngsten Kinder ausgesetzt wären, wenn sie in das ihnen unbekannte Heimatland ihres Vaters umgesiedelt
würden. ... (EGMR, Urteil vom 24.11.2009 - 182/08 - juris)
***
„... 1 . Der Beschwerdeführer rügte, dass der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 22. Februar 2008, mit der sein Antrag auf Rückführung von D. nach Bulgarien zurückgewiesen worden war, willkürlich gewesen sei und
damit sein Recht auf Achtung seines Familienlebens verletzt worden sei.Artikel 8, soweit maßgeblich, lautet:
"(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres ... Familienlebens...
(2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist ... zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer."
Der Beschwerdeführer trug vor, dass das Oberlandesgericht durch die Entscheidung, dass das Verbringen des Kindes in das Ausland nach Artikel 3 des Haager Übereinkommens nicht widerrechtlich gewesen sei, das bulgarische Recht
willkürlich ausgelegt habe, insbesondere weil es von der Auffassung des bulgarischen Justizministeriums und dem von ihm vorgelegten privaten Sachverständigengutachten abgewichen sei.
Der Gerichtshof weist darauf hin, dass für einen Elternteil und sein Kind das Zusammensein einen grundlegenden Bestandteil des Familienlebens darstellt und innerstaatliche Maßnahmen, die die Betroffenen an diesem Zusammensein
hindern, einen Eingriff in das durch Artikel 8 der Konvention geschützte Recht bedeuten (siehe, u. v. a. Rechtssachen Maumousseau und Washington ./. Frankreich , Individualbeschwerde Nr. 39388/05, Randnrn. 58-59, 2. Juni 2008,
und Monory ./. Rumänien und Ungarn , Individualbeschwerde Nr. 71099/01, Randnr. 70, 5. April 2005). Die Ereignisse, die in vorliegender Rechtssache Gegenstand der Befassung sind, stellten einen Eingriff in das Recht des
Beschwerdeführers auf Achtung seines Familienlebens dar, wobei die Grenzen zwischen den positiven und negativen Verpflichtungen des Staates sich nach dieser Bestimmung nicht genau definieren lassen (siehe z. B. Rechtssache
Sylvester ./. Österreich , Individualbeschwerden Nrn. 36812/97 und 40104/98, Randnr. 55, 24. April 2003). Ein solcher Eingriff stellt eine Verletzung von Artikel 8 der Konvention dar, es sei denn, er ist "gesetzlich vorgesehen",
verfolgt ein oder mehrere Ziele, die nach Artikel 8 Absatz 2 legitim sind, und kann als "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" angesehen werden; dies gilt um so mehr, als die angegriffene Maßnahme in Bezug auf das
verfolgte Ziel verhältnismäßig war.
Im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit des Eingriffs stellt der Gerichtshof fest, dass das Oberlandesgericht seinen Beschluss zum Umgangsrecht des Beschwerdeführers sowie seine Entscheidung, die Rückführung von D. nach Bulgarien
zu versagen, auf der Grundlage des Haager Übereinkommens traf. Dieses Übereinkommen, das als Bundesgesetz verabschiedet wurde, ist als innerstaatliches deutsches Recht anwendbar. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts
beruhte demnach auf innerstaatlichem Recht.
Im Hinblick auf das verfolgte Ziel merkt der Gerichtshof an, dass die Unterzeichnerstaaten in der Präambel des Haager Übereinkommens ihrer festen Überzeugung Ausdruck verleihen, "dass das Wohl des Kindes in allen
Angelegenheiten des Sorgerechts von vorrangiger Bedeutung ist". Sie bringen auch ihren Wunsch zum Ausdruck, "das Kind vor den Nachteilen eines widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens international zu schützen und
Verfahren einzuführen, um seine sofortige Rückgabe in den Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts sicherzustellen und den Schutz des Rechts zum persönlichen Umgang mit dem Kind zu gewährleisten". Der Gerichtshof merkt ferner
an, dass das Oberlandesgericht Hamm durch Anwendung der Bestimmungen des Haager Übereinkommens, insbesondere bei der Prüfung der Frage, ob das Verbringen von D. nach Artikel 3 dieses Übereinkommens "widerrechtlich"
war, und mit Blick auf das Umgangsrecht des Beschwerdeführers seine Entscheidung am Kindeswohl ausgerichtet hat (siehe, sinngemäß Rechtssache M. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 41092/06, 11. Dezember
2006). Mit dem Eingriff wurde also ein rechtmäßiges Ziel nach Artikel 8 Abs. 2 verfolgt, nämlich der Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.
Bezüglich der Verhältnismäßigkeit der angegriffenen Maßnahme stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass das Oberlandesgericht es zwar ablehnte, die Rückführung von D. nach Bulgarien anzuordnen, aber zugleich das mit den
bulgarischen Gerichtsentscheidungen festgelegte Umgangsrecht des Beschwerdeführers bestätigte und damit den Eingriff in seine Rechte aus Artikel 8 Abs. 1 gering hielt. Überdies merkt der Gerichtshof an, dass die deutschen
Gerichte zu der Frage, ob das Verbringen von D. aus dem bulgarischen Hoheitsgebiet widerrechtlich war, unterschiedlicher Auffassung waren. In der ersten Instanz hatte das Amtsgericht Hamm festgestellt, dass C. D. widerrechtlich
verbracht habe, weil ihr Sorgerecht so auszulegen sei, dass es auf das bulgarische Hoheitsgebiet beschränkt sei. In der Beschwerdeinstanz lehnte es das Oberlandesgericht Hamm jedoch ab, die Rückführung von D. anzuordnen. Es
stellte fest, dass die bulgarischen Gerichte C. das alleinige Sorgerecht für D. übertragen hatten.
Die Entscheidungen enthielten keinen Hinweis auf eine mögliche Beschränkung dieses Rechts auf das bulgarische Hoheitsgebiet. Das Oberlandesgericht Hamm legte ausführlich die Gründe dafür dar, dass weder das von dem
Beschwerdeführer beigebrachte private Sachverständigengutachten noch die von dem bulgarischen Justizministerium vorgelegte Widerrechtlichkeitsbescheinigung es überzeugt hatten, und erklärte, dass es durch eine derartige
Bescheinigung nicht gebunden sei. Es führte konkret aus, dass in den Entscheidungen der bulgarischen Gerichte nichts darauf hindeute, dass das Sorgerecht von C. auf das bulgarische Hoheitsgebiet beschränkt sei. Insbesondere konnte
das Gericht nicht feststellen, dass eine derartige Beschränkung sich aus dem vorläufigen Charakter der bulgarischen Gerichtsentscheidungen ergebe. Daher muss dieser Fall von der Sache Monory ./. Ungarn und Rumänien (a. a. O.
Randnrn. 80-81) unterschieden werden, in der die rumänischen Gerichte die Anwendbarkeit von Artikel 3 des Haager Übereinkommens von Anfang an abgelehnt hatten, obwohl der Beschwerdeführer ein Mitsorgerecht hatte. Im
vorliegenden Fall hat das zuständige deutsche Gericht zutreffende Gründe für seine Entscheidung angeführt, die Rückführung von D. nach Bulgarien zu versagen.
Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass in Anbetracht des operativen Eingriffs von D. im August 2005 und des unsicheren Aufenthaltsstatus von C. in Bulgarien sowie der Tatsache, dass der Beschwerdeführer das mit C. bestehende
Arbeitsverhältnis im Oktober 2005 gekündigt hatte, nicht davon ausgegangen werden kann, dass C. ihr Sorgerecht missbrauchte, als sie D. nach Deutschland verbrachte und mit ihm im Dezember 2005 eine eigene Wohnung in O.
bezog. Die bulgarischen Gerichte waren sich dieser Umstände vielmehr bewusst, als sie C. das Sorgerecht für D. 2006 übertrugen. Überdies kündigte der Beschwerdeführer das mit C. bestehende Arbeitsverhältnis im Oktober 2005.
Bei der Prüfung, ob die von dem Oberlandesgericht angeführten Gründe im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 "hinreichend" waren, muss der Gerichtshof auch feststellen, ob der Entscheidungsprozess als Ganzes dem Beschwerdeführer den
erforderlichen Schutz seiner Interessen zuteil werden ließ (siehe Rechtssache S. ./.Deutchland [GK], Individualbeschwerde Nr. 30943/96, Randnr.68 EGMR 2003-VIII). Der Gerichtshof stellt in diesem Zusammenhang fest, dass der
während des gesamten Verfahrens anwaltlich vertretene Beschwerdeführer in zwei Instanzen angehört wurde. Zudem wurden D. und die Verfahrenspflegerin von dem Amtsgericht angehört, und das Jugendamt legte einen Bericht vor.
Da es in dem innerstaatlichen Verfahren ausschließlich um eine Rechtsfrage ging, nämlich ob D. widerrechtlich aus Bulgarien verbracht worden war, und im Hinblick darauf, dass es generell Sache der innerstaatlichen Gerichte ist, die
ihnen vorliegenden Beweise zu würdigen, was auch für die Mittel zur Feststellung des erheblichen Sachverhalts gilt (siehe Rechtssache S. , a. a. O. Randnr. 73), ist der Gerichtshof überzeugt, dass die Verfahrensweise der deutschen
Gerichte, insbesondere die Entscheidung des Oberlandesgerichts, von einer erneuten Anhörung von D. abzusehen, unter den gegebenen Umständen angemessen war. Der Gerichtshof stellt insoweit fest, dass der Entscheidungsprozess
dem Beschwerdeführer den erforderlichen Schutz seiner Interessen zuteil werden ließ.
Der Gerichtshof ist unter Berücksichtigung aller Umstände der Auffassung, dass die angeführten Gründe im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 nicht nur zutreffend, sondern auch ausreichend waren. Im Hinblick auf den Ermessensspielraum
der nationalen Gerichte in diesem Fall war der gerügte Eingriff in Bezug auf das verfolgte rechtmäßige Ziel insbesondere nicht unverhältnismäßig. Im Ergebnis ist festzustellen, dass sich aus der Weigerung des Oberlandesgerichts, den
Sohn des Beschwerdeführers nach Bulgarien zurückzuführen, keine Verletzung des Artikels 8 der Konvention ergibt.
Daraus folgt, dass diese Rüge nach Artikel 35 Abs. 3 der Konvention offensichtlich unbegründet ist und nach Artikel 35 Abs. 4 zurückzuweisen ist.
2 . Der Beschwerdeführer machte auch eine Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention wegen der angeblich willkürlichen Rechtsauslegung durch das Oberlandesgericht und des Fehlens einer Begründung in der Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts geltend. Unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und soweit die gerügten Angelegenheiten in seine Zuständigkeit fallen, stellt der Gerichtshof auch unter Bezugnahme auf
seine Feststellungen nach Artikel 8 fest, dass dieser Teil der Beschwerde keine Anzeichen für eine Verletzung der Konvention erkennen lässt.Sie ist folglich im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 offensichtlich unbegründet und muss nach
Artikel 35 Abs. 4 der Konvention zurückgewiesen werden.
Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof die Beschwerde einstimmig für unzulässig. ..." (EGMR, Entscheidung vom 13.10.2009 - 37395/08)
***
Der Gerichtshof stellt fest, dass die Übertragung der elterlichen Sorge ein Eingriff in das nach Artikel 8 Abs. 1 garantierte Recht der Beschwerdeführerin auf Achtung ihres Familienlebens war. Ein derartiger Eingriff zieht eine
Verletzung des Artikels 8 nach sich, soweit er nicht „gesetzlich vorgesehen" ist, ein Ziel oder Ziele verfolgt, die nach Artikel 8 Abs. 2 rechtmäßig sind, und zur Erreichung dieses Ziels oder dieser Ziele „in einer demokratischen
Gesellschaft notwendig ist". Der Gerichtshof erkennt an, dass die betreffenden Entscheidungen auf innerstaatlichem Recht, nämlich auf § 1671 BGB, beruhten. Der Gerichtshof ist überdies der Ansicht, dass die angegriffenen
Entscheidungen den Schutz des Kindeswohls zum Ziel hatten, was ein legitimes Ziel im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 darstellt.
Bei der Entscheidung darüber, ob eine angefochtene Maßnahme „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" war, hat der Gerichtshof zu prüfen, ob die zur Rechtfertigung dieser Maßnahme angeführten Gründe in Anbetracht des
Falls insgesamt im Sinne von Artikel 8 Absatz 2 der Konvention zutreffend und ausreichend waren.
Der Gerichtshof stellt insoweit fest, dass bei jedem Fall dieser Art die Überlegung, was dem Kindeswohl am besten diente, von entscheidender Bedeutung ist. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass die nationalen Behörden insoweit im
Vorteil sind, als sie unmittelbaren Kontakt zu allen Beteiligten haben. Die Aufgabe des Gerichtshofs besteht demnach nicht darin, an Stelle der nationalen Behörden deren Aufgaben in Fragen des Sorgerechts wahrzunehmen, sondern
im Lichte der Konvention die Entscheidungen zu überprüfen, die diese Behörden in Ausübung ihres Ermessens getroffen haben (siehe Rechtssache S. und S. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerden Nr. 30943/96 und Nr.
31871/96, Randnr. 64 bzw. Randnr. 62, EGMR 2003-VIII).
Der Gerichtshof merkt in vorliegender Rechtssache an, dass die nationalen Gerichte, die sich bei der Übertragung der alleinigen Sorge auf den Kindesvater auf ihre Tatsachenwürdigung und das Sachverständigengutachten gestützt
hatten, keinen Grund dafür feststellten, das Kind aus der Umgebung herauszureißen, in der es seit über einem Jahr gelebt hatte und in der es sich wohl fühlte. Ihrer Ansicht nach war ein weiterer Umzug mit dem Bedürfnis des Kindes
nach Stabilität unvereinbar. Mit Blick darauf, dass die Beschwerdeführerin das Kind entgegen vorheriger Vereinbarung unter Verletzung des väterlichen Teilsorgerechts im Oktober 2003 nach Polen verbracht hatte, stellten sie die
Fähigkeit der Beschwerdeführerin in Frage, im Interesse des Kindeswohls zu handeln und zugleich auch die Interessen des Kindesvaters zu berücksichtigen.
Der Gerichtshof kann nicht feststellen, dass diese Würdigung willkürlich ist oder das Kindeswohl nicht angemessen berücksichtigte. Die von den nationalen Gerichten angegebenen Gründe waren im Sinne des Artikels 8 Abs. 2 nicht
nur zutreffend, sondern auch ausreichend. Gleichwohl ist festzustellen, ob der Entscheidungsprozess insgesamt der Beschwerdeführerin den erforderlichen Schutz ihrer Interessen zuteil werden ließ (siehe Rechtssache S. ./.
Deutschland [GK] , a. a. O., Randnr.68).
Hinsichtlich des erstinstanzlichen Verfahrens merkt der Gerichtshof an, dass die anwaltlich vertretene Beschwerdeführerin in der Lage war, all ihre Argumente für die Beibehaltung der elterlichen Sorge persönlich und in schriftlicher
Form vorzubringen. Die Beweisgrundlage für die Entscheidung des Amtsgerichts umfasste ferner die Äußerungen des Kindes ausweislich des Protokolls des Termins vom 16. Dezember 2004 sowie die Erklärungen des Kindesvaters
und des Jugendamts. Überdies stützte das Amtsgericht seine Entscheidung auf ein Sachverständigengutachten, das auf der Grundlage von zwischen August und Oktober 2004 zusammengestellten Informationen erstattet worden war
und das nach Einschätzung des Amtsgerichts fachlich nicht zu beanstanden war. Darüber hinaus konnten Argumente im Namen des Kindes während des gesamten Verfahrens vorgetragen werden.
Mit Blick auf das Absehen von einer Verhandlung im Beschwerdeverfahren weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass die Durchführung einer Verhandlung sich erübrigen kann, wenn das Verfahren keine Tatsachen- oder
Rechtsfragen aufwirft, die auf der Grundlage der Verfahrensakten und der Parteienschriftsätze nicht angemessen entschieden werden können (siehe Rechtssache H. ./. Deutschland , Individualbeschwerde Nr. 28422/95, Randnr. 63, 5.
Dezember 2002). In vorliegender Rechtssache ist der Gerichtshof der Auffassung, dass das Amtsgericht Bielefeld den erheblichen Sachverhalt festgestellt hatte und das Beschwerdeverfahren nur sechs Monate später abgeschlossen wurde.
Unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen und des Ermessensspielraums der nationalen Behörden ist der Gerichtshof überzeugt, dass die Verfahrensweise der deutschen Gerichte den Umständen angemessen war und
genügend Material erbracht hat, um zu einer begründeten Entscheidung in der Frage der elterlichen Sorge in dem betreffenden Fall zu gelangen. Der Gerichtshof kann deshalb anerkennen, dass die sich aus Artikel 8 der Konvention
ergebenden Verfahrenserfordernisse erfüllt waren. Daher ist eine Verletzung der Rechte der Beschwerdeführerin aus Artikel 8 nicht ersichtlich.
Daraus folgt, dass die Rüge der Beschwerdeführerin offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Absätze 3 und 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
2. Die Beschwerdeführerin rügte ferner, dass sie im Sorgerechtsverfahren Opfer einer diskriminierenden Behandlung gewesen sei. Diese Rüge fällt unter die Prüfung nach Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 8 der Konvention.
Artikel 14 lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:
„Der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen ... der nationalen … Herkunft … zu gewährleisten."
Bei der Entscheidung darüber, ob der Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin auf Achtung des Familienlebens, der nach Artikel 8 Abs. 2 an sich zulässig war, in einer diskriminierenden Weise erfolgte, stellt der Gerichtshof fest,
dass sich die nationalen Gerichte in ihren Begründungen eindeutig auf die Feststellung beriefen, dass die Übertragung des alleinigen Sorgerechts auf den Kindesvater dem Wohl des Kindes diene. Die Beschwerdeführerin hat nicht
nachgewiesen, dass Mütter, die selbst oder deren Kinder nicht polnischer Herkunft sind, in einer vergleichbaren Situation besser behandelt würden.
Daraus folgt, dass dieser Teil der Individualbeschwerde ebenfalls nach Artikel 35 Absätze 3 und 4 der Konvention als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen ist.
3. Die Beschwerdeführerin rügte überdies den Ausgang des Strafverfahrens wegen Kindesentführung und das Umgangsverfahren. Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass, selbst wenn die vollständige Erschöpfung des innerstaatlichen
Rechtwegs unterstellt wird, es keine Anzeichen für eine Verletzung der in der Konvention oder den Protokollen dazu bezeichneten Rechte und Freiheiten gibt.
Daraus folgt, dass dieser Teil der Individualbeschwerde ebenfalls nach Artikel 35 Absätze 3 und 4 der Konvention als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen ist.
Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof die Beschwerde einstimmig für unzulässig. ..." (EGMR, Entscheidung vom 25.08.2009 - 11328/06)
***
Im französischen Recht ist die zivilrechtliche Haftung bei Verletzung des Rechts am eigenen Bild (das seit Einfügung des Art. 9 Code Civil aus dem Recht auf Schutz des Privatlebens abgeleitet wird) zwar nicht ausdrücklich
gesetzlich verankert; aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist jedoch bereits seit 1858 herzuleiten, dass das Recht am eigenen Bild Bestandteil des Privatlebens einer Person und als solches geschützt ist. Eine Verurteilung wegen
Verletzung der Privatsphäre auf Grund Veröffentlichung des Bildes einer Person ohne deren Einwilligung ist daher in Frankreich "im Gesetz vorgesehen" i.S.d. Art. 10 Abs. 2 EMRK. Stehen sich einerseits das Recht auf freie
Meinungsäußerung (das auch das Recht der Öffentlichkeit auf Information umfasst) und das Recht einer Person auf Achtung ihres Privatlebens andererseits gegenüber, handelt es sich um fundamentale Rechte, die a priori eine gleiche
Beachtung verdienen und die Gerichte veranlassen müssen, ein faires Gleichgewicht zwischen diesen durch die Konvention garantierten Rechten und Freiheiten herbeizuführen. Veröffentlichungen im Bereich der Sensationspresse
oder der so genannten "Herzblätter", die üblicherweise die Neugier eines bestimmten Publikums für Details des engeren Privatlebens von Prominenten befriedigen wollen, tragen in der Regel nicht zur öffentlichen Debatte für die
Gesellschaft als Ganzes bei mit der Folge, dass die freie Meinungsäußerung unter diesen Voraussetzungen eine engere Auslegung verlangt. Hat ein prominenter Sänger, der von einem mit Fotos versehenen Bericht über sein
Privatleben einschließlich seiner "Verschwendungssucht" betroffen ist, früher selbst, insbesondere in einer Autobiographie, negative Umstände seines Lebenswandels und die Art und Weise, wie er sein Geld verwendet hat, der
Öffentlichkeit zugänglich gemacht, wird dadurch der Schutz seiner Privatsphäre gegenüber einer späteren Verwertung dieser Umstände in der Presse abgeschwächt. Er kann sich insoweit nicht mehr auf eine "berechtigte Erwartung"
berufen, dass seine Privatsphäre wirksam geschützt sei. Auch die Veröffentlichung der eigentlich nur zu Werbezwecken erstellten Fotos des Sängers ist zulässig, wenn sie dazu dient, die Informationen im Text zu belegen, nach denen
der Sänger sein Bildnis für Konsumprodukte verkauft hat, um seine finanziellen Bedürfnisse abdecken zu können. Im Rahmen der Wahrnehmung der journalistischen Freiheit in einer demokratischen Gesellschaft ist auch ein gewisses
Maß an Übertreibung und Provokation in der Darstellung zulässig, wenn diese ansonsten keinen beleidigenden Charakter oder die Absicht, dem Betroffenen zu schaden, erkennen lässt. Hat das französische Gericht die der
Berichterstattung vorhergehende Information der Öffentlichkeit nur bei der Bemessung des zugesprochenen Schadensersatzanspruchs, nicht aber bei der Abwägung zwischen dem Recht des Presseorgans auf freie Meinungsäußerung
und demjenigen des Prominenten auf Achtung seiner Privatsphäre zugrundegelegt, so hat es keinen fairen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen getroffen und daher Art. 10 EMRK verletzt (EGMR, Urteil vom
23.07.2009 - 12268/03 - juris).
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Hat ein Zeitungsverleger in einem zivilrechtlichen Verfahren einen Vergleich abgeschlossen, in dem er sich verpflichtet, eine bestimmte Veröffentlichung nicht zu wiederholen, akzeptiert er die Begrenzung seines Rechts auf freie
Meinungsäußerung und verzichtet auf die Erhebung entsprechender Rechtsbehelfe in Bezug auf den Beschwerdesachverhalt. Daher kann er nicht behaupten, in Bezug auf den behaupteten Eingriff in einem Recht i.S.d. Art. 34 MRK
verletzt zu sein. Seine Beschwerde ist deshalb als unvereinbar ratione personae gemäß Art. 35 Abs. 3 und 4 MRK zurückzuweisen. Das Recht der Öffentlichkeit auf Information kann sich in bestimmten besonderen Fällen auch auf das
Privatleben von Personen des öffentlichen Lebens erstrecken, vor allem bei Politikern. Allerdings hat jede Person, auch wenn sie in der allgemeinen Öffentlichkeit bekannt ist, eine "berechtigte Erwartung" auf Schutz und der
Anerkennung ihres Privatlebens und insbesondere auf Schutz gegen die Verbreitung von unbegründeten Gerüchten über die intimen Seiten ihres Privatlebens ( EGMR, Urteil vom 04.06.2009 - 21277/05).
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Art. 9 EMRK Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit
(1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln,
und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen.
(2) Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit,
zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.
Leitsätze/Entscheidungen:
Der Begriff "Opfer" in Art 34 EMRK (Individualbeschwerden) muss autonom und unabhängig von entsprechenden Begriffen im staatlichen Recht, wie z. B. dem Rechtsschutzinteresse, ausgelegt werden. Opfer ist zunächst der direkt
von einer angeblichen Menschenrechtsverletzung Betroffene, ausnahmsweise auch ein nur indirekt Betroffener, z. B. Angehörige von Opfern. Auch mögliche Opfer können in Ausnahmefällen berechtigt sein, Beschwerde einzulegen,
z. B. wenn das angegriffene Gesetz geheime Maßnahmen erlaubt, so dass der Beschwerdeführer nicht darlegen kann, dass es auf ihn angewendet worden ist, wenn das angegriffene Gesetz ein Verhalten mit Strafe bedroht und der
Beschwerdeführer deswegen sein Verhalten ändern musste oder wenn er einer Personengruppe angehört, die Gefahr läuft, direkt von Auswirkungen des angegriffenen Gesetzes betroffen zu werden. Einerlei, ob es sich um eine direkte,
indirekte oder mögliche Beschwer handelt, muss jedenfalls ein direkter Zusammenhang zwischen dem Beschwerdeführer und dem Schaden bestehen, den er durch eine Konventionsverletzung erlitten zu haben glaubt. Die Konvention
kennt keine Popularklage zur Auslegung der in ihr garantierten Rechte. Der Beschwerdeführer beschwert sich über eine Schweizer Verfassungsvorschrift und macht nicht geltend, sie sei auf ihn angewendet worden. Er ist weder
direktes noch indirektes Opfer der behaupteten Konventionsverletzung, und auch kein mögliches Opfer, weil sein Verhalten nicht durch die umstrittene Verfassungsvorschrift beeinflusst wurde. Er behauptet auch nicht, dass er in
absehbarer Zeit eine Moschee mit einem Minarett bauen möchte. Deswegen ist seine Beschwerde ratione personae unvereinbar mit der Konvention und als unzulässig zurückzuweisen. Art 13 EMRK (Recht auf eine wirksame
Beschwerde) garantiert keinen Rechtsbehelf, mit dem man bei einem staatlichen Gericht geltend machen kann, dass ein Gesetz nicht mit der Konvention vereinbar sei (EGMR, Entscheidung vom 28.06.2011 - 65840/09 zu EMRK Art.
9, 13, 14, 34, 35 III, IV, BeckRS 2011, 25462).
***
Anhänger des Laizismus vertreten Auffassungen, die das Maß an Folgerichtigkeit, Ernsthaftigkeit, Geschlossenheit und Bedeutung erreichen, das erforderlich ist, damit sie als "Überzeugungen" i. S. von Art. 2 S. 2 Zusatzprotokoll zur
EMRK (Recht auf Bildung) angesehen werden können, genauer gesagt als "weltanschauliche Überzeugungen", denen Achtung in einer demokratischen Gesellschaft gebührt. Für Bildung und Unterricht ist Art. 2 Zusatzprotokoll zur
EMRK lex specialis gegenüber Art. 9 EMRK (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit), muss aber unter Berücksichtigung dieser Vorschrift ausgelegt werden, die auch die Freiheit garantiert, keiner Religion anzugehören. Die
Staaten haben die Pflicht, die Ausübung verschiedener Religionen, Konfessionen und Glaubensüberzeugungen neutral und unparteiisch zu gewährleisten. Das gilt für die Beziehungen zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen sowie
für die zwischen Anhängern unterschiedlicher Glaubensüberzeugungen. Die Staaten müssen bei Erfüllung ihrer Aufgaben in Erziehung und Unterricht darauf achten, dass Informationen und Kenntnisse auf objektive, kritische und
pluralistische Weise vermittelt werden, die den Schülern ermöglicht, in einer ruhigen Atmosphäre eine kritische Einstellung gegenüber der Religion fern von jedem unangebrachten Bekehrungseifer zu entwickeln. Der Staat darf nicht
indoktrinieren. Art. 2 S. 2 Zusatzprotokoll zur EMRK erfasst auch die Gestaltung des schulischen Umfelds, wenn Behörden dafür zuständig sind, und damit das Vorhandensein von Kruzifixen. Auch dabei ist das Recht der Eltern zu
achten, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen. Das Kruzifix ist vor allem ein religiöses Symbol. Der Gerichtshof hat keine Anhaltspunkte, die
für einen möglichen Einfluss eines religiösen Symbols auf Schüler sprechen. Die verständliche subjektive Empfindung der Eltern genügt nicht. Weil die Staaten bei der Entscheidung, ob sie eine Tradition fortsetzen und ein Kruzifix
im Klassenzimmer anbringen wollen, einen weiten Ermessensspielraum haben, muss der Gerichtshof ihre Entscheidung grundsätzlich respektieren, vorausgesetzt, dass sie keine Indoktrinierung zur Folge hat. Das Anbringen von
Kruzifixen macht die Mehrheitsreligion des Landes in der Schule besonders sichtbar. Das allein ist keine Indoktrinierung. Das Kruzifix ist ein wesentlich passives Symbol. Die italienischen Behörden und Gerichte haben bei ihrer
Entscheidung, es in Klassenzimmern zu belassen, den ihnen zustehenden Ermessensspielraum nicht überschritten. Deswegen ist Art. 2 Zusatzprotokoll zur EMRK nicht verletzt. Art. 2 S. 2 Zusatzprotokoll zur EMRK gibt Schülern
einen Anspruch auf Unterrichtung unter Achtung ihres Rechts, zu glauben oder nicht zu glauben. Dieses Recht ist aber aus den oben erwähnten Erwägungen nicht verletzt (EGMR, Urteil vom 18.03.2011 - 30814/06 zu EMRK Art. 9,
14, 41; Zusatzprotokoll zur EMRK Art. 2).
***
Für die Berechnung der Sechsmonatsfrist des Art. 35 I EMRK ist im vorliegenden Fall das Datum des Eingangs der dem Beschwerdeführer mit gewöhnlichem Brief zugestellten Entscheidung des BVerfG maßgebend. Anhaltspunkte
dafür, dass der Eingangsstempel des Anwalts auf der Entscheidung nicht ordnungsgemäß angebracht wurde, liegen nicht vor. Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK ist ein Grundpfeiler der
"demokratischen Gesellschaft" i. S. der Konvention. Sie ist in ihrer religiösen Dimension eines der wichtigsten Elemente, das die Identität der Gläubigen und ihre Auffassung vom Leben bestimmt. Doch sie ist auch ein wertvolles Gut
für Atheisten, Agnostiker, Skeptiker und Gleichgültige. Der von einer demokratischen Gesellschaft untrennbare Pluralismus - teuer erkauft über die Jahrhunderte - hängt von ihr ab. Zur Religionsfreiheit gehört auch die Freiheit, seine
Religionszugehörigkeit oder seine religiösen Überzeugungen nicht angeben zu müssen. Staatliche Behörden haben nicht das Recht, in die Gewissensfreiheit des Einzelnen einzugreifen und nach seinen religiösen Überzeugungen zu
fragen oder ihn zu zwingen, seine Glaubensüberzeugungen zu offenbaren. Die Pflicht des Beschwerdeführers, auf der Lohnsteuerkarte seine Mitgliedschaft in einer Kirche oder Religionsgemeinschaft anzugeben, ist ein Eingriff in
seine nach Art. 9 I EMRK geschützte Religionsfreiheit. Der Eingriff war "gesetzlich vorgesehen" und verfolgte ein berechtigtes Ziel i. S. von Art. 9 II EMRK, nämlich das den Kirchen und Religionsgemeinschaften nach dem GG
garantierte Recht zu sichern, Kirchensteuer zu erheben. Der Eingriff war verhältnismäßig, denn der Vermerk auf der Steuerkarte besagt lediglich, dass der Beschwerdeführer keiner Kirche oder Religionsgemeinschaft angehört, die
Steuern zu erheben berechtigt ist. Außerdem wird die Steuerkarte nur zur Vorlage beim Arbeitgeber verwendet, und im Übrigen hält sich die Regelung im Rahmen des Ermessensspielraums, der den Konventionsstaaten in diesem
Bereich zusteht. Obwohl der Beschwerdeführer vor dem BVerfG nur Verletzung seiner Religionsfreiheit gerügt hat, ist seine Beschwerde nach Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) nicht unzulässig nach
Art. 35 I EMRK, denn nach der Rechtsprechung des BVerfG wird bei einer mit der Religionsfreiheit vereinbarten Maßnahme eine Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung nicht mehr geprüft. Der Eingriff in die
Rechte nach Art. 8 I EMRK ist jedoch nach Art. 8 II gerechtfertigt. Diskriminierung (Art. 14 EMRK) hat der Beschwerdeführer nicht vor dem BVerfG gerügt, obwohl die Verfassungsbeschwerde eine wirksame Beschwerde i. S. von
Art. 13 EMRK ist, die ein Beschwerdeführer grundsätzlich erheben muss, bevor er den Gerichtshof anruft. Die Beschwerde ist daher insoweit nach Art. 35 I EMRK unzulässig (EGMR, Urteil vom 17.02.2011 - 12884/03 zu EMRK
Art. 8, 9, 13, 14, 35 I, IIIa, IV).
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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat festgestellt, dass die Kündigung einer bei der evangelischen Kirche angestellten Kindergärtnerin wegen Mitgliedschaft in anderer Religionsgemeinschaft
gerechtfertigt war. Die Beschwerdeführerin ist Katholikin und arbeitete als Erzieherin in einem Kindergarten der Evangelischen Kirche in Pforzheim. Ihr Arbeitsvertrag sah vor, dass auf das Arbeitsverhältnis die
Arbeitsrechtsregelungen für Mitarbeiter der evangelischen Landeskirche anwendbar seien. Diese enthalten u.a. eine Bestimmung, die den Mitarbeiter zu Loyalität gegenüber der evangelischen Kirche verpflichtet und eine
Mitgliedschaft oder Mitarbeit in Organisationen untersagt, deren Grundauffassung oder Tätigkeit im Widerspruch zum Auftrag der Kirche stehen. Die Kirche wurde im Dezember 1998 anonym über die Mitgliedschaft Frau
Siebenhaars in einer anderen Religionsgemeinschaft, der "Universalen Kirche / Bruderschaft der Menschheit", und über die Tatsache informiert, dass sie für diese Gemeinschaft Einführungskurse in deren Lehre anbot. Nachdem Frau
Siebenhaar zunächst zu der Angelegenheit befragt worden war, informierte die Kirche sie mit Zustimmung der Mitarbeitervertretung über ihre fristlose Kündigung mit Wirkung zum 01.01.1999. Das ArbG Pforzheim wies die
Beschwerde Frau Siebenhaars gegen ihre Kündigung im Februar 1999 zurück, da sie die aus ihrem Arbeitsvertrag resultierende Loyalitätspflicht gegenüber der evangelischen Kirche verletzt habe. Nach Auffassung des Gerichts habe
dieser Verstoß einen wichtigen Grund für eine fristlose Kündigung i.S.v. § 626 Abs. 1 BGB dargestellt. Das LArbG Baden-Württemberg gab der Beschwerde Frau Siebenhaars teilweise statt, indem es befand, dass der Verstoß gegen
ihre Loyalitätspflicht keine fristlose Kündigung gerechtfertigt habe. Das BAG hob das Urteil auf und wies die Beschwerde zurück. Es verwies dabei insbesondere auf die Tatsache, dass Frau Siebenhaar nicht nur Einführungskurse in
die Lehre der "Universalen Kirche" angeboten habe, sondern auch als Kontaktperson auf Anmeldeformularen für "Grundkurse für höheres geistiges Lernen" angegeben sei. Die evangelische Kirche habe daher berechtigterweise davon
ausgehen können, dass diese Aktivitäten die Arbeit Frau Siebenhaars im Kindergarten beeinträchtigen und die Glaubwürdigkeit der Kirche in Frage stellen würden. Zudem müsse die relativ kurze Betriebszugehörigkeit Frau
Siebenhaars berücksichtigt werden. Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde Frau Siebenhaars nicht zur Entscheidung angenommen. Die Arbeitsgerichte beriefen sich auf ein Grundsatzurteil des BVerfG v. 04.06.1985 (2 BvR
1703/83, 2 BvR 1718/83 und 2 BvR 856/84) zur Wirksamkeit von Kündigungen kirchlicher Mitarbeiter wegen der Verletzung von Loyalitätspflichten. Kirchliche Arbeitgeber hätten demnach das Recht, Arbeitsverhältnisse
eigenständig zu regeln, Arbeitsgerichte seien allerdings an die religiösen und moralischen Maßstäbe der Kirchen nur insoweit gebunden, als diese nicht mit den Grundsätzen der Rechtsordnung in Konflikt stünde. Frau Siebenhaar
beklagte sich über ihre fristlose Kündigung und berief sich dabei insbesondere auf Art. 9 EMRK. Die Beschwerde wurde am 29.04.2002 beim EGMR eingelegt. Die evangelische Landeskirche von Baden sowie die Evangelische
Kirche in Deutschland erhielten die Erlaubnis, als Drittparteien am Verfahren teilzunehmen und gaben schriftliche Stellungnahmen ab. Der EGMR hat entschieden, dass keine Verletzung von Art. 9 EMRK vorlag. Der Gerichtshof
hatte darüber zu befinden, ob die von den deutschen Arbeitsgerichten vorgenommene Abwägung zwischen dem Recht Frau Siebenhaars auf Religionsfreiheit gemäß Art. 9 EMRK einerseits und den Konventionsrechten der
evangelischen Kirche andererseits Frau Siebenhaar einen ausreichenden Kündigungsschutz gewährt hatte. Der Gerichtshof unterstrich, dass die Eigenständigkeit von Religionsgemeinschaften gegen unzulässige staatliche Einmischung
nach Art. 9 EMRK i.V.m. Art. 11 EMRK (Vereinigungsfreiheit) geschützt ist. Mit seinen Arbeitsgerichten und einem für die Überprüfung von deren Entscheidungen zuständigen Verfassungsgericht erfülle Deutschland im Grundsatz
die positive Verpflichtung des Staates gegenüber Klägern in arbeitsrechtlichen Streitfällen. Frau Siebenhaar hatte vor einem Arbeitsgericht geklagt, das dazu befugt war, über die Wirksamkeit ihrer Kündigung nach staatlichem
Arbeitsrecht unter Berücksichtigung des kirchlichen Arbeitsrechtes zu entscheiden. Das BAG war zu der Auffassung gelangt, dass sich ihr Arbeitgeber im Anbetracht ihres aktiven Engagements für die "Universale Kirche" nicht habe
darauf verlassen können, dass sie seine Ideale respektieren würde. Die deutschen Arbeitsgerichte haben alle wesentlichen Gesichtspunkte des Falls berücksichtigt und eine sorgfältige Abwägung der Interessen vorgenommen, so der
EGMR. Nach Auffassung der Gerichte kam die Kündigung einer notwendigen Maßnahme gleich, um die Glaubwürdigkeit der Kirche zu wahren, ein Interesse, das schwerer gewogen habe als Frau Siebenhaars Interesse, ihre Stelle zu
behalten. Die Gerichte haben ferner die relativ kurze Betriebszugehörigkeit Frau Siebenhaars berücksichtigt. Die Tatsache, dass die deutschen Gerichte den Interessen der evangelischen Kirche nach sorgfältiger Abwägung ein größeres
Gewicht eingeräumt hatten als denen Frau Siebenhaars, stehe nicht an sich in Konflikt mit der Konvention (EGMR, Entscheidung vom 03.02.2011 - 18136/02 zu § 626 BGB, Art 9 MRK, Art 11 MRK)
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Art. 9 EMRK (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) schützt zwar nicht jedes religiös begründete oder veranlasste Verhalten, doch kann die Befolgung bestimmter Nahrungsvorschriften unter Umständen als Ausdruck des
Praktizierens einer Glaubensüberzeugung i. S. von Art. 9 I EMRK angesehen werden. Die Entscheidung des Beschwerdeführers, die Nahrungsvorschriften seiner Religion, des Buddhismus, zu befolgen und sich vegetarisch zu
ernähren, kann als religiös motiviert angesehen werden, und war auch nicht unvernünftig. Art. 9 EMRK ist daher anwendbar. Angesichts der besonderen Umstände des Falls ist die Beschwerde unter dem Gesichtspunkt der positiven
Verpflichtungen zu prüfen, die sich aus Art. 9 EMRK für Polen ergeben. Besondere Vorkehrungen bei der Verpflegung eines Häftlings zu treffen, kann finanziell Folgen für das Gefängnis und indirekt für die Qualität der Behandlung
der anderen Häftlinge haben. Der Gerichtshof muss prüfen, ob der Staat zwischen den verschiedenen Interessen der Betroffenen einen fairen Ausgleich hergestellt hat. Das war im vorliegenden Fall nicht so, denn der Gerichtshof ist
nicht davon überzeugt, dass die Bereitstellung vegetarischer Kost für den Beschwerdeführer die Gefängnisbehörden überfordert und die Qualität des Essens der übrigen Häftlinge gemindert hätte (EGMR: Urteil vom 07.12.2010 -
18429/06 zu Art. 9 I EMRK, BeckRS 2011, 80240).
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Die Kündigung des Beschwerdeführers wegen Ehebruchs und Bigamie greift in sein Recht auf Achtung des "Privatlebens" i. S. von Art. 8 EMRK ein, ein umfassender Begriff, der einer erschöpfenden Definition nicht zugänglich ist.
Dabei geht es um die Frage, ob Deutschland im Rahmen seiner positiven Pflichten aus Art. 8 EMRK verpflichtet war, dem Beschwerdeführer dieses Recht der katholischen Kirchengemeinde gegenüber zu garantieren. In dem
Zusammenhang kommt es entscheidend darauf an, ob die deutschen Gerichte das Interesse der katholischen Kirchengemeinde auf Schutz ihrer Glaubwürdigkeit und die Interessen des Beschwerdeführers zu einem fairen Ausgleich
gebracht haben. Für die katholische Kirche ist die eheliche Treue ein zentrales Gebot ihrer Glaubens- und Sittenlehre, Ehebruch eine schwere sittliche Verfehlung. Nach Auffassung der deutschen Gerichte widersprechen diese
Vorgaben der Kirche nicht der Rechtsordnung. Zu ihr gehören aber auch die Grund- und Freiheitsrechte der Konvention, darunter das Recht des Art. 8 EMRK. Mit Unterzeichnung seines Arbeitsvertrags hat der Beschwerdeführer der
Kirche gegenüber aus freien Stücken Loyalitätspflichten übernommen, die seine Rechte nach Art. 8 EMRK bis zu einem gewissen Grad eingeschränkt haben. Das ist grundsätzlich zulässig. Allerdings hatte der Beschwerdeführer nicht
versprochen, im Fall einer Trennung oder Scheidung von seiner Ehefrau bis an das Ende seiner Tage enthaltsam zu leben. Bei Abwägung der unterschiedlichen Interessen haben die Arbeitsgerichte die Rechte und Interessen des
Beschwerdeführers nicht ausreichend berücksichtigt. Das betrifft insbesondere die beruflichen Folgen der Kündigung für den Betroffenen. Damit haben sie das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privat- und
Familienlebens nicht ausreichend geschützt und folglich gegen Art. 8 EMRK verstoßen (EGMR, Urteil vom 23.09.2010 - 1620/03 zu EMRK Art. 8, 9, 11, 35 III, 41, BeckRS 2010, 24772).
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Die Religionsfreiheit, ein Grundpfeiler der demokratischen Gesellschaft, umfasst u.a. die Freiheit, seine Religion öffentlich und mit anderen zu bekennen. Deswegen muss bei Auslegung von Art. 9 EMRK (Gedanken-, Gewissens- und
Religionsfreiheit) Art. 11 EMRK (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) berücksichtigt werden. Damit folgt aus dem Recht auf Religionsfreiheit für den Gläubigen das Recht, sich frei und ohne willkürliche staatliche Eingriffe
zusammenzuschließen. Unabhängige Religionsgemeinschaften sind für den Pluralismus in einer demokratischen Gesellschaft unabdingbare Voraussetzung und das Kernstück des von Art. 9 EMRK gewährten Schutzes. Die
Konventionsstaaten sind zu Neutralität und Unparteilichkeit verpflichtet und dürfen deshalb die Legitimität eines religiösen Glaubens nicht beurteilen. Doch haben sie das Recht, sich davon zu überzeugen, dass Ziele und Tätigkeiten
auch einer Religionsgemeinschaft mit der Rechtsordnung übereinstimmen, müssen das aber in einer Weise tun, die mit ihren Konventionspflichten vereinbar ist. Dabei unterliegen sie der Überwachung durch den Gerichtshof. Im
Übrigen darf der Staat von seiner Befugnis, staatliche Institutionen und den Bürger vor Vereinigungen zu schützen, die sie gefährden könnten, nur zurückhaltend Gebrauch machen, denn die Ausnahmen von der Vereinigungsfreiheit
(Art. 11 II EMRK ) sind eng auszulegen. Die Auflösung der Beschwerdeführerin zu 1 und das Verbot ihrer Aktivitäten haben die russischen Behörden und Gerichte damit begründet, sie habe ihre Mitglieder zur Zerstörung ihrer
Familien gezwungen; Rechte und Freiheiten ihrer Mitglieder und Dritter verletzt; ihre Mitglieder angestiftet, Selbstmord zu begehen oder ärztliche Behandlung abzulehnen; auf die Rechte von Eltern und Kindern eingewirkt;
insbesondere Kinder gegen den Willen von Eltern in die Gemeinschaft gelockt und Mitglieder ermutigt, gesetzliche Pflichten nicht zu erfüllen. Diese Vorwürfe haben die russischen Behörden und Gerichte entweder nicht substantiiert
oder nicht nachgewiesen. Außerdem waren die Auflösung der Beschwerdeführerin zu 1 und das Verbot ihrer Aktivitäten, einzige Sanktion bei einem Verstoß gegen das russische Religionsgesetz von 1997, außerordentlich
schwerwiegende und unverhältnismäßige Maßnahmen. Daher ist Art. 9 i.V. mit Art. 11 EMRK verletzt. Die Anträge der Beschwerdeführerin zu 1, sie erneut zu registrieren, wurden mit unterschiedlicher Begründung abgelehnt. Dieser
Eingriff in ihre von Art. 11 i. V. mit Art. 9 EMRK garantierten Rechte war willkürlich und deswegen nicht "gesetzlich vorgesehen" i.S. von Art. 9 II und 11 II EMRK. Die russischen Behörden und Gerichte haben nicht in gutem
Glauben gehandelt und ihre Pflicht zu Neutralität und Unparteilichkeit verletzt (EGMR, Urteil vom 10.06.2010 - 302/02 zu EGMR Art. 6, 9, 10, 11, 14, 35 III,IV, 41, 46).
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Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) garantiert einen Rechtsbehelf für Beschwerden, die nach der Konvention vertretbar sind. Er muss "wirksam" sein, das heißt insbesondere, er muss der "innerstaatlichen Instanz"
ermöglichen, über die Begründetheit der Beschwerde zu entscheiden und im Fall einer Rechtsverletzung angemessene Abhilfe zu schaffen. Dass den Beschwerdeführern in Griechenland ein solcher Rechtsbehelf zur Verfügung stand,
hat der beklagte Staat nicht nachgewiesen. Damit ist Art. 13 EMRK verletzt und die von der Regierung erhobene Einrede der Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe (Art. 35 I EMRK) zurückzuweisen. Die Gedanken-,
Gewissens- und Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK ist ein Grundpfeiler der "demokratischen Gesellschaft" i.S. der Konvention. Sie ist in ihrer religiösen Dimension einer der wichtigsten Elemente, das die Identität der Gläubigen und
ihre Auffassung vom Leben bestimmt. Doch sie ist auch ein wertvolles Gut für Atheisten, Agnostiker, Skeptiker und Gleichgültige. Der von einer demokratischen Gesellschaft untrennbare Pluralismus - teuer erkauft über die
Jahrhunderte - hängt von ihr ab. Zur Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK gehört auch die Freiheit, einer Religion nicht anzugehören oder sie nicht zu praktizieren, sowie das Recht des Einzelnen, seine Religionszugehörigkeit oder seine
religiösen Überzeugungen nicht bekunden zu müssen. Staatliche Behörden haben nicht das Recht, in die Gewissensfreiheit des Einzelnen einzugreifen und nach seinen religiösen Überzeugungen zu fragen oder ihn zu zwingen, seine
Glaubensüberzeugungen zu offenbaren. Um vor Beginn ihrer Vernehmung als Zeugen eine feierliche Erklärung abgeben zu können, anstatt einen Eid auf die Bibel zu leisten, mussten die Beschwerdeführer angeben, dass sie nicht
orthodoxe Christen seien. Damit mussten sie vor den griechischen Gerichten, öffentlich oder nicht, ihre religiösen Überzeugungen offen legen. Diese Regelung, die für den Strafprozess, aber nicht für den Zivilprozess in Griechenland
gilt, verstößt gegen die Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK (EGMR, Urteil vom 03.06.2010 - 42837/06, 3237/07, 3269/07, 35793/07 u. 6099/08, 42837/06 u a zu EMRK Art. 6, 8, 9, 13, 14, 34, 35 III, IV, 41, 46).
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„... 1. Das Grundgesetz
Artikel 4 Absatz 1 des Grundgesetzes sichert die Freiheit des Glaubens und des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses zu. Artikel 6 Absatz 2 garantiert, dass Pflege und Erziehung der Kinder
das natürliche Recht der Eltern sind. Artikel 7 Absatz 1 sieht vor, dass das gesamte Schulwesen unter der Aufsicht des Staates steht. Artikel 7 Absatz 2 sieht vor, dass die Erziehungsberechtigten das Recht haben, über die Teilnahme
des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen.
2. Das Schulgesetz
§ 13 des Schulgesetzes für Berlin vom 26. Januar 2004 sieht insbesondere vor, dass der (fakultative) Religions- oder Weltanschauungsunterricht Sache der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ist, die die Gewähr der
Rechtstreue und der Dauerhaftigkeit bieten und deren Bestrebungen auf eine umfassende Vermittlung des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses ausgerichtet sind. Diese Gemeinschaften stellen sicher, dass der Religions-
und Weltanschauungsunterricht gemäß den für den allgemeinen Unterricht geltenden Bestimmungen durchgeführt wird. Die Erziehungsberechtigten entscheiden über die Teilnahme der Kinder an diesem Unterricht, so lange diese das
14. Lebensjahr nicht vollendet haben. Die Schule hat für die Erteilung dieses Unterrichts an die angemeldeten Schüler wöchentlich zwei Unterrichtsstunden im Stundenplan der Klassen freizuhalten und Unterrichtsräume zur
Verfügung zu stellen. Die Schüler, die am Religionsunterricht nicht teilnehmen, haben unterrichtsfrei.
§ 46 Abs. 5 sieht insbesondere vor, dass Schüler aus wichtigem Grund von der Teilnahme an Unterrichts- oder Schulveranstaltungen ganz oder teilweise befreit werden können.
3. Der Rahmenlehrplan
Der Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe I betreffend „Ethik" für die Jahrgangsstufe 7 - 10, in Kraft gesetzt von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport Berlin zum Schuljahr 2006/2007, sah in Kapitel 2.2 (Grundlagen
und Aufgaben des Faches Ethik) folgendes vor:
Religiöse und weltanschauliche Neutralität
„Das Fach Ethik wird bekenntnisfrei - also religiös und weltanschaulich neutral - unterrichtet. Eine festlegende oder indoktrinierende Darstellung einer einzelnen Position hat zu unterbleiben. Dennoch ist der Unterricht nicht
wertneutral. Die Jugend soll im Geiste der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit erzogen werden. Dazu gehören Toleranz und Achtung anderer Überzeugungen, Verantwortung für die Erhaltung der natürlichen
Lebensgrundlagen und Vermeidung gewaltsamer Konfliktlösungen. Was in der Realität kontrovers ist, muss auch im Unterricht als Kontroverse wiederkehren. Vom Unterrichtenden wird erwartet, dass er zu den angesprochenen
Fragen und Wertkonflikten einen eigenen Standpunkt einnimmt und diesen glaubwürdig vertritt. Dabei ist es selbstverständlich, dass die Schülerinnen und Schüler vom Unterrichtenden nicht unzulässig beeinflusst werden."
In Kapitel 5 des Rahmenlehrplans sind sechs im Ethikunterricht zu behandelnde Themenfelder aufgelistet: „Identität, Freundschaft und Glück" - „Freiheit, Verantwortung und Solidarität" - „Diskriminierung, Gewalt und Toleranz" -
„Gleichheit, Recht und Gerechtigkeit" - „Schuld, Pflicht und Gewissen" - „Wissen, Hoffen und Glauben". Für jedes Themenfeld wird im Rahmenlehrplan vorgeschlagen, das Thema unter drei unterschiedlichen Perspektiven zu
behandeln: einer individuellen, einer gesellschaftlichen und einer ideengeschichtlichen Perspektive. So wird im ersten Themenfeld des Rahmenlehrplans vorgeschlagen, u.a. folgende Fragen zu erörtern: drei Formen der Freundschaft
bei Aristoteles; Idee der Brüderlichkeit; Gemeinschaft im Glauben. Beispiele im zweiten Themenfeld sind: Gesinnungs- und Verantwortungsethik; Autonomie und Mündigkeit; das religiöse Gebot der Nächstenliebe. Zu den Fragen im
dritten Themenfeld zählen: Sozialdarwinismus; kulturelle Identität; Formen der Feindesliebe in der Ethik der Weltreligion; Toleranz; platonische Liebe. Im vierten Themenfeld werden vorgeschlagen: anthropologische bzw. ethische
Grundlagen für Gleichheit und Ungleichheit der Menschen; Recht und Moral; Theorien und Prinzipien der Gerechtigkeit. Im fünften Themenfeld sieht der Rahmenlehrplan vor: die christliche Lehre von der Erbsünde; Kollektivschuld;
negative und positive Pflichten; Wesen und Ursprung des Gewissens; „Es", „Ich" und „Über-Ich". Im letzten Themenfeld werden im Rahmenlehrplan vorgeschlagen: Plato; Renaissance; Empirismus und Rationalismus; Utopien;
science-fiction; Romantik; Wachstum und Fortschritt; Glaube versus Aberglaube; Religionen und Ideologien; Monotheismus und Polytheismus; Religion, Kirche und Staat; Säkularisierung; Seelsorge und religiöse Gemeinschaft.
RÜGEN
Die Beschwerdeführer rügen, dass die erste Beschwerdeführerin zur Teilnahme am Ethikunterricht gezwungen wurde, dessen Einführung dem Gebot der staatlichen Neutralität widerspreche. Dieser Unterricht würde ihnen
Auffassungen aufnötigen, die mit ihrer religiösen Überzeugung nicht in Einklang stünden. Sie behaupten auch, der öffentliche Auftrag der Erziehungsaufsicht aus Artikel 7 Absatz 1 des Grundgesetzes zähle nicht zu den in Artikel 9
Absatz 2 der Konvention aufgeführten Einschränkungen. Sie berufen sch auf Artikel 9 der Konvention und Artikel 2 Satz 2 des Protokolls Nr. 1.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
Die Beschwerdeführer behaupten, die Einführung eines verbindlichen Ethikunterrichts in den Berliner Schulen hätte ihre Rechte nach Artikel 9 der Konvention und Artikel 2 Satz 2 des Protokolls Nr. 1 verletzt, die folgenden Wortlaut
haben: ...
Artikel 2 des Protokolls Nr. 1
„Niemandem darf das Recht auf Bildung verwehrt werden. Der Staat hat bei Ausübung der von ihm auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts übernommenen Aufgaben das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung und den
Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen."
Die Beschwerdeführer behaupten zunächst, die Einführung des Ethikunterrichts verstoße gegen das Gebot der Neutralität des Staates, der den Inhalt des Unterrichtsfaches bestimmt, die Bedeutung des Begriffes „Ethik" definiert und
die Bestandteile der „Wertebasis" festlegt, auf die sich der Unterricht stützt, und der für die Ausbildung der Unterrichtenden zuständig ist, über die der Staat einen wichtigen Einfluss auf die Schüler ausübt. Sie machen geltend, der
Inhalt des streitigen Ethikunterrichts würde mit ihrer religiösen Überzeugung nicht in Einklang stehen. Die in diesem Fach vermittelte Weltanschauung stünde im Gegensatz zur christlichen Ethik in zahlreichen Bereichen. Sie würde
grundsätzlich die Existenz Gottes leugnen, einen säkularen, atheistischen und religionsfeindlichen Aspekt aufweisen und sich insbesondere von den Ideen der Aufklärung und des Humanismus leiten lassen, wie das
Bundesverfassungsgericht unterstrichen hatte.Der Rahmenlehrplan, der übrigens ohne die Teilnahme von Vertretern der Religionsgemeinschaften ausgearbeitet worden sei, würde dem Thema Christentum wenig Platz einräumen,
obwohl es sich um die Religion der Mehrheit handelt, vergleichbar mit dem Islam in der Rechtssache Zengin ./. Türkei (Nr. 1448/04, CEDH 2007-XI). Die Beschwerdeführer sind auch der Ansicht, die den Schülern abverlangte aktive
Teilnahme an einem atheistischen Ethikunterricht würde nachhaltiger wirken und demnach in größerem Maße der Religionsfreiheit widersprechen als das Vorhandensein eines Kruzifixes an der Wand eines Klassenzimmers, was vom
Bundesverfassungsgericht jedoch als unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt wurde. Die Beschwerdeführer behaupten schließlich, dass der dem Staat nach Artikel 7 Abs. 1 des Grundgesetzes verliehene Erziehungsauftrag nicht zu
den Einschränkungen der Religionsfreiheit nach Artikel 9 Abs. 2 der Konvention zähle und demnach keine Rechtfertigung für die verbindliche Teilnahme am Ethikunterricht sei. Sie betonen, dass die Abmeldemöglichkeit (die von
den Vertragsstaaten mehrheitlich vorgesehen ist, siehe o.a. Sache Zengin , Rdnr. 34) jeglichen unrechtmäßigen Zwang in der Sache entbehrlich gemacht hätte, wie das Bundesverfassungsgericht im Übrigen im Rahmen einer
Verfassungsbeschwerde gegen die Einführung des Ethikunterrichts in Brandenburg nahegelegt habe. Insoweit weisen sie mit Nachdruck daraufhin, dass im Gegensatz zur Ausführung des Obersten Gerichts in seiner in jener Sache
ergangenen streitigen Entscheidung der Gegenstand dieser letzten Verfassungsbeschwerde nicht hinfällig geworden sei, weil ein Teil der Beschwerdeführer vor dem Bundesverfassungsgericht dem von diesem angebotenen
Vergleichsvorschlag nicht zugestimmt und den Gerichtshof im Übrigen mit einer entsprechenden Beschwerde befasst habe (Nr. 25159/04, D. ./. Deutschland ). 2 Einer Pressemitteilung der Evangelischen und der Katholischen Kirche
in Berlin vom 6. September 2006 zufolge sei die Anzahl der Teilnehmer am Religionsunterricht durch die Einführung des Ethikunterrichts und die Mehrbelastung um ein Viertel zurückgegangen.
Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass in Anbetracht der Umstände des Falles den Beschwerdeführern nicht angelastet werden kann, dass sie den Ausgang im Hauptsacheverfahren vor den innerstaatlichen Gerichten nicht
abgewartet haben. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts hatten sich nämlich die Verwaltungsgerichte mit den von den Beschwerdeführern aufgeworfenen Rechtsfragen umfassend auseinandergesetzt, so dass im Anschluss
an das Hauptsacheverfahren keine weiteren tatsächlichen Klärungen oder andere Schlussfolgerungen in der Hauptsache zu erwarten waren.
Der Gerichtshof ist sodann der Auffassung, dass die Rügen der Beschwerdeführer vornehmlich unter dem Blickwinkel des Artikels 2 Satz 2 des Protokolls Nr. 1 zu prüfen sind. Er erinnert daran, dass die wesentlichen Grundsätze
bezüglich der allgemeinen Auslegung dieser Bestimmung, die übrigens und insbesondere im Licht der Artikel 8, 9 und 10 der Konvention zu sehen ist, in zwei unlängst ergangenen Urteilen zusammengefasst worden sind (o.a. Sache
Hassan und Eylem Zengin , Rdnrn. 47-55, und Folgerø u.a. ./. Norwegen [GK], Nr. 15472/02, Rdnr. 84, CEDH 2007-VIII). Er hebt insbesondere hervor, dass für die Definition und Gestaltung des Lehrplans grundsätzlich die
Konventionsstaaten zuständig sind, die aber sicherstellen müssen, dass die im Lehrplan enthaltenen Informationen und Kenntnisse in sachlicher, kritischer und pluralistischer Weise vermittelt werden und den Schülern gestattet wird,
im Hinblick auf das Bekenntnis eine kritische Haltung in einer ausgeglichenen und von unangebrachter Proselytenmacherei befreiten Atmosphäre zu entfalten. Dem Staat ist insbesondere untersagt, eine Indoktrinierungsabsicht zu
verfolgen, die als Nichtbeachtung der religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern angesehen werden könnte, deren vordringliche Aufgabe es ist, die Erziehung und Unterweisung ihrer Kinder zu gewährleisten. Hier
zeichnet sich die Grenze ab, die nicht überschritten werden darf.
Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerdeführer im Wesentlichen behaupten, der Ethikunterricht sei nicht neutral und würde wegen seines säkularen Wesens ihren religiösen Überzeugungen widersprechen.
Er führt aus, dass der Ethikunterricht nach § 12 Abs. 6 des Schulgesetzes darauf abzielt, die Bereitschaft und Fähigkeit der Gymnasialschülerinnen und -schüler unabhängig von ihrer kulturellen, ethnischen, religiösen oder
weltanschaulichen Herkunft zu fördern, sich mit grundlegenden kulturellen und ethischen Problemen des individuellen Lebens und des gesellschaftlichen Zusammenlebens auseinanderzusetzen, um soziale Kompetenz, interkulturelle
Dialogfähigkeit und ethische Urteilsfähigkeit zu erwerben. Zu diesem Zweck vermittelt der Ethikunterricht den Schülern Kenntnisse über Philosophie, religiöse und weltanschauliche Ethik, verschiedene Kulturen und Lebensweisen
sowie über die großen Weltreligionen. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts stellt die Offenheit für eine Vielfalt von Meinungen und Auffassungen die Voraussetzung einer öffentlichen Schule in einem
freiheitlich-demokratischen Staatswesen dar, das zu Recht der Entstehung von religiös oder weltanschaulich motivierten Parallelgesellschaften entgegen wirken und die Integration von Minderheiten fördern sollte. Die Fähigkeit der
Schüler zu Toleranz und Dialog stelle eine Grundvoraussetzung für die Teilnahme am demokratischen Prozess und Zusammenleben im wechselseitigen Respekt der unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen und Weltanschauungen dar.
Nach Ansicht des Gerichtshofs stehen die Zielsetzungen des Ethikunterrichts in Einklang mit den Grundsätzen des Pluralismus und der Sachlichkeit im Sinne des Artikels 2 des Protokolls Nr. 1 (siehe o.a. Sache Zengin , Rdnr. 59, o.a.
Sache Folgerø , Rdnr. 88, und K. ./. Deutschland (Entsch.), Nr. 35504/03, 11. September 2006) und mit den von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats angenommenen Empfehlungen (siehe o.a. Sache Zengin , Rdnrn. 26
und 27). Er erinnert daran, dass er in den genannten Rechtssachen Zengin und Folgerø eine Verletzung des Artikels 2 des Protokolls Nr. 1 festgestellt hat, weil die Betroffenen in diesen Sachen zur Teilnahme an einem religiös
geprägten Unterricht gezwungen waren, obwohl sie in der ersten Sache einem islamischen Glauben angehörten, der sich vom Glauben der Mehrheit unterscheidet, beziehungsweise in der zweiten Sache gar keiner Religion. In der
vorliegenden Sache ist jedoch festzustellen, dass es sich bei dem Ethikunterricht, den die erste Beschwerdeführerin besuchen musste, um einen neutralen Unterricht handelt, in dem keiner bestimmten Religion oder Überzeugung
besonderes Gewicht beigemessen wird, sondern der darauf abzielt, den Schülern eine gemeinsame Wertebasis zu vermitteln und diese zur Offenheit gegenüber andersgläubigen Personen heranzubilden. Der Gerichtshof stellt ebenfalls
in Anlehnung an die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts fest, dass zwar nach dem Rahmenlehrplan vom Unterrichtenden erwartet wird, dass er zu den im Fach angesprochenen Ethikfragen einen eigenen Standpunkt
einnimmt und diesen gegenüber den Schülern glaubwürdig vertritt, die Schüler gleichwohl nicht unzulässig beeinflusst werden dürfen. Was den Ethikunterricht in der Praxis anbelangt, stellt er fest, die Beschwerdeführer hätten nicht
geltend gemacht, dass die während des Schuljahres 2006-2007 in diesem Fach vermittelten Kenntnisse ihre religiösen Überzeugungen nicht beachtet hätten und einer Indoktrinierungsabsicht dienten. Das Verwaltungsgericht hat zudem
unterstrichen, dass die konkrete Durchführung des Unterrichts nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sei.
Was das Vorbringen der Beschwerdeführer anbelangt, dass das Christentum im Unterrichtsprogramm trotz der christlichen Tradition in Deutschland nicht hinlänglich berücksichtigt werde, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass
zwar vor dem Hintergrund seiner Rechtsprechung das Schulprogramm eines Konventionsstaates angesichts der Geschichte und Tradition des Landes einer bestimmten Religion einen größeren Kenntnisstand einräumen kann, ohne
dass dies zu einer Indoktrinierung im Widerspruch zu den Grundsätzen des Pluralismus und der Sachlichkeit führt (o.a. Sache Zengin , Rdnr. 63, o.a. Sache Folgerø , Rdnr. 89), die Wahl der Berliner Schulbehörden zugunsten eines
neutralen Ethikunterrichts, der die einzelnen Glaubensrichtungen und Überzeugungen behandelt, jedoch an sich kein Problem im Hinblick auf die Konvention aufwirft. Er stellt diesbezüglich fest, dass das Bundesverfassungsgericht
diese Wahl angesichts der spezifischen tatsächlichen Gegebenheiten und der religiösen Orientierung des Landes Berlin bestätigt hat. Die Einschätzung des Berliner Gesetzgebers, wonach die zum Ausdruck gebrachten Zielsetzungen
besser erreicht werden könnten, wenn nur ein gemeinsamer verbindlicher Unterricht vorgesehen wird, statt eines getrennt erteilten Unterrichts der Schüler je nach religiöser oder weltanschaulicher Zugehörigkeit oder einer Erörterung
von Wertefragen in anderen Schulfächern, fällt in den hier maßgeblichen Ermessensspielraum der Staaten und dürfte grundsätzlich keiner Opportunitätsprüfung des Gerichtshofs unterliegen ( Kjeldsen, Busk Madsen und Pedersen ./.
Dänemark , 7. Dezember 1976, Rdnr. 53, Serie A Bd. 23, Jimenez Alonso und Jimenez Merino ./. Spanien (Entsch.), Nr. 51188/99, 25. Mai 2000 und Valsamis ./. Griechenland , 18. Dezember 1996, Rdnrn. 28 und 31-32, Urteils- und
Entscheidungssammlung 1996-VI).
Insoweit die Beschwerdeführer behaupten, dass der Ethikunterricht ihren religiösen Überzeugungen widerspricht, stellt der Gerichtshof fest, dass weder das Schulgesetz noch der Rahmenlehrplan die Schlussfolgerung gestatten, dieser
Unterricht ziele darauf ab, eine ganz bestimmte Glaubensrichtung zu bevorzugen oder andere außer Acht zu lassen oder zu bekämpfen, insbesondere das Christentum. In diesem Zusammenhang stellt er fest, dass nach dem
Rahmenlehrplan die Behandlung einer Vielzahl von ethischen Themen angeboten wird, zu denen „das religiöse Gebot der Nächstenliebe", „die Feindesliebe", die christliche Lehre von der Erbsünde und die Religionen generell
(Monotheismus, Polytheismus, Kirche und Staat, religiöse Gemeinschaft)" zählen. Außerdem ist festzustellen, dass § 12 Abs. 6 des Schulgesetzes die Schulen auffordert, einzelne Themenbereiche in Kooperation mit Religions- und
Weltanschauungsgemeinschaften zu gestalten. Zu dem Vorbringen der Beschwerdeführer, dass der Ethikunterricht auch kritische Ideen oder Vorstellungen behandelt oder solche, die im Widerspruch zum Christentum stehen, ist der
Gerichtshof der Auffassung, dass aus der Konvention kein Recht als solches abgeleitet werden kann, mit bestimmten Überzeugungen oder Auffassungen, die mit den eigenen nicht übereinstimmen, nicht konfrontiert zu werden (siehe
sinngemäß o.a. Sache Konrad ). Er stellt vor allen Dingen fest, dass die erste Beschwerdeführerin weiterhin am evangelischen Religionsunterricht in den Schulräumen teilnehmen kann und ihre Eltern nicht daran gehindert werden, ihr
Kind aufzuklären und zu beraten, ihm gegenüber ihre ureigenen Funktionen als Erzieher auszuüben und dem Kind eine Orientierung entsprechend der eigenen religiösen Überzeugung angedeihen zu lassen (o.a. Sache Kjeldsen, Busk
Madsen und Pedersen . Rdnr. 54, o.a. Sache Konrad , o.a. Sache Jimenez Alonso und Jimenez Merino ). Der Gerichtshof stellt insoweit fest, die Beschwerdeführer hätten ihr vor den innerstaatlichen Gerichten vorgebrachtes Argument
vor dem Gerichtshof nicht substantiiert, wonach die Einführung des Ethikunterrichts die Teilnahme am Religionsunterricht erschwert habe. Die bloße Bezugnahme auf eine Pressemitteilung der evangelischen und katholischen Kirche
kann hier nicht ausreichen.
Vor diesem Hintergrund ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die nationalen Behörden durch die Einführung eines verbindlichen Ethikunterrichts den Ermessensspielraum nicht überschritten haben, der ihnen in der Sache nach Artikel
2 des Protokolls Nr. 1 eingeräumt wird, einer Bestimmung überdies, die dem Staat zur Auflage macht, dafür Sorge zu tragen, dass die Kinder ihr Recht auf Bildung ausüben können ( Costello-Roberts ./. Vereinigtes Königreich , 25.
März 1993, Rdnr. 27, Serie A, Bd. 247-C, und Martins Casimiro und Cerveira Ferreira ./. Luxemburg (Entsch.), Nr. 44888/98, 27. April 1999). Er folgert demnach, dass die Berliner Behörden nicht verpflichtet waren, die Möglichkeit
einer allgemeinen Freistellung vom Ethikunterricht vorzusehen. Die Tatsache, dass ein anderes Bundesland sich anders entschieden habe, dürfte an dieser Tatsache nichts ändern. Eine gesonderte Frage unter dem Blickwinkel des
Artikels 9 der Konvention stellt sich nicht. ..." (EGMR, Urteil vom 06.10.2009 - 45216/07)
***
Art. 10 EMRK Freiheit der Meinungsäußerung
(1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und
weiterzugeben. Dieser Artikel hindert die Staaten nicht, für Hörfunk-, Fernseh- oder Kinounternehmen eine Genehmigung vorzuschreiben.
(2) Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer
demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zu Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit
oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung.
Leitsätze/Entscheidungen:
„... PROCEDURE
1. The case originated in an application (no. 5709/09) against the Federal Republic of Germany lodged with the Court under Article 34 of the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms (‚the
Convention') by a German national, Mr Ulrich Brosa (‚the applicant'), on 12 January 2009.
2. The applicant was represented by Mr E. Reinecke, a lawyer practising in Cologne. The German Government (‚the Government') were represented by their Agent, Mr H.-J. Behrens, Ministerialrat, of the Federal Ministry of Justice.
3. The applicant alleged, in particular, that an injunction prohibiting him from distributing a leaflet that he had drawn up on the occasion of mayoral elections had violated his right to freedom of expression enshrined in Article 10 of
the Convention.
4. On 5 March 2013 the application was communicated to the Government.
THE FACTS
I. THE CIRCUMSTANCES OF THE CASE
5. The applicant was born in 1950 and lives in Amöneburg.
A. Background to the case
6. In April 2005, the applicant published an article in a local newspaper concerning the political orientation of the Berger-88-e.V. association (‚the association'). Subsequently, the newspaper published the association's response to that
article describing the applicant's statements as ‚intellectually weak and crude' (‚geistig schwach und primitiv') and as ‚pamphlets constituting a public danger' (‚gemeingefährliche Pamphelete'). The newspaper also published two letters
to the editor. One of them was written by F.G., an elected town councillor, who contended that the association had no extreme right-wing tendencies (‚keine rechtsradikale Vereinigung'). He expressed that it was ‚unfortunate that [the
applicant] again and again manages to publicize his false accusations and to show himself as a pitiful victim' (‚[...] bedauerlich, dass es Herrn Dr. Brosa immer wieder gelingt, seine falschen Anschuldigungen öffentlich zu machen und
sich als bedauernswertes 'Opfer' darzustellen [...]'). He contended that ‚he [the applicant] had evoked the current situation in particular by his constant spying and false accusations' (‚Die derzeitige Situation hat er insbesondere durch
seine ständigen Bespitzelungen und Falschbehauptungen heraufbeschworen [...].').
7. F.G. was also running for the office of town mayor. In the run-up to the elections the applicant then distributed a leaflet with the headline: ‚Don't vote for an agitator' (‚Wählen Sie keinen Scharfmacher'). The text on the leaflet
maintained: ‚Amöneburg is the seat of several neo-Nazi organisations. Particularly dangerous is the Berger-88-e.V., for which F.G. [last name written out] is providing a cover.' (‚Amöneburg ist Sitz mehrerer Neonazi-Organisationen.
Besonders gefährlich sind die Berger-88-e.V., die F.G. deckt.'). The leaflet also showed photos of F.G.'s son, the association's chairman at the time, taken by a security camera on the applicant's property late at night. The applicant
explained that he had previously been attacked and that his door had been smashed repeatedly at night.
B. Proceedings before the domestic courts
1. Proceedings before the Kirchhain District Court
8. On 6 July 2005 the Kirchhain District Court, at F.G.'s request, issued a civil injunction prohibiting the applicant from distributing the leaflet and making other assertions of fact (Tatsachenbehauptungen) which might depict F.G. as a
supporter of neo-Nazi organisations. Any contravention was punishable by a fine of up to 250,000 euros (EUR) or by imprisonment of up to six months. The court reasoned that the assertion that F.G. had covered for a particularly
dangerous neo-Nazi organisation had infringed his personality rights. Because of the upcoming elections, the court found that there was a risk that the applicant might continue to distribute the leaflet or disseminate the allegations in
another form.
9. The applicant lodged an objection with the Kirchhain District Court. He submitted, inter alia, that the designation ‚88', standing for the eighth letter of the alphabet [H] as a reference to ‚Heil Hitler', was displayed by members of the
association in runes and thus in a form attributed to neo-Nazism by the German federal domestic intelligence service (Bundesamt für Verfassungsschutz). In addition, the association had held a ceremony on the weekend after Hitler's
birthday using the colours black, white and red - the national colours of the German empire - for the invitation. In support of his allegations, the applicant referred to the association's statutes and an incident in which members of the
association had shouted ‚Heil Hitler' on the occasion of an Easter bonfire organised by the association. Lastly, he contended that there was no longer any reason for upholding the injunction, as the mayoral elections had taken place in
the meantime.
10. In its judgment of 18 August 2005 the Kirchhain District Court upheld the injunction. It found that to claim that someone was supporting a neo-Nazi organisation amounted to an infringement of that individual's honour and social
reputation and thus his or her personality rights (allgemeines Persönlichkeitsrecht).
11. The court held that the applicant had failed to provide sufficient evidence to support his allegation that F.G. had covered for a neo-Nazi organisation. His submissions were mere conjectures and subjective interpretations. As a
consequence, the court held, the applicant could not rely on the notion of freedom of expression enshrined in Article 5 of the Basic Law (see paragraph 19 below).
12. The court reasoned, inter alia, that in accordance with its rules, the association had been founded in 1988, even though it had not been registered until 1992. Hence, the reference to the number 88 in the name of the association
could not be interpreted as support for neo-Nazism. As regards the Hitler salute on the occasion of the Easter bonfire, the applicant had failed to show that the individuals concerned were ‚without doubt' members of the association.
The court acknowledged that the use of runes might indeed refer to neo-Nazism, but held that that did not suffice to prove that the association was of such a character. Lastly, the court emphasized that the applicant had ‚confirmed his
determination not to let himself be silenced as a critic of the plaintiff'. Hence, the court found that the injunction needed to be maintained despite the fact that the mayoral elections had taken place in the meantime.
2. Proceedings before the Marburg Regional Court
13. On 28 June 2006 the Marburg Regional Court dismissed the applicant's appeal against the District Court's judgment. The court noted, however, that there was no longer a need to adjudicate on the prohibition of further
dissemination of the leaflet, as the elections had taken place in the meantime.
14. The Regional Court explained that the leaflet contained two different allegations of fact: firstly, that the association was a particularly dangerous neo-Nazi organisation; and secondly, that F.G. had been aware of that fact but had
nevertheless publicly supported the organisation. The applicant had failed to prove that those allegations were true. The court acknowledged that there were several indicators of the association's neo-Nazi character ‚which, all in all,
may lead to the assumption that this is not a mere coincidence'. The association therefore had to put up with critical questions. The aforementioned indicators were, however, not ‚compelling proof' (zwingender Beweis) of the
association's political orientation.
15. In any case, the court reasoned, the applicant had failed to provide any evidence for the allegation that F.G. had covered for the association. The court interpreted the applicant's statement as an allegation that F.G. had knowledge of
the association's neo-Nazi orientation and endorsed it. Referring to the case-law of the Federal Constitutional Court, the Regional Court acknowledged that allegations of fact may fall, as a matter of principle, under the notion of
freedom of expression of Article 5 of the Basic Law to the extent that they were aimed at forming public opinion (meinungsbezogene Tatsachenbehauptungen). The protection provided by Article 5 of the Basic Law required, however,
that the allegations required substantial justification. The letter to the editor written by F.G. did not suffice in that regard.
16. On 19 July 2006 the applicant complained that his right to be heard before the Regional Court had been breached. He complained, inter alia, that the court had failed to examine the criminal files against members of the association
in order to establish whether they had committed crimes of an extremist political nature.
17. On 22 January 2007 the Regional Court dismissed the applicant's complaint. It held, inter alia, that the applicant had not sufficiently substantiated which files should have been examined and in which regard. Where the applicant
had offered evidence by specifying a particular file, F.G. had not denied that members of the association, wearing pullovers with the association's insignia, had been present at an election campaign event organised by him. Nor had
F.G. denied that certain members of the association had committed crimes, although they were not necessarily of an extremist political nature. Lastly, the court emphasized that according to an assessment by the State domestic
intelligence service (Landesamt für Verfassungsschutz), the association was a ‚fraternity' (‚Kerbeburschenschaft'), which the service would nonetheless ‚keep an eye on'. The Regional Court thus concluded that the applicant might
have raised a suspicion at the most, but had failed to prove the association's neo-Nazi orientation.
3. Decision of the Federal Constitutional Court
18. On 2 March 2007 the applicant lodged a constitutional complaint with the Federal Constitutional Court. He complained that his freedom of conscience, his freedom of expression and his right to a fair trial had been violated. He
claimed in particular that the courts had put the onus of proof on him, whereas in the context of the expression of one's opinion it was impossible to provide evidence.
19. On 1 July 2008 the Federal Constitutional Court, without giving reasons, refused to admit the applicant's constitutional complaint for adjudication (file no. 1 BvR 597/07).
II. RELEVANT DOMESTIC LAW AND PRACTICE
20. The relevant parts of section 5 of the Basic Law (Grundgesetz) read as follows:
‚[Freedom of expression, arts and sciences]
(1) Every person shall have the right freely to express and disseminate his opinions in speech, writing and pictures, and to inform himself without hindrance from generally accessible sources. Freedom of the press and freedom of
reporting by means of broadcasts and films shall be guaranteed. There shall be no censorship.
(2) These rights shall find their limits in the provisions of general laws, in provisions for the protection of young persons, and in the right to personal honour.'
21. The claim underlying the injunction was based on an analogy to section 823(1) and (2), read in conjunction with the second sentence of Article 1004 § 1 of the German Civil Code (Bürgerliches Gesetzbuch). It is the
well-established case-law of the German courts at the highest judicial level that a person whose personality rights are jeopardised by another individual may - under certain specified conditions - lodge a claim against the latter pursuant
to these provisions.
THE LAW
I. ALLEGED VIOLATION OF ARTICLE 10 OF THE CONVENTION
22. The applicant complained that the injunction had breached his right to freedom of expression, as provided for in Article 10 of the Convention, which reads as follows:
‚1. Everyone has the right to freedom of expression. This right shall include freedom to hold opinions and to receive and impart information and ideas without interference by public authority and regardless of frontiers. This Article
shall not prevent states from requiring the licensing of broadcasting, television or cinema enterprises.
2. The exercise of these freedoms, since it carries with it duties and responsibilities, may be subject to such formalities, conditions, restrictions or penalties as are prescribed by law and are necessary in a democratic society, in the
interests of national security, territorial integrity or public safety, for the prevention of disorder or crime, for the protection of health or morals, for the protection of the reputation or rights of others, for preventing the disclosure of
information received in confidence, or for maintaining the authority and impartiality of the judiciary.'
23. The Government contested that argument.
A. Admissibility
24. The Court notes that this complaint is not manifestly ill-founded within the meaning of Article 35 § 3 (a) of the Convention. It further notes that it is not inadmissible on any other grounds. It must therefore be declared admissible.
B. Merits
1. The parties' submissions
(a) The applicant
25. The applicant contested the domestic courts' qualification of his impugned statements as ‚allegations of fact' and submitted that they had failed to give any reasons for their contention. Likewise, they had not said what evidence
they thought the applicant should have put forward to prove that the association had neo-Nazi tendencies, particularly given the different connotations of the term ‚neo-Nazi'.
26. The applicant emphasised that he was not suggesting that F.G. was a neo-Nazi, but merely that he had covered for the association. The domestic courts had failed to consider the circumstances under which the impugned statements
had been made. The applicant stressed that he had participated in a public debate in the run-up to the elections; F.G. had also participated in the debate and had intentionally provoked reactions with his letter to the editor in defence of
the association. In addition, the applicant claimed that F.G. had contributed to the overall debate about neo-Nazism in the region.
27. The applicant further submitted that he had provided the factual basis for his value judgment that the association was a particularly dangerous neo-Nazi organisation. He contended that that would have sufficed as proof, even if the
impugned statement had to be qualified as an allegation of fact. The applicant concluded that the onus of proof which the domestic courts had imposed on him was too demanding and could not be complied with in the context of the
expression of one's opinion in a public debate.
28. Lastly, the applicant challenged the view that the interference with his freedom of expression had not been particularly serious. He emphasised that the injunction had had a chilling effect on others. In addition, he had been
deprived of the opportunity to participate in the political debate in the run-up to the elections.
(b) The Government
29. The Government took the view that the interference with the applicant's freedom of expression had been justified. The domestic courts had struck a fair balance between the applicant's freedom of expression and F.G.'s personality
rights on the basis of criteria which were in compliance with the Convention.
30. The Government stressed that the outcome of that balancing process fell within the margin of appreciation accorded to Member States in resolving such conflicting priorities.
31. The Government contended that the domestic courts had correctly categorised the applicant's statements as allegations of fact because they were susceptible to proof of their validity. The evidence submitted by the applicant had
been thoroughly assessed by the domestic courts, which had concluded that his allegations had been insufficiently substantiated.
32. The Government submitted that in striking a balance between freedom of expression and personality rights, the latter had - as a rule - to be given priority in the case of untrue or unproven allegations of fact. Such unproven
allegations had to be tolerated by individuals whose personality rights were concerned only under special circumstances, which did not exist in the case at issue.
33. Lastly, the Government pointed out that the interference with the applicant's right to freedom of expression had not been particularly serious as he had simply been prohibited from making the impugned statements as opposed to
being fined or punished in another way.
2. The Court's assessment
34. The Court emphasises at the outset that freedom of expression, as guaranteed in Article 10 § 1 of the Convention, constitutes one of the essential foundations of a democratic society and one of the basic conditions for its progress
and for each individual's self-fulfilment. Pursuant to Article 10 § 2, it is applicable not only to ‚information' or ‚ideas' that are favourably received or regarded as inoffensive or as a matter of indifference, but also to those that offend,
shock or disturb (see, for example, Oberschlick v. Austria (no. 2), 1 July 1997, § 29, Reports of Judgments and Decisions 1997-IV). Article 10 protects not only the substance of the ideas and information expressed but also the form in
which they are conveyed. This freedom is subject to the exceptions set out in Article 10 § 2, which must, however, be construed strictly (see, among other authorities, Jerusalem v. Austria, no. 26958/95, § 32, ECHR 2001-II).
35. The Court notes that it was not disputed between the parties that the injunction constituted an interference with the applicant's right to freedom of expression, as guaranteed by Article 10 § 1 of the Convention. Furthermore, there
was no dispute that the interference was prescribed by law and pursued a legitimate aim, namely the protection of the reputation or rights of others, within the meaning of Article 10 § 2. The Court endorses that assessment.
36. The dispute in the case thus relates to the question whether the interference was ‚necessary in a democratic society'. The test of ‚necessity in a democratic society' requires the Court to determine whether the interference complained
of corresponded to a ‚pressing social need', whether it was proportionate to the legitimate aim pursued and whether the reasons given by the national authorities to justify it were relevant and sufficient (see, for example, Feldek v.
Slovakia, no. 29032/95, § 73, ECHR 2001-VIII, and Karman v. Russia, no. 29372/02, § 32, 14 December 2006).
37. The Court reiterates that in assessing whether such a ‚need' exists and what measures should be adopted to deal with it, namely whether and to what extent an interference with the freedom of expression is necessary, the
Contracting States have a certain margin of appreciation. This margin, however, is not unlimited but goes hand in hand with European supervision, embracing both the legislation and the decisions applying it, even those delivered by
an independent court. In exercising its supervisory function, the Court's task is not to take the place of the national courts, but rather to review, in the light of the case as a whole, whether the decisions they have taken pursuant to their
power of appreciation are compatible with Article 10 § 2 of the Convention; that is whether the interference at issue was ‚proportionate' to the legitimate aim pursued and whether the reasons adduced by them to justify the interference
are ‚relevant and sufficient' (see, among many other authorities, Scharsach and News Verlagsgesellschaft v. Austria, no. 39394/98, § 30 (iv), ECHR 2003-XI).
38. In examining the particular circumstances of the case, the Court will take the following elements into account: the position of the applicant, the position of the plaintiff in the domestic proceedings, the subject matter of the
publication and the classification of the contested statement by the domestic courts (compare, for example, Jerusalem, cited above, § 35, and Karman, cited above, § 33).
39. As to the position of the applicant, the Court notes that he is a private individual. The applicant participated, however, in a public discussion on the political orientation of the association. The Court considers this to be a relevant
factor, since by entering the arena of public debate the applicant laid himself open to scrutiny (compare Jerusalem, cited above, § 38).
40. As to the position of the plaintiff in the domestic proceedings, the Court notes that F.G. was an elected town councillor who was running for the office of mayor at the material time. As such, he was a member of the municipal
government and a candidate in public elections. Thus his position was that of a politician at the local level.
41. The Court reiterates in this respect that the limits of acceptable criticism are wider as regards a politician than as regards a private individual (see Scharsach and News Verlagsgesellschaft, cited above, § 30 (iii)). A politician
inevitably and knowingly lays himself open to close scrutiny of his every word and must thus display a greater degree of tolerance, especially when he himself makes public statements that are susceptible to criticism. He is certainly
entitled to have his reputation protected, even when he is not acting in a private capacity, but the requirements of that protection have to be weighed against the interests of open discussion of political issues, since exceptions to
freedom of expression must be interpreted narrowly (see Oberschlick (no. 2), cited above, § 29).
42. The applicant issued a leaflet asking citizens not to vote for F.G. as mayor, primarily on the basis of F.G.'s attitude vis-à-vis an association which the applicant deemed to have an extremist right-wing orientation. The leaflet,
disseminated in the run-up to the mayoral elections, set out the applicant's view of a candidate's suitability for the office of mayor and was therefore of a political nature on a question of public interest at the material time and location.
The Court reiterates in this connection that there is little scope, under Article 10 § 2 of the Convention, for restrictions on political speech or on debate of questions of public interest (see Scharsach and News Verlagsgesellschaft, cited
above, § 30 (iii)).
43. As regards the qualification of the impugned statement by the domestic courts, the Court notes that they considered it to consist of two elements: firstly, the allegation that the association was a neo-Nazi organisation that,
moreover, was particularly dangerous; and, secondly, the allegation that F.G. had ‚covered' for the organisation. The Court further observes that the German courts considered both to be allegations of fact without further discussion.
The Court reiterates that while the existence of facts can be demonstrated, the accuracy of value judgments is not susceptible to proof. The requirement to prove the accuracy of a value judgment is impossible to fulfil and infringes
freedom of opinion itself, which is a fundamental part of the right secured by Article 10 (see, among many others, Jerusalem, cited above, § 42; Karman, cited above, § 41).
44. The Court's position is that the differentiation between an allegation of fact and a value judgment finally lies in the degree of factual proof which has to be established in order for it to constitute a fair comment under Article 10 (see
Scharsach and News Verlagsgesellschaft, cited above, § 40, and Krone Verlag GmbH & Co KG and MEDIAPRINT Zeitungs- und Zeitschriftenverlag GmbH & Co KG v. Austria (dec.), no. 42429/98, 20 March 2003).
45. As regards the first element of the impugned statement - that the association was a particularly dangerous neo-Nazi organisation - the Court observes that the applicant considered that the facts he had presented showed that the
association was a neo-Nazi organisation. The impugned statement was thus an expression of the applicant's position on that dispute following his assessment of facts which might be accurate or not. The Court notes in this connection
that the Regional Court emphasised that the domestic intelligence service was continuing to monitor the association on suspicion of extremist tendencies, which the Court interprets as a sign of the ongoing debate on the association's
political orientation. The Court reiterates that the use of the term ‚Nazi', like the derivative term ‚neo-Nazi', is capable of evoking in those who read it different notions as to its content and significance (compare, for the term ‚Nazi' and
its derivative ‚neo-fascist', Karman, cited above, § 40). It cannot be considered as a mere allegation of facts, as it also carries a clear element of value judgment which is not fully susceptible to proof. This is even more the case for the
notion of a ‚particularly dangerous' neo-Nazi organisation. Thus, the Court cannot accept the view of the German courts that the statement that the association was a particularly dangerous neo-Nazi organisation was a mere allegation
of fact.
46. Nonetheless, the Court further reiterates that, even where a statement amounts to a value judgment, the proportionality of an interference may depend on whether there exists a sufficient factual basis for the impugned statement,
since even a value judgment without any factual basis to support it may be excessive (see Jerusalem, cited above, § 43; Feldek, cited above, § 76; and Karman, cited above, § 41).
47. The Court notes that the Regional Court acknowledged the existence of several indicators of the association's possible neo-Nazi character which, in the Regional Court's view, ‚all in all may lead to the assumption that this is not a
mere coincidence'. Thus, the court admitted, in substance, that the opinion expressed by the applicant was not devoid of a factual basis. The remaining question is whether that factual basis was sufficient.
48. The Court observes that the German courts required ‚compelling proof' and thereby applied a degree of precision that comes close to the one usually required for establishing the well-foundedness of a criminal charge by a judicial
court. The Court reiterates in this context that the degree of precision for establishing the well-foundedness of a criminal charge can hardly be compared to that which ought to be observed when expressing someone's opinion on a
matter of public concern. The standards applied when assessing someone's political activities in terms of morality are different from those required for establishing an offence under criminal law (see, mutatis mutandis, Scharsach and
News Verlagsgesellschaft, cited above, § 43). The Court therefore finds that the German courts required a disproportionately high degree of factual proof to be established.
49. The Court notes that the statement that the association was a neo-Nazi organisation has no relevance on its own, as it was not the association that sought an injunction. Its relevance for the case at hand lies in the interpretation of
the term ‚covered' by the German courts as meaning that F.G. had knowledge of and approved of the association's neo-Nazi orientation. The defamatory character attributed by the German courts to the term ‚covered' results from the
allegation that the association was a neo-Nazi organisation. The Court notes in this connection that the applicant did not insinuate that F.G. was a neo-Nazi.
50. As regards the second element of the impugned statement, the Court observes that the term ‚covered' refers to the views expressed by F.G. in his letter to the editor. As such, the statement formed part of an ongoing debate. This
context was also discernible to the public. The Court notes that the term ‚covered' was interpreted by the German courts in a restrictive manner contending that F.G. had knowledge of the association's neo-Nazism and endorsed it. It
was thus seen as a mere allegation of fact for which no sufficient factual basis existed. The Court, however, cannot endorse that view as, again, it does not take due account of the context in which the statement was made. It rather
finds that a sufficient factual basis for the applicant's statement lay in F.G.'s contribution to the debate by way of his letter to the editor emphasizing that the association had no extreme right wing tendencies and calling the applicant's
statements ‚false allegations'.
51. Considering that F.G. was a politician at the local level at the material time and that the ongoing debate was being conducted in public and with relatively harsh words from all sides, and given the political context of the upcoming
local elections, the Court finds that the applicant's statement did not exceed the acceptable limits of criticism.
52. In conclusion, the Court finds that by considering the impugned statement to be mere allegations of fact requiring a disproportionately high degree of proof to be established, the German courts failed to strike a fair balance between
the relevant interests and to establish a ‚pressing social need' for putting the protection of the personality rights of F.G. above the applicant's right to freedom of expression, even in the context of a civil injunction rather than criminal
charges or monetary compensation claims.
53. Under these circumstances, the Court considers that the domestic courts overstepped the margin of appreciation afforded to them and that the interference was disproportionate to the aim pursued and not ‚necessary in a democratic society'.
54. There has been, accordingly, a violation of Article 10 of the Convention.
II. OTHER ALLEGED VIOLATIONS OF THE CONVENTION
55. Relying on Article 6 § 1 of the Convention, the applicant further complained of a violation of his right to a fair trial, as the domestic courts had refused to hear witnesses and to consult the criminal files of members of the
association. Moreover, he complained, under Article 5 of the Convention, that the decisions taken by the domestic courts had encouraged right-wing extremists to commit crimes against him. He also complained, under Article 13 of
the Convention, that the Federal Constitutional Court had refused to admit his complaint for adjudication.
56. The Court has examined the remainder of the applicant's complaints as submitted by him. However, having regard to all the material in its possession, the Court finds that these complaints do not disclose any appearance of a
violation of the rights and freedoms set out in the Convention or its Protocols. It follows that the remainder of the application must be rejected as manifestly ill-founded, pursuant to Article 35 §§ 3 (a) and 4 of the Convention.
III. APPLICATION OF ARTICLE 41 OF THE CONVENTION
57. Article 41 of the Convention provides:
‚If the Court finds that there has been a violation of the Convention or the Protocols thereto, and if the internal law of the High Contracting Party concerned allows only partial reparation to be made, the Court shall, if necessary, afford
just satisfaction to the injured party.'
A. Damage
58. The applicant claimed 8,000 euros (EUR) in respect of non-pecuniary damage. He argued that he lived in a small town of 5,000 inhabitants and that is was particularly problematic for him that he had not received support from the
domestic courts.
59. The Government did not comment on the non-pecuniary damage claim.
60. Having regard to the specific circumstances of the case and making its assessment on an equitable basis, the Court awards the applicant EUR 3,000, plus any tax that may be chargeable, in respect of non-pecuniary damage.
B. Costs and expenses
61. Submitting documentary evidence, the applicant also claimed EUR 2,683.02 for the costs and expenses incurred before the domestic courts. These comprised court fees as well as lawyer's fees for his counsel and for F.G.'s counsel,
as established by the Kirchhain District Court by order of 23 October 2007.
62. The Government did not comment on the costs claimed.
63. According to the Court's case-law, an applicant is entitled to the reimbursement of costs and expenses only in so far as it has been shown that these have been actually and necessarily incurred and are reasonable as to quantum. In
the present case, regard being had to the documents in its possession and the above criteria, the Court considers it reasonable to award the sum of EUR 2,683.02 for costs and expenses in the domestic proceedings.
C. Default interest
64. The Court considers it appropriate that the default interest rate should be based on the marginal lending rate of the European Central Bank, to which should be added three percentage points.
FOR THESE REASONS, THE COURT, UNANIMOUSLY,
1. Declares the complaint under Article 10 of the Convention concerning the injunction admissible and the remainder of the application inadmissible;
2. Holds that there has been a violation of Article 10 of the Convention;
3. Holds
(a) that the respondent State is to pay the applicant, within three months from the date on which the judgment becomes final in accordance with Article 44 § 2 of the Convention, the following amounts:
(i) EUR 3,000 (three thousand euros), plus any tax that may be chargeable, in respect of non-pecuniary damage;
(ii) EUR 2,683.02 (two thousand six hundred and eighty-three euros and two cents), plus any tax that may be chargeable to the applicant, in respect of costs and expenses;
(b) that from the expiry of the above-mentioned three months until settlement simple interest shall be payable on the above amounts at a rate equal to the marginal lending rate of the European Central Bank during the default period
plus three percentage points;
4. Dismisses the remainder of the applicant's claim for just satisfaction.
Done in English, and notified in writing on 17 April 2014, pursuant to Rule 77 §§ 2 and 3 of the Rules of Court. ..." (EGMR, Urteil vom 17.04.2014 - 5709/09)
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Ein Fernsehinterview mit einer inhaftierten Mörderin darf nicht generell untersagt werden (EGMR, Urteil vom 21.06.2012 - 34124/06).
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Ein Kind wird nicht dadurch, dass es Gegenstand eines Sorgerechtsstreits zwischen seinen Eltern geworden ist, der wegen seiner besonderen Umstände (mehrfach versuchte zwangsweise Wegnahme vom Vater) erhebliche öffentliche
Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, und über den in den Medien umfangreich berichtet wurde, zu einer Person der Öffentlichkeit (public figure). Die Veröffentlichung von Fotos und die Nennung des Namens in
Zeitungsbeiträgen, deren alleiniger Zweck darin besteht, die Neugier einer bestimmten Leserschaft auf Details des Privatlebens der betroffenen Person zu befriedigen, kann nicht als Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem
Interesse für die Gesellschaft angesehen werden, auch wenn die Person der Öffentlichkeit bekannt ist. Unter solchen Umständen ist eine engere Auslegung des Rechts auf freie Meinungsäußerung erforderlich. Dies gilt auch für
Personen, die keine Personen des öffentlichen Lebens sind. Die Achtung des höchstpersönlichen Lebensbereichs eines Kindes, das Opfer eines Sorgerechtsstreits geworden ist und nicht von sich aus an die Öffentlichkeit getreten ist,
verdient auf Grund seiner Verletzlichkeit besonderen Schutz in der medialen Berichterstattung. Bei Veröffentlichung einer längeren Artikelserie über einen Sorgerechtsstreit mit persönlichkeitsrechtsverletzenden Informationen und
(nicht unkenntlich gemachten) Bildern des Kindes in der reichweiten- und auflagenstärksten Tageszeitung Österreichs ist die Zuerkennung einer Entschädigung des Kindes für den erlittenen schwerwiegenden Eingriff in sein
Privatleben in Höhe von 130.000 Euro wegen der besonderen Umstände des Falles nicht zu beanstanden. (EGMR, Urteil vom 19.06.2012 - 27306/07 - juris - Orientoierungssätze)
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„... Die Bf., die Axel Springer AG, hat ihren Sitz in Hamburg. Die von ihr herausgegebenen Bild-Zeitung veröffentlichte am 29.9.2004 auf der Titelseite folgende Schlagzeile in großen Buchstaben : „Kokain ! TV-Kommissar Y auf
dem Oktoberfest erwischt !" Sie berichtete über die Festnahme des bekannten Schauspielers X in einem Bierzelt auf dem Münchner Oktoberfest, der seit 1998 die Rolle des Kommissars Y in einer bekannten Fernsehserie spielte. Der
Artikel wurde mit drei Fotos von X illustriert und im Inneren des Blatts fortgesetzt. Dort wurde unter der Überschrift „ TV-Star X mit Kokain erwischt. Eine Brezn, eine Maß und eine Nase Koks" berichtet. In dem Artikel heißt es, X
habe die Aufmerksamkeit der Polizei erregt, weil er seine Nase gewischt habe. Eine Überprüfung habe ergeben, dass er 0,23 Gramm Kokain bei sich hatte. X sei schon im Juli 2000 wegen Drogenbesitzes zu einer Gefängnisstrafe auf
Bewährung verurteilt worden. Am 7.7.2005 veröffentlichte die Bild-Zeitung im inneren Teil einen weiteren Artikel unter der Schlagzeile : "TV-Kommissar X. Kokain-Beichte vor Gericht. 18 000 Euro Strafe !" Auch dieser Artikel
war mit einem Foto von X illustriert.
X beantragte unmittelbar nach Erscheinen des ersten Artikels eine einstweilige Verfügung gegen die Bf.. Das LG Hamburg gab dem Antrag am 30.9.2004 statt und verbot der Bf. die weitere Veröffentlichung des Artikels und am
6.10.2004 auch der Fotos. Mit zwei Urteilen vom 12.11.2004 bestätigte es die einstweiligen Verfügungen. Die Bf. focht die Entscheidung nicht an, die sie sich auf die Fotos bezog. Die im Übrigen eingelegte Berufung blieb ohne
Erfolg. Im Hauptverfahren verbot das LG Hamburg mit Urteil vom 11.11.2005 jede weitere Veröffentlichung des nahezu vollständigen ersten Artikels unter Androhung eines Ordnungsgelds und verurteilte die Bf. zur Zahlung von
5000 Euro für die erste Veröffentlichung. Das Recht des X auf Achtung seines Privatlebens überwiege das Informationsinteresse der Öffentlichkeit. Das OLG Hamburg wies die Berufung dagegen am 21.3.2006 zurück und setzte den
zu zahlenden Betrag auf 1000 Euro herab. Der BGH wies die Beschwerde des Verlags gegen die Nichtzulassung der Revision am 7.11.2006 zurück, am 11.12.2006 eine Anhörungsrüge.
Wegen des zweiten Artikels über die Verurteilung des X hatte das LG Hamburg am 5.5.2006 ein entsprechendes Verbotsurteil erlassen, gegen das Berufung und Revision erfolglos blieben. Das BVerfG nahm die
Verfassungsbeschwerde des Verlags am 5.3.2008 nicht zur Entscheidungan.
Am 18.8.2008 hat die Bf. beim Gerichtshof Beschwerde eingelegt und sich gegen das Verbot der Berichterstattung über die Festnahme und Verurteilung des allgemein bekannten Schauspielers wegen eines Drogendelikts gewendet.
Am 30.3.2010 hat eine Kammer der V. Sektion die Sache nach Art. 30 EMRK an die Große Kammer abgegeben. Der Präsident hat der Media Lawyers Association, der Media Legal Defence Initiative, dem International Press Institute
und der World Association of Newspapers and News Publishers nach Art. 36 II EMRK, Art. 44 II VerfO Gelegenheit gegeben, schriftlich Stellung zu nehmen. Am 7.2.2012 hat der Gerichtshof aufgrund mündlicher Verhandlung vom
13.10.2012 die Beschwerde einstimmig für zulässig erklärt, mit 12 : 5 Stimmen festgestellt, dass Art. 10 EMRK verletzt ist, und Deutschland nach Art. 41 EMRK (Gerechte Entschädigung) verurteilt, an die Bf. binnen drei Monaten
17 734,80 Euro als Ersatz für Nichtvermögensschaden und
32 522, 80 Euro als Ersatz für Kosten und Auslagen zu zahlen. ...
II. Behauptete Verletzung von Art. 10 EMRK
[53] Die Bf. wendet sich gegen das ihr gegenüber ausgesprochene Verbot der Berichterstattung über die Festnahme und Verurteilung von X. Sie beruft sich auf Art. 10 EMRK. ...
A. Zulässigkeit
[54] Die Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet i. S. von Art. 35 III lit. a EMRK und auch nicht aus einem anderen Grund unzulässig. Deswegen ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
I. Vortrag der Parteien (zusammengefasst)
1. Die Regierung
[55 - 64] Die Regierung macht geltend, die Beschwerde sei unbegründet. Die Entscheidungen der deutschen Gerichte griffen zwar in den Schutzbereich von Art. 10 EMRK ein, seien aber „gesetzlich vorgesehen" und verfolgten ein
berechtigtes Ziel i. S. von Art. 10 II EMRK, nämlich den Schutz der Privatsphäre. Der Eingriff sei auch in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen. X sei ein allgemein bekannter Schauspieler und eine Person des
öffentlichen Lebens. Die Berichterstattung habe ein geringfügiges Drogendelikt betroffen. Bei der Beurteilung hätten die Gerichte einen Ermessensspielraum, den sie nicht überschritten hätten.
II. Die Bf.
[65 - 70] Die Bf. tragen vor, X sei ein allgemein bekannter Schauspieler, der die Hauptrolle in einer sehr beliebten Krimi-Serie im Fernsehen gespielt habe. Er sei also nicht eine gewöhnliche Person, für die sich die Medien nicht
interessierten. Eine Straftat sei nie eine private Angelegenheit und das Publikumsinteresse an Informationen darüber habe mehr Gewicht als das Recht von X auf Achtung seines Privatlebens. Er selbst habe die öffentliche
Aufmerksamkeit gesucht. Im Gegensatz dazu habe im Fall von Hannover/Deutschland Nr. 2 (in diesem Heft S. …) die Bf. zu 1 ständig versucht, ihr Privatleben abzuschirmen. Die Tatsachen, über die berichtet worden sei, seien
unstreitig richtig. Die Bild-Zeitung habe im Übrigen erst über die Verhaftung berichtet, nachdem die Strafverfolgungsbehörden die Tatsachen und die Identität von X bekannt gemacht habe. Die Aufgabe der Presse dürfe nicht darauf
reduziert werden, nur über Politiker zu berichten. ...
3. Beurteilung durch den Gerichtshofs
[75] Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass die Entscheidungen der deutschen Gerichte in das in Art. 10 EMRK geschützte Recht der Bf. auf Freiheit der Meinungsäußerung eingegriffen haben.
[76] Ein solcher Eingriff verletzt Art. 10 EMRK, wenn er nicht nach Art. 10 II EMRK gerechtfertigt ist. Deswegen ist zu prüfen, ob er „gesetzlich vorgesehen" war, eines oder mehrere der in dieser Vorschrift genannten berechtigten
Ziele verfolgte und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" war, um das Ziel zu erreichen.
[77] Der Eingriff war unstreitig in § 823 I BGB und § 1004 I BGB, ausgelegt unter Berücksichtigung des Rechts auf Schutz des Persönlichkeitsrechts, vorgesehen. ...Die Parteien stimmen auch darin überein, dass er ein berechtigtes
Ziel verfolgte, nämlich den Schutz des guten Rufs oder der Rechte anderer i.S. von Art. 10 II EMRK, was nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das in Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privatlebens umfassen kann
(s. EGMR, Slg. 2004-VI Nr. 70 - Chauvy u.a./Frankreich; EGMR, NJW-RR 2008, 1218 Nr. 35 - Pfeifer/Österreich). Streitig ist aber, ob der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" war.
(a) Grundsätze
(i) Freiheit der Meinungsäußerung
[78-79] (Der Gerichtshof wiederholt die im Urteil von Hannover/Deutschland Nr. 2 [in diesem Heft S. ] in Nrn. 101, 102 niedergelegten Grundsätze zu Art. 10 EMRK).
[80] Die Aufgabe der Presse bezieht sich auch auf die Berichterstattung und Kommentierung von Gerichtsverfahren, die, wenn sie die genannten Grundsätze berücksichtigt, zu deren Öffentlichkeit beitragen und deswegen mit dem
Erfordernis nach Art. 6 I EMRK, dass gerichtliche Verfahren öffentlich sind, im Einklang stehen. Es ist nicht vorstellbar, dass es über ein Gerichtsverfahren keine vorherige oder gleichzeitige Diskussion in Spezialzeitschriften oder in
der breiten Öffentlichkeit geben dürfte. Die Medien haben nicht nur die Aufgabe, solche Informationen und Ideen zu vermitteln, die Öffentlichkeit hat auch das Recht,sie zu erhalten (s. EGMR, Slg. 2000-I Nr. 56 = MR 2000, 221 -
News Verlags GmbH & Co. KG/Österreich; EGMR, Slg. 2007-VII Nr. 35 = NJW 2008, 3412 - Dupuis u. a./Frankreich; EGMR, Urt. v. 24.4.2008 - 17107/05 Nr. 31- Campos Dâmaso/Portugal).
[81] Zur journalistischen Freiheit gehört auch die Möglichkeit einer gewissen Übertreibung und sogar Provokation (s. EGMR, Slg. 2004-XI Nr. 71 = NJW 2006, 1645 - Pedersen u. Baadsgaard/Dänemark). Außerdem ist es nicht
Aufgabe des Gerichtshofs und auch nicht der staatlichen Gerichte, anstelle der Presse über die anzuwendende Technik zu entscheiden (s. EGMR, 1994, Serie A, Bd. 298 Nr. 31 = NStZ1995, 237 -Jersild/Dänemark; EGMR, Urt. v.
10.2.2009 -3514/02 Nr. 65 - Eerikäinen u.a./Finnland).
(ii) Grenzen der Meinungsfreiheit
[82] Art. 10 II EMRK bestimmt aber, dass die Freiheit der Meinungsäußerung „mit Pflichten und Verantwortung verbunden" ist. Das gilt für die Medien auch bei der Berichterstattung über Angelegenheiten großen öffentlichen
Interesses. Diese Pflichten und Verantwortung können von besonderer Bedeutung sein, wenn die Gefahr besteht, den guten Ruf eines namentlich Genannten zu schädigen oder die „Rechte anderer" zu verletzen. Daher müssen
besondere Gründe vorliegen, um die Medien von der sie grundsätzlich treffenden Verpflichtung zu entbinden, die Richtigkeit ehrverletzender Tatsachenbehauptungen über andere zu prüfen. Ob solche Gründe gegeben sind, hängt
insbesondere von Art und Gewicht solcher ehrverletzender Behauptungen ab und davon, wie weit die Medien ihre Quelle vernünftigerweise als vertrauenswürdig ansehen können (s. EGMR, Slg. 2004-XI Nr. 78 = NJW 2006, 1645 -
Pedersen u. Baadsgaard/Dänemark; EGMR, Slg. 2007-III Nr. 89 - Tønsbergs Blad A.S. u. Haukom/Norwegen).
[83] Das Recht auf Schutz des guten Rufs ist als Teil des Rechts auf Achtung des Privatlebens von Art. 8 EMRK geschützt (s. EGMR, Slg. 2004-VI Nr. 70 - Chauvy u.a./Frankreich; EGMR, NJW-RR 2008, 1218 Nr. 35 -
Pfeifer/Österreich; EGMR, Urt. v. 21.9.2010 - 34147/06 Nr. 40 - Polanco Torres u. Movilla Polanco/Spanien). Der Begriff „Privatleben" ist umfassend und einer erschöpfenden Definition nicht zugänglich. Darunter fallen die geistige
und körperliche Identität einer Person und damit zahlreiche Aspekte der Persönlichkeit, wie die geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung, der Name oder Aspekte, die das Recht einer Person am eigenen Bild betreffen (s.
EGMR, Slg. 2008 Nr. 66 = NJOZ 2010, 696 - S. u. Marper/Vereinigtes Königreich). Der Begriff umfasst auch persönliche Informationen, von denen der Betroffene berechtigterweise erwarten kann, dass sie nicht ohne seine
Einwilligung veröffentlicht werden (s. EGMR, Urt. v. 6.4.2010 - 25576/04 Nr. 75 - Flinkkilä u.a./Finnland; EGMR, Urt. v. 12.10.2010 - 184/06 Nr. 61 - Saaristo u.a./Finnland).
Um Art. 8 EMRK ins Spiel zu bringen, muss der Angriff auf den guten Ruf einer Person eine bestimmte Schwere erreichen und die Ausübung ihres Rechts auf Achtung des Privatlebens beeinträchtigen (s. EGMR, NJW-RR 2010,
1483 Nr. 64 - A./Norwegen). Außerdem hat der Gerichtshof entschieden, dass sich eine Person nicht nach Art. 8 EMRK über eine Verletzung ihres guten Rufs beschweren kann, wenn die Verletzung vorhersehbare Folge einer eigenen
Handlung ist, z.B. des Begehens einer Straftat (s. EGMR, Slg. 2004-VIII Nr. 49 - Sidabras u. Dziautas/Litauen).
[84] Wenn zu prüfen ist, ob ein Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft „zum Schutz des guten Rufs oder der Rechte anderer" notwendig ist, kann es erforderlich sein festzustellen, ob die staatlichen Behörden und Gerichte einen
gerechten Ausgleich beim Schutz von zwei in der Konvention geschützten Rechten hergestellt haben, die in bestimmten Fällen kollidieren können, z. B. die in Art. 10 EMRK geschützte Freiheit der Meinungsäußerung und das in Art.
8 EMRK garantierte Recht auf Achtung des Privatlebens (s. EGMR, Urt. v. 14.6.2007 - 71111/01 Nr. 43 - Hachette Filipacchi Associés/Frankreich; EGMR, NJOZ 2012, … Nr. 142 - MGN Limited/Vereinigtes Königreich).
(iii) Ermessensspielraum
[85 - 88] ( Der Gerichtshof führt aus, die staatlichen Behörden und Gerichte hätten einen Ermessensspielraum, und wieder- holt die im Urteil von Hannover/Deutschland Nr. 2 [in diesem Heft] Nrn. 104-107 wiedergegebenen Grundsätze).
(iv) Grundsätze für die Interessenabwägung
[89 - 92, 94] Wenn das Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens abgewogen werden muss, gelten die nachstehenden Grundsätze. (Der Gerichtshof weist darauf hin,dassdie im Urteil von
Hannover/Deutschland Nr. 2 [in diesem Heft] Nrn. 109 - 112 genannten Grundsätze zu beachten sind, nämlich ob der Bericht zu einer Diskussion allgemeinen Interesses beigetragen hat, der Bekanntheitsgrad des Betroffenen und der
Gegenstand des Berichts, das vorherige Verhalten des Betroffenen, die Umstände der Aufnahme von Fotos sowie Inhalt und Form der Veröffentlichung. Er fügt zwei Gesichtspunkte hinzu)
(dd) Wie die Information erlangt worden ist und ihre Richtigkeit
[93] Weiterere wichtige Gesichtspunkte sind die Art und Weise, wie die Information erlangt wurde, und ob sie zutreffend ist. Der Schutz, den Art. 10 EMRK Journalisten für ihre Berichterstattung über Fragen allgemeinen Interesses
gewährt, setzt voraus, dass sie sich in gutem Glauben auf der Grundlage exakter Tatsachen äußern und "zuverlässige und genaue" Informationen in Übereinstimmung mit ihrem Berufsethos liefern (s. u.a. EGMR, Slg. 1999-I Nr. 54 =
NJW 1999, 1315 - Fressoz u. Roire/Frankreich; EGMR, Slg. 2004-XI Nr. 78 = NJW 2006, 1645 - Pedersen u. Baadsgaard/Dänemark; EGMR, Slg. 2007-V Nr. 103 = NJW-RR 2008, 1141 - Stoll/Schweiz). ...
(ff) Schwere der verhängten Sanktion
[95] Schließlich müssen bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in die Freiheit der Meinungsäußerung Art und Schwere der verhängten Sanktion berücksichtigt werden (s. EGMR, Slg. 2004-XI Nr. 93 = NJW 2006,
1645 - Pedersen u. Baadsgaard/Dänemark; EGMR, Urt. v. 6.4.2010 - 43349/05 Nr. 77 -Jokitaipale u.a./Finnland).
(b) Anwendung im vorliegenden Fall
(i) Beitrag zu einer Diskussion allgemeinen Interesses
[96] Die Zeitungsartikel betrafen die Festnahme und Verurteilung des Schauspielers X , also öffentliche Tatsachen aus der Justiz, die in bestimmten Maß von allgemeinem Interesse sind. Die Öffentlichkeit hat in der Regel ein
Interesse, über Strafverfahren unterrichtet zu werden und sich unterrichten zu können, wobei die Unschuldsvermutung strikt beachtet werden muss (s. EGMR, Slg. 2000-I Nr. 56 = MR 2000, 221 - News Verlags GmbH & Co.
KG/Österreich; EGMR, Slg. 2007-VII Nr. 37 = NJW 2008, 3412 - Dupuis u. a./Frankreich; EGMR, Urt. v. 24.4.2008 - 17107/05 Nr. 32- Campos Dâmaso/Portugal; só auch die Empfehlung (2003)13 des Ministerkomitees des
Europarats über Informationen durch die Medien bezüglich Strafverfahren, insbes. Grundsätze 1 u. 2 der Anlage ...). Das Interesse ist allerdings unterschiedlich groß und kann nach der Festnahme im Lauf des Verfahrens größer
werden, wobei mehrere Faktoren eine Rolle spielen, wie der Bekanntheitsgrad des Betroffenen, die Unmstände des Falls und andere Entwicklungen während des Verfahrens.
(ii) Bekanntheit von X und Gegenstand der Artkel
[97] Die deutschen Gerichte sind bei der Beurteilung des Bekanntheitsgrads von X zu erheblich unterschiedlichen Ergebnissen gekommen. Das LG nahm an, X habe nicht im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gestanden und die
Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit nicht in einem Ausmaß gesucht, dass angenommen werden könne, er habe auf den Schutz seines Persönlichkeitsrechts verzichtet, wenn er auch ein bekannter Schauspieler sei und häufig im
Fernsehen aufgetreten sei … Das OLG nahm demgegenüber an, X sei allgemein bekannt und sehr populär, er habe lange Zeit die Rolle eines Kommissars gespielt, ohne das Idol oder ein Vorbildcharakter des Ordnungshüters
geworden zu sein, was ein gesteigertes Interesse der Öffentlichkeit hätte begründen können zu erfahren, ob er selbst einem solchen Leitbild entsprechend lebe...
[98] Grundsätzlich ist es in erster Linie Aufgabe der staatlichen Gerichte, den Bekanntheitsgrad einer Person festzustellen, insbesondere wenn die Person hauptsächlich im betroffenen Land bekannt ist. X war zur maßgebenden Zeit
Hauptdarsteller in einer sehr populären Krimi-Serie, in der er die Hauptrolle des Kommissars Y spielte. Seine Popularität geht im Wesentlichen auf die Fernseh-Serie zurück, von der bei Erscheinen des ersten Zeitungsartikels 103
Episoden gesendet worden waren, in 54 davon hatte X den Kommissar Y gespielt. Er war also nicht, wie das LG annahm, ein weniger bedeutender Schauspieler, dessen Bekanntheit trotz vieler Filmrollen (mehr als 200 …) begrenzt
geblieben sei. Das OLG hat nicht nur darauf hingewiesen, dass es X-Fan-Clubs gab, sondern auch darauf, dass seine Fans möglicherweise dazu ermutigt worden wären, ihn durch Drogenkonsum nachzuahmen, wenn die Straftat der
Öffentlichkeit nicht verborgen geglieben wäre. ...
[99] Es trifft zwar zu, dass die Öffentlichkeit im Allgemeinen zwischen dem Schauspieler und der Person, die er darstellt, unterscheidet. Trotzdem kann es eine enge Verbindung zwischen beiden geben, besonders, wenn der
Schauspieler, wie hier, hauptsächlich wegen einer bestimmten Rolle bekannt ist. Im Fall des X war das noch dazu die Rolle eines Polizeikommissars, dessen Aufgabe es ist, für Gesetzestreue zu sorgen und Verbrechen zu bekämpfen.
Das steigerte das Interesse der Öffentlichkeit daran, über die Festnahme des X wegen einer Straftat informiert zu werden. Unter Berücksichtigung dessen und der Begründung der deutschen Gerichte für seinen Bekanntsheitsgrad war X
jedenfalls so gut bekannt, dass er als Person des öffentlichen Lebens eingestuft werden kann. Das hat das Interesse der Öffentlichkeit, über seine Festnahme und das Strafverfahren gegen ihn informiert zu werden, verstärkt.
[100] Was den Gegenstand der zwei Zeitungsartikel angeht, haben die deutschen Gerichte festgestellt, dass die von X begangene Straftat nicht geringfügig war, weil Kokain eine harte Droge ist.Trotzdem habe die Straftat nur mittleres,
ja geringes Gewicht, weil X nur eine geringe Menge der Droge bei sich gehabt habe und nur für den eigenen Konsum, und wegen der großen Zahl von derartigen Straftaten und Strafverfahren. Die deutschen Gerichte haben der
Tatsache, dass X schon wegen eines ähnlichen Delikts verurteilt worden war, kein großes Gewicht beigemessen und darauf hingewiesen, dass es seine einzige Vortat gewesen sei, die außerdem schon vor einigen Jahren begangen
worden sei. Sie sind zu dem Schluss gekommen, das Interesse der Bf. an der Veröffentlichung der Artikel beruhe nur darauf, dass X eine Straftat begangen habe, über die vermutlich nie berichtet worden wäre, wenn eine in der
Öffentlichkeit unbekannte Person sie begangen hätte. ...
Dem ist im Wesentlichen zuzustimmen. Hinzuweisen ist aber darauf, dass X in der Öffentlichkeit festgenommen worden ist, in einem Zelt auf dem Münchner Oktoberfest. Das hat nach Auffassung des OLG in der Öffentlichkeit
großes Interesse erregt, wenn es sich auchnicht auf die Beschreibung und Charakterisierung der Straftat bezogen hat, die nicht in der Öffentlichkeit begangen worden war.
(iii) Verhalten des X vor der Veröffentlichung
[101] Zu berücksichtigen ist weiter das vorherige Verhalten des X gegenüber den Medien. Er hatte selbst in vielen Interviews Einzelheiten über sein Privatleben offenbart …, also die Öffentlichkeit aktiv gesucht, só dass angesichts
seines Bekanntheitsgrads seine "berechtigte Erwartung", dass sein Privatleben wirksam geschützt werde, reduziert war (s. mutatis mutandis EGMR, MR 2009, 298 Nr. 53 - Hachette Filipacchi Associés (ICI PARIS)/Frankreich und
andererseits EGMR, Urt. v. 10.2.2009 -3514/02 Nr. 66 - Eerikäinen u.a./Finnland).
(iv) Wie die Information erlangt wurde und ob sie richtig war.
[102] Was die Art und Weise angeht, wie sie zu den veröffentlichten Informationen gekommen ist, trägt die Bf. vor, sie habe über die Festnahme von X erst berichtet, nachdem die Strafverfolgungsbehörden die Tatsachen und die
Identität des X bekannt gemacht hätten. Alle von ihr veröffentlichten Informationen seien schon vorher , insbesondere auf einer Pressekonferenz und in einer Presseerklärung der StA der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ..
Die Regierung bestreitet, dass es eine Pressekonferenz der StA gegeben habe, und trägt vor, erst nach Erscheinen des ersten Artikels habe StA W anderen Medien gegenüber die Tatsachen bestätigt, über welche die Bf. berichtet hatte.
[103] Aus den Unterlagen, die dem Gerichtshof vorliegen, ergibt sich nicht nicht, dass die Behauptung der Bf. zutrifft, vor der Veröffentlichung des ersten Artikels seien eine Pressekonferenz abgehalten und eine Presseerklärung
herausgegeben worden. Im Gegenteil hat sich die Behauptung nach einer vom Gerichtshof in der mündlichen Verhandlung gestellten Frage als unzutreffend erwiesen. Das Verhalten der Bf. ist insoweit bedauerlich.
[104] Aus den im weiteren Verlauf ergangenen Entscheidungen der deutschen Gerichte und dem Parteivortrag dazu in den Gerichtsverfahren ergibt sich aber, dass die Gerichte auf diese Frage nicht eingegangen sind. Für die Prüfung
des vorliegenden Falls genügt die Feststellung, dass die Bf. allen ihren Stellungnahmen in den verschiedenen Verfahren vor den deutschen Gerichten die Erklärung einer ihrer Journalistinnen beigefügt hat, wie die am 29.9.2004
veröffentlichten Informationen erlangt worden sind, … und dass die Regierung das nicht bestritten hat. Die Bf. kann also nicht geltend machen, sie habe nur Informationen veröffentlicht, welche die StA München auf einer
Pressekonferenz schon vorher der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hätte. Doch bleibt, dass die veröffentlichten Informationen, insbesondere über die Identität von X, von der Polizei und StA W stammten,dem
damaligenPressesprecher der StA München.
[105] Der erste Zeitungsartikel hatte also eine ausreichende Tatsachengrundlage, weil er auf Informationen des Pressesprechers der Münchner StA beruhte (s. EGMR, Slg. 1999-IIINr. 72 = NJW 2000, 1015 - Bladet Tromsø u.
Stensaas/Norwegen; EGMR, Urt. v. 10.2.2009 -3514/02 Nr. 64 - Eerikäinen u.a./Finnland; EGMR, Entsch. v. 15.5.2009 - 4020/03 - Pipi/Türkei). Die Wahrheit der Informationen in den beiden Artikeln war vor den deutschen
Gerichten und ist vor dem Gerichtshof nicht streitig (s. EGMR, Slg. 2004-X Nr. 44 = NJW 2006, 591 - Karhuvaara u. Iltalehti/Finnland).
[106] Die deutschen Gerichte waren der Meinung, aus der Tatsache, dass die Informationen von der StA München stammten, ergebe sich nur, dass sich die Bf. auf ihre Richtigkeit verlassen konnte. Das habe sie aber nicht von der
Verpflichtung entbunden, ihr Interesse an der Veröffentlichung gegen das Recht des X auf Achtung seines Privatlebens abzuwägen. Nur die Presse könne diese Abwägung vornehmen, weil eine Behörde oder ein Gericht nicht wissen
könnten, wie und in welcher Form die Information veröffentlicht würde. ...
[107] Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass eine solche Abwägung nicht vorgenommen worden ist. Richtig ist aber, dass die Bf., welche eine Bestätigung der Information von den Strafverfolgungsbehörden selbst erhalten hatte,
unter Berücksichtigung der von X begangenen Straftat, seinem Bekanntheitsgrad in der Öffentlichkeit und den Umständen seiner Festnahme sowie der Richtigkeit der Information keine ausreichenden Gründe hatte anzunehmen, sie
müsse die Anonymität von X wahren. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass StA W anderen Zeitschriften und Fernsehkanälen noch am Tage des Erscheinens des ersten Artikels alle von der Bf. enthüllten Informationen
bestätigt hat. Als der zweite Artikel erschien, waren die der Verurteilung von X zugrunde liegenden Tatsachen der Öffentlichkeit bereits bekannt (s. mutatis mutandis EGMR, Urt. v. 16.12.2010 - 24061/04 Nr. 49 - Aleksey
Ovchinnikov/Russland). Auch das OLG nahm an, der Bf. könne nicht mehr als leichte Fahrlässigkeit vorgeworfen werden, weil die von der StA mitgeteilten Information sie dazu veranlassen konnte anzunehmen, der Bericht sei legal
… Danach ist nicht nachgewiesen, dass die Bf. bei der Veröffentlichung in bösem Glauben gehandelt hat.
(v) Inhalt, Form und Auswirkungen der Artikel
[108] Der erste Artikel berichtete nur über die Festnahme von X, die von der StA erhaltenen Informationen und eine rechtliche Beurteilung des Gewichts der Straftat durch einen juristischen Sachverständigen … Der zweite Artikel
schilderte das vom Gericht am Ende der mündlichen Verhandlung und nach dem Geständnis von X erlassene Urteil … Die Artikel enthielten also keine Einzelheiten über das Privatleben von X, sondern nur über die Umstände und
Ereignisse nach seiner Festnahme (s. EGMR, Urt. v. 6.4.2010 - 25576/04 Nr. 84 - Flinkkilä u.a./Finnland; EGMR, Urt. v. 6.4.2010 - 43349/05 Nr. 72 -Jokitaipale u.a./Finnland). Sie enthielten keine abschätzigen Bemerkungen oder
grundlose Behauptungen … Dass der erste Artikel Wendungen enthielt, welche die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregen sollten, wirft nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs keine Probleme auf (s. EGMR, Urt. v. 6.4.2010 -
25576/04 Nr. 74 - Flinkkilä u.a./Finnland; EGMR, Entsch. v. 15.5.2009 - 4020/03 - Pipi/Türkei).
Im Übrigen hat das LG die Veröffentlichung der Fotos, welche die Artikel illustrierten, verboten, und die Bf. hat das auch nicht angefochten. Deswegen ist anzunehmen, dass die Form der Artikel keinen Grund für ein Verbot ihrer
Veröffentlichung darstellten. Die Regierung hat im Übrigen nicht dargelegt, dass die Veröffentlichung der Artikel für X Schäden zur Folge hatte.
(vi) Schwere der Sanktion
[109] Die der Bf. auferlegte Sanktion war war zwar mild, konnte aber eine abschreckende Wirkung haben. Jedenfalls war sie aus den erwähnten Gründen nicht gerechtfertigt.
(c) Ergebnis
[110] Die von den deutschen Gerichten angeführten Gründe sind also zwar stichhaltig, aber nicht ausreichend, um zu belegen, dass der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Trotz des den Konventionsstaaten
zustehenden Ermessensspielraums gab es kein angemessenes Verhältnis zwischen den von den deutschen Gerichten verfügten Einschränkungen des Rechts der Bf. auf Freiheit der Meinungsäußerung einerseits und dem verfolgten
berechtigten Ziel andererseits. Deswegen ist Art. 10 EMRK verletzt. ..." (EGMR, Urteil 07.02.2012 - 39954/08)
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Das Opfer eines Gewaltverbrechens hat nicht dadurch, dass die Tat beträchtliche Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich gezogen hat, die "Bühne der Öffentlichkeit" betreten. Die Identität eines Kindes, das Opfer von Gewalt und
sexuellem Missbrauch im familiären Umfeld geworden ist, bedarf eines besonderen Schutzes. Die Presse ist daher zwar nicht gehindert, über die Tat in allen Einzelheiten zu berichten, darf jedoch nicht die Identität des Opfers
preisgeben und Fotos, auf denen es abgebildet ist und anhand derer es wiedererkannt werden kann, veröffentlichen. Der bloße Umstand, dass der Betroffene bei früheren Gelegenheiten mit der Presse kooperiert hat, kann nicht
als Argument dafür dienen, ihm den Schutz gegen entsprechende Presseberichte oder Fotos, die seine Identität offenbaren, gänzlich zu verwehren, wenn er eine zuvor erteilte Zustimmung zur Veröffentlichung widerruft. Die
Verurteilung eines weit verbreiteten österreichischen Presseorgans wegen identifizierender Text- und Bildberichterstattung über das kindliche Opfer eines sexuellen Gewaltverbrechens, das infolge der preisgegebenen
Detailinformationen schwere psychische Probleme erlitten hat, zur Zahlung einer Entschädigung in Höhe von 8.000 Euro ist konventionsrechtlich nicht zu beanstanden. Dabei ist im Falle der Veröffentlichung des inkriminierten
Artikel in der Print- und der Online-Ausgabe der betreffenden Tageszeitung bezüglich der Angemessenheit der Entschädigung deren Gesamtsumme geprüft worden (EGMR, Urteil vom 17.01.2012 - 33497/07 - juris - Orientierungssätze).
***
Bei der Abwägung des Schutzes des Privatlebens gegen die Meinungsäußerungsfreiheit im Rahmen der Entscheidung, ob die Nennung eines Namens in einem Presseartikel zulässig war, ist die Frage, ob die von der Veröffentlichung
betroffene Person eine "public figure" oder sonst in das Licht der Öffentlichkeit getreten war, nur einer unter mehreren zu berücksichtigenden Aspekten. Art. 10 Abs. 2 EMRK lässt nur wenig Spielraum für Beschränkungen der
politischen Rede oder von Debatten über Fragen von öffentlichem Interesse zu. Die Offenlegung der Identität eines Verdächtigen in einem Pressebericht kann in einem frühen Stadium des Strafverfahrens besonders problematisch
sein. Thematisiert ein Presseartikel das Ausmaß, in dem Politik und Banken miteinander verflochten sind, sowie die politische und wirtschaftliche Verantwortung für die Verluste einer Bank, deren Aktionär das Land ist, ist schwer
vorstellbar, wie ohne Nennung der Namen der Beteiligten über dieses Thema hätte berichtet werden sollen, da in diesem Bereich Personen und persönliche Beziehungen offensichtlich von erheblicher Bedeutung sind. Die Gründe für
die Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 10 Abs. 2 EMRK dürfen nicht nur erheblich, sie müssen vielmehr ausreichend sein. Die nationalen Gerichte haben insofern im Hinblick auf die Einschränkung von
Debatten von öffentlichem Interesse nur einen engen Ermessensspielraum ((EGMR, Urteil vom 10.01.2012 - 34702/07 - juris - Orientierungssätze).
***
Die Freiheit der Meinungsäußerung ist eng verbunden mit der gewerkschaftlichen Vereinigungsfreiheit. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist der Schutz persönlicher Meinungen nach Art 10 MRK eines der Ziele der
Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit des Art 11 MRK. Spielt - wie vorliegend - die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft für die Kündigung keine entscheidende Rolle, ist der Sachverhalt allein unter dem Gesichtspunkt von Art 10
MRK zu prüfen, der allerdings im Licht des Art 11 MRK auszulegen ist. Die Freiheit der Meinungsäußerung ist eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft. Vorbehaltlich des Art 10 Abs 2 MRK gilt sie nicht
nur für "Informationen" und "Ideen" , die zustimmend aufgenommen oder als unschädlich oder unwichtig angesehen werden, sondern auch für Meinungsäußerungen, die verletzen, schockieren oder beunruhigen. So wollen es
Pluralismus und offene Geisteshaltung, ohne die es eine "demokratische Gesellschaft" nicht gibt. Die freie Meinungsäußerung unterliegt Einschränkungen, die aber eng auszulegen werden müssen. Die Notwendigkeit einer
Einschränkung muss überzeugend nachgewiesen werden. Neben dem Inhalt der geäußerten Ideen und Informationen schützt Art 10 MRK auch die Form der Äußerung. Es ist nicht Aufgabe des Gerichtshofs, sich an die Stelle der
staatlichen Gerichte zu setzen, sondern vielmehr unter Berücksichtigung aller Umstände zu prüfen, ob die im Rahmen ihres Ermessensspielraums getroffenen Entscheidungen mit der Konvention vereinbar sind. Das Recht auf die
Freiheit der Meinungsäußerung in Art 10 EMRK ist nicht absolut: der Schutz des guten Rufs und der Rechte anderer - hier der mit den Karikaturen und den Artikeln angesprochenen Personen - ist ein berechtigtes Ziel, das die
Einschränkung der freien Meinungsäußerung zulässt (vorliegend haben spanische Richter die Rechte der Beschwerdeführer gegen das Recht der durch ihre Veröffentlichung betroffenen Personen abgewogen und festgestellt, dass die
umstrittenen Karikaturen und Begleittexte schwer beleidigend und grob verletzend waren). Beleidigende Äußerungen sind im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses wegen ihrer Auswirkungen auf das Betriebsklima besonders ernst und
können schwere Sanktionen rechtfertigen, auch eine Kündigung. Diese war im vorliegenden Fall auch nicht unverhältnismäßig (EGMR, Urteil vom 12.09.2011 - 28955/05, 28957/06, 28959/06, 28964/06, 28955/05, 28957/06,
28959/06, 28964/06 - juris - Orientierungssätze).
***
Art. 10 EMRK (Freiheit der Meinungsäußerung) gilt auch am Arbeitsplatz und auch dann, wenn für das Arbeitsverhältnis Privatrecht gilt. Der Staat ist verpflichtet, dieses Recht auch im Verhältnis zwischen Privatpersonen zu
schützen. Die von den deutschen Gerichten bestätigte Kündigung der Beschwerdeführerin war ein Eingriff in ihr Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung, der gegen Art. 10 EMRK verstößt, es sei denn, er ist „gesetzlich vorgesehen",
verfolgt ein berechtigtes Ziel i.S. von Art. 10 II EMRK und ist „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig", um dieses Ziel zu erreichen. Die Kündigung war auf § BGB § 626 BGB gestützt. Für die Beschwerdeführerin war
angesichts der Rechtsprechung vorhersehbar, dass eine Strafanzeige gegen ihren Arbeitgeber ein wichtiger Grund für eine fristlose Kündigung sein konnte. Wegen der Pflicht des Arbeitnehmers zu Loyalität und Vertraulichkeit müssen
Informationen zunächst dem Vorgesetzten gegeben werden. Nur wenn das nicht möglich ist, kann der Arbeitnehmer als letztes Mittel damit an die Öffentlichkeit gehen. Bei der erforderlichen Interessenabwägung ist von Bedeutung,
ob an der Information ein öffentliches Interesse besteht und ob sie fundiert ist. Jeder, der Informationen weitergeben will, muss grundsätzlich prüfen, ob sie genau und zuverlässig sind. Außerdem müssen der mögliche Schaden für den
Arbeitgeber, die Gründe für die Information und die Art der Sanktion berücksichtigt werden. Eine Strafanzeige wegen Missständen am Arbeitsplatz kann gerechtfertigt sein, wenn vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, dass
innerbetriebliche Beschwerden zu einer Untersuchung und Abhilfe führen. Die Anzeigen der Beschwerdeführerin hatten einen tatsächlichen Hintergrund und waren nicht wissentlich oder leichtfertig falsch. Nach ihren Erfahrungen mit
vielen ergebnislosen betriebsinternen Beschwerden konnte sie annehmen, dass die Strafanzeige das letzte Mittel zur Verbesserung der Pflegesituation sei. Das öffentliche Interesse an Informationen über Mängel in der Altenpflege in
staatlichen Pflegeheimen hat so viel Gewicht, dass es das Interesse des Unternehmens am Schutz seines guten Rufs im Geschäftsverkehr und seiner geschäftlichen Interessen überwiegt. Die fristlose Kündigung war unverhältnismäßig
hart und nicht „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig". Sie hat deswegen Art. 10 EMRK verletzt (EGMR, Urteil v. 21.07.2011 - 28274/08, NJW 2011, 3501 ff).
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Die Mitgliedsstaaten sind nicht gehalten, das Recht auf Achtung des Privatlebens der Bürger in den Medien dadurch zu schützen, dass diese verpflichtet werden, Betroffene über eine beabsichtigte Berichterstattung über sie vorab zu
informieren, damit diese in die Lage versetzt werden, durch einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zu versuchen, die Verbreitung von Nachrichten bzw. Bildmaterial zu verhindern, die ihre Privat- oder Intimsphäre
verletzen (EGMR, Urteil vom 10.05.2011 - 48009/08).
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Die Freiheit der Meinungsäußerung ist einer der wesentlichen Grundpfeiler einer demokratische Gesellschaft und eine der Voraussetzungen für ihren Fortschritt und die Selbstverwirklichung jedes Menschen. Vorbehaltlich Art. 10
Abs 2 EMRK gilt dieses Recht auch für solche Informationen, die verletzen, schockieren oder beunruhigen. Die auf die Ziele des Schutzes der Moral sowie des guten Rufs und der Rechte anderer gestützte Verurteilung einer
Künstlerin, weil sie Fotos von Mädchen in sexuellen Stellungen veröffentlicht hat, stellt einen Eingriff in die Meinungsfreiheit dar. Auch wenn sich die Auffassungen über die Sexualmoral in den vergangenen Jahren geändert haben,
ist die Auffassung der finnischen Gerichte nicht unvernünftig, insbesondere weil minderjährige Personen betroffen waren. Die Entscheidung, dass die Freiheit der Meinungsäußerung Besitz und öffentliche Ausstellung von
Kinderpornografie nicht rechtfertigt, ist stichhaltig und ausreichend, um zu belegen, dass der Eingriff "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" war (EGMR, Urteil vom10.05.2011 - 1685/10 - juris - Orientierungssätze).
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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat im Fall "Aydin gegen Deutschland" entschieden, dass die strafrechtliche Verurteilung einer PKK-Aktivistin in Deutschland nicht gegen die Europäische
Menschenrechtskonvention verstoßen hat. Eine in Deutschland lebende türkische Staatsangehörige war vom Berliner Landgericht im Juli 2003 wegen Verstoßes gegen ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot zu einer Geldstrafe von
1.200 Euro verurteilt worden. Sie hatte 2001 gemeinsam mit anderen Personen eine Unterschriftensammlung im Rahmen einer Kampagne zur Unterstützung der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) organisiert. Die auch von
der Beschwerdeführerin selbst unterschriebene Erklärung enthielt u.a. eine Absichtsbekundung, das Verbot der PKK nicht anzuerkennen und die sich daraus ergebende Verantwortung zu übernehmen. Daraufhin war sie vom
Landgericht wegen Verstoßes gegen ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot zu der Geldstrafe verurteilt worden. Der BGH bestätigte die Verurteilung im Januar 2004, das BVerfG verwarf eine Verfassungsbeschwerde der Frau im
September 2006. Die Beschwerdeführerin sah in ihrer Verurteilung einen Verstoß gegen Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention - EMRK (Freiheit der Meinungsäußerung). Der EGMR hat entschieden, dass kein Verstoß
gegen die Europäische Menschenrechtskonvention vorliegt. Die Beschwerdeführerin ist nicht verurteilt worden, weil sie eine bestimmte Meinung geäußert hat. Es stand ihr frei, für das kurdische Volk Freiheit und Selbstbestimmung
und die Aufhebung des Verbots der PKK zu fordern. Verurteilt worden ist sie, weil sie sich dazu bekannt hat, das Betätigungsverbot künftig nicht zu beachten. Die Verurteilung war ein Eingriff in die von Art. 10 EMRK geschützte
Freiheit der Meinungsäußerung. Er verletzt Art. 10 EMRK, wenn nicht die Voraussetzungen von Art. 10 II EMRK vorliegen. Der Eingriff war gesetzlich vorgesehen, nämlich in § 20 II i.V. mit § 18 S. 2 VereinsG. Diese Vorschriften
sind zwar sehr weit gefasst, der BGH hat aber ihre Bedeutung in seiner Rechtsprechung klargestellt, so dass für die Betroffenen die Folgen ihres Handelns vorhersehbar waren. Die Verurteilung verfolgte berechtigte Ziele i.S. von Art.
10 II EMRK und war "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig", weil ein "dringendes soziales Bedürfnis" dafür bestand, die Durchführung des Betätigungsverbots der PKK sicherzustellen. (EGMR, Urteil vom 27.01.2011 -
16637/07 zu EMRK Art. 7, 10, 35 III, IV):
„... Die 1972 geborene Bf., türkische Staatsangehörige, wohnt in Wuppertal.
Hintergrund : Mit Verfügung vom 22.11.1993 erließ das BMI gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ein Betätigungsverbot nach § 18 S. 2 VereinsG mit folgendem Wortlaut : ‚1. Die Tätigkeit der ‚Arbeiterpartei Kurdistans"
(PKK) ... verstößt gegen Strafgesetze, richtet sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung, gefährdet die innere Sicherheit und sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland. 2. Die ‚Arbeiterpartei Kurdistans"
(PKK) ... darf sich im Geltungsbereich des Vereinsgesetzes nicht mehr betätigen.'
Die Führung der PKK änderte nach der Festnahme ihres Vorsitzenden Abdullah Öcalan im Jahr 1999 ihre Strategie und erklärte den bewaffneten Kampf gegen die türkischen Streitkräfte für beendet. Auf ihrem 7. Parteikongress am
17. 1. 2000 verkündete die PKK eine ‚Friedensinitiative" und organisierte in Deutschland keine Demonstrationen oder Gewalttaten mehr. Im Jahr 2001 beschloss der Präsidialrat der PKK eine groß angelegte Kampagne, bei der sich
die Anhänger der Partei an die deutschen Behörden wenden, sich als PKK-Sympathisanten bekennen und die Aufhebung des PKK-Verbots fordern sollten. Die Sympathisanten unterzeichneten Erklärungen, die in großer Zahl an
Parlamente, Behörden und Gerichte übergeben wurden. Darin hieß es u.a. :
‚Selbsterklärung
`Auch ich bin ein PKK'ler´
Da dem kurdischen Volk das elementare Lebensrecht vorenthalten wurde, blieb ihm keine andere Wahl als der Griff zu den Waffen. Nach über zwanzig Jahren Krieg wurde von unserer nationalen Führung, Abdullah Öcalan, ein
strategischer Wechsel eingeleitet. Seit zwei Jahren kämpft die PKK mit ausschließlich politischen Mitteln für eine friedliche und demokratische Lösung der kurdischen Frage. ...
1. Auf dieser Grundlage erkläre ich als Angehöriger des kurdischen Volkes, dass ich die neue Linie der PKK teile, die seit zwei Jahren ihren politischen Kampf auf legaler Grundlage führt.
Weiterhin erkläre ich mich der PKK zugehörig. ...
Hiermit erkläre ich, dass ich das gegen die PKK ausgesprochene Verbot und die strafrechtliche Verfolgung der Mitgliedschaft in der PKK sowie der strafrechtlichen Verfolgung der aktiven Sympathie für die PKK auf das Schärfste
verurteile. Weiterhin erkläre ich, dass ich dieses Verbot nicht anerkenne und sämtliche Verantwortung übernehme, die sich daraus ergibt.'
Strafverfahren gegen die Bf. : Die Bf. organisierte und koordinierte zusammen mit anderen Personen in Berlin eine Unterschriftensammlung für die Erklärung. Auch sie selbst unterzeichnete eine Erklärung. Am 16. 7. 2001 übergab
siezwei Aktenordner mit 467 unterzeichneten Erklärungen an die StA in Berlin, am 24. 9. 2001einen weiteren Aktenordner. Darüber hinaus spendete sie Geldbeträge an eine ebenfalls verbotene Unterorganisation der PKK.Am 17. 7.
2003 verurteilte das LG Berlin die Bf. wegen Zuwiderhandlung gegen ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot (§ 20 I Nr. 4 i.V.m. § 18 S. 2 VereinsG) zu 150 Tagessätzen zu je acht Euro. Der BGH verwarf am 15. 1. 2004 die
Revision der Bf. und bezog sich auf sein Grundsatzurteil vom 27.3.2003 (BGHSt 42, 30 = NJW2003, 1621 = NStZ 2003, 491), das BVerfG wies ihre Verfassungsbeschwerde am 26.9.2006 mit ausführlicher Begründung zurück.
Verfahren vor dem Gerichtshof : Am 16.4.2007 hat die Bf. Beschwerde eingelegt und insbesondere gerügt, die Verurteilung habe ihr Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung verletzt. Der Gerichtshof hat die Beschwerde nach Art. 10
EMRK am 27.1.2011 einstimmig für zulässig und im Übrigen für unzulässig erklärt und mit 6 : 1 Stimmen festgestellt, dass Art. 10 EMRK nicht verletzt ist. ...
I. Behauptete Verletzung von Art. 10 EMRK
Die Bf. rügt, ihre strafrechtliche Verurteilung wegen der Unterzeichnung der Erklärung habe ihr Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 10 EMRK verletzt ...
Die Regierung widerspricht.
A. Zulässigkeit
Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht i. S. von Art. 35 III lit. a EMRK offensichtlich unbegründet und auch nicht aus anderen Gründen unzulässig ist. Deswegen ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Vortrag der Bf. (zusammengefasst)
Die Bf. macht geltend, ihre strafrechtliche Verurteilung sei unverhältnismäßig und in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig gewesen. Die Einschränkung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung sei nicht durch ein
dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt. Sie habe nicht zur Anwendung von Gewalt gegen den Staat oder Einzelpersonen aufgerufen. Die Regierung selbst habe bestätigt, dass die Aktivitäten der PKK in der fraglichen Zeit
weitgehend friedlicher Natur gewesen seien. Die Verurteilung beruhe auf der Annahme, dass sich die Erklärung nicht auf die scharfe Missbilligung der Politik der Bundesrepublik Deutschland beschränke, sondern auch eine positive
Wirkung für die PKK entfalte. Wenn die Selbsterklärung mehrdeutig sei, könne das nicht zu ihren Lasten gehen. Außerdem sei ihre Strafe ungewöhnlich hoch.
2. Vortrag der Regierung (zusammengefasst)
Die Regierung macht geltend, die Verurteilung der Bf. sei zwar ein Eingriff in ihre Meinungsfreiheit, aber nach Art. 10 II EMRK gerechtfertigt. Die maßgebenden Vorschriften des VereinsG seien so bestimmt gefasst, dass der Bürger
sein Verhalten - wenn nötig nach Beratung - danach ausrichten und die möglichen Folgen einer bestimmten Handlung abschätzen könne. Ein Betätigungsverbot ergehe, wenn Vereine durch ihre politische Betätigung die innere oder
äußere Sicherheit, die öffentliche Ordnung oder sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland oder eines Bundeslandes beeinträchtigten oder gefährdeten.Die strafrechtliche Sanktion diene dem Schutz der gleichen
Rechtsgüter und verfolge damit ein berechtigtes Ziel i.S. von Art. 10 II EMRK. Für den Eingriff habe es auch ein ‚dringendes soziales Bedürfnis" gegeben. Die PKK stelle eine Bedrohung der Strafgesetze, des Gedankens der
Völkerverständigung und der inneren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland dar. Überdies sei die PKK im Mai 2002 in die EU-Liste terroristischer Organisationen aufgenommen worden. Die deutschen Gerichte hätten bei der
Interessenabwägung berücksichtigt, dass die Bf. ihre Erklärung im Rahmen einer durch die Führung der PKK initiierten Kampagne abgegeben habe, und seien bei der Strafzumessung sehr moderat vorgegangen.
3. Beurteilung durch den Gerichtshof
Die Bf. ist nicht verurteilt worden, weil sie eine bestimmte Meinung geäußert hat. Alle erkennenden deutschen Gerichte haben ausdrücklich anerkannt, dass die Äußerungen der Bf. von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung
gedeckt waren und dass sie berechtigt sei, Freiheit und Selbstbestimmung für das kurdische Volk und die Aufhebung des Betätigungsverbots für die PKK zu fordern und dessen Aufrechterhaltung aufs Schärfste zu missbilligen. Die
Gerichte waren aber der Auffassung, die Erklärung sei auch als Bekenntnis der Unterzeichner zu verstehen, das Betätigungsverbot künftig nicht zu beachten. Sie sei geeignet, der PKK Grundlagen für die Planung künftiger
rechtswidriger Aktivitäten zu verschaffen sowie die Solidarität mit anderen potentiellen Sympathisanten zu stärken. Das verstoße gegen das gegen die PKK verhängte Betätigungsverbot.
Aufgabe des Gerichtshofs ist danach nicht zu beurteilen, ob die Bf. eine bestimmte Meinung äußern durfte - was ihr unbestritten freistand -, sondern ob ihre strafrechtliche Verurteilung wegen Unterstützung einer illegalen
Organisation ihr Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 10 EMRK verletzt hat.
Die Regierung bestreitet nicht, dass die Verurteilung der Bf. durch die deutschen Gerichte in ihr Recht auf freie Meinungsäußerung eingegriffen hat. Ein solcher Eingriff verletzt die Konvention, wenn nicht die Voraussetzungen von
Art. 10 II EMRK vorliegen. Deswegen ist zu prüfen, ob er ‚gesetzlich vorgesehen' war, eines oder mehrere der in Art. 10 II EMRK genannten berechtigten Ziele verfolgte und ‚in einer demokratischen Gesellschaft notwendig' war, um
diese Ziele zu erreichen.
Die Verurteilung der Bf. beruhte auf § 20 I Nr. 4 i.V.m. § 18 S. 2 VereinsG. .
Das maßgebende innerstaatliche Recht muss so bestimmt gefasst sein, dass die Betroffenen - wenn nötig mit entsprechender Rechtsberatung - in einem Maß, das unter den jeweiligen Umständen angemessen ist, voraussehen können,
welche Folgen eine bestimmte Handlung für sie haben kann (siehe u.a. EGMR, Slg. 1997-VII Nr. 37 = ÖJZ 1998, 794 - Grigoriades/Griechenland). Die Folgen müssen nicht mit absoluter Sicherheit voraussehbar sein; die Erfahrung
zeigt, dass dies nicht zu erreichen ist. Rechtssicherheit ist zwar ein hohes Gut, kann aber auch übermäßige Starrheit zur Folge haben; das Gesetz muss sich den Veränderungen der Umstände anpassen können. Deswegen sind viele
Gesetze notwendig mehr oder weniger unbestimmt gefasst, und es ist Aufgabe der Praxis, sie auszulegen und anzuwenden (s. EGMR, 1979, Serie A, Bd. 30, Nr. 49 = EGMR-E 1, 366 - Sunday Times /Vereinigtes Königreich Nr. 1;
EGMR, Urt. v. 6.4.2010 - 25576/04 Nr. 65 - Flinkkilä u.a./Finnland).
§ 20 I VereinsG, nach dem sich strafbar macht, ‚wer … durch eine ... Tätigkeit einem vollziehbaren Verbot nach …§ 18 S. 2 zuwiderhandelt', ist sehr allgemein gefasst. Der BGH hat aber mit seinem Grundsatzurteil vom 27. 3. 2003
(BGHSt 42, 30 = NJW 2003, 2621 = NStZ 2003, 491) seine frühere Rechtsprechung bestätigt, wonach eine Person einem vollziehbaren Verbot zuwiderhandele, wenn ihr Verhalten auf die verbotene Vereinstätigkeit bezogen und
dieser förderlich sei. Das Handeln müsse konkret geeignet sein, eine für die verbotene Vereinstätigkeit vorteilhafte Wirkung hervorzurufen. Diese auslegende Rechtsprechung ist bestimmt genug, um für die Bf. die Folgen ihres
Handelns vorhersehbar zu machen. Ihre Verurteilung war deswegen ‚gesetzlich vorgesehen' i. S. von Art.10 II EMRK.
Die Verurteilung der Bf. diente dem Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit und verfolgte damit berechtigte Ziele i. S. von Art. 10 II EMRK.
Zu prüfen bleibt, ob der Eingriff ‚in einer demokratischen Gesellschaft notwendig' war, wofür Voraussetzung ist, dass ein ‚dringendes soziales Bedürfnis" für ihn bestand. Die Vertragsstaaten haben einen gewissen Ermessensspielraum
bei der Beurteilung, ob ein solches Bedürfnis besteht; dieser geht jedoch Hand in Hand mit einer Überwachung durch den Gerichtshof (s.EGMR, Slg. 2003-V Nr. 39 = NJW 2004, 2653 - Perna/Italien).
Die der Bf. auferlegte Strafe sollte die Einhaltung des gegen die PKK verhängten Betätigungsverbots sicherstellen. Es wäre wirkungslos, wenn ihre Anhänger de facto weiter verbotenen Vereinstätigkeiten nachgehen könnten (s.
mutatis mutandis EGMR, Urt. v. 30.6.2009 - 35579/03, 35613/03, 35626/03 und 35634/03 Nr. 52 - Etxeberria u.a./Spanien). Die deutschen Gerichte haben das Recht der Bf., eine Aufhebung des 1993 gegen die PKK verhängten
Verbots zu fordern, ausdrücklich anerkannt. Das BMI konnte das Verbot unstreitig erneut prüfen und aufheben. Daraus folgt, dass es der Beschwerdeführerin freistand, sich - auch öffentlich - an die zuständige Behörde zu wenden und
angesichts der angeblich veränderten Umstände eine Aufhebung des Verbots zu fordern. Die Bf. hätte also die Möglichkeit gehabt, sich wirksam für eine Aufhebung des Verbots einzusetzen, ohne sich der Gefahr strafrechtlicher
Verfolgung auszusetzen.
Die Bf. trägt vor, sie habe nicht die Absicht geäußert, das Verbot zu missachten. Die deutschen Gerichte haben aber den Inhalt der von ihr unterzeichneten Erklärung gründlich im allgemeinen Zusammenhang geprüft und dabei
berücksichtigt, dass die Bf.sie im Rahmen einer durch die Führung der PKK initiierten, groß angelegten Kampagne abgegeben hat. Außerdem haben sie berücksichtigt, dass die Bf. unbestritten auch auf andere Weise der
Verbotsverfügung zuwidergehandelt hatte, indem sie einer ebenfalls verbotenen Unterorganisation der PKK eine Spende hat zukommen lassen. Die deutschen Gerichte haben ausgeschlossen, dass die Erklärung so ausgelegt werden
könne, dass sie nicht strafbar sei. Angesichts der sorgfältigen Prüfung durch die deutschen Gerichte ist der Gerichtshof nicht der Auffassung, dass ihre Auslegung das Recht der Bf. aus Art. 10 EMRK verletzt hat.
Die Strafgerichte haben bei der Strafzumessung strafmildernd berücksichtigt, dass sich die Bf. auf ihr Recht auf freie Meinungsäußerung berufen hat. Das verhängte Strafmaß von 150 Tagessätzen zu je acht Euro ist nicht unverhältnismäßig.
Aus diesen Erwägungen kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die deutschen Gerichte die Meinungsfreiheit der Bf. in dem gegen sie geführten Strafverfahren ausreichend berücksichtigt haben. Folglich ist Art. 10 EMRK nicht
verletzt.
II. Behauptete Verletzung von Art. 10 i. V. mit Art. 7 EMRK
Die Bf. macht weiter geltend, ihre Verurteilung werfe eine Frage nach Art. 10 i. V. mit Art. 7 I EMRK auf. ...
Die Bf. hat sich in ihrer Verfassungsbeschwerde nicht auf Art. 103 II GG berufen, nach dem eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Die Garantien aus Art. 7 I
EMRK und aus Art. 103 II GG sind weitgehend identisch. Um den innerstaatlichen Rechtsweg gemäß Art. 35 I EMRK zu erschöpfen, hätte sich die Bf. daher vor dem BVerfG auf Art. 103 II GG berufen müssen. Daraus folgt, dass
diese Rüge nach Art. 35 I, IV EMRK wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs zurückzuweisen ist. ..."
***
Der Gerichtshof muss prüfen, ob die staatlichen Gerichte im Einzelfall einen fairen Ausgleich zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK) und dem Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) hergestellt
haben. Dabei ist den staatlichen Gerichten ein bestimmter Ermessensspielraum zuzuerkennen. Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist enger auszulegen, wenn es um die Veröffentlichung von Fotos und Artikeln geht, mit denen
lediglich die Neugier einer bestimmten Leserschaft an dem Privatleben einer öffentlichen Person befriedigt werden soll, weil dies kein Beitrag zu einer Diskussion von allgemeinem Interesse ist. Fotos, die in der Sensationspresse
erscheinen, sind oft unter ständiger Belästigung entstanden, was von den Betroffenen als schwerwiegendes Eindringen in ihr Privatleben und sogar als Verfolgung empfunden wird. Deshalb hat bei der Veröffentlichung von Fotos der
Schutz des guten Rufes eine besondere Bedeutung. Die Verpflichtung der Beschwerdeführerin, das zwischen der durch einen Presseartikel Verletzten und ihren Rechtsanwälten vereinbarte Erfolgshonorar zu erstatten, ist ein Eingriff in
ihr Recht auf freie Meinungsäußerung. Zwar sollen Erfolgshonorare Anwälte bewegen, auch weniger aussichtsreiche Fälle zu übernehmen, und damit das Recht auf Zugang zu den Gerichten (Art. 6 Abs. 1 EMRK - Recht auf ein faires
Verfahren) gewährleisten. Andererseits weist das umstrittene System der Vereinbarung von Erfolgshonoraren so erhebliche Mängel auf, dass der weite Ermessenspielraum des Staates in diesem Bereich überschritten ist. Die
Verpflichtung der Beschwerdeführerin zur Zahlung des Erfolgshonorars verstößt daher gegen Art. 10 EMRK (EGMR, Urteil vom 18.01.2011 - 39401/04 - juris - Orientierungssätze).
***
Die Verurteilung der Beschwerdeführer wegen Beleidigung nach § 185 StGB war ein Eingriff in ihr nach Art. 10 EMRK garantiertes Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung. Ein solcher Eingriff ist nach Art. 10 II EMRK
gerechtfertigt, wenn er „gesetzlich vorgesehen" ist, eines der in der Vorschrift genannten berechtigten Ziele verfolgt und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" ist, um dieses Ziel zu erreichen. § 185 StGB ist ausreichend
bestimmt gefasst und damit eine ausreichende Grundlage im deutschen Recht. Die Bestrafung diente dem „Schutz des guten Rufs oder der Rechte anderer" i. S. von Art. 10 II EMRK und damit einem berechtigten Ziel. Für den
Eingriff bestand auch ein „dringendes soziales Bedürfnis". Die deutschen Gerichte haben das Recht der Beschwerdeführer auf freie Meinungsäußerung und das Persönlichkeitsrecht des Arztes angemessen gegeneinander abgewogen.
Die Dauer des Verfahrens über die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführer vor dem BVerfG von fast sechseinhalb Jahren verstößt gegen Art. 6 I EMRK (Recht auf ein faires Verfahren; EGMR, Urteil vom 13.01.2011 - 397/07,
2322/07, NJW 2011, 3353).
***
Das in Art. 10 EMRK garantierte Recht auf freie Meinungsäußerung gilt auch für Soldaten. Ein Eingriff in dieses Recht ist nach Art. 10 II EMRK gerechtfertigt, wenn er "gesetzlich vorgesehen" war, eines oder mehrere der dort
angeführten Ziele verfolgte und "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" war. Die gegen den Beschwerdeführer verhängte Disziplinarbuße stützte sich auf §§ 10 I, VI, 12 S.1 und 17 deutsches SoldatenG. Diese Vorschriften
sind weit gefasst, doch lassen sich für das Disziplinarrecht kaum Vorschriften denken, die verschiedene Verhaltensformen im Detail umschreiben. Die genannten Vorschriften des SoldatenG sind jedenfalls so bestimmt, dass der
Beschwerdeführer die Folgen seines Handelns vorhersehen konnte. Der umstrittene Eingriff war daher gesetzlich vorgesehen. Er verfolgte auch ein berechtigtes Ziel, nämlich die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr und damit die
Ordnung in den Streitkräften aufrechtzuerhalten sowie die Rechte und den guten Ruf der betroffenen Generäle zu schützen. Schließlich war der Eingriff verhältnismäßig. Der Beschwerdeführer ist nicht dafür belangt worden, dass er
sich an einer öffentlichen Diskussion beteiligt hat, sondern dafür, dass er die Ehre und den guten Ruf seiner militärischen Vorgesetzten in einer Weise angegriffen hat, die geeignet war, die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr zu
gefährden. Außerdem war die verhängte Geldbuße verhältnismäßig gering. Die deutschen Behörden und Gerichte haben damit den ihnen zustehenden Ermessensspielraum im vorliegenden Fall nicht überschritten. Die Beschwerde ist
daher offensichtlich unbegründet und nach Art. 35 III, IV EMRK (Zulässigkeitsvoraussetzungen) zurückzuweisen (EGMR, Entscheidung vom 14.10.2010 - 51001/07 zu EMRK Art. 10, 35 III, IV zu BeckRS 2011, 19138).
***
Quellenschutz ist für die Pressefreiheit in einer demokratischen Gesellschaft von großer Bedeutung. Aufforderungen an einen Journalisten, seine Quellen anzugeben, sowie Durchsuchungen seiner Wohnung oder seines
Arbeitsplatzes, um eine solche Quelle festzustellen, greifen in sein Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 10 EMRK ein. Sie sind nur gerechtfertigt, wenn dafür ein überwiegendes öffentliches Interesse besteht. Im
vorliegenden Fall hat die StA mit Durchsuchung und Beschlagnahme gedroht, woraufhin die Beschwerdeführerin die verlangten Fotos herausgegeben hat. Damit hat die StA in deren Rechte nach Art. 10 EMRK eingegriffen. Um nach
Art. 10 II EMRK gerechtfertigt zu sein, muss ein solcher Eingriff zunächst "gesetzlich vorgesehen" sein. Das heißt, er muss eine Grundlage im staatlichen Recht haben, und die muss eine bestimmte Qualität aufweisen. Angesichts der
Bedeutung des Quellenschutzes für die Pressefreiheit muss das Recht auf diesen Schutz durch gesetzlich festgelegte Verfahrensgarantien abgesichert werden. Dazu gehört vorrangig die Überprüfung durch einen Richter oder ein
anderes unabhängiges und unparteiisches Entscheidungsorgan, und das grundsätzlich vor Vollzug der Anordnung. Die hier umstrittene Aufforderung war auf § 96a niederländische StPO gestützt. Sie hatte damit eine Grundlage
im staatlichen Recht. Das aber kennt kein Verfahren, in dem objektiv und unparteiisch geprüft werden könnte, ob das von der StA angeführte Interesse an der Aufdeckung einer Straftat dem Interesse des Quellenschutzes in diesem
Fall vorgeht. Daher war der Eingriff nicht "gesetzlich vorgesehen" i. S. von Art. 10 II EMRK. Daran ändert nichts, dass die StA auf Veranlassung der Beschwerdeführerin noch vor Herausgabe der Fotos einen Untersuchungsrichter
eingeschaltet hat, denn der hat in diesem Bereich keinerlei rechtliche Befugnisse. Auch die nachträgliche Kontrolle durch das LG Amsterdam hat den Mangel der Rechtsgrundlage nicht geheilt: das LG konnte die Ermittler nicht davon
abhalten, die umstrittenen Fotos, einmal in ihren Händen, auch auszuwerten. Die Beschwerdeführerin hatte mit einer Stiftung verabredet, dass diese unter bestimmten Umständen einen Teil der Kosten übernehmen würde, die sie
aufgrund einer Honorarvereinbarung ihren Anwälten zahlen muss. Eine solche Absprache ist von dem Fall zu unterscheiden, in dem Rechtsverfolgungskosten von einem Dritten getragen werden. Sie ist für die Anwendung von Art. 41
EMRK (Gerechte Entschädigung) ohne Bedeutung (EGMR, Urteil vom 14.09.2010 - 38224/03 zu EMRK Art. 10, 13, 41, BeckRS 2011, 19137):
„... A. Allgemeine Erwägungen
Die Freiheit der Meinungsäußerung ist einer der Grundpfeiler der demokratischen Gesellschaft, und die Garantien für die Presse sind dabei von besonderer Bedeutung. Wenngleich sie die ihr gesetzten Grenzen nicht überschreiten darf,
hat die Presse doch Informationen und Ideen zu Fragen von öffentlichem Interesse weiterzugeben, und die Öffentlichkeit hat das Recht, diese zu empfangen. Wäre es anders, könnte die Presse ihre unverzichtbare Rolle eines
„Wachhundes" nicht spielen (s. EGMR, 1991, Serie A, Bd. 216, S. 29-30 Nr. 59 = ÖJZ 1992, 378 - Observer u. Guardian/Vereinigtes Königreich). Das Recht der Journalisten auf Schutz ihrer Quellen ist Teil der Freiheit,
„Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe ... zu empfangen und weiter zu geben", wie sie Art.10 EMRK schützt. Es ist eine ihrer wesentlichen Garantien, ein Eckstein der Pressefreiheit, ohne den Informanten davon
abgehalten werden könnten, der Presse bei Unterrichtung der Öffentlichkeit über Fragen des öffentlichem Interesses zu helfen. Das aber könnte die Presse in ihrer entscheidenden Rolle als „Wachhund" beeinträchtigen und ihre
Fähigkeit mindern, die Öffentlichkeit genau und zuverlässig zu informieren.
Der Gerichtshof hat die Garantien zur Wahrung der Freiheit der Meinungsäußerung in Fällen zu Art. 10 EMRK immer besonders sorgfältig geprüft. Angesichts der Bedeutung des Schutzes journalistischer Quellen für die
Pressefreiheit in einer demokratischen Gesellschaft ist ein Eingriff in diese Rechte mit Art. 10 EMRK unvereinbar, wenn ihn nicht ein überwiegendes öffentliches Interesse rechtfertigt (s. EGMR, Slg. 1996-II Nr. 39 = ÖJZ 1996, 795 -
Goodwin/Vereinigtes Königreich; EGMR, Slg. 2003-IV Nr. 39 - Roemen u. Schmit/Luxemburg; EGMR, NJW 2008, 2563 Nr. 65 - Voskuil/Niederlande). ...
B. Eingriff
1. Urteil der Kammer (zusammengefasst)
[52] Die Kammer hat entschieden, es liege ein Eingriff in Form einer „Einschränkung" vor, Art. 10 EMRK sei anwendbar.
2. Vortrag der Beteiligten
a) Die Regierung (zusammengefasst)
Die Regierung bezweifelt, dass es zwischen der Bf. oder ihren Mitarbeitern und den Organisatoren des Autorennens irgendeine Absprache gegeben habe, um die Anonymität der Beteiligten zu wahren. Im Übrigen habe das Rennen auf
einer öffentlichen Strasse stattgefunden, also könne sich die Bf. gar nicht zur Vertraulichkeit oder Geheimhaltung verpflichtet haben. Doch selbst wenn hier eine Quelle zu schützen sei, beträfe die angebliche Absprache nur das
Rennen. Das aber habe Polizei und StA nie interessiert.
b) Die Bf. (zusammengefasst)
Die Bf. bekräftigt, ihre Journalisten hätten versprechen müssen, die Anonymität der an dem Rennen Beteiligten zu wahren, um fotografieren zu können.
c) Die Drittbeteiligten (zusammengefasst)
Die Drittbeteiligten betonen, die Behörden hätten dank der Fotos der Bf. einige oder alle Teilnehmer an der Rennveranstaltung identifizieren können.
3. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs
In früheren Fällen hat der Gerichtshof verschiedene behördliche Aktionen als Verstöße gegen die Freiheit der Meinungsäußerung von Journalisten angesehen, die gezwungen worden waren, auf ihr Privileg zu verzichten und
Informationen über ihre Quellen zu gehen oder Zugang zu ihren Informationen zu gewähren. Im Fall Goodwin/Vereinigtes Königreich (EGMR, Slg. 1996-II S. 496 Nr. 28 = ÖJZ 1996, 795) war er der Auffassung, dass die
Aufforderung an einen Journalisten, die Identität einer Person preiszugeben, die ihm im Schutz der Anonymität Informationen geliefert hatte, sowie die wegen seiner Weigerung gegen ihn verhängte Geldbusse Eingriffe in sein Recht
auf freie Meinungsäußerung nach Art. 10 I EMRK gewesen seien.
In ihrer Entscheidung British Broadcasting Corporation/Vereinigtes Königreich vom 18.1.1996 (25794/94), auf die sich die Regierung bezieht, hat die EKMR diesen Fall von der Sache Goodwin/Vereinigtes Königreich (s. EGMR,
Slg. 1996-II, S. 496 Nr. 28 = ÖJZ 1996, 795) unterschieden. Im letzten Fall habe der Bf. Informationen von einer vertraulichen Quelle erhalten, die anonym bleiben wollte, während die Informationen der BBC Aufnahmen zu einem
Sachverhalt eingeschlossen hätten, der sich in der Öffentlichkeit zugetragen hatte. Daher könne hier eine Pflicht zur Geheimhaltung oder Vertraulichkeit nicht in Frage kommen. Trotzdem sei in die Rechte der BBC nach Art. 10
EMRK eingriffen worden.
In seinen Urteilen Roemen u. Schmit/Luxemburg (s. EGMR, Slg. 2003-IV Nr. 47), Ernst u.a./Belgien (Urt. v. 15.7.2003 - 33400/96 Nr. 94) und Tillack/Belgien (s. EGMR, Slg. 2007-XIII Nr. 56 = NJW 2008, 2565 (2567)) hat der
Gerichtshof entschieden, dass Durchsuchungen der Wohnungen und Arbeitsplätze von Journalisten, um öffentliche Bedienstete zu identifizieren, die vertrauliche Informationen weitergegeben hatten, in die Rechte der Journalisten
nach Art. 10 I EMRK eingegriffen hätten. In der Sache Roemen u. Schmit/Luxemburg hat er auch betont, der Zweck der Durchsuchungen, nämlich die Identifizierung der Quelle des Journalisten, entfalle nicht deshalb, weil die
Durchsuchung erfolglos geblieben sei.
In seinem Urteil Voskuil/Niederlande (s. NJW 2008, 2563-2564 Nr. 49) hat der Gerichtshof einen Eingriff in die Rechte des Bf., eines Journalisten, nach Art. 10 EMRK festgestellt, weil das zuständige niederländische Gericht seine
Haft angeordnet hatte, um ihn zum Reden zu bringen, weil er sich geweigert hatte, die Person zu benennen, die ihm Informationen über ein angeblich fehlerhaftes Verhalten der Polizei bei ihren Ermittlungen geliefert hatte.
Jüngst hat der Gerichtshof im Fall Financial Times Ltd u.a./Vereinigtes Königreich (Urt. v. 15.12.2009 - 821/03 Nr. 56) die an vier Zeitungsherausgeber und eine Nachrichtenagentur gerichtete Anordnung, eine anonyme
Informationsquelle aufzudecken, als Eingriff in die den Betroffenen garantierten Rechte nach Art. 10 EMRK gewertet. Dass die Anordnung nicht vollzogen worden war, habe ihre nachteiligen Folgen für die Bf. nicht beseitigt. Denn
obwohl es - Ende 2009, als der Gerichtshof diesen Fall entschied - wenig wahrscheinlich sei, dass sie noch vollstreckt würde, sei sie doch weiterhin vollstreckbar.
4. Anwendung dieser Grundsätze im vorliegenden Fall
Ob es in diesem Fall eine Absprache gegeben hat, nach der die Bf. Vertraulichkeit zu wahren hatte, worüber die Parteien ausgiebig gestritten haben, kann dahingestellt bleiben. Der Gerichtshof stimmt der Bf. darin zu, dass es nicht
notwendig ist, die von ihr behauptete Absprache zu beweisen. Wie schon die Kammer sieht auch die Grosse Kammer keinen Grund, den Vortrag der Bf. in Zweifel zu ziehen, es sei versprochen worden, die am Rennen beteiligten
Wagen und ihre Eigentümer vor Aufdeckung ihrer Identität zu schützen.
Die Regierung weist mit Recht darauf hin, dass die Behörden von der Bf. nicht verlangt haben, Informationen herauszugeben, um die Teilnehmer an dem Straßenrennen zu identifizieren, sondern nur Fotos, die nach Auffassung der Bf.
zur Identifizierung der Teilnehmer führen konnten. Im Fall Nordisk Film & TV A/S/Dänemark (s. EGMR, Slg. 2005-XIII) hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Entscheidung des dänischen OGH, die Bf. zu zwingen, nicht
veröffentlichte Aufnahmen herauszugeben, ein Eingriff in die nach Art. 10 I EMRK garantierten Rechte sei, wenngleich die Betroffenen nicht als „anonyme Informationsquellen" i.S. der Rechtsprechung des Gerichtshofs angesehen
werden konnten (s. oben Nrn. 59, 61). Der Gerichtshof hat in seiner Entscheidung anerkannt, dass Art. 10 EMRK in einer solchen Situation anwendbar sein könne, und festgestellt, dass sich die erzwungene Aushändigung von
recherchiertem Material auf die Ausübung der Pressefreiheit abschreckend auswirken könne.
Im vorliegenden Fall war die umstrittene Anordnung außerdem nicht darauf angelegt, die Personen in Zusammenhang mit dem illegalen Straßenrennen zu identifizieren. Tatsächlich wurden keine Ermittlungen wegen dieses Rennens
eingeleitet, nicht einmal gegen A und M, die schwerer Straftaten verdächtig waren. Doch ist das nicht entscheidend.
Inwieweit eine Zwangsmassnahme zur Offenlegung von Quellen geführt hat oder zur strafrechtlichen Verfolgung von Informanten, hat der Gerichtshof bislang als unwesentlich für die Frage angesehen, ob in das Recht eines
Journalisten auf Schutz seiner Quellen eingegriffen worden ist. Im Fall Roemen u. Schmit/Luxemburg hatte die Vollstreckung des Durchsuchungsbefehls und die Anordnung der Beschlagnahme in den Arbeitsräumen des betroffenen
Journalisten die gesuchten Informationen nicht erbracht. Die Anordnungen wurden als „drastischer angesehen als die Aufforderung, die Identität der Quelle preiszugeben ... denn die Ermittler, die ohne Vorankündigung und mit
Durchsuchungsbefehlen einen Journalisten am Arbeitsplatz überraschen, hätten weitgehende Befugnisse, da sie logischerweise Zugang zu allen Unterlagen des Journalisten hätten. Deshalb haben die Durchsuchungen der Wohnung
und des Arbeitsplatzes des Bf. zu 1 den Schutz der Quellen noch mehr beeinträchtigt als die Maßnahmen, um die es im Fall Goodwin/Vereinigtes Königreich (s. EGMR, Slg. 1996-II S. 464 ff = ÖJZ 1996,795) gegangen ist" (s.
EGMR, Slg. 2003-IV Nr. 46 - Roemen u. Schmitt/Luxembourg).
Wie bereits erwähnt, hat der Umstand, dass im Fall Financial Times Ltd u.a./Vereinigtes Königreich (s. EGMR, Urt. v. 15.12.2009 - 821/03 Nr. 56) die Anordnung der Offenlegung nicht gegen die Bf. vollstreckt worden war, den
Gerichtshof nicht daran gehindert festzustellen, dass ein Eingriff vorlag (s. oben Nr. 63).
Schon die Kammer hat darauf hingewiesen, dass die Räume der Bf. anders als in ähnlichen Fällen ( s. EGMR, Urt. v. 15.7.2003 - 33400/96 Nr. 94 - Ernst u.a./Belgien; EGMR, Slg. 2003-IV Nr. 46 - Roemen u. Schmit/Luxembourg;
EGMR, Slg. 2007-XIII Nr. 56 = NJW 2008, 2565 (2567) - Tillack/Belgien) nicht durchsucht worden sind. Doch haben StA und Polizei im vorliegenden Fall klar ihre Absicht bekundet, das zu tun, wenn die Herausgeber der Autoweek
ihrer Aufforderung nicht nachkämen.
Diese Drohung zusammen mit der kurzen Festnahme des Journalisten war zweifellos glaubwürdig. Sie ist so ernst zu nehmen, wie das Vorgehen der Behörden, wäre sie wahr gemacht worden. Dann wären nicht nur die Büroräume der
Herausgeber von Autoweek durchsucht worden, sondern auch die der Herausgeber der anderen Zeitschriften der Bf.. Das hätte dazu führen können, dass die Büros für längere Zeit geschlossen geblieben und die betroffenen
Publikationen wahrscheinlich entsprechend später erschienen wären, sodass die Nachrichten über aktuelle Ereignisse, die sie hätten verbreiten wollen, zeitlich überholt gewesen wären ... . Nachrichten aber sind eine leicht verderbliche
Ware, und ihre Veröffentlichung auch nur für kurze Zeit zu verschieben, kann ihnen schnell allen Wert und jedes Interesse nehmen (s. z.B. EGMR, 1991, Serie A, Bd. 216, S. 30 Nr. 60 = ÖJZ 1992, 378 - Observer u.
Guardian/Vereinigtes Königreich; EGMR, 1991, Serie A, Bd. 217, S. 29 Nr. 51 - Sunday Times/Vereinigtes Königreich (Nr. 2); EGMR, Slg. 2001-VIII Nr. 56 - Association Ekin/Frankreich). Diese Gefahr besteht nicht nur für
Veröffentlichungen oder Zeitschriften, die sich mit aktuellen Fragen befassen (s. EGMR, Urt. v. 29.3.2005 - 40287/98 Nr. 37 - Alinak/Türkei).
Im vorliegenden Fall hat es weder eine Durchsuchung noch eine Beschlagnahme gegeben. Doch wirkt es stets abschreckend, wenn der Eindruck entsteht, Journalisten seien an der Aufdeckung anonymer Quellen beteiligt (s. mutatis
mutandis EGMR, Urt. v. 15.12.2009 Nr. 70 - Financial Times Ltd u.a./Vereinigtes Königreich).
Zusammengefasst stellt der Gerichtshof fest, dass der vorliegende Fall eine Anordnung auf Herausgabe journalistischen Materials mit Informationen betrifft, die es möglich machten, Informationsquellen zu identifizieren. Das reicht
aus, um zu entscheiden, dass diese Anordnung schon für sich in die Freiheit der Bf. eingegriffen hat, Informationen nach Art. 10 I EMRK zu empfangen und zu verbreiten.
C. „gesetzlich vorgesehen"
1. Das Urteil der Kammer (zusammengefasst)
Für die Kammer war § 96a niederländische StPO eine ausreichende Rechtsgrundlage i.S. von Art. 10 II EMRK, wobei sie der Rolle des Untersuchungsrichters in diesem Fall entscheidende Bedeutung beigemessen hat.
2. Vortrag der Beteiligten (zusammengefasst)
Die Bf. meint, § 96a niederländische StPO sei unbestimmt, er gebe der StA unbegrenztes Ermessen, die Herausgabe von Informationen anzuordnen, ohne Voraussetzungen oder die Art und Weise des Vorgehens festzulegen. Über
Eingriffe in das Recht von Journalisten auf Quellenschutz sage er gar nichts. Dass eine vorhergehende richterliche Prüfung nicht mehr vorgesehen sei, verstoße ebenfalls gegen das Erfordernis der Gesetzlichkeit. Daran ändere nichts,
dass in ihrem Fall ein Untersuchungsrichter eingeschaltet worden sei.
Die Regierung widerspricht: § 96a genüge den Anforderungen an die Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit des Gesetzes, denn er verweise auf §§ 217-219 niederländische StPO, in denen die Personen genannt werden, die in diesem
Zusammenhang besonderen Schutz genießen. Dazu gehörten nicht die Journalisten. Für die Auslegung von § 96a ergäben sich Leitlinien außerdem aus der Entstehungsgeschichte sowie den allgemein zugänglichen Richtlinien des
Justizministers über die Stellung der Presse bei Polizeiaktionen (Leidraad over de positie van de pers bij politieoptreden) vom 19.5.1988 („die Richtlinien von 1988"). ...
Die Drittbeteiligten weisen darauf hin, dass es in Europa und darüber hinaus eine Tendenz gebe, das Recht der Journalisten auf Quellenschutz rechtlich abzusichern.
3. Beurteilung durch den Gerichtshof
a) Grundsätze
Der Begriff „gesetzlich vorgesehen" („prescribed by law"/"in accordance with the law"; „prévue par la loi") in Art. 8-11 EMRK verlangt nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur, dass der Eingriff, um den es geht,
eine Grundlage im staatlichen Recht hat, sondern bezieht sich auch auf deren Qualität. Das Recht muss angemessen zugänglich und vorhersehbar sein, d.h. es muss so ausreichend bestimmt sein, dass der Einzelne - notfalls mit
sachkundiger Hilfe - sein Verhalten danach einrichten kann.
Um diesen Anforderungen zu entsprechen, muss das Recht der Vertragsstaaten ein bestimmtes Maß an Rechtsschutz gegen willkürliche Eingriffe in die von der Konvention garantierten Rechte gewähren. Geht es um Grundrechte, liefe
es dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit, einem der in der Konvention verankerten Grundsätze der demokratischen Gesellschaft, zuwider, der Exekutive unbegrenztes Ermessen einzuräumen. Deshalb muss das staatliche Recht den
Umfang des Ermessens für die Behörden mit angemessener Bestimmtheit festlegen sowie auch die Art und Weise seiner Ausübung (s. EGMR, 1979, Serie A, Bd. 30, S. 31 Nr. 49 = EGMR-E 1, 366 - Sunday Times/Vereinigtes
Königreich (Nr. 1); EGMR, 1995, Serie A, Bd. 316, S. 71-72 Nr. 37 = ÖJZ 1995, 949 - Tolstoy Miloslavsky/Vereinigtes Königreich; EGMR, Slg. 2000-V Nr. 52 = ÖJZ 2002, 74 - Rotaru/Rumänien; EGMR, Slg. 2000-XI Nr. 84 -
Hasan u. Chaush/Bulgarien; EGMR, Slg. 2004-I Nr. 30 - Maestri/Italien).
Außerdem hat der Gerichtshof den Begriff „gesetzlich vorgesehen" in Art. 8-11 EMRK stets in materiellem und nicht in formellem Sinn verstanden, der „geschriebenes Recht" umfasst, einschließlich des Rechts unterhalb des
Gesetzes, sowie Regelungen von Berufsorganisationen, die sie im Rahmen ihrer vom Parlament übertragenen Rechtsetzungsbefugnis verabschiedet haben, aber auch ungeschriebenes Recht. „Gesetzlich" erfasst Gesetze und
„Richterrecht". Kurzum, „Gesetz" ist das geltende Recht, wie es die zuständigen Gerichte ausgelegt haben (s. EGMR, Slg. 2005-XI Nr. 88 = NVwZ 2006, 1389 (1390-1391) - Leyla Sahin/Türkei mit weiteren Nachweisen).
b) Anwendung dieser Grundsätze
(i) Rechtsgrundlage
Der Hoge Raad hat in seinem Urteil vom 10.5.1996 (s. NJ 1996 Nr. 578) grundsätzlich das Recht des Journalisten auf Schutz seiner Quellen entsprechend dem kurz vorher ergangenen Urteil des Gerichtshofsim Fall
Goodwin/Vereinigtes Königreich (s. EGMR, Slg.1996-II = ÖJZ 1996, 795) anerkannt.
Im Zeitpunkt des Geschehens in diesem Fall waren die Richtlinien von 1988 noch in Kraft ... .
Der Gerichtshof sieht wie auch die Parteien in § 96a niederländische StPO die Rechtsgrundlage für den Eingriff in diesem Fall.
Dass diese Vorschrift ausreichend zugänglich ist, ist unbestritten.
(ii) Qualität der Rechtsgrundlage
Da der Schutz von journalistischen Quellen und von Informationen, die zu ihrer Identifizierung führen können, für die Pressefreiheit entscheidende Bedeutung hat, müssen für jeden Eingriff in das Recht auf diesen Schutz
Verfahrensgarantien gesetzlich festgelegt sein, die der Bedeutung dieses Grundsatzes entsprechen.
Anordnungen auf Angabe einer Informationsquelle können sich nicht nur zum Nachteil der Quelle auswirken, deren Identität aufgedeckt wird, sondern auch für Zeitungen oder sonstige Publikationen, deren Ruf durch die Aufdeckung
bei möglichen späteren Quellen Schaden nehmen kann, aber auch auf die Öffentlichkeit, die ein Interesse daran hat, Informationen aus anonymen Quellen zu erhalten (s. mutatis mutandis EGMR, NJW 2008, 2563 (2565) Nr. 71 - Voskuil/Niederlande).
Zu jenen Verfahrensgarantien gehört vorrangig die Überprüfung des Eingriffs durch einen Richter oder ein anderes unabhängiges und unparteiisches Entscheidungsorgan. Der Grundsatz, dass in Fällen zum Quellenschutz „das Gericht
in der Lage sein muss, das Gesamtbild zu beurteilen", ist in einer der ersten Entscheidungen zu dieser Frage von der EKMR betont worden (s. Entsch. v. 18.6.1996 - 25794/94 - British Broadcasting Corporation/Vereinigtes
Königreich). Die Überprüfung muss durch eine Stelle erfolgen, die von der Exekutive und anderen Beteiligten unabhängig ist. Außerdem muss sie befugt sein, vor Herausgabe des Materials zu entscheiden, ob ein öffentliches Interesse
besteht, das dem Grundsatz des Quellenschutzes vorgeht, sowie nicht notwendigen Zugang zu Informationen zu verhindern, die zur Aufhebung der Identität der Quellen führen könnte.
Allerdings mag es den Ermittlungsbehörden in dringenden Fällen unmöglich sein, die Gründe für eine Anordnung oder Aufforderung dazu im Einzelnen darzulegen. In solchen Fällen wäre eine unabhängige Prüfung spätestens vor
Einsichtnahme und Verwertung des Materials ausreichend, um festzustellen, ob sich eine Frage der Vertraulichkeit stellt, und gegebenenfalls, ob angesichts der besonderen Umstände des Falls das von den Ermittlungs- oder
Verfolgungsbehörden angeführte öffentliche Interesse dem Quellenschutz vorgeht. Eine unabhängige Überprüfung erst nach Aushändigung des Materials, das zur Identifizierung der Quellen führen kann, würde das Recht auf
Vertraulichkeit in seinem Kern aushöhlen.
Da es einer präventiven Überprüfung bedarf, muss der Richter oder jedes andere unabhängige und unparteiische Kontrollorgan in der Lage sein, die möglichen Risiken und jeweiligen Interessen schon vor einer Aufdeckung
abzuwägen, und das mit Bezug auf das Material, das benannt werden soll, damit die Gründe der Behörden, welche die Angabe verlangen, angemessen beurteilt werden können. Für die Entscheidung muss es klare Kriterien geben,
insbesondere auch dafür, ob eine weniger einschneidende Maßnahme genügen könnte, das festgestellte überwiegende öffentliche Interesse zu wahren. Der Richter oder das sonst zuständige Kontrollorgan muss einen Antrag auf
Anordnung einer Aufdeckung der Quelle ablehnen können oder in der Lage sein, eine begrenzte oder bedingte Anordnung zu erlassen, um Quellen gegen ihre Preisgabe zu schützen, ob sie nun in dem zurückgehaltenen Material
ausdrücklich erwähnt sind oder nicht, und das mit der Begründung, dass die Weitergabe solchen Materials eine ernste Gefahr für die Quellen des Journalisten begründet (s. EGMR, Slg. 2005-XIII - Nordisk Film & TV A/S/Dänemark).
Für dringende Fälle muss es ein Verfahren geben, das es ermöglicht, vor Verwertung des Materials durch die Behörden die Informationen herauszufinden und auszusondern, die zur Identifizierung von Quellen führen können (s.
mutatis mutandis EGMR, Slg. 2007-XI Nrn. 62-66 = NJW 2008, 3409 (3411) - Wieser u. Bicos Beteiligungen GmbH/Österreich).
In den Niederlanden trifft diese Entscheidung seit In-Kraft-Treten von § 96a StPO die StA und nicht ein unabhängiger Richter. Wie jeder öffentliche Bedienstete hat zwar auch der StA umfassende Dienst- und Treuepflichten. Doch in
verfahrensrechtlicher Hinsicht ist er „Partei", der Interessen vertritt, die möglicherweise mit dem Schutz der Quellen eines Journalisten unvereinbar sind. Er kann daher kaum als objektiv und unparteiisch angesehen werden, um die
verschiedenen, widerstreitenden Interessen, wie erforderlich, gegeneinander abzuwägen.
Die Richtlinien von1988 sahen in Abschnitt B vor ..., dass journalistisches Material rechtmäßig erst nach Einleitung einer gerichtlichen Voruntersuchung und aufgrund einer Anordnung eines Untersuchungsrichters beschlagnahmt
werden dürfe. Nachdem § 96a niederländische StPO die Befugnis, Herausgabe solchen Materials anzuordnen, auf die StA übertragen hat, sind diese Richtlinien keine Garantie mehr für eine unabhängige Überprüfung. Für die
qualitativen Anforderungen an das Recht spielen sie deshalb im vorliegenden Fall keine Rolle.
Richtig ist allerdings, dass die Bf. darum gebeten hat, den Untersuchungsrichter einzuschalten, und dass dies geschehen ist. Die Regierung ist der Auffassung, und die Kammer ist ihr darin gefolgt, dass den Anforderungen
angemessenen verfahrensrechtlichen Schutzes damit Genüge getan wurde.
Die Grosse Kammer teilt diese Auffassung nicht. Zunächst gibt es für das Einschreiten des Untersuchungsrichters keine rechtliche Grundlage. Vom Gesetz nicht gefordert, kam es allein deshalb dazu, weil es der StA zuließ.
Zweitens wurde der Untersuchungsrichter lediglich zu Rate gezogen. Zwar behauptet niemand, dass der StA, hätte sich der Richter anders geäußert, gleichwohl verlangt hätte, die CD-Rom auszuhändigen. Doch ändert das nichts
daran, dass der Untersuchungsrichter in diesem Punkt keinerlei rechtliche Befugnisse hatte, was er übrigens selbst anerkannt hat ... . Er konnte also keine Anordnung treffen oder einen entsprechenden Antrag ablehnen oder ihm
stattgeben oder Bedingungen und Grenzen einer Beschlagnahme festlegen.
Das alles aber ist mit dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit kaum vereinbar. Der Gerichtshof wäre übrigens zu diesem Ergebnis auch aus jedem der genannten Gründe gekommen.
Die nachträgliche Kontrolle durch das LG Amsterdam hat diese Mängel nicht geheilt. Das LG war auch nicht in der Lage, den StA und die Polizei von der Prüfung der Fotos auf der CD-Rom abzuhalten, als sie in ihren Händen war.
Im Ergebnis war das Recht mangelhaft, weil es kein mit angemessenen rechtlichen Sicherungen ausgestattetes Verfahren für die Bf. gab, das eine unabhängige Beurteilung ermöglicht hätte, ob das Interesse der strafrechtlichen
Ermittlungen das Interesse am Schutz der journalistischen Quellen überwiege. Also ist Art. 10 EMRK verletzt, weil der umstrittene Eingriff nicht „gesetzlich vorgesehen" war.
D. Die übrigen Erfordernisse nach Art. 10 II EMRK
(Nach der Feststellung, dass der Eingriff nicht „gesetzlich vorgesehen" ist, erübrigt sich eine Prüfung der übrigen Voraussetzungen für eine Rechtfertigung des Eingriffs nach Art. 10 II EMRK).
III. Art. 41 EMRK
...
B. Kosten und Auslagen
(Die Bf. verlangt Erstattung von Kosten und Auslagen in Höhe von insgesamt 117.133,15 €)
Die Regierung erwidert, es bestehe kein Kausalzusammenhang zwischen diesen Kosten und Auslagen und dem Sachverhalt, den die Kammer als Verstoß gegen die Konvention gewertet hat. Jeder Verstoß, den die Grosse Kammer
feststellen würde, wenn es denn dazu käme, beträfe das Fehlen verfahrensrechtlicher Sicherungen. Die Beschlagnahme des journalistischen Materials sei davon zu trennen. Die Entscheidungen der niederländischen Gerichte selbst
verstießen nicht gegen Art. 10 EMRK und könnten daher Erstattung der von der Bf. geforderten Beträge nicht rechtfertigen.
Im Übrigen und hilfsweise seien diese Beträge maßlos übertrieben.
In der mündlichen Verhandlung vom 6.1.2010 hat der Verfahrensbevollmächtigte der Regierung auf eine Pressemitteilung hingewiesen, der zufolge die Vertreter der Bf. von der Stiftung für die Pressefreiheit (Stichting
Persvrijheidsfonds) bezahlt worden seien.
Aufgefordert, dazu schriftlich Stellung zu nehmen, hat die Bf. erklärt, dass ihr die Stiftung zugesagt habe, 9000 € zu übernehmen, falls der Gerichtshof ihre Anträge ablehne. Hätte sie Erfolg, müsste sie ihre Kosten selbst in voller
Höhe tragen.
Nach Art. 41 EMRK sind Kosten und Auslagen - so die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs - nur zu erstatten, wenn nachgewiesen ist, dass sie entstanden und notwendig waren sowie ihrer Höhe nach angemessen sind.
Rechtsverfolgungskosten müssen sich außerdem auf die festgestellte Verletzung der Konvention beziehen (s. zuletzt EGMR, Urt. v. 9.4.2009 - 71463/01 Nr. 226 - Silih/Slowenien; EGMR, Slg. 2009 Nr. 134 = StV 2010, 490 -
Mooren/Deutschland; EGMR, Slg. 2009 Nr. 229 = NJOZ 2011, 516 - Varnava u.a./Türkei).
Feststeht, dass die Bf. Kosten hatte, insofern sie als Mandantin mit ihren Anwälten eine rechtlich verbindliche Honorarvereinbarung getroffen hatte. Was sie dabei verabredet hatten, um den finanziellen Verpflichtungen der Bf.
gegenüber ihren Anwälten nachkommen zu können, ist für Art. 41 EMRK ohne Bedeutung. Der Fall unterscheidet sich insofern von dem, in dem die Kosten von einem Dritten getragen werden (s. EGMR, 1983, Serie A, Bd. 59, S.
9-10 Nrn. 21-22 = EGMR-E 2, 21 - Dudgeon/Vereinigtes Königreich (Art. 50)).
Der Gerichtshof hat, worauf die Regierung zu Recht hinweist, über die Berechtigung der Beschlagnahme nicht in der Sache entschieden. Bei den Kosten und Auslagen lässt sich aber im vorliegenden Fall nicht zwischen Verfahren und
Begründetheit in der Sache unterscheiden. Das von der Bf. anhängig gemachte Verfahren war hinsichtlich ihres Beschwerdepunkts - unzureichender verfahrensrechtlicher Schutz - insofern angemessen, als es den niederländischen
Behörden eine realistische Möglichkeit bot, den behaupteten materiellen Mängeln abzuhelfen. Tatsächlich ist es schwer vorstellbar, dass der Gerichtshof die Beschwerde für zulässig erklärt hätte, hätte die Bf. nicht die Möglichkeiten
genutzt, die ihr das niederländische Recht gibt. Daher besteht ein Kausalzusammenhang zwischen der festgestellten Verletzung und den verlangten Kosten. Mit anderen Worten, die Kosten sind „notwendig entstanden".
Doch sind die Beträge nicht angemessen, weder was die Höhe des Stundenhonorars, noch was die Zahl der angesetzten Stunden betrifft. ..."
***
Die Religionsfreiheit, ein Grundpfeiler der demokratischen Gesellschaft, umfasst u.a. die Freiheit, seine Religion öffentlich und mit anderen zu bekennen. Deswegen muss bei Auslegung von Art. 9 EMRK (Gedanken-, Gewissens- und
Religionsfreiheit) Art. 11 EMRK (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) berücksichtigt werden. Damit folgt aus dem Recht auf Religionsfreiheit für den Gläubigen das Recht, sich frei und ohne willkürliche staatliche Eingriffe
zusammenzuschließen. Unabhängige Religionsgemeinschaften sind für den Pluralismus in einer demokratischen Gesellschaft unabdingbare Voraussetzung und das Kernstück des von Art. 9 EMRK gewährten Schutzes. Die
Konventionsstaaten sind zu Neutralität und Unparteilichkeit verpflichtet und dürfen deshalb die Legitimität eines religiösen Glaubens nicht beurteilen. Doch haben sie das Recht, sich davon zu überzeugen, dass Ziele und Tätigkeiten
auch einer Religionsgemeinschaft mit der Rechtsordnung übereinstimmen, müssen das aber in einer Weise tun, die mit ihren Konventionspflichten vereinbar ist. Dabei unterliegen sie der Überwachung durch den Gerichtshof. Im
Übrigen darf der Staat von seiner Befugnis, staatliche Institutionen und den Bürger vor Vereinigungen zu schützen, die sie gefährden könnten, nur zurückhaltend Gebrauch machen, denn die Ausnahmen von der Vereinigungsfreiheit
(Art. 11 II EMRK ) sind eng auszulegen. Die Auflösung der Beschwerdeführerin zu 1 und das Verbot ihrer Aktivitäten haben die russischen Behörden und Gerichte damit begründet, sie habe ihre Mitglieder zur Zerstörung ihrer
Familien gezwungen; Rechte und Freiheiten ihrer Mitglieder und Dritter verletzt; ihre Mitglieder angestiftet, Selbstmord zu begehen oder ärztliche Behandlung abzulehnen; auf die Rechte von Eltern und Kindern eingewirkt;
insbesondere Kinder gegen den Willen von Eltern in die Gemeinschaft gelockt und Mitglieder ermutigt, gesetzliche Pflichten nicht zu erfüllen. Diese Vorwürfe haben die russischen Behörden und Gerichte entweder nicht substantiiert
oder nicht nachgewiesen. Außerdem waren die Auflösung der Beschwerdeführerin zu 1 und das Verbot ihrer Aktivitäten, einzige Sanktion bei einem Verstoß gegen das russische Religionsgesetz von 1997, außerordentlich
schwerwiegende und unverhältnismäßige Maßnahmen. Daher ist Art. 9 i.V. mit Art. 11 EMRK verletzt. Die Anträge der Beschwerdeführerin zu 1, sie erneut zu registrieren, wurden mit unterschiedlicher Begründung abgelehnt. Dieser
Eingriff in ihre von Art. 11 i. V. mit Art. 9 EMRK garantierten Rechte war willkürlich und deswegen nicht "gesetzlich vorgesehen" i.S. von Art. 9 II und 11 II EMRK. Die russischen Behörden und Gerichte haben nicht in gutem
Glauben gehandelt und ihre Pflicht zu Neutralität und Unparteilichkeit verletzt (EGMR, Urteil vom 10.06.2010 - 302/02 zu EGMR Art. 6, 9, 10, 11, 14, 35 III,IV, 41, 46).
***
Das Verbot der Verbreitung des umstrittenen Textes ist ein Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin nach Art. 10 I EMRK (Freiheit der Meinungsäußerung). Er stützt sich auf §§ 823 I und 1004 I BGB, ist also "gesetzlich
vorgesehen", und verfolgt ein berechtigtes Ziel, nämlich den Schutz des "guten Rufs und der Rechte anderer" (Art. 10 II EMRK). Der umstrittene Artikel betraf ein Anliegen von öffentlichem Interesse und enthielt wesentlich
beweisfähige, von der Beschwerdeführerin aber nicht bewiesene Tatsachenbehauptungen. Im Kern ging es um den von einem Aktionär und ehemaligen Mitarbeiter von AUDI erhobenen Vorwurf, ein Vorstandsvorstand des Konzerns
habe zum Nachteil des Unternehmens persönliche und berufliche Interessen vermischt. Dem Beklagten in einem einstweiligen Verfügungsverfahren die Pflicht aufzuerlegen, den Wahrheitsgehalt mitgeteilter Äußerungen
nachzuweisen, ist mit Art. 10 EMRK grundsätzlich nicht unvereinbar. Dabei ist zu beachten, dass die Tatsachengrundlage umso solider sein muss, je schwerwiegender die Behauptungen sind. Die Presse muss grundsätzlich
Tatsachenbehauptungen vor ihrer Veröffentlichung mit der gebotenen journalistischen Sorgfalt überprüfen. Geht es um diffamierende Behauptungen gegenüber Dritten, ist sie von dieser Verpflichtung nur unter ganz besonderen
Voraussetzungen befreit. Dabei kommt es u.a. darauf an, in wie weit der Journalist seine Quellen als vertrauenswürdig ansehen konnte, ob er ausreichend recherchiert, angemessen und ausgewogen berichtet und dem Betroffenen
Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat. Wie die deutschen Gerichte festgestellt haben, hat die Beschwerdeführerin die ihr zugetragenen Informationen nicht hinreichend geprüft. Die von ihr veröffentlichten Behauptungen waren
schwerwiegend. Dabei hat sie sich lediglich auf die Äußerungen des Aktionärs und ehemaligen Mitarbeiters von AUDI gestützt. Der konnte angesichts seiner Stellung nicht als so vertrauenswürdig angesehen werden, dass sich eine
weitere Prüfung erübrigte. Die Beschwerdeführerin hat aber lediglich den Kontakt zum AUDI-Vorstand gesucht. Dass die umstrittenen Behauptungen als Äußerungen Dritter gekennzeichnet waren, genügt grundsätzlich nicht, die
Beschwerdeführerin von ihren "Pflichten und (ihrer) Verantwortung" (Art. 10 II EMRK) zu entbinden, wozu die Verpflichtung gehört, Tatsachenbehauptungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Der Autor des umstrittenen
Artikels äußert keinerlei Zweifel an den mitgeteilten Informationen und liefert auch keine eigenen Gründe oder Tatsachen, welche die mitgeteilten Behauptungen bestätigt hätten. Im Ergebnis sind sie, wie die deutschen Gerichte zu
Recht festgestellt haben, nicht in angemessen abgewogener Form dargelegt worden. Die deutschen Gerichte haben erkannt, dass es im vorliegenden Fall um einen Konflikt zwischen dem Recht, Informationen weiterzugeben, und dem
Schutz des guten Rufs und der Rechte anderer gegangen ist. Den haben sie durch Abwägung der maßgeblichen Interessen gelöst. Dabei war die von ihnen getroffene Maßnahme - Verurteilung zur Unterlassung, kein Strafverfahren,
keine Verurteilung zu Schadensersatz - verhältnismäßig zu dem verfolgten berechtigten Ziel. Ihre Gründe waren "stichhaltig und ausreichend" i.S. der Rechtsprechung des Gerichtshofs, und damit war der Eingriff in das Recht der
Beschwerdeführerin nach Art. 10 I EMRK auch "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" (Art. 10 II EMRK). Der Gerichtshof entscheidet daher (mit Mehrheit), dass die Beschwerde offensichtlich unbegründet und als
unzulässig zurückzuweisen ist (EGMR, Entscheidung vom 04.05.2010 - 38059/07 zu EMRK Art. 10, 35 III, IV, BeckRS 2011, 19781).
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Ein Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung (Art. 10 I EMRK) ist nur gerechtfertigt, wenn er gesetzlich vorgesehen ist, ein berechtigtes Ziel verfolgt und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war (Art. 10 II EMRK).
Notwendig in diesem Sinne ist ein Eingriff, wenn er einem dringenden sozialen Bedürfnis entsprach. Bei Beurteilung dieser Frage haben die Vertragsstaaten einen gewissen Ermessensspielraum. Der Gerichtshof entscheidet
abschließend darüber, ob die von den Behörden und Gerichten eines Vertragsstaates zur Rechtfertigung des Eingriffs angeführten Gründe stichhaltig und ausreichend sind und ob der Eingriff verhältnismäßig zu dem verfolgten
berechtigten Ziel war. Die Freiheit der Meinungsäußerung ist für die demokratische Gesellschaft von grundlegender Bedeutung, insbesondere für die politische Auseinandersetzung, die im Mittelpunkt der demokratischen Gesellschaft
steht. Sie darf daher nicht ohne zwingende Gründe eingeschränkt werden. Sie gilt im Übrigen nicht nur für Informationen und Ideen, die günstig aufgenommen oder als unschädlich oder unwichtig angesehen werden, sondern auch für
Meinungsäußerungen, die verletzen, schockieren oder beunruhigen. Ganz allgemein darf jeder, der sich an einer öffentlichen Diskussion von allgemeinem Interesse beteiligt, bis zu einem gewissen Grad übertreiben und auch
provozieren, also in seinen Äußerungen über das hinausgehen, was sonst angemessen ist. Gewisse Grenzen dürfen allerdings nicht überschritten werden, insbesondere hinsichtlich des Schutzes des guten Rufs und der Rechte anderer.
So ist es von größter Bedeutung, gegen Rassendiskriminierung in all ihren Formen und Äußerungen anzugehen.. Die Äußerungen des Beschwerdeführers waren geeignet, ein negatives und alarmierendes Bild der muslimischen
Gemeinschaft in Frankreich zu vermitteln und bei den von ihm angesprochenen Franzosen Ablehnung und Feindschaft gegenüber den Muslimen zu bewirken. Die Gründe für seine Verurteilung waren im Ergebnis stichhaltig und
ausreichend. Trotz der erheblichen Höhe der gegen ihn verhängten Geldstrafe war die Verurteilung auch verhältnismäßig. Seine Beschwerde ist daher offensichtlich unbegründet und als unzulässig zurückzuweisen (Art. 35 III, IV
EMRK; EGMR, Entscheidung vom 20.04.2010 - 18788/09 zu EMRK Art. 6 I, 10, 35 III, IV, BeckRS 2011, 11836).
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Die Freiheit der Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK) ist ein Grundpfeiler der demokratischen Gesellschaft und eine der wichtigsten Voraussetzungen für ihren Fortschritt und für die Entfaltung einer jeden Person. Sie gilt nicht nur für
Informationen oder Ideen, die günstig aufgenommen oder als unschädlich oder unwichtig angesehen werden, sondern auch für Äußerungen, die verletzen, schockieren oder beunruhigen. So wollen es Pluralismus, Toleranz und offene
Geisteshaltung, ohne die es eine demokratische Gesellschaft nicht gibt. Die Freiheit des Art. 10 EMRK ist allerdings Einschränkungen unterworfen, die aber eng ausgelegt werden müssen. Die Notwendigkeit einer Einschränkung
muss überzeugend nachgewiesen werden. Die Presse spielt in einer demokratischen Gesellschaft eine bedeutsame Rolle. Bei ihrer Aufgabe, Informationen und Ideen zu Fragen allgemeine Interesses zu verbreiten, hat sie allerdings
Pflichten und Verantwortung (Art. 10 II EMRK). Journalisten dürfen bei ihrer Berichterstattung zwar bis zu einem Grad übertreiben und auch provozieren, doch dürfen sie bestimmte Grenzen insbesondere hinsichtlich des Schutzes
des guten Rufs und der Rechte anderer nicht überschreiten. Art. 10 EMRK verlangt, dass sie in gutem Glauben tätig werden, um genaue und zuverlässige Informationen in Übereinstimmung mit ihrem Berufsethos zu liefern. Von
besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen. Werturteile lassen sich nicht beweisen, und das zu verlangen, verstößt ohne weiteres gegen Art. 10 EMRK.
Doch muss sich ein Werturteil auf eine ausreichende Tatsachengrundlage stützen. Die Presse ist grundsätzlich verpflichtet, die Richtigkeit von Tatsachenbehauptungen zu prüfen, die für Dritte herabsetzend sind. Von dieser
Verpflichtung ist sie nur bei Vorliegen ganz besonderer Gründe entbunden. Von Bedeutung in dem Zusammenhang ist u.a., ob sie ihre Quellen vernünftigerweise als zuverlässig ansehen konnte. Im vorliegenden Fall ging es um die
eher als Tatsache denn als Werturteil hingestellte Behauptung, eine Gruppe von Baseball-Spielern habe eine junge Frau vergewaltigt. Ob es dafür eine tatsächliche Grundlage gab, haben die Beschwerdeführer nicht im Gespräch mit
dem angeblichen Opfer, den Baseball-Spielern oder der Mannschaft geklärt. Das hat die Unschuldsvermutung der Spieler verletzt. Die gegen die Bf. verhängten Sanktionen - Geldstrafen und Schadensersatz - waren hart, aber nicht
unverhältnismäßig. Gerade wenn es um schwere Vorwürfe strafbaren Sexualverhaltens geht, sind bei Abwägung der verschiedenen Interessen im Rahmen von Art. 10 EMRK die Unschuldsvermutung und das Recht auf einen guten
Ruf von besonderer Bedeutung (EGMR, Urteil vom 06.04.2010 - 45130/06 zu EMRK Art. 10, 35 III, BeckRS 2011, 11838).
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Die Entscheidung des Rats der Fakultät, die Kandidatur des Beschwerdeführers wegen Äußerungen, die gegen die katholische Lehre verstießen, nicht in Betracht zu ziehen, war ein Eingriff in sein durch Art. 10 MRK garantiertes
Recht auf freie Meinungsäußerung. Der akademischen Freiheit wird in der Rechtsprechung des Gerichtshofs und darüber hinaus in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats große Bedeutung beigemessen. Sie muss die
Freiheit der Meinungsäußerung und der Betätigung garantieren, sowie die Freiheit, Informationen weiterzugeben, zu forschen und wissenschaftliche Erkenntnisse ohne Einschränkungen zu verbreiten. Die Notwendigkeit, in die
Meinungsfreiheit einzugreifen, muss überzeugend nachgewiesen werden. Eine Verletzung von Art. 10 MRK in verfahrensrechtlicher Hinsicht liegt vor bei unbestimmtem Umfang der Maßnahme, welche die Meinungsfreiheit
beschränkt hatte, oder bei Fehlen einer ausreichenden Begründung verbunden mit dem Fehlen einer angemessenen richterlichen Überprüfung der Anwendung dieser Maßnahme. Das Interesse der Universität an einer von der
katholischen Doktrin inspirierten Lehrtätigkeit darf nicht so weit gehen, dass die Verfahrensgarantien des Art. 10 MRK im Wesensgehalt berührt werden. Eine Einschränkung des Rechts auf wirksamen Zugang zu einem Gericht, die
nach Art. 6 MRK zulässig ist, setzt voraus, dass sie ein berechtigtes Ziel verfolgt und verhältnismäßig ist. Sie darf aber keinesfalls das Recht des Beschwerdeführers vollständig ausschließen. Der Rat der Fakultät hatte dem
Beschwerdeführer nicht mitgeteilt, weshalb seine Meinungen als unorthodox angesehen wurden, und auch nicht, welche Verbindung zwischen ihnen und seiner Lehrtätigkeit bestand. Darauf sind die italienischen Gerichte nicht
eingegangen. Außerdem hat schon das Fehlen der Kenntnis von den Gründen, die der Ablehnung eines neuen Lehrauftrags zu Grunde gelegen haben, die Möglichkeit ausgeschlossen, streitig darüber zu verhandeln. Auch dieser
Gesichtspunkt ist nicht Gegenstand einer Prüfung durch die italienischen Gerichte gewesen. Deswegen war die gerichtliche Überprüfung der umstrittenen Maßnahme nicht angemessen (EGMR, Urteil vom 20.10.2009 - 39128/05 - juris).
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Hat ein Zeitungsverleger in einem zivilrechtlichen Verfahren einen Vergleich abgeschlossen, in dem er sich verpflichtet, eine bestimmte Veröffentlichung nicht zu wiederholen, akzeptiert er die Begrenzung seines Rechts auf freie
Meinungsäußerung und verzichtet auf die Erhebung entsprechender Rechtsbehelfe in Bezug auf den Beschwerdesachverhalt. Daher kann er nicht behaupten, in Bezug auf den behaupteten Eingriff in einem Recht i.S.d. Art. 34 MRK
verletzt zu sein. Seine Beschwerde ist deshalb als unvereinbar ratione personae gemäß Art. 35 Abs. 3 und 4 MRK zurückzuweisen. Das Recht der Öffentlichkeit auf Information kann sich in bestimmten besonderen Fällen auch auf das
Privatleben von Personen des öffentlichen Lebens erstrecken, vor allem bei Politikern. Allerdings hat jede Person, auch wenn sie in der allgemeinen Öffentlichkeit bekannt ist, eine "berechtigte Erwartung" auf Schutz und der
Anerkennung ihres Privatlebens und insbesondere auf Schutz gegen die Verbreitung von unbegründeten Gerüchten über die intimen Seiten ihres Privatlebens ( EGMR, Urteil vom 04.06.2009 - 21277/05).
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Art. 11 EMRK Versammlung- und Vereinigungsfreiheit
(1) Jede Person hat das Recht, sich frei und friedlich mit anderen zu versammeln und sich frei mit anderen zusammenzuschließen; dazu gehört auch das Recht, zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu gründen und
Gewerkschaften beizutreten.
(2) Die Ausübung dieser Rechte darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale oder öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung
der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Dieser Artikel steht rechtmäßigen Einschränkungen der Ausübung dieser Rechte für
Angehörige der Streitkräfte, der Polizei oder der Staatsverwaltung nicht entgegen.
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Am 11.12.2014 verabschiedete das spanische Parlament ein Gesetz „zur Sicherheit der Bürger":
- Teilnahme an einer nicht genehmigten Demonstration kann künftig mit einer Geldstrafe von € 1.000,00 bestraft werden.
- Auf Gewaltfreiheit kommt es nicht an.
- Verboten ist das Verbreiten von Informationen zu Übergriffen der Polizei auf Demonstranten.
- Erklettern öffentlicher Gebäude ist künftig eine Straftat (Quelle: jw 12.12.2014 - https://www.jungewelt.de/ansichten/doppelte-standards).
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Leitsätze/Entscheidungen:
Die Zwangsmitgliedschaft in einem kommunalen Jagdverband ist konventionswidrig (EGMR, Urteil vom 26.06.2012 - 9300/07):
„... 21. Nach dem Bundesjagdgesetz sind Eigentümer von Grundstücken mit einer Fläche von weniger als 75 Hektar von Gesetzes wegen Mitglieder einer Jagdgenossenschaft, während Eigentümer größerer Grundstücke ihren
Jagdbezirk selbst bewirtschaften. Der Beschwerdeführer ist Eigentümer zweier Grundstücke in Rheinland-Pfalz mit einer Fläche von jeweils unter 75 Hektar, die er 1993 nach dem Tode seiner Mutter geerbt hat. Damit ist er von
Rechts wegen Mitglied einer Jagdgenossenschaft, hier der Genossenschaft der Gemeinde L. ...
32. Am 14. Februar 2003 beantragte der Beschwerdeführer, der aus ethischen Gründen die Jagd ablehnt, bei der Jagdbehörde die Entlassung aus der Mitgliedschaft in der Jagdgenossenschaft. Die Behörde wies seinen Antrag mit der
Begründung zurück, die Mitgliedschaft sei gesetzlich vorgeschrieben und es gebe keine Bestimmung, die ein etwaiges Ausscheidens vorsehe. ...
II. DIE BEHAUPTETE VERLETZUNG DES ARTIKELS 1 DES PROTOKOLLS NR. 1
40. Der Beschwerdeführer rügt die Verpflichtung zur Duldung der Jagd auf seinen Grundstücken. Er sieht darin eine Verletzung seines in Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 gewährleisteten Rechts auf Achtung seines Eigentums, der wie
folgt lautet:
‚Jede natürliche oder juristische Person hat ein Recht auf Achtung ihres Eigentums. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn, dass das öffentliche Interesse es verlangt, und nur unter den durch Gesetz und durch
die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen.
Absatz 1 beeinträchtigt jedoch nicht das Recht des Staates, diejenigen Gesetze anzuwenden, die er für die Regelung der Benutzung des Eigentums im Einklang mit dem Allgemeininteresse oder zur Sicherung der Zahlung der Steuern
oder sonstigen Abgaben oder von Geldstrafen für erforderlich hält.'
A. Das Kammerurteil
271. Die Kammer hat entschieden, dass die Verpflichtung des Beschwerdeführers, die Jagd auf seinem Grundstück zu erlauben, eine Beeinträchtigung seines Rechts auf Achtung seines Eigentums darstellt, diese Beeinträchtigung sei
jedoch aufgrund von Artikel 1 Absatz 2 des Protokolls Nr. 1 gerechtfertigt. Sie hat zunächst angemerkt, das Bundesjagdgesetz habe die Erhaltung eines den landschaftlichen und landeskulturellen Verhältnissen angepassten
artenreichen und gesunden Wildbestandes sowie die Vermeidung von Wildschäden zum Ziel. Sie hat anerkannt, dass es sich um Ziele handelt, die dem Allgemeininteresse dienen.
282. Im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs hat die Kammer die Bedeutung zur Kenntnis genommen, die das Bundesjagdgesetz dem Erhalt einer gesunden Fauna unter Achtung der ökologischen und ökonomischen
Verhältnisse einräumt. Sie war der Auffassung, dass selbst wenn die Jagd überwiegend in der Freizeit ausgeübt wird, der Zweck des Jagdgesetzes nicht darauf beschränkt werden kann, bestimmten Personen lediglich die Ausübung
einer Freizeitbeschäftigung zu ermöglichen.
293. Hinsichtlich der Notwendigkeit der fraglichen Maßnahme hat die Kammer bemerkt, dass das Bundesjagdgesetz bundesweit gilt und im Gegensatz zu den in den Rechtssachen Chassagnou und Schneider (a.a.O.) geprüften
Gesetzestexten keinen öffentlichen oder privaten Eigentümer eines grundsätzlich für die Jagd geeigneten Grundstücks von der Verpflichtung ausschließt, die Jagd auf seinen Flächen zu dulden. Im Übrigen vertrat sie die Auffassung,
dass die Ausnahmen von dem System der flächendeckenden Bejagung durch das Allgemeininteresse und das Interesse an der Jagd hinreichend begründet sind und daher den Grundsatz der flächendeckenden Bejagung an sich nicht in
Frage stellen.
304. Schließlich stellte die Kammer fest, dass der Beschwerdeführer nach dem Verhältnis des Flächeninhaltes seiner Grundstücke Anspruch auf einen Anteil am Pachterlös hat. Obwohl der Betrag, den der Beschwerdeführer auf dieser
Grundlage verlangen konnte, als nicht besonders hoch erscheint, merkte die Kammer an, dass Dritte aufgrund dieser Vorgehensweise keinen finanziellen Gewinn aus der Nutzung der Grundflächen des Beschwerdeführers ziehen können.
315. In Anbetracht des den Vertragsstaaten auf diesem Gebiet zugebilligten großen Ermessensspielraums, aufgrund dessen sie die in ihrem Land vorliegenden besonderen Umstände berücksichtigen können, hat die Kammer
entschieden, dass Artikel 1 Abs.1 des Protokolls Nr. 1 (Rdnrn. 45-56 des Kammerurteils) nicht verletzt worden ist.
B. Vorbringen der Parteien
1. Der Beschwerdeführer
326. Der Beschwerdeführer behauptet, dass die durch das Bundesjagdgesetz bei der Nutzung seiner Grundflächen auferlegten Einschränkungen unverhältnismäßig seien. Der deutsche Gesetzgeber habe kein ausgewogenes Verhältnis
zwischen seinem Recht auf Nutzung seines Eigentums und dem behaupteten Interesse der Allgemeinheit an der Ausübung der Jagd geschaffen. Aufgrund seiner Alleinstellung als Jagdgegner in der Jagdgenossenschaft sei er faktisch
nicht in der Lage, die Verpachtung der Jagdrechte zu verhindern.
337. Die Umstände des Falls glichen denen in den Rechtssachen Chassagnou und Schneider (a.a.O) und dürften den Gerichtshof zu den gleichen Schlussfolgerungen führen, wie die, zu denen er in diesen beiden Sachen gelangt ist. Die
von den französischen und luxemburgischen Behörden verfolgten Ziele seien im vorliegenden Fall denen des deutschen Gesetzgeber sehr nah.
348. Das Konzept der Pflege und Hege des Wilds sei ein Relikt aus dem Dritten Reich. Es diene nicht dem Schutz des Wildbestands. Neuere Forschungsergebnisse belegten, dass wild lebende Tiere zur Selbstregulierung in der Lage
seien und bestimmte Tierarten sich infolge übertriebenen Jagens sogar vermehrten. Wildunfälle würden im Übrigen überwiegend durch die Jagd verursacht. Darüber hinaus orientiere sich die Jagd in keiner Weise an dem Erfordernis,
seltene und bedrohte Arten zu schützen.
359. In Deutschland werde die Jagd in der Tat als Freizeitbeschäftigung ausgeübt. Zahlreiche Tierarten wie Raubvögel würden bejagt, ohne dass dafür eine ökologische oder ökonomische Notwendigkeit bestehe. Es könne nicht davon
ausgegangen werden, dass die Jagdausübung sich auf Belange des Gemeinwohls positiv auswirke. Der ethische Tierschutz sei durch Artikel 20a des Grundgesetzes garantiert (Rdnr. 25 oben); dagegen sei das Jagdausübungsrecht
weder nach dem Grundgesetz noch nach der Konvention geschützt.
50. Die Maßnahmen der Jagdgesetze seien für die Kontrolle der Nutzung des Eigentums im Einklang mit dem Allgemeininteresse überhaupt nicht erforderlich. Dies zeigten die zahlreichen im Bundesjagdgesetz vorgesehenen
Ausnahmen von der Verpflichtung zur Duldung der Jagd, insbesondere hinsichtlich der Grundflächen, die zu keinem Jagdbezirk gehören (z. B. Enklaven in einem Eigenjagdbezirk). Zudem könne die Jagdbehörde das Ruhenlassen der
Jagd erlauben und die Bundesländer hätten das Recht, jagdfreie Gebiete zu schaffen; dies sei auch geschehen, insbesondere durch die Schaffung von großen Naturschutzgebieten, in denen ein Jagdverbot bestehe oder die Jagd nur ganz
ausnahmsweise erlaubt sei.
361. Da es in Deutschland nur 358 000 Jäger gebe, und diese die Jagd nur gelegentlich während ihrer Freizeit betrieben, sei es in der Praxis unmöglich, das gesamte deutsche Hoheitsgebiet zu bejagen. Ferner könnten die Bundesländer
nach der in Deutschland 2006 erfolgten Föderalismusreform die Jagd selbst regeln, ja sie sogar insgesamt untersagen.
372. Der Beschwerdeführer bestreitet das Argument der Regierung, wonach sich die Situation in Deutschland von der in Frankreich, Luxemburg oder anderen Mitgliedstaaten unterscheide. In Deutschland betrage die durchschnittliche
Bevölkerungsdichte 230 Einwohner pro km2 und liege in etlichen Bundesländern sogar weit darunter. So betrage die Bevölkerungsdichte im Land Rheinland-Pfalz, in dem seine Grundstücke belegen seien, 203 Einwohner pro km2
und komme damit der Bevölkerungsdichte in Luxemburg sehr nahe (189 Einwohner pro km2 ). Diesbezüglich betont der Beschwerdeführer, seine Grundstücke seien nur zwei Kilometer von der luxemburgischen Grenze entfernt.
Zudem hätten zahlreiche Konventionsstaaten keine Jagdgenossenschaften und dennoch keine Probleme mit einer Überbevölkerung an Wildtieren.
383. Schließlich sei die streitige Maßnahme unverhältnismäßig. Der Beschwerdeführer verfüge über kein wirksames Mittel, um die Ausübung der Jagd auf seinen Grundstücken zu verhindern. Zudem sei er für die Verpflichtung zur
Duldung dieser Tätigkeit auf seinem Eigentum nicht entschädigt worden. Aufgrund seiner ethischen Überzeugungen, könne das psychische Leid, das ihn aufgrund der Jagd treffe, im Übrigen nicht durch eine Geldentschädigung
ausgeglichen werden, die in jedem Falle nur einen geringen Betrag ausmachen würde. Daher stützt sich der Beschwerdeführer auf das Urteil Schneider (a.a.O. Rdnr. 49), wonach eine Geldentschädigung nicht mit den ethischen
Beweggründen, die er anführt, vereinbar sei.
2. Die Regierung
394. Die Regierung räumt ein, dass die Verpflichtung des Beschwerdeführers, entgegen seinen ethischen Überzeugungen die Jagd auf seinem Grundstück dulden zu müssen, einen Eingriff in die Ausübung seiner durch Artikel 1 des
Protokolls Nr. 1 geschützten Rechte darstelle. Sie fügt jedoch hinzu, dass anders als in Frankreich und Luxemburg, wo das Jagdrecht vollständig den Jagdvereinigungen übertragen werde, in Deutschland der Grundeigentümer Inhaber
des Jagdrechts bleibe und ihm daher kein Vermögenswert entzogen werde, er jedoch lediglich verpflichtet sei, das Jagdausübungsrecht abzutreten. Grundstücke im Besitz von Privatpersonen, deren Menge beschränkt sei, wiesen ein
besonderes soziales Interesse auf, das dem Gesetzgeber die Befugnis gebe, die Verwendung im Einklang mit dem Allgemeininteresse zu beschränken.
405. Im Unterschied zu der Loi Verdeille in Frankreich habe das Bundesjagdgesetz nicht das Ziel, Freizeitaktivitäten der Jäger zu schützen und auch nicht, Personen die Möglichkeit zur Teilnahme an gemeinsamer Jagd zu bieten,
sondern verfolge ausschließlich Ziele des Allgemeininteresses. Das deutsche Jagdrecht unterscheide sich somit wirklich vom französischen und luxemburgischen Jagdrecht. Dies zeige sich eindeutig an dem Begriff der Hege, der über
die einfache, lediglich geordnete Jagdausübung hinausgehe und den Schutz des Wildbestands allgemein umfasse. Das Jagdrecht gehe einher mit der Verpflichtung zur Erhaltung eines artenreichen und gesunden Wildbestandes unter
gleichzeitiger Regulierung des Bestands, um zu vermeiden, dass Anbauflächen und Wälder durch das Wild beschädigt werden. Es sei besonders wichtig, die Zahl der Wildtiere in einem so dicht besiedelten Land wie Deutschland zu
kontrollieren, um zum Beispiel zu verhindern, dass sich Tierkrankheiten ausbreiten oder das Wild Schäden verursacht.
416. Das System der in Deutschland eingerichteten Jagdgenossenschaften gelte für alle Grundstücke, einschließlich der staatlichen, und sei kohärent. Im Gegensatz zu Frankreich gelte in Deutschland der Grundsatz der
flächendeckenden Bejagung im ganzen Staatsgebiet. Es sei wesentlich, dass die Jagd flächendeckend erfolge, denn die Wildtiere würden nicht an Jagdbezirksgrenzen Halt machen, sondern würden sich auf Grundflächen zurückziehen,
auf denen die Jagd nicht ausgeübt wird. Die Einrichtung jagdfreier Zonen würde zu einer Fragmentierung der Jagdbezirke in eine Vielzahl kleiner Parzellen führen, dies stünde dem Grundsatz der einheitlichen Hege und des Schutzes
des Wildbestands entgegen.
427. Im Gegensatz zum luxemburgischen Recht gelte die Jagdpflicht auch für große Grundflächen. Die Regierung legt dar, dass Eigentümer von Grundstücken mit einer Fläche von mehr als 75 Hektar zwar nicht von Gesetzes wegen
Mitglied einer Jagdgenossenschaft seien, sie jedoch zur Regulierung des Wildbestandes und somit zur Jagd verpflichtet seien, ebenso wie die Eigentümer von Grundstücken in einem gemeinschaftlichen Jagdbezirk.
438. Dieser Grundsatz lasse nur wenige Ausnahmen zu, die alle auf übergeordneten Gründen des Allgemeinwohls basierten. So ruhe die Jagd zwar auf Flächen, die zu keinem Jagdbezirk gehörten, doch nur eine kleine Zahl von
Grundstücken fielen unter diese Bestimmung und im Allgemeinen würden sie schließlich in andere Jagdbezirke aufgenommen werden. Die Jagdbehörde billige ein Ruhenlassen der Jagd nur in Ausnahmefällen und aus Gründen der
Hege und des Schutzes des Wildbestandes. Sogar in Naturschutzgebieten sei die Jagd nicht völlig untersagt, sondern nach besonderen Schutzzwecken geregelt. Die Föderalismusreform habe diese Situation nicht verändert, denn alle
Länder hätten sich für die Beibehaltung des Systems der flächendeckenden Bejagung ausgesprochen.
449. Die Tatsache, dass es in anderen Ländern keine Jagdgenossenschaften gebe, bedeute nicht, dass die Grundeigentümer dort nicht die Jagd auf ihren Grundstücken dulden müssten, da diese Staaten auch Wege finden müssten, um
ihren internationalen Konventionspflichten im Bereich des Arten- und Tierschutzes nachzukommen. Die natürlichen Selbstregulierungsmechanismen funktionierten nicht mehr in den intensiv besiedelten und genutzten Regionen Mitteleuropas.
60. Die im deutschen Gesetz aufgeführten Regeln seien erforderlich, denn es gebe kein milderes Mittel, um den angestrebten Zweck ebenso gut zu erreichen. Ein System auf der Grundlage der freiwilligen Teilnahme könne keine
flächendeckende Lösung liefern. Zudem ermögliche die Verpflichtung zur Mitgliedschaft in einer Jagdgenossenschaft, keinen Betroffenen aus dem System auszuschließen. Ferner sei ein vom Staat verwaltetes Jagdsystem auch keine
wirksame Lösung, denn wenn es keine selbstverwaltend tätigen Jagdgenossenschaften gebe, müsste der Staat zur Erreichung der Jagdziele einen erheblich höheren und kostenintensiveren Regelungs- und Überwachungsaufwand betreiben.
451. Während die Regierung einerseits einräumt, der Beschwerdeführer verfüge über kein wirksames Mittel, um die Ausübung der Jagd auf seinen Grundstücken zu verhindern, ist sie andererseits der Auffassung, dass diese Situation
den Betroffenen nicht übermäßig belaste. Denn die Verpflichtung zur Duldung der Jagd gelte nur während der Jagdsaison und das deutsche Recht sehe verschiedene Entschädigungsformen vor, welche die so erfolgte Verletzung des
Rechts des Beschwerdeführers auf Achtung seines Eigentums vollständig ausgleichen würden.
462. Erstens hätten die deutschen Grundbesitzer, im Unterschied zur Situation in Frankreich, ein Teilhaberecht am Jagdpachterlös. Der Beschwerdeführer habe jedoch zu keinem Zeitpunkt seinen Anteil von der Jagdgenossenschaft
eingefordert. Diesbezüglich teilt die Regierung nicht die Auffassung des Gerichtshofs in der Sache Schneider, wonach eine Verletzung der ethischen Überzeugungen und die Gewährung einer Entschädigung nicht abgewogen werden
könnten (Schneider, a.a.O., Rdnr. 49). Zwar schütze Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 das Recht jedes Einzelnen auf Nutzung seines Eigentums ohne äußeren Eingriff. Allerdings schütze er nicht ethische Überzeugungen oder gestatte den
Eigentümern, ihre Rechte zu politischen Zwecken zu nutzen, wie dies der Beschwerdeführer tun möchte.
473. Zweitens habe der Beschwerdeführer die Möglichkeit, in der Jagdgenossenschaft am Entscheidungsprozess teilzunehmen, um die Mehrheit der Mitglieder davon zu überzeugen, seinen persönlichen Standpunkt zu übernehmen
und in das geltende Recht einfließen zu lassen.
484. Überdies schütze das Bundesjagdgesetz so weit wie möglich die berechtigten Interessen der Grundstückseigentümer, indem es den Jägern die Verpflichtung auferlege, deren berechtigten Interessen zu achten und jeden durch die
Jagd verursachten Schaden zu ersetzen.
495. Schließlich trügen die Beschränkungen der Jagd auch ethischen Bedenken Rechnung - zum Beispiel sei die Verwendung bestimmter Munitionsarten verboten - und es stehe dem Beschwerdeführer frei, Maßnahmen zum Schutze
der Fauna auf seinen Grundstücken zu treffen. Zudem sei es gerechtfertigt, den Jägern die Verpflichtung aufzuerlegen, schwer verletzte Tiere zu fangen, zu versorgen, oder erforderlichenfalls zu töten, denn nur die Jäger verfügten über
die notwendige Ausbildung, um die Situation richtig einzuschätzen und daraus sachgerechte Maßnahmen abzuleiten.
Die Drittbeteiligten
a) Der Beteiligte 2
506. Der Beteiligte 2 betont die Bedeutung der vorliegenden Rechtssache sowohl für das Jagdsystem im Allgemeinen als auch für die Interessen der Jäger. Die Zulassung zur Jagd erfordere den Nachweis umfassender Kenntnisse in
den mit der Jagd verbundenen Bereichen sowie die Achtung höchster ethischer Normen auf dem Gebiet des Tier- und Naturschutzes. Die besondere Situation in Deutschland, das dicht besiedelt sei und dessen Grundflächen intensiv
genutzt würden, würde die Regulierung des Wildes extrem erschweren.
517. Der Grundsatz der flächendeckenden Bejagung werde in Deutschland konsequent durchgehalten. Die aufgrund von § 6 Absatz 1 des Bundesjagdgesetzes - lediglich zeitweilig - aus der Bejagung herausgenommenen Flächen der
Jagdbezirke stellten nur 0,01 % der Gesamtfläche dar und die Jagdbehörden seien verpflichtet, sie rasch in benachbarte Jagdbezirke einzugliedern. Derzeit sei kein Fall bekannt, in dem ein Antrag auf zeitweiliges Ruhenlassen der Jagd
von der oberen Jagdbehörde in Rheinland-Pfalz, wo die Grundstücke des Beschwerdeführers belegen sind, genehmigt worden wäre.
528. Wenn die Jagd in bestimmten Gebieten untersagt wäre, würden dort nach Auffassung des Beteiligten 2 Wildtiere in großer Konzentration auftreten. Er fügt hinzu, dass dort außerdem flüchtiges oder verletztes Wild nicht verfolgt
werden könne und es quasi unmöglich würde, wirksam zu jagen und leidendes Wild zu erlösen. Zusammenfassend ist der Beteiligte 2 der Auffassung, dass eine gute Regulierung des Wildes nicht mehr möglich sein würde, was eine
schwerwiegende Störung der ökologischen Ausgleichsfunktion zur Folge hätte. Schließlich wären die Jäger dann auch nicht mehr bereit, die Verantwortung für Wildschäden zu übernehmen.
b) Der Beteiligte 1
539. Der Beteiligte 1 betont die Bedeutung, die das vom Gerichtshof in dieser Sache zu erlassende Urteil für Tausende von Grundstückseigentümern haben wird. Sie fügt hinzu, dass das deutsche System der Jagdgenossenschaften ein
gelungenes Modell für die Selbstverwaltung und Verhütung von Konflikten der Grundbesitzer darstellt.
70. Die Frage, ob die Jagd auf einem Grundstück ausgeübt wird oder nicht, habe zu keinem Zeitpunkt zu den Merkmalen des Eigentumsrechts gehört. Durch die Regelung der Jagdausübung beeinträchtige der Gesetzgeber nicht das
Recht der Grundeigentümer auf Achtung ihres Eigentums, sondern bestimmte dessen Inhalt und Schranken.
541. Der Beteiligte 1 betont auch, dass die Jagdgenossenschaften sich nicht nur aus Jägern zusammensetzen, sondern alle Grundbesitzer kleiner Grundstücke umfassen. Es sei nicht ihre Sache zu entscheiden, ob die Jagd auf den
Grundstücken ihrer Mitglieder ausgeübt werden muss oder nicht. Im Übrigen beschränkten sich die Vorteile der Zugehörigkeit zu einer Jagdgenossenschaft nicht nur auf einen Anteil am Erlös, sondern umfasse auch die Zahlung einer
Entschädigung an die Eigentümer für alle Wildschäden. Diese Entschädigung könne selbst für Eigentümer kleiner Grundstücke mehrere Tausend Euros pro Jahr betragen.
C. Würdigung durch die Große Kammer
1. Das Vorliegen eines Eingriffs in die Rechte des Beschwerdeführers aus Artikel 1 des Protokolls Nr. 1der Konvention
552. Die Große Kammer stellt fest, dass die Regierung nicht bestreitet, dass die Verpflichtung des Beschwerdeführers, die Ausübung der Jagd auf seinen Grundstücken zu erlauben, für ihn einen Eingriff in die Ausübung seines Rechts
auf Achtung seines Eigentums bedeutet (Rdnr. 54 oben). Sie teilt diese Auffassung und ruft in Erinnerung, dass die Verpflichtung einer Person, auf ihrem Grundstück die Anwesenheit von bewaffneten Personen und Jagdhunden zu
dulden, eine Beschränkung der freien Verfügung des Rechts, sein Eigentum zu nutzen, darstellt (s. Chassagnou, a.a.O., Rdnr. 74, und Schneider, a.a.O., Rdnr. 44).
2. Achtung der Voraussetzungen des Artikels 1 Absatz 2 des Protokolls Nr. 1.
563. Der in Rede stehende Eingriff ist im Lichte von Artikel 1 Absatz 2 des Protokolls Nr. 1 zu prüfen. Die Große Kammer vertritt die Auffassung, dass das strittige Gesetz als Mittel gelten kann, die Benutzung des Eigentums im
Einklang mit dem Allgemeininteresse zu regeln (vergleiche mit Schneider, a.a.O., Rdnr. 41).
a) Allgemeine Grundsätze
574. Nach gefestigter Rechtsprechung ist Artikel 1 Absatz 2 des Protokolls Nr. 1 im Lichte des im ersten Satz dieses Artikels niedergelegten Grundsatzes zu sehen (s. u.a. James und andere ./. Vereinigtes Königreich, 21. Februar 1986,
Rdnr. 37, Serie A Band 98, Broniowski ./. Polen [GK], Nr. 31443/96, Rdnr. 134, CEDH 2004-V, und Brosset-Triboulet und andere ./. Frankreich [GK], Nr. 34078/02, Rdnr. 80, 29. März 2010). Daher muss ein Gesetz, welches das
Recht auf Achtung des Eigentums beeinträchtigt, einen ‚angemessenen Ausgleich' zwischen den Erfordernissen des Allgemeininteresses der Gemeinschaft und den Anforderungen an den Schutz der Rechte des Einzelnen herbeiführen.
Die Suche nach diesem Ausgleich zeigt sich in der Struktur des gesamten Artikels 1 und daher auch in seinem Absatz 2. Es muss ein angemessenes Verhältnis zwischen den eingesetzten Mitteln und dem angestrebten Ziel geben. Bei
der Überprüfung, ob dieses Erfordernis beachtet wurde, gewährt der Gerichtshof dem Staat einen großen Ermessensspielraum. Dieser umfasst sowohl die Auswahl der Durchführungsmodalitäten als auch die Beurteilung der Frage, ob
deren Folgen im Allgemeininteresse durch das Bemühen gerechtfertigt sind, das Ziel der in Rede stehenden Rechtsvorschriften zu erreichen (Chassagnou, Rdnr. 75, Schneider, Rdnr. 45, und Depalle ./. Frankreich [GK], Nr. 34044/02,
Rdnr. 83, CEDH 2010).
b) Die Schlussfolgerungen des Gerichtshofs in den Rechtssachen Chassagnou und Schneider
585. In der Rechtssache Chassagnou, a.a.O., hat der Gerichtshof erstmalig die Frage geprüft, ob die Verpflichtung eines Eigentümers zur Duldung der Jagd auf seinen Grundstücken mit den Grundsätzen des Artikels 1 des Protokolls
Nr. 1 vereinbar ist.
59. In dieser Rechtssache hat die Große Kammer gefolgert, die Loi Verdeille von 1964 verfolge das rechtmäßige Ziel, eine ungeordnete Jagdausübung zu vermeiden und eine vernünftige Hege und Pflege des Wildbestandes zu fördern.
Aufgrund dieses Gesetzes konnten die Eigentümer sich der obligatorischen Übertragung ihres Jagdrechts nicht widersetzen. Es war für Personen, die wie die Beschwerdeführer die Jagd ablehnen und aus dem Jagdrecht keinen Nutzen
oder Vorteil ziehen wollten, keine Entschädigungsmaßnahme vorgesehen. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass die in Rede stehende Situation eine Ausnahme von zwei Grundsätzen darstellt: erstens von dem Grundsatz, wonach das
Eigentum an einem Vermögensgegenstand das Recht beinhaltet, ihn zu nutzen und uneingeschränkt darüber zu verfügen, sowie zweitens von dem Grundsatz, dass niemand auf dem Grundstück eines anderen ohne dessen Einwilligung
jagen darf. Zudem wurde die automatische Zugehörigkeit zu kommunalen Jagdgenossenschaften nur in 29 der 93 französischen Departements angewendet. Diese Jagdgenossenschaften bestanden nur in 851 Gemeinden und das Gesetz
Verdeille fand nur auf Grundstücke von weniger als 20 Hektar Anwendung. Diese Erwägungen veranlassten den Gerichtshof zu der Schlussfolgerung, dass das strittige System der Zwangsübertragung die Beschwerdeführer in eine
Situation gebracht hatte, welche keinen gerechten Ausgleich zwischen dem Schutz des Eigentums und den Erfordernissen des Allgemeininteresses herbeiführte. Indem es die Eigentümer kleiner Grundstücke zwang, ihr Jagdrecht auf
ihren Grundstücken zu übertragen, so dass Dritte davon einen ihren Überzeugungen völlig entgegenstehenden Gebrauch machen konnten, bürdete das Gesetz diesen Personen eine unverhältnismäßige Last auf, die aufgrund von Artikel
1 Absatz 2 des Protokolls Nr. 1 nicht gerechtfertigt war (Chassagnou, a.a.O., Rdnrn. 79 und 82-85).
607. Diese Schlussfolgerungen wurden alsdann von einer Kammer des Gerichtshofs in der Rechtssache Schneider (a.a.O.) bestätigt, der eine Beschwerde zugrunde lag, die von dem Eigentümer eines kleinen in Luxemburg belegenen
Grundstücks erhoben worden war. Die Kammer hat festgestellt, dass das luxemburgische Gesetz zwar im Unterschied zu der Loi Verdeille eine finanzielle Entschädigung für die Eigentümer vorsieht, sie hat jedoch diesen Umstand als
nicht entscheidend angesehen und war der Auffassung, dass die ethischen Überzeugungen einer Jagdgegnerin nicht sinnvollerweise mit der jährlich als Gegenleistung für das von der Betroffenen verlorene Nutzungsrecht erhaltenen
Vergütung in Ausgleich gebracht werden können. Sie hat dargelegt, dass die vorgesehene Vergütung (3,25 EUR im Jahr) in jedem Falle nicht als gerechte Entschädigung für die Beschwerdeführerin angesehen werde konnte
(Schneider, a.a.O., Rdnr. 49).
c) Kohärenz der Rechtsprechung
618. Der Gerichtshof ruft in Erinnerung, dass es im Interesse der Rechtssicherheit, der Berechenbarkeit und der Gleichheit vor dem Gesetz ist, dass er sich nicht ohne triftigen Grund von seinen Präzedenzentscheidungen entfernt, ohne
formell verpflichtet zu sein, seinen früheren Entscheidungen zu folgen. Da die Konvention gleichwohl vor allem ein Schutzmechanismus für die Menschenrechte ist, hat der Gerichtshof der Entwicklung der Situation im
beschwerdegegnerischen Staat sowie in den Vertragsstaaten allgemein Rechnung zu tragen und zum Beispiel auf einen möglichen Konsens im Hinblick auf die zu erreichenden Normen zu reagieren (s. unter vielen anderen Chapman
./. Vereinigtes Königreich [GK], Nr. 27238/95, Rdnr. 70, CEDH 2001-I, und Bayatyan ./. Armenien [GK], Nr. 23459/03, Rdnr. 98, CEDH 2011, mit der zitierten Rechtsprechung).
629. Der Gerichtshof stellt fest, dass mehrere Staaten ihre Gesetzgebung oder Rechtsprechung geändert haben, um den in den vorgenannten Urteilen Chassagnou und Schneider aufgeführten Grundsätzen gerecht zu werden (Rdnr. 36 oben).
80. Daher kann der Gerichtshof nur erneut die in den Urteilen Chassagnou und Schneider aufgeführten Grundsätze bekräftigen und insbesondere in Erinnerung rufen, dass die Tatsache, einem Grundeigentümer, der die Jagd aus
ethischen Gründen ablehnt, die Verpflichtung aufzuerlegen, die Ausübung der Jagd auf seinen Grundstücken zu dulden, geeignet ist, den zwischen dem Schutz des Eigentumsrechts und den Erfordernissen des Allgemeininteresses
herbeizuführenden gerechten Ausgleich zu stören und dem betroffenen Grundeigentümer eine unverhältnismäßige Last aufzubürden, die mit Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 unvereinbar ist.
d) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache
631. Es ist noch zu ermitteln, ob die Situation nach den im vorliegenden Fall angewandten Bestimmungen des Bundesjagdgesetzes, so wie die Regierung es vorgetragen hat, sich deutlich von der tatsächlichen und rechtlichen
Situation, die seinerzeit in Frankreich und Luxemburg in den Rechtssachen Chassagnou und Schneider (a.a.O.) galt, unterscheidet und, bejahendenfalls, ob die betreffenden Unterschiede hinreichend wichtig sind, um festzustellen,
dass Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 unter den besonderen Umständen des Einzelfalls nicht verletzt worden ist.
642. Dazu wird der Gerichtshof die Ziele der im Spiel befindlichen Gesetze, ihre örtliche Anwendung, die möglichen Ausnahmen zu einer Zwangsmitgliedschaft in einer Jagdgenossenschaft und die Frage der Entschädigung prüfen.
i. Allgemeine Ziele
653. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass die Ziele der deutschen Jagdgesetzgebung in den §§ 1 Abs. 1 und 2 BJagdG (Rdnr. 27 oben) aufgeführt sind. Es handelt sich insbesondere um die Hege, welche die Erhaltung eines den
landschaftlichen und landeskulturellen Verhältnissen angepassten artenreichen und gesunden Wildbestandes und das Vermeiden von Wildschäden zum Ziel hat. Der Gerichtshof nimmt auch das Argument der Regierung zur Kenntnis,
nach dem die Jagd auch zum Ziel hat, die Ausbreitung von Tierkrankheiten zu vermeiden. Ebenso war eines der Hauptziele der Loi Verdeille in Frankreich, eine ‚vernünftige Durchführung der Jagd unter Achtung der Umwelt' zu
fördern (Chassagnou, a.a.O., Rdnr. 78). Das luxemburgische Gesetz verfolgte vergleichbare Ziele und zwar ‚die vernünftige Hege und Pflege des Wildbestandes und die Beibehaltung der ökologischen Ausgleichsfunktion" (Schneider,
a.a.O., Rdnr. 34).
664. Der Gerichtshof stellt zudem fest, dass im Unterschied zur Loi Verdeille in Frankreich das deutsche Bundesjagdgesetz die Verfolgung der Interessen der Jäger nicht als Hauptziel anzusehen scheint (vergleichen mit Chassagnou,
a.a.O., Rdnr. 106). Vielmehr schreibt es den privat die Jagd ausübenden Personen auch vor, zur Erreichung von Zielen des Allgemeininteresses beizutragen (Rdnr. 55 oben). Nichtsdestoweniger räumt dieses Gesetz den Jägern aber
auch bestimmte Rechte ein, wie z. B. Wild zu jagen und sich das Wild anzueignen (§ 1 Abs. 1 BJagdG - Rdnr. 27 oben). In jedem Falle ist der Gerichtshof der Auffassung, dass selbst wenn das Bundesjagdgesetz Pflichten vorsieht,
gleichwohl gilt, dass die Jagd in Deutschland, ebenso wie dies in Frankreich und Luxemburg der Fall ist, in erster Linie von Privatpersonen als Freizeitbeschäftigung ausgeübt wird.
675. Vor diesem Hintergrund schlussfolgert der Gerichtshof, dass die Ziele der deutschen Gesetzgebung sich nicht signifikant von denen unterscheiden, die das zuvor vom Gerichtshof untersuchte französische und luxemburgische
Recht verfolgten.
ii. Räumlicher Umfang und Ausnahmen von der Pflicht einer Jagdgenossenschaft anzugehören
686. Die Große Kammer bemerkt auch, dass die Kammer und die Regierung dem Argument ein besonderes Gewicht beigemessen haben, wonach das deutsche Bundesjagdgesetz auf das gesamte deutsche Hoheitsgebiet anwendbar ist
(Rdnrn. 43 und 56 oben). Sie stellt fest, dass die Loi Verdeille in 29 der 93 französischen Departements angewendet wurde mit der Möglichkeit, die Anwendung auf das gesamte französische Hoheitsgebiet auszuweiten (Chassagnou,
a.a.O., Rdnrn. 78 und 84). In Luxemburg und in Deutschland fand das Gesetz grundsätzlich im gesamten Hoheitsgebiet Anwendung. Seit dem Inkrafttreten der Föderalismusreform im Jahr 2006 haben die Länder jedoch die
Möglichkeit, das Jagdwesen zu regeln, indem sie vom Bundesrecht abweichende Regelungen treffen (Artikel 72 GG - Rdnr. 25 oben), selbst wenn sie sich bislang für die Beibehaltung des Systems der flächendeckenden Bejagung
ausgesprochen haben (Rdnr. 58 oben).
697. Diese drei Gesetze sehen oder sahen räumliche Ausnahmen für befriedete Bezirke vor. Aufgrund von § 6 BJagdG ruht die Jagd auf Grundflächen, die zu keinem Jagdbezirk gehören (Enklaven - Rdnr. 28 oben), selbst wenn die
Möglichkeit besteht, sie in einen Jagdbezirke einzugliedern (Rdnrn. 58 und 67 oben). Weitere Ausnahmen finden sich im ehemaligen französischen und im jetzigen deutschen Recht für Natur- und Tierschutzgebiete (Chassagnou,
a.a.O., Rdnrn. 58 und 31 oben) und im ehemaligen luxemburgischen Recht für Häuser und Gärten (Schneider, a.a.O., Rdnr. 19). Im französischen und luxemburgischen Recht waren Straßen und Eisenbahnen auch aus den
Jagdbezirken ausgenommen (Chassagnou, a.a.O., Rdnr. 46, und Schneider, a.a.O., Rdnr. 19).
708. Hinsichtlich persönlicher Ausnahmen, schloss das französische Recht das Staatsvermögen aus und verpflichtete die Eigentümer großer Flächen nicht zur Zugehörigkeit zu einer Jagdgenossenschaft (Chassagnou, a.a.O., Rdnr.
116). Zudem scheinen diese Großgrundbesitzer nicht zur Jagd oder zur Duldung der Jagd auf ihren Grundstücken verpflichtet gewesen zu sein (Chassagnou, a.a.O., Rdnr. 92). Ebenso schloss das luxemburgische Recht alle der Krone
gehörenden privaten Grundstücke aus den Jagdbezirken aus (Schneider, a.a.O., Rdnr. 53). Das deutsche Jagdrecht ist gleichermaßen auf privates und öffentliches Eigentum anzuwenden (Rdnr. 30 oben). Je nach Größe des Grundstücks
gibt es jedoch einen Unterschied (Rdnrn. 29 und 30 oben).
719. Vor diesem Hintergrund ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Unterschiede der verglichenen Rechtsvorschriften zu diesen Punkten nicht als entscheidend angesehen werden dürfen. Die Anwendung des luxemburgischen
Gesetzes auf das gesamte luxemburgische Hoheitsgebiet hat den Gerichtshof nicht daran gehindert, in der Rechtssache Schneider eine Verletzung von Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 festzustellen. Die gleiche Schlussfolgerung könnte
für Deutschland getroffen werden, da seit dem 1. September 2006 die Länder für die Jagdgesetzgebung zuständig sind und es ihnen daher freisteht, unterschiedliche Regeln auf diesem Gebiet vorzusehen. Man kann daraus folgern,
dass die Jagd bundesweit nicht zwangsläufig einheitlich geregelt werden muss.
iii. Entschädigung der Grundbesitzer
90. In Bezug auf die Entschädigungen der Grundbesitzer als Gegenleistung für die Ausübung der Jagd auf ihren Grundstücken stellt der Gerichtshof fest, dass das französische Recht den die Jagd ablehnenden Grundbesitzern keine
finanzielle Entschädigung für die Verpflichtung gewährte, die Jagd zu dulden, sondern lediglich allen Mitgliedern einer Jagdgenossenschaft die Jagd in dem gesamten Jagdbezirk erlaubte (Chassagnou, a.a.O., Rdnr. 82). Das deutsche
und das luxemburgische Recht hingegen sehen für die Mitglieder der Jagdgenossenschaft je nach dem Verhältnis der Größe der Grundstücke einen Anteil am Pachterlös vor. In der luxemburgischen Rechtssache hatte die
beschwerdeführende Eigentümerin Anspruch auf 3,25 EUR im Jahr (Schneider, a.a.O., Rdnr. 49). In Deutschland wird die Entschädigung nur auf ausdrücklichen Antrag gewährt und scheint in jedem Falle sehr begrenzt zu sein
(Rdnrn. 53 und 62 oben). Schließlich bestimmt das deutsche Recht, ebenso wie das ehemalige luxemburgische Recht, dass die Eigentümer Anspruch auf Entschädigung für Wildschäden oder Schäden haben, die durch die
Jagdausübung verursacht werden (Schneider, a.a.O., Rdnr. 37, und Rdnr. 32 oben).
721. Es zeigt sich, dass der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall keine Entschädigung beantragt hat, die ihm als Ausgleich für die Verpflichtung, die Jagd auf seinen Grundstücken zu dulden, zustand. Vor diesem Hintergrund ist der
Gerichtshof der Auffassung, dass es schlecht mit dem eigentlichen Begriff der Achtung einer ethischen Ablehnung vereinbar ist, der betroffenen Person vorzuschreiben, bei den Behörden eine Entschädigung für etwas zu beantragen,
was genau die Ursache seiner Ablehnung darstellt. Ein solches Vorgehen könnte an sich als unvereinbar mit den in Rede stehenden ethischen Überzeugungen gelten (Rdnrn. 12 und 53 oben). Zudem hat der Gerichtshof grundsätzlich
Vorbehalte gegenüber dem Argument, demzufolge tief verankerte persönliche Überzeugungen gegen eine jährliche Entschädigung getauscht werden könnten, die den Verlust des Gebrauchs des Eigentums ausgleichen soll, wobei die
Entschädigung in jedem Falle als sehr gering erscheint (siehe sinngemäß Schneider, a.a.O., Rdnr. 49).
732. Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass das Bundesjagdgesetz in keinem Fall die ethischen Überzeugungen der Eigentümer, die die Jagd ablehnen, berücksichtigt. Er vertritt die Auffassung, das die von der Regierung
vorgelegten Unterlagen (Rdnr. 24 oben), wonach die Grundstücke des Beschwerdeführers an eine Landwirtin verpachtet seien, die sie zur Aufzucht von Schlachtvieh nutze, nicht ausreichend sind, um die Ernsthaftigkeit der
Überzeugungen des Beschwerdeführers in Zweifel zu ziehen. Denn die Ablehnung der Jagd kann nicht der Ablehnung des Schlachtens von Tieren zum Verzehr durch den Menschen gleichgestellt werden. Zudem sieht der Gerichtshof
im Lichte der ihm vorliegenden Unterlagen keinen Grund, den Wahrheitsgehalt der Behauptung des Beschwerdeführers in Frage zu stellen, derzufolge er zu keinem Zeitpunkt Vieh auf seinen Grundstücken gesehen, niemals die
Erlaubnis erteilt hat, sie zu den in Rede stehenden Zwecken zu nutzen, und ggf. nicht zögern würde, gerichtliche Schritte einzuleiten, um jeden etwaigen Missbrauch zu vermeiden oder zu beenden.
iv. Ergebnis
743. Zusammenfassend stellt der Gerichtshof fest, dass die drei vorstehend verglichenen Gesetze ähnliche Ziele verfolgen und einige mehr oder wenige gewichtige räumliche Ausnahmen vorsehen. Die Frage der Entschädigung wurde
in Deutschland und Luxemburg ähnlich behandelt, das französische System ist diesbezüglich anders. Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof nicht überzeugt, dass sich die Lage in Deutschland deutlich von der Situation in den
vom Gerichtshof geprüften Rechtssachen Chassagnou und Schneider unterscheidet. Daher sieht er keinen Grund von der Feststellung abzuweichen, zu der er in den beiden Rechtssachen gelangt ist, und zwar, dass die Verpflichtung,
die Jagd auf ihren Grundstücken zu dulden, für die Eigentümer, die wie im vorliegenden Fall der Beschwerdeführer die Jagd aus ethischen Gründen ablehnen, eine unverhältnismäßige Belastung darstellt.
754. Daher stellt der Gerichtshof fest, dass Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 der Konvention verletzt ist.
III. DIE BEHAUPTETE VERLETZUNG DES ARTIKELS 14 DER KONVENTION IN VERBINDUNG MIT ARTIKEL 1 DES PROTOKOLLS NR. 1
765. Der Beschwerdeführer behauptet, durch die Bestimmungen des Bundesjagdgesetzes werde er in zweierlei Hinsicht diskriminiert: einerseits im Vergleich zu den Eigentümern, deren Grundstücke nicht zu einem Jagdbezirk
gehören, wie die Eigentümer von Enklaven, auf denen kein Jagdrecht besteht, andererseits aufgrund der geringen Größe seiner Grundstücke. Er beruft sich auf Artikel 14 der Konvention in Verbindung mit Artikel 1 des Protokolls Nr. 1.
Artikel 14 lautet wie folgt:
‚Der Genuss der in d(...)er Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen
Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten.'
A. Das Kammerurteil
776. Die Kammer hat festgestellt, dass die Eigentümer größerer Grundstücke nach deutschem Recht nicht befugt waren, die Jagd völlig ruhen zu lassen, sondern im Bereich der Hege des Wildbestands die gleichen Verpflichtungen
hatten, wie die Jagdgenossenschaften. Sie vertrat die Auffassung, dass nur insoweit eine unterschiedliche Behandlung zwischen Eigentümern kleinerer und Eigentümern größerer Grundstücke besteht, als Letztere die Freiheit behielten,
die Art und Weise zu wählen, in der sie den Verpflichtungen nachkamen, die das Jagdgesetz ihnen aufbürdete, während Erstere nicht das Recht hatten, innerhalb der Jagdgenossenschaft am Entscheidungsprozess teilzunehmen. Sie
war der Auffassung, dass diese unterschiedliche Behandlung hinreichend durch die Notwendigkeit gerechtfertigt war, kleinere Grundstücke zusammenzulegen, um eine flächendeckende Jagd mit dem Ziel zu gestatten, ein geordnetes
Wildmanagement sicherzustellen. Sie erachtete zudem, dass die unterschiedliche Behandlung der Eigentümer von Grundstücken, welche wie die Enklaven nicht zu einem Jagdbezirk gehörten, und den anderen Eigentümern durch die
Besonderheiten dieser Grundstücke gerechtfertigt war (Kammerurteil Rdnrn. 68-70). Daher hat sie festgestellt, dass Artikel 14 der Konvention in Verbindung mit Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 nicht verletzt worden ist.
B. Vorbringen der Parteien
1. Der Beschwerdeführer
787. Nach Auffassung des Beschwerdeführers begünstigt die unterschiedliche Behandlung von Eigentümern kleinerer und Eigentümern größerer Grundstücke die ‚reichen" Grundeigentümer und beachtet nicht die Anforderungen von
Artikel 14. Diese Diskriminierung werde nicht durch die Verpflichtung zur Jagd getilgt, die den Eigentümern größerer Grundstücke obliegt, denn sie würde nur auf einen geringen Teil der Tiere Anwendung finden, die gejagt werden
dürfen, und die Eigentümer großer Grundstücke könnten frei entscheiden, welche Arten und wie sie jagen, beispielsweise indem sie die Jagdmethode wählen. Sie könnten sogar entscheiden, die Jagd ruhen zu lassen und gerichtlich
gegen jede Entscheidung vorzugehen, die sie zur Jagd verpflichtet. Der Beschwerdeführer fügt hinzu, dass in der Praxis nicht geprüft werde, ob die Eigentümer von Eigenjagdbezirken die Verpflichtungen beachten, die ihnen auf dem
Gebiet der Jagd obliegen.
798. Zudem seien diese Eigentümer nicht verpflichtet, das Anbringen von jagdlichen Einrichtungen oder die Anwesenheit von Fremden auf ihren Grundstücken zu dulden. Die Eigentümer kleinerer Grundstücke hätten nicht die
Möglichkeit, Wildtiere zu beobachten und für sie in ihren natürlichen Lebensräumen zu sorgen. Für den Beschwerdeführer folgt daraus, dass die Übertragung der Ausübung des Jagdrechts über das hinausgeht, was für die Verhütung
von Schäden erforderlich ist, welche durch wild lebende Tiere verursacht werden.
2. Die Regierung
809. Die Regierung behauptet, der Beschwerdeführer sei nicht anders als jeder andere Grundstückseigentümer hinsichtlich seiner Rechte aus Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 behandelt worden. Im Unterschied zum französischen und
luxemburgischen Recht garantiere die deutsche Gesetzgebung, dass alle Grundeigentümer gleichermaßen der Jagdpflicht unterlägen. Die Eigentümer von Grundflächen mit mehr als 75 Hektar behielten das Jagdrecht, seien aber nicht
berechtigt, auf ihren Grundstücken jagdfreie Zonen zu schaffen.
100. Es stünde ihnen ebenfalls nicht frei, die zu jagenden Wildarten auszuwählen. Aufgrund des Bundesjagdgesetzes sei der Abschuss des Wildes Regeln unterworfen, die sicherstellen sollen, dass ein gesunder Wildbestand aller
Tierarten in angemessener Zahl erhalten bleibt und die berechtigten Belange der Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft gewahrt werden. So dürfe die Jagd nicht willkürlich erfolgen, sondern müsse nachhaltig und geplant sein.
101. Das Aufstellen von Jagdeinrichtungen biete die Gewähr, dass die Ausübung der Jagd unter Beachtung der Notwendigkeit des Tierschutzes erfolgt. Eigentümer von Eigenjagdbezirken, die ihr Jagdrecht verpachtet haben, müssten
das Anbringen solcher Einrichtungen ebenso dulden wie die Eigentümer kleinerer Grundstücke. Selbst wenn von einer unterschiedlichen Behandlung ausgegangen würde, ist diese nach Auffassung der Regierung gerechtfertigt. Zur
Pflege des Wildbestands dank einer flächendeckenden Bejagung wäre es notwendig, kleinere Grundstücke zusammenzulegen. Die Mindestgrenze von 75 Hektar habe sich in Deutschland seit langem als wirksam in der
Wildtierbewirtschaftung bewährt.
3. Die Drittbeteiligten
812. Der Beteiligte 2 vertritt wie die Kammer die Auffassung, die unterschiedliche Behandlung von Eigentümern kleinerer und Eigentümern größerer Grundstücke, insofern, als Letztere die Freiheit behielten, die Art und Weise zu
wählen, in der sie ihren Verpflichtungen aus dem Bundesjagdgesetz nachkommen, werde durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, kleinere Grundstücke zusammenzulegen, um eine flächendeckende Jagd mit dem Ziel zu gestatten, ein
geordnetes Wildtiermanagement sicherzustellen.
823. Die Beteiligte 1 betont ihrerseits, dass die Eigentümer von Eigenjagdbezirken verpflichtet sind, selbst zu jagen oder ihr Jagdrecht an Jäger zu verpachten. Alle Eigentümer von Jagdflächen seien verpflichtet, die von der Behörde
gebilligten Jahresabschusspläne zu beachten und die Behörden jedes Jahr über die Gesamtzahl des erlegten Wildes zu unterrichten. Zudem sollten sie sich an den Verwaltungserlassen zur Ausübung der Jagd orientieren, z.B.
denjenigen, die eine Reduzierung des Wildbestandes im Falle der Gefahr einer Ausbreitung von Tierkrankheiten vorsehen. Im Unterschied zum zuvor vom Gerichtshof untersuchten französischen und luxemburgischen Recht
bevorzuge das deutsche Recht daher nicht die Eigentümer von Eigenjagdbezirken.
C. Würdigung durch die Große Kammer
1044. Die Große Kammer ruft in Erinnerung, dass Artikel 14 nicht autonom existiert, sondern eine wichtige ergänzende Rolle für die anderen Bestimmungen der Konvention und ihrer Protokolle spielt, denn er schützt die Personen,
die sich in ähnlichen Situationen befinden, vor jeder Diskriminierung in Bezug auf den Genuss der in diesen anderen Bestimmungen aufgeführten Rechte. Stellt die Kammer eine gesondert zu behandelnde Verletzung einer normativen
Bestimmung der Konvention fest, die ihr gegenüber als solche sowie gemeinsam mit Artikel 14 geltend gemacht wurde, so braucht sie im allgemeinen die Sache nicht unter dem Aspekt dieses Artikels zu prüfen; etwas anderes gilt
jedoch, wenn eine eindeutige Ungleichbehandlung in Bezug auf den Genuss des in Rede stehenden Rechts einen grundlegenden Aspekt des Rechtsstreits darstellt (Dudgeon ./. Vereinigtes Königreich, 22. Oktober 1981, Rdnr. 67, Serie
A Band 45, und Chassagnou, a.a.O, Rdnr. 89).
1055. Im vorliegenden Fall vertritt der Gerichtshof im Hinblick auf seine Feststellungen zu Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 (Rdnrn. 93-94 oben) die Auffassung, dass die Rüge des Beschwerdeführers in Bezug auf Artikel 14 der
Konvention in Verbindung mit Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 nicht gesondert zu prüfen ist (Schneider, a.a.O. Rdnr. 55).
IV. DIE BEHAUPTETE VERLETZUNG DES ARTIKELS 9 DER KONVENTION
1066. Der Beschwerdeführer behauptet, dass die ihm auferlegte Verpflichtung, die Jagd auf seinen Grundstücken zu dulden, sein Recht auf Gedanken- und Gewissensfreiheit nach Artikel 9 der Konvention verletze, der wie folgt lautet:
‚(1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder
gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen.
(2) Die Freiheit seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum
Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.'
A. Das Kammerurteil
1077. Die Kammer hat entschieden, dass es nicht erforderlich ist zu ermitteln, ob die Rüge des Beschwerdeführers in den Bereich des Artikels 9 der Konvention fällt. Angesichts ihrer Schlussfolgerungen im Licht des Artikels 1 des
Protokolls Nr. 1 war sie nämlich der Auffassung, dass, wenn davon ausgegangen wird, dass ein Eingriff in die Ausübung der Rechte des Beschwerdeführers aus Artikel 9 vorliegt, dieser Eingriff für die öffentliche Sicherheit, zum
Schutz der öffentlichen Gesundheit und zum Schutz der Rechte anderer notwendig war und dass folglich diese Bestimmung nicht verletzt worden ist (Kammerurteil, Rdnr. 87).
B. Vorbringen der Parteien
1. Der Beschwerdeführer
1088. Der Beschwerdeführer behauptet, das Bundesverfassungsgericht habe eingeräumt, dass seine Überzeugungen als Gegner der Jagd einen gewissen Grad von Entschiedenheit, Geschlossenheit und Wichtigkeit erreichen und daher
in der demokratischen Gesellschaft Achtung verdienen würden. Er führt ins Feld, dass die Verpflichtung, einer Jagdgenossenschaft beizutreten, ihm die Möglichkeit nehme, gemäß seinen moralischen Überzeugungen zu handeln.
10909. In der Analyse des Bundesverfassungsgerichts, derzufolge niemand aus der Gewissensfreiheit das Recht herleiten könne, die Rechtsordnung nur nach seinen Gewissensvorstellungen zu gestalten (Rdnr. 20 oben), würden nicht
der Grad und die Bedeutung der individuellen Gewissenfreiheit gewürdigt, die hier zugunsten des Rechts Dritter auf Ausübung der Jagd ‚geopfert' würde, wobei dieses Recht weder durch das Grundgesetz noch durch die Konvention
geschützt sei. Die Zwangsmitgliedschaft in einer Jagdgenossenschaft erhöhe noch den Druck, der auf Personen laste, die gezwungen wären, an Aktivitäten teilzunehmen, die ihren Überzeugungen zuwiderliefen.
1100. Dieser Eingriff sei im Licht des Artikels 9 Absatz 2 der Konvention nicht gerechtfertigt. In Anbetracht der Bedeutung des öffentlichen Interesses an der Ausübung der Jagd - das allenfalls gering sei - ist der Beschwerdeführer der
Meinung, dass sein Recht auf Gewissensfreiheit gegenüber dem Recht Dritter auf Ausübung der Jagd auf seinem Grund und Boden überwiege.
2. Die Regierung
1111. Die Regierung stellt eine Verletzung der Rechte des Beschwerdeführers aus Artikel 9 in Abrede. Sie weist darauf hin, dass der Betroffene nicht verpflichtet sei, die Jagd auszuüben oder sich an Handlungen zu beteiligen, die
seinen Überzeugungen zuwiderlaufen würden, und dass dieser als Einzelperson nicht über die Genehmigung der Jagd zu entscheiden habe, sondern der Gesetzgeber, der im Allgemeininteresse handele. Es stelle sich allein die Frage,
ob der Beschwerdeführer auf der Grundlage des Artikels 9 der Konvention Dritte an der Jagd auf seinem Grundstück hindern könne.
1122. Unter Berufung auf die Entscheidung des Gerichtshofs in der Sache Pichon und Sajous ./. Frankreich ((Entsch.), Nr. 49853/99, CEDH 2001-X) trägt die Regierung vor, dass Artikel 9 nicht das Recht gibt, anderen ethische,
religiöse oder moralische Überzeugungen aufzuzwingen, insbesondere wenn den Vorstellungen auch auf andere Weise Ausdruck verliehen werden könne. Es bleibe dem Beschwerdeführer im vorliegenden Fall unbenommen, für seine
moralischen Ansichten im demokratischen Meinungsbildungsprozess öffentlich zu werben.
1133. Nach den Bestimmungen des Bundesjagdgesetzes umfasse das Grundeigentum nicht die Befugnis, dritten Personen zu verbieten, ein Grundstück zu betreten, um dort die Jagd im Interesse der Allgemeinheit auszuüben. In
diesem Zusammenhang weist die Regierung darauf hin, dass die Konventionsorgane ausdrücklich entschieden hätten, dass niemand sich auf Artikel 9 berufen könne, um sich der Steuerpflicht mit der Begründung zu entziehen, mit
dem Steuergeld würden militärische Aktionen finanziert (die Regierung verweist auf die Sache C. ./. Vereinigtes Königreich (Nr. 10358/83, Entscheidung der Kommission vom 15. Dezember 1983, Entscheidungen und Berichte (DR)
37, S. 148)). Ebenso sei entschieden worden, dass das öffentliche Interesse am Schutz der Gesundheit ausreiche, die Verpflichtung zum Tragen eines Motorradschutzhelms zu rechtfertigen, auch wenn diese Verpflichtung der
Verpflichtung eines Sikhs zum Tragen eines Turbans entgegenstehe (die Regierung verweist auf die Sache X. ./. Vereinigtes Königreich (Nr. 7992/77, Entscheidung der Kommission vom 12. Juli 1978, DR 14, S. 236).
1144. Die Regierung fügt hinzu, dass der Beschwerdeführer seine Grundstücke einer Landwirtin verpachtet habe, die dort Schlachtvieh halte (Rdnr. 24 oben). Dieser Aspekt lasse die Überzeugungen des Betroffenen hinsichtlich der
Tötung von Tieren in einem interessanten Licht erscheinen. Der Beschwerdeführer habe außerdem nie nach einem Weg aus diesem Gewissenskonflikt, in dem er sich angeblich befindet, gesucht, indem er beispielsweise die
betroffenen Grundstücke verkauft und andere im Stadtgebiet gekauft habe, oder aber indem er sich bemüht habe, den Entscheidungsprozess innerhalb der Jagdgenossenschaft zu beeinflussen, damit die getroffenen Entscheidungen
seinen ethischen Vorstellungen entsprechen.
3. Die Drittbeteiligten
1155. Der Beteiligte 2 gibt an, dass nach deutschem Recht das Recht auf Ausübung der Jagd auf kleinen Grundstücken nicht an das Eigentumsrecht gebunden sei. Die Übertragung des Jagdrechts auf eine Jagdgenossenschaft in Bezug
auf kleine Flächen erfolge durch den Gesetzgeber. Die Grundstückseigentümer müssten somit nicht selbst ihr Recht übertragen und könnten sich daher in dieser Hinsicht nicht in einem Gewissenskonflikt befinden.
1166. Die Beteiligte 1 führt aus, dass die deutschen Jagdgenossenschaften - im Unterschied zu den luxemburgischen Vereinigungen - nicht berechtigt seien zu entscheiden, ob die Jagd auf ihren Jagdflächen ausgeübt werden darf oder
nicht. Die Bejagungspflicht ergebe sich aus einer rein gesetzgeberischen Entscheidung, die nicht an die Mitgliedschaft in einer Jagdgenossenschaft gekoppelt sei. Durch die Mitgliedschaft in einer solchen Genossenschaft entstehe
keine Verpflichtung, die Jagd zu dulden, die möglicherweise die Gewissensfreiheit von Grundstückseigentümern beeinträchtige.
1177. Der Beteiligte 3 führt aus, dass der Gerichtshof anerkannt hat, dass Artikel 9 der Konvention das Recht auf Dienstverweigerung aus Gewissengründen in der Sache Bayatyan (a.a.O., Rdnr. 111) in Bezug auf die Wehrpflicht und
in der Sache R.R. ./. Polen (Nr. 27617/04, Rdnr. 206, CEDH 2011) in Bezug auf die Abtreibungspraxis von Angehörigen der Heilberufe umfasst. Er habe zudem in den Urteilen Chassagnou (a.a.O., Rdnr. 117) und Schneider (a.a.O.,
Rdnr. 82) implizit das Recht auf Ablehnung aus Gewissensgründen hinsichtlich der Jagd eingeräumt, ohne sich jedoch ausdrücklich mit Blick auf Artikel 9 zu äußern. Bei einer Ablehnung aus Gewissensgründen habe der Staat die
positive Verpflichtung, unter Berücksichtigung der in Rede stehenden konkurrierenden Interessen Lösungen zu finden, um die Erfordernisse der individuellen Gewissensfreiheit und des Allgemeininteresses in Einklang zu bringen.
1188. Dieses Zentrum ist der Auffassung, dass die Verpflichtung einer Person, die Jagd auf ihren Grundstücken zu dulden, unzweifelhaft eine Verletzung ihrer Gewissensfreiheit bedeutet. Da eine völlige Ablehnung der Jagd
irgendwie irrational sei und die Verletzung der Gewissensfreiheit des Beschwerdeführers sich im vorliegenden Fall auf die passive Verpflichtung beschränke, die Jagd zu ‚dulden', hält es die Feststellung einer Verletzung des Artikels
9 der Konvention für möglich, aber nicht zwingend. Die Zwangsmitgliedschaft in einer Jagdgenossenschaft ist hingegen seiner Ansicht nach eine Verletzung der negativen Gewissensfreiheit. Dies bedeute, der Beschwerdeführer wäre
gezwungen, gegen sein Gewissen zu handeln, was hinsichtlich seiner Person eine Verletzung des Rechts auf Ablehnung aus Gewissensgründen nach Artikel 9 beinhalten würde.
C. Würdigung durch die Große Kammer
11919. Angesichts der Schlussfolgerungen, zu denen sie im Licht des Artikels 1 des Protokolls Nr. 1 (Rdnrn. 93 und 94 oben) gelangt ist, erachtet die Große Kammer eine gesonderte Prüfung der Rüge des Beschwerdeführers auf der
Grundlage des Artikels 9 der Konvention für nicht erforderlich.
V. DIE ANWENDUNG DES ARTIKELS 41 DER KONVENTION
1200. Artikel 41 der Konvention lautet wie folgt:
‚Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser
Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.'
A. Schaden
1211. Der Beschwerdeführer fordert 10.000 EUR wegen des materiellen und immateriellen Schadens. Er betont, dass er dem Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten viel Freizeit geopfert habe.
1222. Die Regierung ist der Auffassung, dass der Beschwerdeführer seine Forderungen nicht ordnungsgemäß substantiiert und belegt hat.
1233. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer keinen Nachweis erbracht hat, um seine Forderung wegen des materiellen Schadens zu stützen, so dass ihm hierfür kein Betrag zuzubilligen ist. Hingegen ist er der
Meinung, dass die von ihm festgestellten Verletzungen dem Betroffenen einen gewissen immateriellen Schaden zugefügt haben, den er auf einer gerechten Grundlage mit 5.000 EUR veranschlagt.
B. Kosten und Auslagen
1244. Entsprechend der vorgelegten Rechnungen verlangt der Beschwerdeführer auch 3.861,91 EUR (einschl. Mehrwertsteuer) für Übersetzungskosten, die er für das Verfahren vor dem Gerichtshof aufgewendet habe.
1255. Die Regierung hat dies nicht kommentiert.
1266. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann ein Beschwerdeführer die Erstattung seiner Kosten und Auslagen nur insoweit erhalten, als diese tatsächlich angefallen sind, erforderlich waren und im Hinblick auf ihre Höhe
angemessen sind (siehe beispielsweise Iatridis ./. Griechenland (gerechte Entschädigung), [GK], Nr. 31107/96, Rdnr. 54, CEDH 2000-XI).
1277. In Anbetracht der ihm vorliegenden Unterlagen hält es der Gerichtshof im vorliegenden Fall für angebracht, dem Beschwerdeführer den gesamten von ihm für Kosten und Auslagen geforderten Betrag, d.h. 3.861,91 EUR, zuzubilligen.
C. Verzugszinsen
1288. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank zuzüglich 3 Prozentpunkte zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF
1. einstimmig, dass er für die Prüfung der Rügen auf der Grundlage der Artikel 8 und 11, einzeln oder in Verbindung mit Artikel 14 der Konvention, nicht zuständig ist;
2. mit vierzehn zu drei Stimmen, dass Artikel 1 Absatz 1 des Protokolls Nr. 1 verletzt worden ist;
3. mit sechzehn zu einer Stimme, dass die Rüge auf der Grundlage von Artikel 14 der Konvention in Verbindung mit Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 nicht gesondert zu prüfen ist;
4. mit sechzehn zu einer Stimme, dass die Rüge auf der Grundlage von Artikel 9 der Konvention nicht gesondert zu prüfen ist;
5. mit vierzehn zu drei Stimmen,
a) dass der beschwerdegegnerische Staat dem Beschwerdeführer innerhalb von drei Monaten die folgenden Beträge zu zahlen hat:
i) 5.000 Euro (fünftausend Euro) wegen des immateriellen Schadens zuzüglich der gegebenenfalls für diesen Betrag zu berechnenden Steuer;
ii. 3.861,91 EUR (dreitausendachthunderteinundsechzig Euro und einundneunzig Cent) für Kosten und Auslagen, zuzüglich der gegebenenfalls für diesen Betrag zu berechnenden Steuer;
b) dass dieser Betrag nach Ablauf der genannten Frist bis zur Zahlung einfach zu verzinsen ist, und zwar zu einem Satz, der demjenigen der Spitzenrefinanzierungsfazilität der Europäischen Zentralbank entspricht, der in dieser Zeit
Gültigkeit hat, zuzüglich drei Prozentpunkten.
6. Er weist den Antrag auf gerechte Entschädigung im Übrigen zurück.
Ausgefertigt in französischer und englischer Sprache und anschließend am 26. Juni 2012 in öffentlicher mündlicher Verhandlung im Menschenrechtspalast in Straßburg verkündet. ... Diesem Urteil sind gemäß Artikel 45 Absatz 2 der
Konvention und Artikel 74 Absatz 2 der Verfahrensordnung die folgenden gesonderten Meinungen beigefügt:
- teilweise übereinstimmende und teilweise abweichende Meinung des Richters Pinto de Albuquerque;
- gemeinsame abweichende Meinung der Richter David Thór Björgvinsson, Vuc(inic' und Nußberger. ..."
***
Gewahrsamsorgien beim Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der G8-Staaten (EGMR, Urteil vom 01.12.2011 - 8080/08, 8577/08 - juris):
„... VERFAHREN
1. Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 8080/08 und 8577/08) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die zwei deutsche Staatsangehörige, S. („der erste Beschwerdeführer") und G. („der zweite
Beschwerdeführer"), am 8. bzw. 11. Februar 2008 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention") beim Gerichtshof eingereicht hatten. Der Kammerpräsident gab dem Antrag
des zweiten Beschwerdeführers vom 7. Juli 2010, seine Identität nicht offen zu legen, am 23. August 2010 statt (Artikel 47 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs).
2. Der erste Beschwerdeführer wurde vor dem Gerichtshof zunächst von Frau U., Rechtsanwältin in Hamburg, und anschließend von Frau L., Rechtsanwältin in Berlin, vertreten. Der zweite Beschwerdeführer wurde vor dem
Gerichtshof auch von Frau L. vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung") wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigte, Frau Ministerialdirigentin A. Wittling-Vogel vom Bundesministerium der Justiz, und den ständigen
Vertreter ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Herrn Ministerialrat H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.
3. Die Beschwerdeführer brachten insbesondere vor, ihre Präventivhaft während eines G8-Gipfels, durch die sie daran gehindert worden seien, an Demonstrationen teilzunehmen, habe gegen Artikel 5 Abs. 1 sowie Artikel 10 und 11
der Konvention verstoßen.
4. Am 30. November 2009 entschied der Präsident der Fünften Sektion, die Regierung von der Beschwerde in Kenntnis zu setzen. Es wurde auch beschlossen, über die Zulässigkeit und die Begründetheit der Beschwerden gleichzeitig
zu entscheiden (Artikel 29 Abs. 1).
SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE
5. Die Beschwerdeführer wurden beide 19.. geboren und sind in B. bzw. X. wohnhaft.
A. Hintergrund der Rechtssache
1. Die Einschätzung der Sicherheitslage durch die Behörden und die Sicherheitsmaßnahmen während des G8-Gipfels
6. Vom 6. bis 8. Juni 2007 fand in Heiligendamm in der Nähe von Rostock ein Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der G8-Staaten statt.
7. Nach Auffassung der Polizei bestand während des Gipfels die Gefahr terroristischer Anschläge, insbesondere durch islamistische Gruppen. Darüber hinaus ging die Polizei unter Berücksichtigung der bei früheren G8-Gipfeln
gewonnenen Erfahrungen von einer Gefahr objektbezogener Anschläge durch militante Linksextreme aus. Diese hätten geplant, gegen den Gipfel zu protestieren, ihn zu blockieren und zu sabotieren.
8. Die Polizei nahm an, dass etwa 25.000 Personen, von denen 2.500 gewaltbereit seien, an einer internationalen Demonstration am 2. Juni 2007 in Rostock teilnehmen würden, und dass während des Gipfels etwa 15.000
Demonstranten anwesend sein würden, von denen 1.500 gewaltbereit seien.
9. Am 2. Juni 2007 kam es im Stadtzentrum von Rostock zu schweren Ausschreitungen, an denen gut organisierte gewalttätige Demonstranten, die einem sogenannten „schwarzen Block" zuzurechnen waren, beteiligt waren; diese
griffen die Polizei mit Steinen und Baseballschlägern an. 400 Polizisten wurden verletzt.
10. Nach einer Presseveröffentlichung des Innenministeriums von Mecklenburg-Vorpommern vom 28. Juni 2007 waren 17.000 Polizisten im Einsatz, um den störungsfreien Ablauf des G8-Gipfels sicherzustellen und die
Gipfelteilnehmer vor Anschlägen durch Terroristen oder gewaltbereite Globalisierungsgegner zu schützen. Während des Gipfels seien 1.112 Freiheitsentziehungen in Gefangenensammelstellen erfasst worden. In 628 Fällen sei bei
Gericht die Bestätigung des Gewahrsams beantragt worden; in 113 Fällen sei diese Bestätigung erfolgt.
2. Die Festnahme der Beschwerdeführer
11. Im Juni 2007 fuhren die Beschwerdeführer nach Rostock, um an den Demonstrationen gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm teilzunehmen.
12. Am 3. Juni 2007 gegen 22.15 Uhr wurde die Identität der Beschwerdeführer auf einem Parkplatz vor der Justizvollzugsanstalt Waldeck von der Polizei überprüft; dort standen sie mit sieben anderen Personen neben einem
Transporter. Auf dem Parkplatz befanden sich keine weiteren Personen. Die Polizei brachte vor, dass der erste Beschwerdeführer Widerstand gegen die Identitätsfeststellung geleistet habe. Er habe einem Polizeibeamten, der versucht
habe, die Identität des zweiten Beschwerdeführers festzustellen, auf die Arme geschlagen. Er habe auch einem anderen Polizeibeamten gegen das Schienbein getreten, um die eigene Identitätsfeststellung zu verhindern. Die
Beschwerdeführer brachten vor, der zweite Beschwerdeführer sei von der Polizei geschlagen worden, obwohl er seinen Personalausweis vorzeigebereit in der Hand gehalten habe. Die Polizei durchsuchte das Fahrzeug und fand
eingerollte Transparente mit den Aufschriften „freedom for all prisoners" sowie „free all now". Die Beschwerdeführer wurden festgenommen. Die Transparente wurden anscheinend beschlagnahmt.
B. Das in Rede stehende Verfahren
1. Das Verfahren vor dem Amtsgericht
13. Mit zwei gesonderten Beschlüssen, die am 4. Juni 2007 um 4.20 bzw. 4.00 Uhr ergingen, ordnete das Amtsgericht Rostock nach persönlicher Vernehmung der beiden Beschwerdeführer deren amtlichen Gewahrsam bis längstens 9.
Juni 2007, 12.00 Uhr, an.
14. Gestützt auf §§ 55 Abs. 1 Nr. 2a und 56 Abs. 5 des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Mecklenburg-Vorpommern - SOG M-V - (siehe Rdnrn. 37-38) befand das Amtsgericht, dass die Ingewahrsamnahme der
Beschwerdeführer rechtmäßig gewesen sei, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat zu verhindern. Da die Beschwerdeführer vor der Justizvollzugsanstalt Waldeck in einem Transporter aufgegriffen
worden seien, in dem Gegenstände entdeckt worden seien, mit denen zur Gefangenbefreiung aufgerufen worden sei, sei anzunehmen gewesen, dass sie eine Straftat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen würden.
15. Das Amtsgericht befand ferner, dass die Fortdauer der Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführer unerlässlich und verhältnismäßig sei. In der Anhörung hätten die beiden Beschwerdeführer den Eindruck vermittelt, dass sie
beabsichtigten hätten, die Straftat fortzusetzen. Da sie keine Angaben zur Sache gemacht hätten, hätten sie ihr Verhalten auch nicht rechtfertigen können.
2. Das Verfahren vor dem Landgericht
16. Am 4. Juni 2007 wies das Landgericht Rostock die sofortigen Beschwerden des ersten und zweiten Beschwerdeführers mit zwei gesonderten Beschlüssen zurück.
17. Das Landgericht bestätigte die Feststellung des Amtsgerichts, die Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführer sei nach § 55 Abs. 1 Nr. 2a SOG M-V rechtmäßig gewesen. Indem die Beschwerdeführer im unmittelbaren Umfeld der
JVA Waldeck nachweislich Transparente mit einer imperativen Aufschrift („free" - „befreien") mit sich geführt hätten, hätten sie zur Gefangenenbefreiung, die eine Straftat darstelle, auffordern wollen. Darüber hinaus habe der erste
Beschwerdeführer dem Akteninhalt zufolge gegen Vollstreckungsbeamte Widerstand geleistet. Dem zweiten Beschwerdeführer sei seinerseits 2002 im Zusammenhang mit einem „Castor1-Transport" ein gefährlicher Eingriff in den
Bahnverkehr zur Last gelegt worden. Das Landgericht schloss sich überdies der Begründung des Amtsgerichts an, wonach die Fortdauer der Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführer unerlässlich und angemessen sei.
3. Das Verfahren vor dem Oberlandesgericht
18. Am 7. Juni 2007 wies das Oberlandesgericht Rostock die von den Beschwerdeführern anschließend erhobenen sofortigen weiteren Beschwerden zurück. In ihren Beschwerden hatten die anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer
vorgebracht, dass die Transparente sich an die Polizei und die Behörden gerichtet hätten, die dadurch aufgefordert werden sollten, die zahlreichen Festnahmen und Ingewahrsamnahmen von Demonstranten zu beenden. Die
Transparente hätten nicht darauf abgezielt, andere dazu aufzufordern, Gefängnisse zu stürmen und Gefangene gewaltsam zu befreien. Eine solche Auslegung müsse als lebensfremd angesehen werden, denn gewalttätige
Gefangenenbefreiungen aus Gefängnissen habe es in den letzten Jahrzehnten in Deutschland nicht gegeben.
19. Das Oberlandesgericht bestätigte die Feststellung der Vorinstanzen, dass die Voraussetzungen des § 55 Abs. 1 Nr. 2a SOG M-V gegeben seien. Die Festnahme und Fortdauer der Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführer sei zur
Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung unerlässlich gewesen. Das Transparent „free all now" könne zusammen mit dem Transparent „freedom for all prisoners" so gedeutet werden, dass zur
Gefangenenbefreiung, die nach § 120 StGB (siehe Rdnr. 41) einen Straftatbestand erfülle, aufgerufen werde. Für die Polizei habe der begründete Verdacht bestanden, dass die Beschwerdeführer sich nach Rostock begeben und die
Transparente bei den dort stattfindenden, teilweise gewalttätigen Demonstrationen zeigen würden. Damit hätte eine gewaltbereite Menge dazu bewogen werden können, in Gewahrsam genommene Personen zu befreien.
20. In Bezug auf den zweiten Beschwerdeführer seien die Voraussetzungen des §§ 55 Abs. 1 Nr. 2c SOG M-V (siehe Rdnr. 37) ebenfalls erfüllt gewesen. Der zweite Beschwerdeführer sei 2002 unter vergleichbaren Umständen wegen
Verdachts des gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr im Zusammenhang mit dem Transport von Castor-Behältern festgenommen worden. Ob er anschließend verurteilt worden sei, sei unerheblich.
21. Die Beschwerdeführer seien den Schlussfolgerungen der Gerichte nicht entgegengetreten und hätten sich nicht zur Sache eingelassen. Die Polizei habe die am 2. und 3. Juni 2007 in Rostock bestehende allgemeine Gefahrenlage
berücksichtigen müssen. An diesen Tagen sei es in der Innenstadt zu äußerst gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Demonstranten und der Polizei gekommen. Darüber hinaus hätten die Beschwerdeführer sich durch
Angriffe gegen Polizeibeamte selbst gewaltbereit gezeigt.
22. Das Oberlandesgericht war ferner der Auffassung, dass das Grundrecht der Beschwerdeführer auf freie Meinungsäußerung keine andere Schlussfolgerung rechtfertige. Es räumte ein, dass die Losungen auf den Transparenten
mehrdeutig seien. Jedoch habe die Polizei in der in und um Rostock bestehenden angespannten Situation missverständliche Meinungskundgebungen, die zu einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hätten führen
können, unterbinden dürfen.
23. Darüber hinaus sei die Dauer der Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer verhältnismäßig gewesen. Aus einem Bericht der Rostocker Polizei vom 6. Juni 2007 gehe hervor, dass sechs- bis zehntausend Globalisierungsgegner
mit zum Teil hoher Gewaltbereitschaft sich in Richtung Heiligendamm bewegt und zur „Stürmung des Dammes" aufgerufen hätten. Es habe nicht ausgeschlossen werden können, dass sich die Beschwerdeführer mit den Transparenten
an diesen Demonstrationen beteiligen und damit andere Teilnehmer zur Gefangenenbefreiung aufstacheln würden.
4. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht
24. Am 6. Juni 2007 erhoben die beiden Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht und beantragten den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel ihrer sofortigen Freilassung.
25. Die Beschwerdeführer rügten, dass ihre Ingewahrsamnahme insbesondere ihr Recht auf Freiheit und ihr Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt habe. Der zweite Beschwerdeführer machte ferner geltend, dass seine
Ingewahrsamnahme gegen sein Recht auf Versammlungsfreiheit verstoßen habe. Die beiden Beschwerdeführer trugen vor, dass die Wertung, die Transparentaufschriften riefen andere Demonstranten auf, die Gefängnisse zu stürmen
und die Gefangenen zu befreien, lebensfremd sei. Die Transparente hätten sich an die Polizei, die bereits viele Globalisierungsgegner festgenommen gehabt habe, an die Teilnehmer des G8-Gipfels und an die Allgemeinheit gerichtet
und nicht zu gewalttätigen Handlungen aufgefordert. Die Beschwerdeführer hoben überdies hervor, dass sie nicht vorbestraft seien. Der zweite Beschwerdeführer trug insbesondere vor, dass das gegen ihn wegen gefährlichen Eingriffs
in den Bahnverkehr eingeleitete Ermittlungsverfahren eingestellt worden sei.
26. Diese Beschwerden wurden anfangs unter dem Aktenzeichen 2 BvR 1195/07 bzw. 2 BvR 1196/07 geführt. Am 8. Juni 2007 teilte der Bericht erstattende Richter des Bundesverfassungsgerichts den Bevollmächtigten der
Beschwerdeführer telefonisch mit, dass das Bundesverfassungsgericht keine Entscheidung über den Antrag der Beschwerdeführer auf Erlass einer einstweiligen Anordnung treffen werde.
27. Die Beschwerdeführer wurden am 9. Juni 2007 um 12.00 Uhr aus dem Gewahrsam entlassen.
28. Die Verfassungsbeschwerden der Beschwerdeführer vom 6. Juni 2007 wurden nach ihrer Freilassung als erledigt betrachtet.
29. Obwohl sie mittlerweile freigelassen worden waren, beantragten die Beschwerdeführer am 6. Juli 2007 beim Bundesverfassungsgericht die Feststellung, dass ihre Ingewahrsamnahme verfassungswidrig gewesen sei. Daraufhin
wurden ihre Verfassungsbeschwerden neu registriert (2 BvR 1521/07 bzw. 2 BvR 1520/07).
30. Am 6. August 2007 lehnte es das Bundesverfassungsgericht mit zwei gesonderten Beschlüssen ohne Begründung ab, die Verfassungsbeschwerden des ersten und zweiten Beschwerdeführers zur Entscheidung
anzunehmen (Az.: 2 BvR 1521/07 bzw. 2 BvR 1520/07).
31. Die Entscheidung wurde der Bevollmächtigten des ersten Beschwerdeführers am 14. August 2007 und der Bevollmächtigten des zweiten Beschwerdeführers am 13. August 2007 zugestellt.
C. Weitere Entwicklungen
32. Das gegen den ersten Beschwerdeführer wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte bei der Feststellung seiner Personalien am 3. Juni 2007 eingeleitete Strafverfahren wurde gegen Zahlung eines Betrags von 200 Euro
eingestellt. Das wegen derselben Straftat gegen den zweiten Beschwerdeführer eingeleitete Strafverfahren wurde wegen Geringfügigkeit eingestellt.
33. Die Beschwerdeführer brachten vor, einer der an ihrer Ingewahrsamnahme beteiligten Polizeibeamten sei später in einer anderen Angelegenheit der Körperverletzung im Amt schuldig befunden worden. Das Verfahren sei in der
Berufungsinstanz noch anhängig. Die Regierung hat zu diesem Punkt nicht Stellung genommen.
34. Ein Strafverfahren wegen Aufforderung zur Gefangenenbefreiung wurde gegen die Beschwerdeführer nicht eingeleitet.
35. Am 20. Dezember 2007 verwarf das Oberlandesgericht Rostock die Anhörungsrügen der Beschwerdeführer.
36. Am 1. bzw. 3. Mai 2008 beschloss das BVG, die erneuten Verfassungsbeschwerden des ersten (2 BvR 538/08) und des zweiten Beschwerdeführers (2 BvR 164/08) nicht zur Entscheidung anzunehmen. In ihren Beschwerden
hatten sich die Beschwerdeführer insbesondere auf ihr Recht auf Freiheit, freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit berufen.
II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT
A. Das Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Mecklenburg-Vorpommern („das SOG M-V")
37. § 55 Absatz 1 SOG M-V, soweit maßgeblich, lautet:
„Eine Person kann nur in Gewahrsam genommen werden, wenn dies
1. ... ;
2. unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat zu verhindern; die Annahme, dass eine Person eine solche Tat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen wird, kann sich insbesondere
darauf stützen, dass
a) sie die Begehung der Tat ankündigt oder dazu aufgefordert hat oder Transparente oder sonstige Gegenstände mit einer solchen Aufforderung sich führt;
...
c) sie bereits in der Vergangenheit aus vergleichbarem Anlass bei der Begehung von Straftaten […] angetroffen worden ist und Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass eine Wiederholung dieser Verhaltensweise zu erwarten ist […]"
38. Nach § 56 Abs. 5 SOG M-V hat die Polizei, wenn sie eine Person in Gewahrsam nimmt, unverzüglich eine richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer des Gewahrsams herbeizuführen. In der richterlichen
Entscheidung ist die höchstzulässige Dauer des Gewahrsams zu bestimmen; sie darf in den Fällen des § 55 Abs. 1 Nr. 2 zehn Tage nicht überschreiten. Für die Entscheidung ist das Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk die Person
in Gewahrsam genommen worden ist.
39. Nach § 52 SOG M-V können die Behörden zur Abwehr einer konkreten Gefahr eine Person von einem Ort verweisen oder ihr vorübergehend das Betreten eines Ortes verbieten (Platzverweisung). Rechtfertigen Tatsachen die
Annahme, dass diese Person in einem bestimmten örtlichen Bereich eine Straftat begehen wird, so kann ihr bis zu einer Dauer von zehn Wochen untersagt werden, diesen Bereich zu betreten.
40. Nach § 61 Abs. 1 SOG M-V kann eine Sache nur sichergestellt werden, um eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren (Nr. 1) oder wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme
rechtfertigen, dass sie zur Begehung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit verwendet werden soll (Nr. 4).
B. Das Strafgesetzbuch (StGB)
41. Nach § 120 Abs. 1 StGB wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer einen Gefangenen befreit, ihn zum Entweichen verleitet oder dabei fördert. Nach § 120 Abs. 3 ist der Versuch strafbar.
C. Die Strafprozessordnung
42. §§ 112 ff. StPO behandeln die Untersuchungshaft. Nach § 112 Abs. 1 StPO darf die Untersuchungshaft gegen einen Beschuldigten angeordnet werden, wenn er der Tat dringend verdächtig ist und ein Haftgrund besteht. Sie darf
nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung außer Verhältnis steht.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. VERBINDUNG DER BESCHWERDEN
43. Da sich die beiden in Rede stehenden Individualbeschwerden auf zwei Verfahren beziehen, die denselben Gegenstand hatten, nämlich die Präventivhaft der Beschwerdeführer während des G8-Gipfels 2007 in Heiligendamm,
beschließt der Gerichtshof, die Individualbeschwerden zu verbinden (Artikel 42 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs).
II. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 5 ABSATZ 1 DER KONVENTION
44. Die Beschwerdeführer rügten, dass ihre Präventivhaft während des G8-Gipfels Artikel 5 Abs. 1 der Konvention verletzt habe, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:
„Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:
a) rechtmäßige Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht;
b) rechtmäßige Festnahme oder Freiheitsentziehung wegen Nichtbefolgung einer rechtmäßigen gerichtlichen Anordnung oder zur Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung;
c) rechtmäßige Festnahme oder Freiheitsentziehung zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde, wenn hinreichender Verdacht besteht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat, oder wenn begründeter Anlass zu
der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat oder an der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern; ..."
45. Die Regierung bestritt dieses Vorbringen.
A. Zulässigkeit
46. Die Regierung war der Auffassung, dass die Beschwerdeführer die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht dem Erfordernis aus Artikel 35 Abs. 1 der Konvention entsprechend erschöpft hätten. Sie hätten vor Erhebung der
Individualbeschwerden keine Klage auf Entschädigung für ihre angeblich unrechtmäßige Freiheitsentziehung nach Artikel 5 Abs. 5 der Konvention erhoben. Die Regierung räumte ein, dass die Beschwerdeführer hinsichtlich ihrer
Ingewahrsamnahme von allen verfügbaren Rechtsmitteln Gebrauch gemacht hätten. Ihr primäres Ziel - die Freilassung aus dem Gewahrsam - hätte sich nach ihrer Entlassung am 9. Juni 2007 erledigt. Danach hätten sie nur noch eine
Ersatzleistung durch den Staat erlangen können.
47. Die Beschwerdeführer bestritten diese Auffassung. Sie hätten sowohl in dem Verfahren über die Rechtmäßigkeit ihrer Ingewahrsamnahme vor den Rostocker Gerichten als auch gegenüber dem Bundesverfassungsgericht
vorgebracht, dass ihre Ingewahrsamnahme gegen ihre Grundrechte verstoßen habe. Ein zivilgerichtliches Entschädigungsverfahren wäre nicht umfassend genug gewesen und es wäre auch kein wirksames Rechtsmittel gewesen, um
eine zügige Entscheidung über die Rechtmäßigkeit ihrer Ingewahrsamnahme zu erwirken und im Falle der Unrechtmäßigkeit dieser Freiheitsentziehung ihre Freilassung durchzusetzen. Darüber hinaus hätte eine
Entschädigungsforderung keine Erfolgsaussichten gehabt, nachdem die Ingewahrsamnahme von den Rostocker Gerichten in dem in Rede stehenden Verfahren für rechtmäßig erachtet worden sei. Es sei kein einziger Fall bekannt, in
dem die Zivilgerichte in einem Entschädigungsverfahren einer früheren Entscheidung der Gerichte über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung einer Person nicht gefolgt wären. Unter diesen Umständen seien die
Beschwerdeführer nicht verpflichtet gewesen, zusätzlich zu dem Verfahren, mit dem sie die Rechtmäßigkeit ihrer Ingewahrsamnahme angefochten hätten, von einem weiteren Rechtsbehelf Gebrauch zu machen.
48. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Regel der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs nach Artikel 35 Abs. 1 der Konvention die Beschwerdeführer verpflichtet, zunächst von den ihnen nach ihrer
innerstaatlichen Rechtsordnung normalerweise zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfen Gebrauch zu machen, die solcher Art sind, dass den behaupteten Verletzungen abgeholfen werden kann (siehe u. a. Akdivar u . a. ./. Türkei, 16.
September 1996, Rdnr. 66, Urteils- und Entscheidungssammlung 1996-IV; und Aksoy ./. Türkei, 18. Dezember 1996, Rdnr. 62, Sammlung 1996-VI).
49. Nach der ständigen Rechtsprechung der Konventionsorgane ist eine Entschädigungsklage in einem Fall, in dem es um die Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung geht, kein Rechtsbehelf, der erschöpft werden müsste, denn das
Recht auf gerichtliche Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung und das Recht auf Erhalt einer Entschädigung für eine mit Artikel 5 nicht vereinbare Freiheitsentziehung sind zwei getrennte Rechte (siehe u. a. W?och v.
Poland, Individualbeschwerde Nr. 27785/95, Rdnr. 90, ECHR 2000-XI; Belchev ./. Bulgarien (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 39270/98, 6. Februar 2003; und Khadisov und Tsechoyev ./. Russland, Individualbeschwerde Nr.
21519/02, Rdnr. 151, 5. Februar 2009, mit weiteren Verweisen). In Artikel 5 Abs. 1 der Konvention geht es um das erstgenannte, und in Artikel 5 Abs. 5 um das letztgenannte Recht (Khadisov und Tsechoyev, a.a.O. Rndr. 151).
50. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerdeführer vor dem Gerichtshof gerügt haben, dass ihre Präventivhaft während des G8-Gipfels Artikel 5 Abs. 1 verletzt habe, und dass sie die Rechtmäßigkeit der Anordnung der
Ingewahrsamnahme zuvor vor allen zuständigen innerstaatlichen Gerichten gerügt hatten. Nach seiner Rechtsprechung haben sie im Hinblick auf ihre Rüge nach Artikel 5 Abs. 1 den innerstaatlichen Rechtsweg daher erschöpft. Die
Einrede der Regierung wegen Nichterschöpfung des Rechtswegs ist daher zurückzuweisen.
51. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass diese Beschwerde nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für
zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
a) Die Beschwerdeführer
52. Die Beschwerdeführer brachten vor, dass ihre Freiheitsentziehung im Zeitraum vom 3. bis 9. Juni 2007 gegen Artikel 5 Abs. 1 der Konvention verstoßen habe. Sie sei nach keinem der Buchstaben dieser Bestimmung gerechtfertigt gewesen.
53. Die Beschwerdeführer brachten insbesondere vor, dass ihre Freiheitsentziehung nicht nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c gerechtfertigt gewesen sei, weil dieser eine rein präventive Freiheitsentziehung nicht zulasse. Ihre
Freiheitsentziehung sei nicht im Zusammenhang mit einem Strafverfahren erfolgt, wie dies gemäß der Auslegung dieser Bestimmung in der Rechtsprechung des Gerichtshofs erforderlich sei (sie bezogen sich u. a. auf Jec(ius ./.
Litauen, Individualbeschwerde Nr. 34578/97, Rdnr. 50, ECHR 2000-IX). Dies werde dadurch belegt, dass ihre Freiheitsentziehung sich nicht auf § 112 StPO gestützt habe, der die Untersuchungshaft betreffe (siehe Rdnr. 42).
Vielmehr hätten die Gerichte ihre Freiheitsentziehung auf §§ 55 und 56 SOG M-V gestützt; diese regelten die Präventivhaft, die nicht mit einem Strafverfahren in Verbindung stehe.
54. Darüber hinaus brachten die Beschwerdeführer vor, ihre Freiheitsentziehung habe nicht darauf abgezielt, sie unverzüglich einem Richter vorzuführen und wegen potentieller künftiger Straftaten vor Gericht zu stellen, wie dies nach
Artikel 5 Abs. 3 i. V. m. Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c erforderlich sei. Auch habe nicht gemäß der zweiten Alternative von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c begründeter Anlass zu der Annahme bestanden, dass die Freiheitsentziehung
notwendig sei, um sie an der Begehung einer Straftat zu hindern. Ihre potentiellen Straftaten seien nicht, wie nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs erforderlich, mit einem angemessenen Maß an Spezifität insbesondere
hinsichtlich des Ortes und der Zeit ihrer Begehung und ihrer Opfer beschrieben worden (sie beriefen sich u. a. auf M. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 19359/04, Rdnr. 102, 17. Dezember 2009).
55. Die Beschwerdeführer brachten ferner vor, dass ihre Freiheitsentziehung auch nicht nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe b gerechtfertigt gewesen sei. Es habe keine gerichtliche Anordnung gegeben, die die Beschwerdeführer nicht
erfüllt hätten. Sie hätten auch keiner Verpflichtung unterlegen, die sie nicht erfüllt hätten. Selbst wenn sie die in dem Lieferwagen beschlagnahmten Transparente gezeigt hätten, hätten sie keine Straftat begangen.
56. Nach dem Vorbringen der Beschwerdeführer erfüllte ihre Freiheitsentziehung mangels „Verurteilung" auch nicht die Anforderungen von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a.
57. Darüber hinaus sei ihre Freiheitsentziehung nicht „rechtmäßig" gewesen, wie nach Artikel 5 Abs. 1 erforderlich. § 55 Abs. 1 SOG M-V, auf den ihre Freiheitsentziehung gestützt worden sei, sei nicht so konkret gewesen, dass sie
hätten vorhersehen können, dass sie wegen ihres Verhaltens mit einer Freiheitsentziehung zu rechnen hätten. Darüber hinaus sei die Bestimmung nicht korrekt angewandt worden. Es habe nichts darauf hingedeutet, dass die
Beschwerdeführer im Begriff gewesen seien, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort eine bestimmte Straftat zu begehen. Selbst wenn man, obwohl die Beschwerdeführer selbst von den Polizisten geschlagen worden seien,
annehme, dass der erste Beschwerde einem Polizeibeamten auf den Arm geschlagen und ihm ans Schienbein getreten habe, rechtfertige dies nicht die Schlussfolgerung, dass beide Beschwerdeführer dabei gewesen seien, eine weitere,
ganz andere Straftat, nämlich die gewaltsame Befreiung von Gefangenen, zu begehen. Aber selbst wenn die Beschwerdeführer die Transparente gezeigt hätten, wäre dies in jedem Fall nicht unrechtmäßig gewesen. Die Aufschriften
hätten nicht dazu aufgefordert, Gewalttaten zu begehen oder jemandem zu schaden. In diesem Zusammenhang betonten die Beschwerdeführer, ihre Rechtsanwältinnen hätten die verschiedenen möglichen Bedeutungen der Losungen
auf den Transparenten sowohl in der Anhörung vor dem Landgericht als auch in der Begründung ihrer sofortigen weiteren Beschwerde erläutert.
58. Darüber hinaus sei die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer auch nicht unerlässlich gewesen, um eine unmittelbar bevorstehende gewaltsame Gefangenenbefreiung oder einen Aufruf zur Gefangenenbefreiung zu verhindern.
Es habe nichts darauf hingedeutet, dass die Beschwerdeführer, die keine Werkzeuge bei sich gehabt hätten, die zur Befreiung von Gefangenen hätten dienen können, im Begriff gewesen seien, die Justizvollzugsanstalt Waldeck, eine
Hochsicherungseinrichtung, anzugreifen. Auf dem Parkplatz habe es keine Menschenmenge gegeben, die man hätte dazu anstiften können, gewaltsam Gefangene dieser Justizvollzugsanstalt zu befreien. Die Annahme, die
Beschwerdeführer könnten die Transparente bei einer nicht näher bestimmten Demonstration verwenden, an der eventuell gewaltbereite Personen teilnähmen, reiche für die nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 SOG M-V erforderliche
Schlussfolgerung, die Begehung einer Straftat stehe unmittelbar bevor, nicht aus. Die Beschwerdeführer brachten weiter vor, dass entgegen dem Vorbringen der Regierung keines der innerstaatlichen Gerichte die Ansicht geäußert
habe, die Beschwerdeführer selbst hätten beabsichtigt, gewaltsam Gefangene zu befreien. Die Gerichte hätten nur vorgebracht, es gebe Grund zu der Annahme, die Beschwerdeführer hätten beabsichtigt, andere dazu anzustiften.
59. Die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer sei auch willkürlich gewesen, denn sie sei zur Erreichung des verfolgten Ziels nicht notwendig gewesen. Die Polizei hätte den Beschwerdeführern einfach nach § 52 SOG M-V
verbieten können, das Gebiet zu betreten, in dem die G8-Demonstrationen stattgefunden hätten (siehe Rdnr. 39). Alternativ hätten sie auch nach § 61 SOG M-V die Transparente beschlagnahmen können (siehe Rdnr. 40). Den
Beschwerdeführern wäre dann bewusst gewesen, dass die Polizei die Losungen für unrechtmäßig halte. In Anbetracht der abschreckenden Wirkung einer solchen polizeilichen Maßnahme hätte entgegen dem Vorbringen der Regierung
nicht davon ausgegangen werden dürfen, dass die Beschwerdeführer ähnliche Transparente neu hergestellt und benutzt hätten. Da es während der gesamten Woche des G8-Gipfels zu keinen weiteren gewalttätigen Demonstrationen
gekommen sei, sei die sechstägige Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer unverhältnismäßig gewesen. Sie wiesen in diesem Zusammenhang weiter darauf hin, dass die sieben Weißrussen, die sich ebenfalls in dem Transporter
befunden hätten, als die Beschwerdeführer festgenommen worden seien, und denen die Transparente ebenfalls hätten gehören können, nicht in Gewahrsam genommen worden seien.
b) Die Regierung
60. Die Regierung vertrat die Auffassung, dass die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer mit Artikel 5 Abs. 1 der Konvention vereinbar gewesen sei. Sie sei nach der zweiten Alternative von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c als
Freiheitsentziehung wegen begründeten Anlasses zu der Annahme, dass es notwendig sei, die Beschwerdeführer an der Begehung einer Straftat zu hindern, gerechtfertigt gewesen.
61. Die Regierung widersprach dem Vorbringen der Beschwerdeführer, die Präventivhaft sei nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c der Konvention nur im Zusammenhang mit einem Strafverfahren zulässig, ihre Freiheitsentziehung sei
jedoch außerhalb eines Strafverfahrens erfolgt und die bis dahin begangenen Handlungen zur Vorbereitung der gewaltsamen Gefangenenbefreiung oder des Aufrufs dazu seien straffrei gewesen. Die Regierung brachte vor, dass die
Präventivhaft nach dem Wortlaut der zweiten Alternative von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c gerechtfertigt sei, wenn sie notwendig sei, um eine Personen an der Begehung einer konkreten und spezifischen Straftat zu hindern, die, wenn
sie begangen würde, zu einem Strafverfahren führen würde. Es sei nicht erforderlich, dass die betreffende Person bereits eine Straftat begangen habe; andernfalls wäre es überflüssig, neben der ersten Alternative von Artikel 5 Abs. 1
Buchstabe c noch eine zweite Alternative aufzuführen. Artikel 5 Abs. 3 der Konvention sei im Lichte von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c dahingehend auszulegen, dass eine unverzügliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der
Freiheitsentziehung erforderlich sei: Ein Strafverfahren sei nicht notwendig, da der Person keine Straftat zur Last gelegt werde.
62. Die Regierung brachte weiter vor, dass eine solche Präventivhaft in Deutschland erforderlich sei, da Vorbereitungshandlungen entgegen dem in anderen Vertragsstaaten der Konvention anwendbaren Strafrecht in Deutschland in
der Regel nicht strafbar seien. Dies diene dazu, potentielle Straftäter von ihren Plänen, eine Straftat zu begehen, abzubringen. Ohne die Möglichkeit, Personen präventiv in Gewahrsam zu nehmen, könnte der Staat daher seine positive
Verpflichtung, seine Bürger vor bevorstehenden Straftaten zu schützen - zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Transport von Castorbehältern oder bei Hooligans, die Vorbereitungen für eine geplante Schlägerei treffen - nicht erfüllen.
63. Unter Bezugnahme auf die Rechtssache Guzzardi ./. Italien (6. November 1980, Rdnr. 102, Band A Nr. 39) brachte die Regierung vor, dass die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c
gerechtfertigt gewesen sei. Bestimmte Tatsachen hätten die Schlussfolgerung gerechtfertigt, dass es notwendig gewesen sei, sie daran zu hindern, in der unmittelbaren Zukunft eine Straftat zu begehen. Die Beschwerdeführer seien
einen Tag nach gewalttätigen Ausschreitungen in der Innenstadt von Rostock gemeinsam mit sieben anderen Personen auf einem Parkplatz vor der Justizvollzugsanstalt Waldeck bei einem Transporter stehend angetroffen worden. Der
erste Beschwerdeführer habe bei der Identitätsfeststellung durch Polizeibeamte gewaltsam Widerstand geleistet. Die Polizei habe Transparente mit der Aufschrift „freedom for all prisoners" und „free all now" in dem Transporter
gefunden. Unter diesen Umständen hätten die Polizeibeamten davon ausgehen dürfen, dass die Beschwerdeführer im Begriff seien, sich den in Rostock stattfindenden Demonstrationen anzuschließen und die Transparente den
Demonstrationsteilnehmern, von denen einige gewalttätig gewesen seien, zu zeigen. Dies wäre einem Aufruf zur nach § 120 StGB strafbaren Gefangenenbefreiung gleichgekommen.
64. Die Regierung brachte vor, es könne als naheliegend angesehen werden, den Wortlaut des Transparents mit der Aufschrift „free all now" eher als an andere Demonstranten gerichteter Aufruf zur gewaltsamen Gefangenenbefreiung
zu verstehen als im Sinne eines Appells an die staatlichen Stellen, ihre Freilassung anzuordnen. Der erste Beschwerdeführer habe gewaltsam Widerstand gegen die Identitätsfeststellung geleistet und gegen den zweiten
Beschwerdeführer sei bereits wegen gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr im Zusammenhang mit dem Transport von Castor-Behältern ermittelt worden. Daher sei anzunehmen gewesen, dass die Beschwerdeführer beabsichtigt
hätten, den Gipfel mit gewaltsamen Mitteln zu stören und andere in Rostock anwesende gewalttätige Demonstranten dazu anzustiften, Personen, die in den in der Innenstadt errichteten Gefangenensammelstellen festgehalten oder
während einer Demonstration festgenommen worden seien, gewaltsam zu befreien. Die Beschwerdeführer hätten in dem Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten auch nicht dargelegt, dass die Aufschriften auf ihren Transparenten
eine andere Bedeutung gehabt hätten.
65. Die Regierung brachte ferner vor, dass die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer auch nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe b gerechtfertigt gewesen sei. Sie sei notwendig gewesen, um die Erfüllung einer gesetzlich
vorgeschriebenen Verpflichtung sicherzustellen. Im Hinblick auf die Umstände der Rechtssache sei es sicher, dass die Beschwerdeführer einer Meldeauflage, die sie verpflichtet hätte, sich in bestimmten zeitlichen Abständen bei
einem Polizeirevier an ihrem Wohnort zu melden, oder einem Platzverweis, der es ihnen untersagt hätte, ein bestimmtes Gebiet zu betreten, nicht nachgekommen wären. Die Beschwerdeführer seien mehrere Hundert Kilometer
gefahren, um zum Ort des G8-Gipfels zu kommen, und hätten bei der Identitätsfeststellung Widerstand geleistet. Somit hätten sie belegt, dass sie polizeiliche Aufforderungen nicht befolgen würden. Unter Berücksichtigung der
vorliegenden Ausnahmesituation sei es nicht erforderlich gewesen, zu warten, bis die Beschwerdeführer tatsächlich gegen eine solche Anordnung verstoßen hätten. Angesichts der Masse der anwesenden Demonstranten hätten die
Beschwerdeführer dann nicht mehr von der Begehung von Straftaten abgehalten werden können. Daher konnten die Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtung zur Befolgung einer solchen Anordnung und das Verhindern von
konkreten Straftaten nur durch ihre sofortige Ingewahrsamnahme sichergestellt werden.
66. Nach dem Vorbringen der Regierung war die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer nach der Anordnung des Gewahrsams durch das Amtsgericht auch nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a gerechtfertigt. Die Regierung brachte
vor, dass der in dieser Bestimmung enthaltene Begriff „Verurteilung" entgegen der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur strafrechtliche Verurteilungen, sondern auch richterliche Entscheidungen umfasse, mit denen
Präventivhaft angeordnet werde.
67. Die Regierung brachte weiter vor, die Freiheitsentziehung sei rechtmäßig gewesen und in der gesetzlich vorgeschriebenen Weise erfolgt. Sie habe sich auf § 55 Abs. 1 Nr. 2a SOG M-V gestützt. Die Freiheitsentziehung des
zweiten Beschwerdeführers, der 2002 wegen Verdachts des gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr festgenommen worden sei, habe sich zusätzlich auf § 55 Abs. 1 Nr. 2c SOG M-V gestützt.
68. Nach Auffassung der Regierung war der Gewahrsam der Beschwerdeführer auch verhältnismäßig und nicht willkürlich. Es hätten keine milderen Mittel zur Verfügung gestanden, um sie während der gesamten Dauer des
G8-Gipfels an der Gefangenenbefreiung bzw. der Anstiftung dazu zu hindern. Wie bereits dargelegt worden sei (siehe Rdnr. 65), wäre eine Meldeauflage, die sie verpflichtet hätte, sich in regelmäßigen Abständen bei einem
Polizeirevier außerhalb des G8-Bereichs zu melden, nicht ausreichend gewesen, um sie an der Begehung einer Straftat zu hindern. Aus denselben zuvor dargelegten Gründen wäre ein Platzverweis, mit dem es ihnen verboten worden
wäre, ein bestimmtes Gebiet - das des G8-Gipfels - zu betreten, zur Abwehr der Straftat nicht geeignet gewesen. Dasselbe gelte für die Beschlagnahme der Transparente, die die Beschwerdeführer neu hätten herstellen können.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
a) Zusammenfassung der einschlägigen Grundsätze
69. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass eine erschöpfende Liste zulässiger Gründe für die Freiheitsentziehung in Artikel 5 Abs. 1 Buchstaben a bis f enthalten ist und eine Freiheitsentziehung nur rechtmäßig sein kann, wenn
sie von einem dieser Gründe erfasst wird (siehe u. a. Guzzardi ./. Italien, 6. November 1980, Rdnr. 96, Serie A Band 39; Witold Litwa ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 26629/95, Rdnr. 49, ECHR 2000-III; und Saadi ./. Vereinigtes
Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 13229/03, Rdnr. 43, ECHR 2008-…).
70. Nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c kann die Freiheitsentziehung einer Person gerechtfertigt sein, „wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat zu hindern". Dieser
Grund für die Freiheitsentziehung bietet den Vertragsstaaten lediglich ein Mittel zur Verhütung einer, insbesondere hinsichtlich des Ortes und der Zeit ihrer Begehung und ihres Opfers bzw. ihrer Opfer (siehe M. ./. Germany,
Individualbeschwerde Nr. 19359/04, Rdnrn. 89 und 102, 17. Dezember 2009), konkreten und spezifischen Straftat (siehe Guzzardi, a.a.O., Rdnr. 102; Ciulla ./. Italien, 22. Februar 1989, Rdnr. 40, Serie A Band 148; und Shimovolos ./.
Russland, Individualbeschwerde Nr. 30194/09, Rdnr. 54, 21. June 2011 (noch nicht endgültig)). Dies ergibt sich sowohl aus dem Gebrauch des Singulars („einer Straftat") als auch aus dem Ziel von Artikel 5, nämlich sicherzustellen,
dass niemandem willkürlich die Freiheit entzogen wird (siehe Guzzardi, a.a.O.; und M. ./. Deutschland, a.a.O., Rdnr. 89).
71. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs muss eine Freiheitsentziehung, mit der eine Person an der Begehung einer Straftat gehindert werden soll, zusätzlich „zum Zweck der Vorführung vor die zuständige
Gerichtsbehörde" erfolgen; diese Anforderung bezieht sich auf jede Kategorie der Freiheitsentziehung im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c (siehe Lawless ./. Irland (Nr. 3), 1. Juli 1961, S. 51-53, Rdnr. 14, Serie A Band 3, und,
sinngemäß, Jec(ius ./. Litauen, Individualbeschwerde Nr. 34578/97, Rdnrn. 50-51, ECHR 2000-IX, und Engel u. a. ./. die Niederlande, 8. Juni 1976, Rdnr. 69, Serie A Band 22).
72. Daher ist die Freiheitsentziehung nach Buchstabe c nur in Verbindung mit einem Strafverfahren zulässig (siehe Jec(ius, a.a.O., Rdnr. 50). Die Untersuchungshaft fällt unter diese Bestimmung (siehe Ciualla, a.a.O., Rdnrn. 38-40).
Dies ergibt sich aus Wortlaut, der zusammen mit Buchstabe a sowie mit Absatz 3 zu betrachten ist und mit diesen zusammen ein Ganzes bildet (siehe u.a. Ciualla, a.a.O., Rdnr. 38; und E. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr.
77909/01, Rdnr. 35, 24. März 2005). Nach Artikel 5 Abs. 32 muss jede Person, die nach Absatz 1 Buchstabe c von Festnahme oder Freiheitsentzug betroffen ist, unverzüglich einem Richter vorgeführt werden - unter allen in Absatz 1
Buchstabe c erfassten Umständen - und hat Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist (siehe auch Lawless, a.a.O., S. 51-53; Rdnr. 14).
73. Darüber hinaus ist die Freiheitsentziehung nach der zweiten Alternative von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe b zulässig zur „Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung". Diese Bestimmung erfasst die Fälle, in denen es
gesetzlich zulässig ist, einer Person die Freiheit zu entziehen, um sie dazu zu zwingen, eine ihr bereits obliegende tatsächliche und konkrete Verpflichtung zu erfüllen, der sie bisher noch nicht nachgekommen ist (Engel und andere,
a.a.O., Rdnr. 69; Guzzardi, a.a.O., Rdnr. 101; Ciulla, a.a.O., Rdnr. 36; und E., a.a.O., Rdnr. 37). Festnahme und Freiheitsentzug müssen erfolgen, um die Erfüllung der Verpflichtung zu erzwingen, und dürfen keinen Strafcharakter
aufweisen (siehe Gatt ./. Malta, Individualbeschwerde Nr. 28221/08, Rdnr. 46, ECHR 2010-…). Sobald die entsprechende Verpflichtung erfüllt wurde, entfällt die Grundlage für die Freiheitsentziehung nach Artikel 5 Abs. 1
Buchstabe b (Vasileva ./. Dänemark, Individualbeschwerde Nr. 52792/99, Rdnr. 36, 25. September 2003; und E., a.a.O., Rdnr. 37). Diese Bestimmung rechtfertigt beispielsweise nicht die administrative Freiheitsentziehung, mit der
eine Person gezwungen werden soll, ihre allgemeine Verpflichtung zur Befolgung der Gesetze zu erfüllen (Engel u. a., a.a.O, Rdnr. 69). Schließlich muss zwischen der Bedeutung, die der Sicherstellung der sofortigen Erfüllung der
fraglichen Verpflichtung in einer demokratischen Gesellschaft zukommt, und der Bedeutung des Rechts auf Freiheit ein Ausgleich herbeigeführt werden (Vasileva, a.a.O, Rdnr. 37; und E., a.a.O., Rdnr.37).
74. Im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a ist der Begriff „Verurteilung" (englisch: „conviction") unter Berücksichtigung des französischen Textes („condamnation") so zu verstehen, dass er sowohl eine Schuldfeststellung
bezeichnet, nachdem das Vorliegen einer Straftat in der gesetzlich vorgesehenen Weise festgestellt wurde (s. Guzzardi, a.a.O., Rdnr. 100), als auch die Auferlegung einer Strafe oder einer anderen freiheitsentziehenden Maßnahme
(siehe Van Droogenbroeck ./. Belgien, 24. Juni 1982, Rdnr. 35, Serie A Band 50; und M. ./. Deutschland, a.a.O., Rdnr. 87).
b) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache
75. Der Gerichtshof hat zunächst darüber zu entscheiden, ob die Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführer nach § 55 Abs.1 Nr. 2 SOG M-V, mit der diese an der Begehung einer Straftat gehindert werden sollten, von einem der in
Artikel 5 Abs. 1 Buchstaben a bis f aufgeführten Gründe für die Freiheitsentziehung erfasst wird.
76. Der Gerichtshof weist auf das Vorbringen der Regierung hin, die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer sei zunächst nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c gerechtfertigt gewesen. Darüber hinaus stellt er fest, dass die
Beschwerdeführer dadurch, dass sie im Besitz zusammengerollter Transparente mit den Aufschriften „freedom for all prisoners" und „free all now" waren, noch keine Straftat begangen hatten und ihnen danach niemals eine Straftat
des Aufrufs zur gewaltsamen Gefangenenbefreiung zur Last gelegt wurde. Dies ist zwischen den Parteien unstreitig. Ihre Freiheitsentziehung ist daher nach der zweiten Alternative von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c -
Freiheitsentziehung wegen begründeten Anlasses zu der Annahme, dass es notwendig sei, die Beschwerdeführer an der Begehung einer Straftat zu hindern - zu prüfen.
77. Bei der Entscheidung darüber, ob die Straftat, an deren Begehung die Behörden die Beschwerdeführer zu hindern versuchten, als hinreichend konkret und spezifisch angesehen werden kann, wie dies nach der Rechtsprechung des
Gerichtshofs insbesondere hinsichtlich des Ortes und der Zeit ihrer Begehung sowie ihres Opfers bzw. ihrer Opfer erforderlich ist (siehe Rdnr. 70), stellt der Gerichthof fest, dass die innerstaatlichen Gerichte hinsichtlich der
spezifischen Straftat, die zu begehen die Beschwerdeführer im Begriff waren, anscheinend unterschiedlicher Auffassung waren. Das Amtsgericht Rostock und die Landgerichte waren anscheinend der Ansicht, dass die
Beschwerdeführer mit Hilfe der beschlagnahmten Transparente beabsichtigt hatten, andere dazu anstiften, Gefangene der Justizvollzugsanstalt Waldeck gewaltsam zu befreien (siehe Rdnrn. 14 und 17). Dies wurde daraus geschlossen,
dass sich die Beschwerdeführer auf dem Parkplatz vor dieser Justizvollzugsanstalt aufhielten, wo sich jedoch außer den sieben Insassen des Transporters sonst niemand aufhielt (siehe Rdnr. 12). Im Gegensatz dazu war das
Oberlandesgericht Rostock der Auffassung, die Beschwerdeführer hätten nach Rostock fahren, die Transparente bei den dort stattfindenden teilweise gewalttätigen Demonstrationen zeigen und somit die in Rostock anwesende Menge
zur gewaltsamen Gefangenenbefreiung anstiften wollen (siehe Rdnr. 19).
78. Zusätzlich kommt der Gerichtshof bei der Entscheidung darüber, ob die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer „wegen begründete[n] Anlasses zu der Annahme, dass es notwendig" sei, sie daran zu hindern, andere zur
gewaltsamen Gefangenenbefreiung anzustiften, nicht umhin, festzustellen, dass den Beschwerdeführern fünfeinhalb Tage lang, also für einen beträchtlichen Zeitraum, zu präventiven Zwecken die Freiheit entzogen war. Darüber
hinaus konnten, wie das Oberlandesgericht ebenfalls eingeräumt hat (siehe Rdnr. 22), die Aufschriften auf den Transparenten unterschiedlich interpretiert werden. Die Beschwerdeführer, die in dem Verfahren anwaltlich vertreten
waren, hatten erläutert, dass die Losungen sich an die Polizei und die Behörden gerichtet hätten, die dadurch aufgefordert werden sollten, die zahlreichen Ingewahrsamnahmen von Demonstranten zu beenden, und nicht dazu dienen
sollten, andere zur gewaltsamen Gefangenenbefreiung aufzufordern. Es ist auch unstreitig, dass die Beschwerdeführer selbst keine Werkzeuge mit sich führten, die zu einer gewaltsamen Gefangenenbefreiung hätten dienen können.
Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof nicht überzeugt, dass ihre fortdauernde Freiheitsentziehung wegen begründeten Anlasses zu der Annahme, es sei notwendig, die Beschwerdeführer an der Begehung einer hinreichend
konkreten und spezifischen Straftat zu hindern, als notwendig angesehen werden kann. Der Gerichtshof ist auch deswegen nicht davon überzeugt, dass es notwendig war, den Beschwerdeführern die Freiheit zu entziehen, da es in
jedem Fall ausgereicht hätte, die fraglichen Transparente zu beschlagnahmen, um die Beschwerdeführer auf mögliche negative Folgen hinzuweisen und sie daran zu hindern, andere - fahrlässig - zur Gefangenenbefreiung anzustiften.
79. Der Gerichtshof nimmt darüber hinaus auf seine ständige Rechtsprechung Bezug, nach der die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer nur dann nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c zu rechtfertigen wäre, wenn sie den Zweck
verfolgt hätte, sie im Verlauf ihrer Untersuchungshaft der zuständigen Gerichtsbehörde vorzuführen, und darauf ausgerichtet gewesen wäre, sie einem Strafverfahren zuzuführen (siehe Rdnrn. 71 - 72). In Anbetracht seiner bereits
getroffenen Feststellung, dass die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache begründeterweise nicht als notwendig angesehen werden konnte, hält der Gerichtshof es jedoch nicht für
erforderlich, auf die detaillierten Vorbringen der Parteien zu diesem Punkt, insbesondere die Argumente der Regierung, mit denen für eine Überprüfung der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs plädiert wird, einzugehen.
80. Demnach war die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer nicht nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c gerechtfertigt.
81. Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass die Regierung vorgebracht hat, die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer sei auch nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe b „zur Erzwingung einer gesetzlichen Verpflichtung" gerechtfertigt
gewesen. Die Beschwerdeführer wären weder eine Meldeauflage, die sie verpflichtet hätte, sich in bestimmten zeitlichen Abständen bei einem Polizeirevier an ihrem jeweiligen Wohnort, noch einem Platzverweis, der ihnen verboten
hätte, das Gebiet zu betreten, an dem die Demonstrationen anlässlich des G8-Gipfel stattgefunden hätten, nachgekommen. Es sei daher gerechtfertigt gewesen, durch ihre Ingewahrsamnahme sicherzustellen, dass sie eine derartige
Anordnung einhielten. Diesbezüglich kommt der Gerichtshof nicht umhin, festzustellen, dass die Polizei den Beschwerdeführern tatsächlich weder die Anordnung erteilte, sich in regelmäßigen Abständen bei einem Polizeirevier an
ihrem Wohnort zu melden, noch ihnen verbot, das Gebiet zu betreten, in dem die G8-Demonstrationen stattfanden. Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Beschwerdeführer im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe b
der „gesetzlichen Verpflichtung" unterlegen hätten, sich bei einem Polizeirevier zu melden oder das Gebiet der G8-Demonstrationen nicht zu betreten, und diese Verpflichtung nicht erfüllt hätten.
82. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Regierung weiter vorbrachte, den Beschwerdeführer sei nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe b die Freiheit entzogen worden, um sicherzustellen, dass sie ihrer Verpflichtung nachkommen würden,
eine bestimmte Straftat - die Anstiftung anderer Personen zur Gefangenenbefreiung - nicht zu begehen. Diesbezüglich nimmt der Gerichtshof auf seine bereits erwähnte Rechtsprechung Bezug, die besagt, dass die „gesetzliche
Verpflichtung" im Sinne der genannten Bestimmung real und spezifisch und der betreffenden Person bereits auferlegt sein muss und dass diese Person die Verpflichtung zum Zeitpunkt des Freiheitsentzugs noch nicht erfüllt haben darf
(siehe Rdnr. 73). Er stellt fest, dass die Beschwerdeführer nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 SOG M-V in Gewahrsam genommen wurden, der die Ingewahrsamnahme erlaubt, wenn „dies unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende
Begehung […] einer Straftat", wie beispielsweise einer Straftat nach § 120 StGB, „zu verhindern" (siehe Rdnr. 37). Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Verpflichtung, in unmittelbarer Zukunft keine Straftat zu begehen, im
Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht als hinreichend konkret und spezifisch angesehen werden kann, um unter Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe b zu fallen, zumindest nicht, solange keine Anordnung spezifischer Maßnahmen
erging und dieser nicht Folge geleistet wurde. Er stellt in diesem Zusammenhang erneut fest, dass eine weite Auslegung von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe b Auswirkungen hätte, die mit dem Gedanken der Rechtsstaatlichkeit nicht
vereinbar wären, der die gesamte Konvention geprägt hat (siehe Engel u. a., a.a. O., Rdnr. 69). Darüber hinaus kann nicht vorgebracht werden, dass die Beschwerdeführer ihrer Verpflichtung, keine derartige Straftat zu begehen, zu
einem früheren Zeitpunkt nicht nachgekommen wären. Die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer war daher auch nicht von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe b erfasst.
83. Der Gerichtshof nimmt weiter zur Kenntnis, dass die Regierung vorbrachte, die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer sei nach dem Beschluss des Amtsgerichts, mit dem es den Gewahrsam der Beschwerdeführer nach § 55
Abs. 1 Nr. 2 SOG M-V anordnete, auch nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a gerechtfertigt gewesen. Sie brachte vor, dass diese Bestimmung ihrem Wortlaut nach auch gerichtliche Entscheidungen, mit denen Präventivhaft angeordnet
werde, umfasse. Der Gerichtshof nimmt jedoch auf seine ständige Rechtsprechung Bezug, nach der eine „Verurteilung" unter Berücksichtigung des französischen Textes („condamnation") so zu verstehen ist, dass sie die Feststellung
einer Schuld für eine Straftat beinhaltet (siehe Rdnr. 74). Er stellt fest, dass die innerstaatlichen Gerichte die Beschwerdeführer in dem in Rede stehenden Verfahren keiner Straftat schuldig gesprochen haben. Vielmehr ordneten sie
ihre Freiheitsentziehung an, um sie daran zu hindern, in der Zukunft eine Straftat zu begehen. Somit fiel ihre Freiheitsentziehung nicht unter Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a.
84. Der Gerichtshof ist der Auffassung - und dies wird von den Parteien nicht bestritten - dass die Präventivhaft der Beschwerdeführer auch nach keinem anderen der Buchstaben von Artikel 5 Abs. 1 gerechtfertigt war.
85. Der Gerichtshof nimmt weiter zur Kenntnis, dass die Regierung vorbrachte, ohne die Möglichkeit, Personen präventiv in Gewahrsam zu nehmen, könnte der Staat seine positive Verpflichtung, seine Bürger vor bevorstehenden
Straftaten zu schützen, nicht erfüllen. In der vorliegen Rechtssache ist jedoch, auch wenn man die allgemeine Situation im Vorfeld und während des G8-Gipfels berücksichtigt, nicht hinreichend dargelegt worden, dass eine
Gefangenenbefreiung unmittelbar bevorgestanden habe. Daher konnte die Begehung dieser Straftat einen Eingriff in das Freiheitsrecht nicht rechtfertigten, zumal weniger einschneidende Maßnahmen hätten ergriffen werden können
(siehe Rdnr. 78). Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Konvention die staatlichen Behörden in jedem Fall verpflichtet, im Rahmen ihrer Befugnisse angemessene Vorkehrungen zu treffen, um Straftaten vorzubeugen, von
denen sie Kenntnis haben oder haben sollten. Sie erlaubt es einem Staat jedoch nicht, Einzelpersonen vor Straftaten einer Person durch Maßnahmen zu schützen, die gegen die Konventionsrechte dieser Person, insbesondere gegen das
in Artikel 5 Abs. 1 garantierte Recht auf Freiheit, verstoßen, um das es im Fall der Beschwerdeführer geht (siehe J. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 30060/04, Rdnrn. 37-38, 14. April 2011 mit weiteren Verweisen).
86. Folglich ist Artikel 5 Abs.1 der Konvention verletzt worden.
III. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 5 ABS. 5 DER KONVENTION
87. Gestützt auf Artikel 5 Abs. 5 der Konvention trug der erste Beschwerdeführer ferner vor, dass eine Klage auf Entschädigung für seine rechtswidrige Freiheitsentziehung keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte.
88. Der Gerichtshof hat die von dem ersten Beschwerdeführer vorgebrachte Rüge geprüft. Unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen stellt der Gerichtshof jedoch fest, dass die Rüge, selbst unter der
Annahme, dass der innerstaatliche Rechtsweg vollständig erschöpft wurde, keine Verletzung von Artikel 5 Abs. 5 erkennen lässt.
89. Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und Abs. 4 der Konvention als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen ist.
IV. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 10 UND 11 DER KONVENTION
90. Die Beschwerdeführer brachten darüber hinaus vor, dass ihre Freiheitsentziehung in ihr nach Artikel 10 der Konvention garantiertes Recht auf freie Meinungsäußerung sowie in ihr nach Artikel 11 der Konvention gewährleistetes
Recht auf Versammlungsfreiheit unverhältnismäßig eingegriffen habe, weil sie sie daran gehindert habe, an den Demonstrationen während des G8-Gipfels teilzunehmen und dort ihre Meinung zu äußern.
91. Artikel 10 und Artikel 11 der Konvention, soweit maßgeblich, lauten:
Artikel 10
„1. Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen
und weiterzugeben. ...
2. Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer
demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der
Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung."
Artikel 11
„1. Jede Person hat das Recht, sich frei und friedlich mit anderen zu versammeln und sich frei mit anderen zusammenzuschließen; …
2. Die Ausübung dieser Rechte darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale oder öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung
der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer." ..."
92. Die Regierung bestritt dieses Vorbringen.
A. Zulässigkeit
93. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht offensichtlich unbegründet im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a der Konvention ist. Unter Hinweis auf seine vorherigen Feststellungen (siehe Rdnrn. 48-50), stellt er darüber
hinaus fest, dass sie auch nicht aus anderen Gründen unzulässig ist. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
a) Die Beschwerdeführer
94. Die Beschwerdeführer brachten vor, dass ihre Ingewahrsamnahme sowohl ihr Recht auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 10 der Konvention als auch ihr Recht auf Versammlungsfreiheit nach Artikel 11 der Konvention
verletzt habe. Der mit ihrer Freiheitsentziehung verbundene Eingriff in diese Rechte sei nicht gerechtfertigt gewesen. Er sei nicht „gesetzlich vorgesehen" gewesen und habe aus den in Bezug auf Artikel 5 Abs. 1 dargelegten Gründen
kein rechtmäßiges Ziel verfolgt (siehe Rdnr. 57). Insbesondere sei unklar gewesen, ob, wann und wo die Beschwerdeführer die Transparente „freedom for prisoners" und „free all now" zeigen würden. Darüber hinaus wäre die
Zurschaustellung der Transparente nach dem Strafgesetzbuch auch nicht strafbar gewesen. Die Losungen hätten nicht als Anstiftung zu einer sehr ungewöhnlichen Straftat verstanden werden dürfen, sondern hätten eine andere,
näherliegende Bedeutung gehabt. Da mehr als 1000 Demonstranten im Zusammenhang mit dem G8-Gipfel in Gewahrsam genommen worden seien, aber nur 100 Ingewahrsamnahmen gerichtlich gebilligt worden seien, habe es mehr
als genug Grund gegeben, die Freiheitsentziehungen zu kritisieren, die im Zusammenhang mit dem Gipfel stattgefunden hätten.
95. Die Beschwerdeführer brachten weiter vor, ihre Ingewahrsamnahme sei unverhältnismäßig und daher im Sinne von Artikel 10 Abs. 2 und Artikel 11 Abs. 2 nicht „notwendig" gewesen. Das öffentliche Interesse an der
Verhinderung der ungewissen Begehung einer Straftat zu einer unbestimmten Zeit und an einem unbestimmten Ort habe gegenüber ihrem Interesse an der Bekundung ihres Protests gegen die zahlreichen unrechtmäßigen
Freiheitsentziehungen im Verlauf des G8-Gipfels und an der Teilnahme an Protesten gegen diesen Gipfel nicht überwogen. Bei den Losungen „freedom for all prisoners" und „free all now" handele es sich um bekannte und übliche,
von linksgerichteten Personen in Bezug auf derartige Freiheitsentziehungen verwendete Schlagwörter, die nicht als Aufruf zur gewaltsamen Gefangenenbefreiung hätten interpretiert werden dürfen. Unter den gegebenen Umständen
habe ihre Freiheitsentziehung eine offene Diskussion über Belange des öffentlichen Interesses verhindert.
b) Die Regierung
96. Die Regierung brachte vor, dass weder Artikel 10 noch Artikel 11 der Konvention verletzt worden sei. Der Eingriff in die Rechte der Beschwerdeführer auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit sei gerechtfertigt
gewesen. Er habe sich auf § 55 Abs. 1 Nr. 2a SOG M-V gestützt, eine Bestimmung, die hinreichend konkret gewesen und folglich im Hinblick auf ihre Anwendung auf die Beschwerdeführer vorhersehbar gewesen sei. Er habe
rechtmäßige Ziele verfolgt, da die Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführer im Interesse der öffentlichen Sicherheit und zur Verhütung von Straftaten erfolgt sei.
97. Die Regierung brachte weiter vor, der Eingriff sei im Sinne von Artikel 10 Abs. 2 und Artikel 11 Abs. 2 „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" gewesen. Sie betonte, dass zur Erreichung der genannten rechtmäßigen
Ziele keine weniger einschneidenden Maßnahmen zur Verfügung gestanden hätten. Insbesondere hätte es nicht ausgereicht, die fraglichen Transparente zu beschlagnahmen, da die Beschwerdeführer jederzeit neue, vergleichbare
Transparente hätten herstellen und diese während der Demonstrationen in Rostock sofort hätten verwenden können. Die Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführer sei auch verhältnismäßig gewesen. Am Tag zuvor habe es in Rostock
gewalttätige Ausschreitungen gegeben. Die Beschwerdeführer, die sich gewaltbereit gezeigt hätten, seien auf dem Weg nach Rostock gewesen, um an den Demonstrationen teilzunehmen. Die Befürchtung, die Transparente der
Beschwerdeführer hätten andere gewalttätige Demonstranten dazu anstiften können, in den Gefangenensammelstellen in Rostock festgehaltene Gefangene gewaltsam zu befreien, sei begründet gewesen. Unter diesen Umständen habe
das Interesse der Öffentlichkeit an der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verhütung von Straftaten gegenüber dem Interesse der Beschwerdeführer an der Teilnahme an den Demonstrationen überwogen.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
a) Anwendbarer Konventionsartikel
98. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass der Schutz persönlicher Meinungen, der durch Artikel 10 gewährleistet wird, eines der Ziele des in Artikel 11 der Konvention verankerten Rechts auf Versammlungsfreiheit ist (siehe
Ezelin ./. Frankreich, 26. April 1991, Rdnr. 37, Serie A Band 202; Djavit An ./. Türkei, Individualbeschwerde Nr. 20652/92, Rdnr. 39, ECHR 2003-III; Women On Waves u. a. ./. Portugal, Individualbeschwerde Nr. 31276/05, Rdnr.
28, ECHR 2009-. (Auszüge); Barraco ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 31684/05, Rdnr. 27, ECHR 2009-...; und Palomo Sánchez u. a. ./. Spanien [GK], Individualbeschwerden Nrn. 28955/06, 28957/06, 28959/06 und
28964/06, Rdnr. 52, 12. September 2011).
99. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass er in Fällen, in denen die Beschwerdeführer rügten, dass sie daran gehindert worden seien, an Versammlungen teilzunehmen oder bei Versammlungen ihre Ansichten zu äußern, oder dass sie
wegen eines solchen Verhaltens bestraft worden seien, bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Recht auf Meinungsfreiheit und dem Recht auf Versammlungsfreiheit mehrere Faktoren berücksichtigt hat. In Abhängigkeit
von den Umständen der Rechtssache ist Artikel 11 oft als das lex specialis angesehen worden, das bei Versammlungen Vorrang gegenüber Artikel 10 hat (siehe beispielsweise Ezelin, a.a.O., Rdnr. 35, betreffend eine dem
Beschwerdeführer, einem Juristen, nach der Teilnahme an einer Demonstration gegen zwei Gerichtsentscheidungen auferlegte disziplinarische Sanktion; Osmani u. a. ./. „die frühere jugoslawische Republik Mazedonien" (Entsch.),
Individualbeschwerde Nr. 50841/99, ECHR 2001-X, betreffend die Verurteilung des Beschwerdeführers, eines gewählten Amtsträgers, wegen Aufstachelung zu nationalem Hass durch eine Rede, die er bei einer von ihm organisierten
Versammlung gehalten hatte; Djavit An, a.a.O., Rdnr. 39, betreffend die Weigerung der türkischen und türkisch-zypriotischen Behörden, dem Beschwerdeführer die Überquerung der „Grünen Linie" zu erlauben, um im südlichen Teil
Zyperns an bikommunalen Treffen teilzunehmen; Galystan ./. Armenien, Individualbeschwerde Nr. 26986/03, Rdnr. 95, 15. November 2007, betreffend eine dreitägige Freiheitsentziehung wegen der Teilnahme an einer
Demonstration; und Barraco, a.a.O., Rdnr. 26, betreffend die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen der Teilnahme an einer verkehrsbehindernden Aktion, die im Rahmen eines gewerkschaftlichen Protesttages durchgeführt wurde).
100. In anderen Fällen ist der Gerichtshof in Anbetracht der jeweiligen besonderen Umstände und der Art und Weise der Formulierung der Rügen zu der Auffassung gelangt, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung im Mittelpunkt
der Rügen der jeweiligen Beschwerdeführer lag, und hat deswegen den Fall nur nach Artikel 10 geprüft (siehe z. B. Karademirci u. a. ./. Türkei, Individualbeschwerden Nrn. 37096 und 37101/97, Rdnr. 26, ECHR 2005-I, betreffend
eine strafrechtliche Sanktion wegen des Verlesens einer Erklärung während einer Versammlung vor einer Schule, und Y?lmaz and K?l?ç ./. Türkei, Individualbeschwerde Nr. 68514/01, Rdnr. 33, 17. Juli 2008, betreffend die
strafrechtliche Verurteilung der Beschwerdeführer wegen der Teilnahme an Demonstrationen zur Unterstützung von Abdullah Öcalan).
101. Der Gerichtshof stellt fest, dass sich die Vorbringen der Parteien vor dem Gerichtshof in dem vorliegenden Fall zugleich auf Artikel 10 und Artikel 11 bezogen. Er stellt fest, dass die Beschwerdeführer im Wesentlichen rügten,
dass sie wegen ihrer Freiheitsentziehung während der gesamten Dauer des G8-Gipfels nicht in der Lage gewesen seien, ihre Ansichten zusammen mit den anderen Demonstranten zu äußern, die zusammengekommen seien, um gegen
den Gipfel zu demonstrieren. Sie protestierten auch gegen das Verbot, ihre Meinung zur Verhaftung von Demonstranten, wie sie auf ihren Transparenten zum Ausdruck gekommen sei, zu äußern. Der Schwerpunkt ihrer Rügen liegt
jedoch auf dem Recht auf Versammlungsfreiheit, da sie daran gehindert wurden, an den Demonstrationen teilzunehmen und ihre Ansichten zu äußern. Der Gerichtshof wird diesen Teil der Beschwerde daher nur nach Artikel 11
prüfen. Er stellt jedoch fest, dass sich die Frage der freien Meinungsäußerung in dem vorliegenden Fall nicht ganz von der Frage der Versammlungsfreiheit trennen lässt. Ungeachtet seiner autonomen Rolle und seines besonderen
Anwendungsbereichs muss Artikel 11 also auch im Lichte von Artikel 10 betrachtet werden (siehe, sinngemäß, Ezelin, a.a.O. Rdnr. 37).
b) Gab es einen Eingriff in das Recht, sich frei und friedlich mit anderen zu versammeln?
102. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Beschwerdeführer aufgrund ihrer durch die innerstaatlichen Gerichte für die gesamte Dauer des G8-Gipfels angeordneten Ingewahrsamnahme daran gehindert waren, an
Demonstrationen gegen diesen Gipfel teilzunehmen.
103. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass Artikel 11 der Konvention nur das Recht auf „friedliche Versammlung" schützt. Dieser Begriff deckt keine Demonstration ab, bei der die Organisatoren und Teilnehmer gewalttätige
Absichten haben (siehe Stankov und die Vereinigte Mazedonische Organisation Ilinden ./. Bulgarien, Individualbeschwerden Nrn. 29211/95 und 29225/95, Rdnr. 77, ECHR 2001-IX; und Galstyan, a.a.O., Rdnr. 101). Jedoch kann die
Möglichkeit, dass gewalttätige Extremisten, die nicht zu den Organisatoren der Demonstration gehören, sich einer Demonstration anschließen, für sich genommen nicht zur Versagung dieses Rechts führen. Auch wenn die konkrete
Gefahr besteht, dass eine öffentliche Demonstration aufgrund von Entwicklungen, die außerhalb der Kontrolle der Organisatoren dieser Demonstration liegen, zu Ausschreitungen führt, liegt eine solche Demonstration für sich
genommen nicht außerhalb des Anwendungsbereichs von Artikel 11 Abs. 1; vielmehr muss jede Einschränkung, der eine solche Versammlung unterworfen wird, mit den Bestimmungen nach Absatz 2 dieser Bestimmung im Einklang
stehen (siehe Christians against Racism and Fascism ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 8440/78, Kommissionsentscheidung vom 16. Juli 1980, Decisions and Reports (DR) 21, S. 148-149; und, sinngemäß, Ezelin,
a.a.O., Rdnr. 41).
104. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerdeführer zur Zeit ihrer Festnahme die Absicht hatten, an künftigen Demonstrationen gegen den G8-Gipfel teilzunehmen. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die Organisatoren der
Demonstrationen, an denen die Beschwerdeführer teilnehmen wollten, gewalttätige Absichten hatten. Wie oben dargelegt worden ist (Rdnrn. 8 und 103), führt die Tatsache, dass die Polizei damit rechnete, dass sich auch Extremisten
mit gewalttätigen Absichten den ansonsten friedlichen Demonstrationen anschließen würden, nicht dazu, dass diese Demonstration den Schutz von Artikel 11 Abs. 1 verlieren würde.
105. Hinsichtlich der Frage, mit welchen Absichten sich die Beschwerdeführer den Demonstrationen anschließen wollten, ist der Gerichtshof nicht davon überzeugt, dass aufgezeigt worden ist, dass die Beschwerdeführer mit
gewalttätigen Absichten an den G8-Demonstrationen teilnehmen wollten. In diesem Zusammenhang stellt er zunächst fest, dass die innerstaatlichen Gerichte nicht der Auffassung waren, dass die Beschwerdeführer deswegen, weil sie
Transparente mit den Aufschriften „freedom for all prisoners" und „free all now" mit sich führten, die Absicht hatten, selbst Gefangene gewaltsam zu befreien. Er stellt auch fest, dass bei den Beschwerdeführern keine Waffen
gefunden wurden. Darüber hinaus nimmt er zur Kenntnis, dass das Oberlandesgericht festgestellt hat, dass eine gewaltbereite Menge durch die Transparente zur gewaltsamen Gefangenenbefreiung angestiftet werden könnte, stellt aber
außerdem fest, dass dasselbe Gericht einräumte, dass die Losungen auf den in Rede stehenden Transparenten unterschiedlich interpretiert werden könnten (siehe Rdrn. 19, 21 und 22). Er berücksichtigt auch die von den anwaltlich
vertretenen Beschwerdeführern vor den innerstaatlichen Gerichten abgegebene Erklärung. Sie hatten erläutert, dass die Losungen sich an die Polizei und die Behörden gerichtet hätten, die dadurch aufgefordert werden sollten, die
zahlreichen Ingewahrsamnahmen von Demonstranten zu beenden, und nicht dazu dienen sollten, andere zur gewaltsamen Gefangenenbefreiung aufzufordern (siehe Rdnrn. 18 und 25). Nach Auffassung des Gerichts ist die Aussage der
Beschwerdeführer zur Bedeutung der Aufschriften auf den Transparenten, die selbst eindeutig nicht offen zu Gewalt aufriefen, glaubhaft. Daher ist der Gerichtshof auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass das innerstaatliche
Gericht feststellte, die Aufschriften seien mehrdeutig und könnten unterschiedlich ausgelegt werden, der Auffassung, das nicht erwiesen worden ist, dass die Beschwerdeführer andere absichtlich zu Gewalt auffordern wollten. Nach
Ansicht des Gerichtshofs war eine derartige Schlussfolgerung auch nicht deshalb zulässig, weil davon ausgegangen wurde, dass einer der Beschwerdeführer bei der Feststellung seiner Personalien durch die Polizei gewaltsam
Widerstand leistete und daher selbst als gewalttätig angesehen wurde - unter anderen Umständen und in einer anderen Weise als durch das Zurschaustellen von Transparenten bei einer Demonstration. Darüber hinaus stellt er in diesem
Zusammenhang fest, dass nicht aufgezeigt worden ist, dass einer der Beschwerdeführer wegen gewalttätigen Verhaltens bei Demonstrationen oder in vergleichbaren Situationen vorbestraft wäre.
106. Die Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer stellte daher nach Artikel 11 Abs. 1 einen Eingriff in ihr Recht dar, sich frei und friedlich zu versammeln. Dies ist zwischen den Parteien unstreitig.
c) War der Eingriff gerechtfertigt?
107. Ein solcher Eingriff führt zu einer Verletzung von Artikel 11, es sei denn, es kann dargelegt werden, dass er „gesetzlich vorgeschrieben" war, ein oder mehrere legitime Ziele nach Absatz 2 verfolgte und „in einer demokratischen
Gesellschaft notwendig" war.
(i) „Gesetzlich vorgeschrieben" und legitimes Ziel
108. Hinsichtlich der Entscheidung darüber, ob der Eingriff „gesetzlich vorgeschrieben" war, weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass eine Vorschrift nicht als „Gesetz" angesehen werden kann, wenn sie nicht so präzise
formuliert ist, dass der Einzelne - erforderlichenfalls mit entsprechende Rechtsberatung - in einem Maß, das unter den jeweiligen Umständen angemessen ist, voraussehen kann, welche Folgen eine bestimmte Handlung nach sich
ziehen kann (siehe Ezelin, a.a.O., Rdnr. 45). Er stellt fest, dass zwischen den Parteien strittig ist, ob die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers durch ein Gesetz - § 55 Abs. 1 Nr. 2 SOG M-V - vorgeschrieben war, das so präzise
war, dass seine Anwendung unter den im Falle des Beschwerdeführers gegebenen Umständen vorhersehbar war. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass er diese Frage offen lassen und die Rechtssache unter der Annahme prüfen
kann, dass der Eingriff aus den nachfolgend aufgeführten Gründen „gesetzlich vorgeschrieben" war.
109. Der Gerichtshof ist davon überzeugt, dass die Behörden mit der Anordnung der Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer das Ziel verfolgten, diese an der Begehung einer Straftat, nämlich der Anstiftung zur gewaltsamen
Gefangenenbefreiung, zu hindern. Dieses Ziel ist als solches nach Artikel 11 Abs. 2 rechtmäßig.
(ii) „Notwendig in einer demokratischen Gesellschaft"
110. Hinsichtlich der Entscheidung darüber, ob der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" war, stellt der Gerichtshof erneut fest, dass das Recht auf Versammlungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft ein
Grundrecht ist und, ebenso wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, einer der Grundpfeiler einer solchen Gesellschaft ist. Daher sollte es nicht restriktiv ausgelegt werden (siehe Djavit An, a.a.O., Rdnr. 56; und Barraco, a.a.O.,
Rdnr. 41).
111. Der Ausdruck „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" impliziert, dass der Eingriff einem „dringenden sozialen Bedürfnis" entspricht und insbesondere in Bezug auf das rechtmäßig verfolgte Ziel verhältnismäßig ist.
Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in Bezug auf das verfolgte Ziel sind Art und Schwere der verhängten Sanktion zu berücksichtigen (siehe Osmani u. a., a.a.O., mit weiteren Verweisen).
112. Der Gerichtshof muss darüber hinaus entscheiden, ob die von den nationalen Behörden zur Rechtfertigung des Eingriffs angeführten Gründe „stichhaltig und ausreichend" sind. . Dabei muss sich der Gerichtshof davon
überzeugen, dass die nationalen Behörden Regeln anwandten, die mit den in Artikel 11 enthaltenen Grundsätzen vereinbar sind, und dass sie ihre Entscheidung auf eine nachvollziehbare Bewertung der erheblichen Tatsachen stützten
(siehe Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei u. a. ./. Türkei, 30. Januar 1998, Rdnr. 47, Reports 1998-I); und Stankov und die Vereinigte Mazedonische Organisation Ilinden, a.a.O., Rdnr. 87).
113. Die Vertragsstaaten genießen bei der Beurteilung der Frage, ob ein Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" ist, einen gewissen Ermessensspielraum; dieser geht jedoch Hand in Hand mit einer europäischen
Überwachung, die sich sowohl auf die Gesetzgebung bezieht als auch auf die Entscheidungen, die sie anwenden (siehe Stankov und die Vereinigte Mazedonische Organisation Ilinden, a.a.O., Rdnr. 87; und Barraco, a.a.O., Rdnr. 42).
Nach Artikel 10 der Konvention - in dessen Licht Artikel 11 auszulegen ist (siehe Rdnrn. 98 und 101) - gibt es wenig Raum für Einschränkungen der politischen Redefreiheit oder der Debatte über Angelegenheiten des öffentlichen
Interesses (siehe Stankov und die Vereinigte Mazedonische Organisation Ilinden, a.a.O., Rdnr. 88, mit weiteren Verweisen). Jedoch genießen die staatlichen Behörden bei der Prüfung der Notwendigkeit eines Eingriffs in die freie
Meinungsäußerung einen größeren Ermessensspielraum, wenn eine Anstiftung zur Gewalt gegen einen Einzelnen, einen Amtsträger oder eine Bevölkerungsgruppe vorliegt (siehe Stankov und die Vereinigte Mazedonische
Organisation Ilinden, a.a.O., Rdnr. 90; und, sinngemäß, Galstyan, a.a.O., Rdnr. 115, und Osmani u. a., a.a.O.).
114. In der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass die Beschwerdeführer für fast sechs Tage in Gewahrsam genommen wurden, um sie daran zu hindern, andere während der Demonstrationen gegen den G8-Gipfel
dazu anstiften, Gefangene gewaltsam zu befreien. Er hat bereits festgestellt (siehe Rdnrn. 75-86), dass die Präventivhaft der Beschwerdeführer von keinem der in Artikel 5 Abs. 1 aufgeführten Gründe für die Freiheitsentziehung erfasst
wird und diese Bestimmung daher verletzt hat. Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass man davon ausging, dass anlässlich des Gipfels eine große Zahl von Demonstranten (etwa 25.000) anreisen würden, von denen die weitaus meisten
als friedlich, eine beträchtliche Zahl aber als gewaltbereit anzusehen seien. Über einen Zeitraum von mehreren Tagen sollte eine Reihe von Massendemonstrationen stattfinden, von denen einige vor der Festnahme der
Beschwerdeführer in Krawalle ausgeartet waren. Der Gerichtshof erkennt an, dass die Gewährleistung der Sicherheit der Gipfelteilnehmer und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in dieser Situation eine beträchtliche
Herausforderung für die innerstaatlichen Behörden darstellte und Entscheidungen oft schnell getroffen werden mussten.
115. Jedoch kann der Gerichtshof, wie er bereits dargelegt hat (siehe Rdnr. 105), es nicht als erwiesen ansehen, dass die Beschwerdeführer die Transparente mit den beanstandeten Aufschriften deshalb bei den Demonstrationen zeigen
wollten, weil sie andere, gewalttätige Demonstranten dazu anstiften wollten, Personen, die während des G8-Gipfels in Haft genommen worden seien, gewaltsam zu befreien. Eine Bewertung der erheblichen Tatsachen durch die
innerstaatlichen Behörden, nach der die Losungen als mehrdeutig angesehen werden konnten und die Beschwerdeführer somit andere fahrlässig zu Gewalt hätten anstacheln können, wenn sie sie bei gewissen Demonstrationen gezeigt
hätten, erscheint unter Berücksichtigung ihres Ermessensspielraums dagegen nachvollziehbar (siehe, als Beispiel für einen Fall, bei dem es um die Verwendung vieldeutiger Symbole ging, Vajnai ./. Ungarn, Individualbeschwerde Nr.
33639/06, Rdnrn. 51 ff., 8. Juli 2008).
116. Der Gerichtshof stellt darüber hinaus fest, dass die Beschwerdeführer mit ihrer Teilnahme an den G8-Demonstrationen beabsichtigten, sich an einer Debatte des öffentliches Interesses - die Auswirkungen der Globalisierung auf
das Leben der Menschen - zu beteiligen. Außerdem verfolgten sie mit den Losungen auf ihren Transparenten die Absicht, das Vorgehen der Polizei bei der Sicherung des Gipfels, insbesondere die zahlreichen Festnahmen von
Demonstranten, zu kritisieren. Angesichts der Tatsache, dass eine beträchtliche Zahl von Demonstranten (mehr als 1000 der erwarteten 25000 Demonstranten) im Verlauf des Gipfels vorübergehend in Haft genommen wurde, ist der
Gerichtshof der Auffassung, dass die Losungen einen Beitrag zu einer Debatte von öffentlichem Interesse darstellten. Darüber hinaus ist klar, dass die mehrtägige Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer wegen der Absicht, die
beanstandeten Losungen zur Schau zu stellen, hinsichtlich dieser Meinungsäußerung eine abschreckende Wirkung hatte und die öffentliche Diskussion dieser Frage einschränkte.
117. Zusammengefasst ist festzustellen, dass der beabsichtigte Protest der Beschwerdeführer während des G8-Gipfels als Wille zur Beteiligung an einer Debatte von öffentlichem Interesse, bezüglich derer es wenig Raum für
Einschränkungen gibt, zu werten ist (siehe Rdnr. 113). Darüber hinaus ist nicht aufgezeigt worden, dass die Beschwerdeführer die Absicht gehabt hätten, andere zu Gewalt anzustacheln. Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof der
Auffassung, dass die fast sechstägige Freiheitsentziehung, eine beträchtliche Sanktion, im Hinblick auf die Absicht, die Beschwerdeführer daran zu hindern, möglicherweise andere fahrlässig zu einer gewaltsamen Befreiung von
während des G8-Gipfels festgenommenen Demonstranten anzustiften, keine verhältnismäßige Maßnahme darstellt. In einer solchen Situation kann zwischen dem Ziel der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit sowie der
Verhinderung von Straftaten und dem Recht der Beschwerdeführer auf Versammlungsfreiheit nicht dadurch ein fairer Ausgleich geschaffen werden, dass die Beschwerdeführer sofort für mehrere Tage in Gewahrsam genommen werden.
118. Insbesondere ist der Gerichtshof nicht überzeugt, dass es keine anderen wirksamen, weniger einschneidenden Maßnahmen zur Erreichung der genannten Ziele gegeben hätte. Insbesondere ist er der Auffassung, dass es in der
gegebenen Situation, hinsichtlich derer nicht dargelegt worden ist, dass den Beschwerdeführern bewusst war, dass die Polizei die Losungen auf ihren Transparenten für illegal hielten, ausgereicht hätte, die fraglichen Transparente zu
beschlagnahmen. Man hätte davon ausgehen können, dass dies eine abschreckende Wirkung auf die Beschwerdeführer haben würde und sie daher davon abgehalten hätte, sofort neue, vergleichbare Transparente herzustellen. Auch
wenn dadurch ihr Recht auf freie Meinungsäußerung in einem gewissen Maß eingeschränkt worden wäre, hätte es sie nicht von vornherein daran gehindert, an den Demonstrationen teilzunehmen.
119. Angesichts der vorstehenden Ausführungen kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass der Eingriff in das Recht der Beschwerdeführer auf Versammlungsfreiheit nicht „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" war.
Folglich ist Artikel 11 der Konvention verletzt worden.
V. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION
120. Artikel 41 der Konvention lautet:
„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser
Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist."
A. Schaden
121. Die Beschwerdeführer forderten jeweils 10.000 Euro (EUR) für den infolge ihrer konventionswidrigen Freiheitsentziehung erlittenen immateriellen Schaden. Zur Stützung ihrer Auffassung, die geforderte Summe sei angemessen,
beriefen sie sich auf die Zubilligung gerechter Entschädigung durch den Gerichtshof in den Rechtssachen Brega ./. Moldau (Individualbeschwerde Nr. 52100/08, Rdnr. 52, 20. April 2010) und Vasileva ./. Dänemark
(Individualbeschwerde Nr. 52792/99, Rdnr. 47, 25. September 2003). Sie baten darum, alle Beträge auf das Treuhandkonto ihrer Rechtsanwältin einzuzahlen.
122. Die Regierung hielt die geforderten Beträge für unverhältnismäßig. Sie brachte vor, dass die Feststellung einer Konventionsverletzung durch den Gerichtshof eine hinreichende gerechte Entschädigung darstellen würde. Die von
den Beschwerdeführern zur Stützung ihrer Auffassung angeführten Tatsachen seien mit denen in den angeführten Beschwerdeverfahren nicht vergleichbar.
123. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass ihre etwa sechstägige, gegen Artikel 5 Abs. 1 und Artikel 11 der Konvention verstoßende Freiheitsentziehung bei den Beschwerdeführern Leid ausgelöst haben muss, das durch die
Feststellung einer Konventionsverletzung allein nicht angemessen wieder gut gemacht würde. Daher spricht der Gerichtshof, der die Summe nach Billigkeit festsetzt, den Beschwerdeführern unter dieser Rubrik jeweils 3.000 EUR
zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern zu. Im Hinblick auf die von der Rechtsanwältin der Beschwerdeführer vorgelegte Vollmacht, die sie zur Entgegennahme von Zahlungen befugt, die seitens der anderen
Verfahrenspartei zu leisten sind, ordnet er an, dass diese den Beschwerdeführern zugesprochenen Summen auf das Treuhandkonto ihrer Rechtsanwältin einzuzahlen sind.
B. Kosten und Auslagen
124. Der erste Beschwerdeführer forderte außerdem 2.340,85 EUR für Kosten und Auslagen vor den innerstaatlichen Gerichten (68 EUR für Gerichtskosten und 2.272,85 EUR für Anwaltsgebühren, einschließlich der darauf
anfallenden Mehrwertsteuer) sowie 1.892,50 EUR (einschließlich Mehrwertsteuer) für Kosten und Auslagen vor dem Gerichtshof. Der zweite Beschwerdeführer forderte 2.370,65 EUR für Kosten und Auslagen vor den
innerstaatlichen Gerichten (68 EUR für Gerichtskosten und 2.302,65 EUR für Anwaltsgebühren, einschließlich der darauf anfallenden Mehrwertsteuer) sowie 2.082,50 EUR (einschließlich Mehrwertsteuer) für Kosten und Auslagen
vor dem Gerichtshof. Sie begründeten ihre Ansprüche durch Belege.
125. Die Regierung, die generell die Auffassung vertrat, dass nach Artikel 41 der Konvention keine Entschädigung zu zahlen sei, nahm zu diesen Forderungen nicht Stellung.
126. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur insoweit Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese tatsächlich und notwendigerweise entstanden und der Höhe
nach angemessen sind. In der vorliegenden Rechtssache ist der Gerichtshof unter Berücksichtigung der ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen und der oben genannten Kriterien überzeugt, dass das Verfahren vor den
innerstaatlichen Gerichten und vor dem Gerichtshof zunächst auf die Verhinderung und später auf die Beseitigung der festgestellten Verletzungen von Artikel 5 Abs. 1 und Artikel 11 der Konvention abzielte. Darüber hinaus stellt er
fest, dass die von den Beschwerdeführern geltend gemachten Kosten und Auslagen notwendigerweise entstanden und der Höhe nach angemessen waren.
127. Der Gerichtshof spricht dem ersten Beschwerdeführer daher 4.233,35 EUR (einschließlich Mehrwertsteuer) zur Deckung der unter allen Rubriken entstandenen Kosten, zuzüglich der ihm gegebenenfalls zu berechnenden Steuern
zu. Der Gerichtshof spricht ferner dem zweiten Beschwerdeführer 4.453,15 EUR (einschließlich Mehrwertsteuer) zur Deckung der unter allen Rubriken entstandenen Kosten zuzüglich der ihm gegebenenfalls zu berechnenden Steuern
zu. Er ordnet an, dass diese ihnen zugesprochenen Summen auf das Treuhandkonto ihrer Rechtsanwältin einzuzahlen sind.
C. Verzugszinsen
128. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Individualbeschwerden werden verbunden;
2. die Rüge des ersten Beschwerdeführers nach Artikel 5 Abs. 5 der Konvention wird für unzulässig und die Individualbeschwerden werden im Übrigen für zulässig erklärt;
3. Artikel 5 Absatz 1 der Konvention ist verletzt worden;
4. Artikel 11 der Konvention ist verletzt worden;
5. a) der beschwerdegegnerische Staat hat binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig wird, folgende Beträge auf das Treuhandkonto der Rechtsanwältin der
Beschwerdeführer einzuzahlen:
(i) für jeden Beschwerdeführer 3.000 EUR (dreitausend Euro) für den immateriellen Schaden, zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern;
(ii) für den ersten Beschwerdeführer 4.233,35 EUR (viertausendzweihundertdreiunddreißig Euro und fünfunddreißig Cent) einschließlich Mehrwertsteuer für Kosten und Auslagen, zuzüglich ihm gegebenenfalls zu berechnender Steuern;
(iii) für den zweiten Beschwerdeführer 4.453,15 EUR (viertausendvierhundertdreiundfünfzig Euro und fünfzehn Cent) einschließlich Mehrwertsteuer für Kosten und Auslagen, zuzüglich ihm gegebenenfalls zu berechnender Steuern;
b) Nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten fallen für die obengenannten Beträge bis zur Auszahlung einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der
Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;
6. Im Übrigen wird die Forderung der Beschwerdeführer nach gerechter Entschädigung zurückgewiesen.
Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 1. Dezember 2011 nach Artikel 77 Absätze 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs. ..."
***
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat festgestellt, dass die Kündigung einer bei der evangelischen Kirche angestellten Kindergärtnerin wegen Mitgliedschaft in anderer Religionsgemeinschaft
gerechtfertigt war. Die Beschwerdeführerin ist Katholikin und arbeitete als Erzieherin in einem Kindergarten der Evangelischen Kirche in Pforzheim. Ihr Arbeitsvertrag sah vor, dass auf das Arbeitsverhältnis die
Arbeitsrechtsregelungen für Mitarbeiter der evangelischen Landeskirche anwendbar seien. Diese enthalten u.a. eine Bestimmung, die den Mitarbeiter zu Loyalität gegenüber der evangelischen Kirche verpflichtet und eine
Mitgliedschaft oder Mitarbeit in Organisationen untersagt, deren Grundauffassung oder Tätigkeit im Widerspruch zum Auftrag der Kirche stehen. Die Kirche wurde im Dezember 1998 anonym über die Mitgliedschaft Frau
Siebenhaars in einer anderen Religionsgemeinschaft, der "Universalen Kirche / Bruderschaft der Menschheit", und über die Tatsache informiert, dass sie für diese Gemeinschaft Einführungskurse in deren Lehre anbot. Nachdem Frau
Siebenhaar zunächst zu der Angelegenheit befragt worden war, informierte die Kirche sie mit Zustimmung der Mitarbeitervertretung über ihre fristlose Kündigung mit Wirkung zum 01.01.1999. Das ArbG Pforzheim wies die
Beschwerde Frau Siebenhaars gegen ihre Kündigung im Februar 1999 zurück, da sie die aus ihrem Arbeitsvertrag resultierende Loyalitätspflicht gegenüber der evangelischen Kirche verletzt habe. Nach Auffassung des Gerichts habe
dieser Verstoß einen wichtigen Grund für eine fristlose Kündigung i.S.v. § 626 Abs. 1 BGB dargestellt. Das LArbG Baden-Württemberg gab der Beschwerde Frau Siebenhaars teilweise statt, indem es befand, dass der Verstoß gegen
ihre Loyalitätspflicht keine fristlose Kündigung gerechtfertigt habe. Das BAG hob das Urteil auf und wies die Beschwerde zurück. Es verwies dabei insbesondere auf die Tatsache, dass Frau Siebenhaar nicht nur Einführungskurse in
die Lehre der "Universalen Kirche" angeboten habe, sondern auch als Kontaktperson auf Anmeldeformularen für "Grundkurse für höheres geistiges Lernen" angegeben sei. Die evangelische Kirche habe daher berechtigterweise davon
ausgehen können, dass diese Aktivitäten die Arbeit Frau Siebenhaars im Kindergarten beeinträchtigen und die Glaubwürdigkeit der Kirche in Frage stellen würden. Zudem müsse die relativ kurze Betriebszugehörigkeit Frau
Siebenhaars berücksichtigt werden. Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde Frau Siebenhaars nicht zur Entscheidung angenommen. Die Arbeitsgerichte beriefen sich auf ein Grundsatzurteil des BVerfG v. 04.06.1985 (2 BvR
1703/83, 2 BvR 1718/83 und 2 BvR 856/84) zur Wirksamkeit von Kündigungen kirchlicher Mitarbeiter wegen der Verletzung von Loyalitätspflichten. Kirchliche Arbeitgeber hätten demnach das Recht, Arbeitsverhältnisse
eigenständig zu regeln, Arbeitsgerichte seien allerdings an die religiösen und moralischen Maßstäbe der Kirchen nur insoweit gebunden, als diese nicht mit den Grundsätzen der Rechtsordnung in Konflikt stünde. Frau Siebenhaar
beklagte sich über ihre fristlose Kündigung und berief sich dabei insbesondere auf Art. 9 EMRK. Die Beschwerde wurde am 29.04.2002 beim EGMR eingelegt. Die evangelische Landeskirche von Baden sowie die Evangelische
Kirche in Deutschland erhielten die Erlaubnis, als Drittparteien am Verfahren teilzunehmen und gaben schriftliche Stellungnahmen ab. Der EGMR hat entschieden, dass keine Verletzung von Art. 9 EMRK vorlag. Der Gerichtshof
hatte darüber zu befinden, ob die von den deutschen Arbeitsgerichten vorgenommene Abwägung zwischen dem Recht Frau Siebenhaars auf Religionsfreiheit gemäß Art. 9 EMRK einerseits und den Konventionsrechten der
evangelischen Kirche andererseits Frau Siebenhaar einen ausreichenden Kündigungsschutz gewährt hatte. Der Gerichtshof unterstrich, dass die Eigenständigkeit von Religionsgemeinschaften gegen unzulässige staatliche Einmischung
nach Art. 9 EMRK i.V.m. Art. 11 EMRK (Vereinigungsfreiheit) geschützt ist. Mit seinen Arbeitsgerichten und einem für die Überprüfung von deren Entscheidungen zuständigen Verfassungsgericht erfülle Deutschland im Grundsatz
die positive Verpflichtung des Staates gegenüber Klägern in arbeitsrechtlichen Streitfällen. Frau Siebenhaar hatte vor einem Arbeitsgericht geklagt, das dazu befugt war, über die Wirksamkeit ihrer Kündigung nach staatlichem
Arbeitsrecht unter Berücksichtigung des kirchlichen Arbeitsrechtes zu entscheiden. Das BAG war zu der Auffassung gelangt, dass sich ihr Arbeitgeber im Anbetracht ihres aktiven Engagements für die "Universale Kirche" nicht habe
darauf verlassen können, dass sie seine Ideale respektieren würde. Die deutschen Arbeitsgerichte haben alle wesentlichen Gesichtspunkte des Falls berücksichtigt und eine sorgfältige Abwägung der Interessen vorgenommen, so der
EGMR. Nach Auffassung der Gerichte kam die Kündigung einer notwendigen Maßnahme gleich, um die Glaubwürdigkeit der Kirche zu wahren, ein Interesse, das schwerer gewogen habe als Frau Siebenhaars Interesse, ihre Stelle zu
behalten. Die Gerichte haben ferner die relativ kurze Betriebszugehörigkeit Frau Siebenhaars berücksichtigt. Die Tatsache, dass die deutschen Gerichte den Interessen der evangelischen Kirche nach sorgfältiger Abwägung ein größeres
Gewicht eingeräumt hatten als denen Frau Siebenhaars, stehe nicht an sich in Konflikt mit der Konvention (EGMR, Entscheidung vom 03.02.2011 - 18136/02 zu § 626 BGB, Art 9 MRK, Art 11 MRK)
***
Ob das Verbot der Gay Pride Paraden und Mahnwachen "gesetzlich vorgesehen" war und ein berechtigtes Ziel i.S. von Art. 11 II EMRK (Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit) verfolgt hat, kann dahingestellt bleiben, denn es war
jedenfalls nicht "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig". Die Versammlungsfreiheit des Art. 11 EMRK schützt auch Demonstrationen, die Menschen belästigen oder beleidigen, welche die Anliegen ablehnen, für die dort
geworben werden soll. Die zuständigen Behörden der Vertragsstaaten müssen geeignete Maßnahmen treffen, damit rechtmäßige Demonstrationen friedlich verlaufen. Petitionen zugunsten des Verbots einer geplanten Demonstration
verbunden mit der Ankündigung von Gegendemonstrationen müssen unter dem Gesichtspunkt des Sicherheitsrisikos sorgfältig geprüft werden. Das ist im vorliegenden Fall nicht geschehen. Ziel und Zweck der umstrittenen
Veranstaltungen war es, zu Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten aufzurufen. Solche Demonstrationen, auf denen sich Menschen offen als Schwule, Lesben oder Angehörige einer anderen sexuellen Minderheit bekennen und
ihre Rechte und Freiheiten einfordern, sind in den meisten Ländern Europas gang und gäbe. Insoweit hatten die Moskauer Behörden und Gerichte entgegen der Auffassung der Regierung keinen weiten Ermessensspielraum. Jede
Einschränkung der Versammlungsfreiheit muss sich auf eine nachvollziehbare Würdigung der maßgeblichen Tatsachen stützen. Daran fehlt es im vorliegenden Fall, denn die Moskauer Behörden haben bei ihrem Verbot nur den
öffentlichen Widerstand gegen die geplanten Veranstaltungen berücksichtigt und die persönlichen Moralvorstellungen ihrer eigenen Repräsentanten in Betracht gezogen. Wird eine geplante Versammlung nicht genehmigt, ist eine
Beschwerde gegen das Verbot nur "wirksam" i.S. von Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde), wenn die zuständige "innerstaatliche Instanz" verpflichtet ist, vor dem für die Veranstaltung in Aussicht genommenen Termin
zu entscheiden. Das war hier nicht der Fall. Mit dem Verbot der umstrittenen Veranstaltungen wegen Förderung der Homosexualität haben die Moskauer Behörden und Gerichte den Beschwerdeführer wegen seiner sexuellen
Orientierung diskriminiert und gegen Art. 14 EMRK i.V. mit Art. 11 verstoßen (EGMR, Urteil vom 21.10.2010 - 4916/07, 25924/08, 14599/09, 4916-07, 25924/08, 14599/09 zu EMRK Art. 11, 13, 14, 35 III, IV, 41, BeckRS 2011, 22425).
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Die Kündigung des Beschwerdeführers wegen Ehebruchs und Bigamie greift in sein Recht auf Achtung des "Privatlebens" i. S. von Art. 8 EMRK ein, ein umfassender Begriff, der einer erschöpfenden Definition nicht zugänglich ist.
Dabei geht es um die Frage, ob Deutschland im Rahmen seiner positiven Pflichten aus Art. 8 EMRK verpflichtet war, dem Beschwerdeführer dieses Recht der katholischen Kirchengemeinde gegenüber zu garantieren. In dem
Zusammenhang kommt es entscheidend darauf an, ob die deutschen Gerichte das Interesse der katholischen Kirchengemeinde auf Schutz ihrer Glaubwürdigkeit und die Interessen des Beschwerdeführers zu einem fairen Ausgleich
gebracht haben. Für die katholische Kirche ist die eheliche Treue ein zentrales Gebot ihrer Glaubens- und Sittenlehre, Ehebruch eine schwere sittliche Verfehlung. Nach Auffassung der deutschen Gerichte widersprechen diese
Vorgaben der Kirche nicht der Rechtsordnung. Zu ihr gehören aber auch die Grund- und Freiheitsrechte der Konvention, darunter das Recht des Art. 8 EMRK. Mit Unterzeichnung seines Arbeitsvertrags hat der Beschwerdeführer der
Kirche gegenüber aus freien Stücken Loyalitätspflichten übernommen, die seine Rechte nach Art. 8 EMRK bis zu einem gewissen Grad eingeschränkt haben. Das ist grundsätzlich zulässig. Allerdings hatte der Beschwerdeführer nicht
versprochen, im Fall einer Trennung oder Scheidung von seiner Ehefrau bis an das Ende seiner Tage enthaltsam zu leben. Bei Abwägung der unterschiedlichen Interessen haben die Arbeitsgerichte die Rechte und Interessen des
Beschwerdeführers nicht ausreichend berücksichtigt. Das betrifft insbesondere die beruflichen Folgen der Kündigung für den Betroffenen. Damit haben sie das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privat- und
Familienlebens nicht ausreichend geschützt und folglich gegen Art. 8 EMRK verstoßen (EGMR, Urteil vom 23.09.2010 - 1620/03 zu EMRK Art. 8, 9, 11, 35 III, 41, BeckRS 2010, 24772).
***
Die Religionsfreiheit, ein Grundpfeiler der demokratischen Gesellschaft, umfasst u.a. die Freiheit, seine Religion öffentlich und mit anderen zu bekennen. Deswegen muss bei Auslegung von Art. 9 EMRK (Gedanken-, Gewissens- und
Religionsfreiheit) Art. 11 EMRK (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) berücksichtigt werden. Damit folgt aus dem Recht auf Religionsfreiheit für den Gläubigen das Recht, sich frei und ohne willkürliche staatliche Eingriffe
zusammenzuschließen. Unabhängige Religionsgemeinschaften sind für den Pluralismus in einer demokratischen Gesellschaft unabdingbare Voraussetzung und das Kernstück des von Art. 9 EMRK gewährten Schutzes. Die
Konventionsstaaten sind zu Neutralität und Unparteilichkeit verpflichtet und dürfen deshalb die Legitimität eines religiösen Glaubens nicht beurteilen. Doch haben sie das Recht, sich davon zu überzeugen, dass Ziele und Tätigkeiten
auch einer Religionsgemeinschaft mit der Rechtsordnung übereinstimmen, müssen das aber in einer Weise tun, die mit ihren Konventionspflichten vereinbar ist. Dabei unterliegen sie der Überwachung durch den Gerichtshof. Im
Übrigen darf der Staat von seiner Befugnis, staatliche Institutionen und den Bürger vor Vereinigungen zu schützen, die sie gefährden könnten, nur zurückhaltend Gebrauch machen, denn die Ausnahmen von der Vereinigungsfreiheit
(Art. 11 II EMRK ) sind eng auszulegen. Die Auflösung der Beschwerdeführerin zu 1 und das Verbot ihrer Aktivitäten haben die russischen Behörden und Gerichte damit begründet, sie habe ihre Mitglieder zur Zerstörung ihrer
Familien gezwungen; Rechte und Freiheiten ihrer Mitglieder und Dritter verletzt; ihre Mitglieder angestiftet, Selbstmord zu begehen oder ärztliche Behandlung abzulehnen; auf die Rechte von Eltern und Kindern eingewirkt;
insbesondere Kinder gegen den Willen von Eltern in die Gemeinschaft gelockt und Mitglieder ermutigt, gesetzliche Pflichten nicht zu erfüllen. Diese Vorwürfe haben die russischen Behörden und Gerichte entweder nicht substantiiert
oder nicht nachgewiesen. Außerdem waren die Auflösung der Beschwerdeführerin zu 1 und das Verbot ihrer Aktivitäten, einzige Sanktion bei einem Verstoß gegen das russische Religionsgesetz von 1997, außerordentlich
schwerwiegende und unverhältnismäßige Maßnahmen. Daher ist Art. 9 i.V. mit Art. 11 EMRK verletzt. Die Anträge der Beschwerdeführerin zu 1, sie erneut zu registrieren, wurden mit unterschiedlicher Begründung abgelehnt. Dieser
Eingriff in ihre von Art. 11 i. V. mit Art. 9 EMRK garantierten Rechte war willkürlich und deswegen nicht "gesetzlich vorgesehen" i.S. von Art. 9 II und 11 II EMRK. Die russischen Behörden und Gerichte haben nicht in gutem
Glauben gehandelt und ihre Pflicht zu Neutralität und Unparteilichkeit verletzt (EGMR, Urteil vom 10.06.2010 - 302/02 zu EGMR Art. 6, 9, 10, 11, 14, 35 III,IV, 41, 46).
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Die Religionsfreiheit, ein Grundpfeiler der demokratischen Gesellschaft, umfasst u.a. die Freiheit, seine Religion öffentlich und mit anderen zu bekennen. Deswegen muss bei Auslegung von Art. 9 EMRK (Gedanken-, Gewissens- und
Religionsfreiheit) Art. 11 EMRK (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) berücksichtigt werden. Damit folgt aus dem Recht auf Religionsfreiheit für den Gläubigen das Recht, sich frei und ohne willkürliche staatliche Eingriffe
zusammenzuschließen. Unabhängige Religionsgemeinschaften sind für den Pluralismus in einer demokratischen Gesellschaft unabdingbare Voraussetzung und das Kernstück des von Art. 9 EMRK gewährten Schutzes. Die
Konventionsstaaten sind zu Neutralität und Unparteilichkeit verpflichtet und dürfen deshalb die Legitimität eines religiösen Glaubens nicht beurteilen. Doch haben sie das Recht, sich davon zu überzeugen, dass Ziele und Tätigkeiten
auch einer Religionsgemeinschaft mit der Rechtsordnung übereinstimmen, müssen das aber in einer Weise tun, die mit ihren Konventionspflichten vereinbar ist. Dabei unterliegen sie der Überwachung durch den Gerichtshof. Im
Übrigen darf der Staat von seiner Befugnis, staatliche Institutionen und den Bürger vor Vereinigungen zu schützen, die sie gefährden könnten, nur zurückhaltend Gebrauch machen, denn die Ausnahmen von der Vereinigungsfreiheit
(Art. 11 II EMRK ) sind eng auszulegen. Die Auflösung der Beschwerdeführerin zu 1 und das Verbot ihrer Aktivitäten haben die russischen Behörden und Gerichte damit begründet, sie habe ihre Mitglieder zur Zerstörung ihrer
Familien gezwungen; Rechte und Freiheiten ihrer Mitglieder und Dritter verletzt; ihre Mitglieder angestiftet, Selbstmord zu begehen oder ärztliche Behandlung abzulehnen; auf die Rechte von Eltern und Kindern eingewirkt;
insbesondere Kinder gegen den Willen von Eltern in die Gemeinschaft gelockt und Mitglieder ermutigt, gesetzliche Pflichten nicht zu erfüllen. Diese Vorwürfe haben die russischen Behörden und Gerichte entweder nicht substantiiert
oder nicht nachgewiesen. Außerdem waren die Auflösung der Beschwerdeführerin zu 1 und das Verbot ihrer Aktivitäten, einzige Sanktion bei einem Verstoß gegen das russische Religionsgesetz von 1997, außerordentlich
schwerwiegende und unverhältnismäßige Maßnahmen. Daher ist Art. 9 i.V. mit Art. 11 EMRK verletzt. Die Anträge der Beschwerdeführerin zu 1, sie erneut zu registrieren, wurden mit unterschiedlicher Begründung abgelehnt. Dieser
Eingriff in ihre von Art. 11 i. V. mit Art. 9 EMRK garantierten Rechte war willkürlich und deswegen nicht "gesetzlich vorgesehen" i.S. von Art. 9 II und 11 II EMRK. Die russischen Behörden und Gerichte haben nicht in gutem
Glauben gehandelt und ihre Pflicht zu Neutralität und Unparteilichkeit verletzt (EGMR, Urteil vom 10.06.2010 - 302/02 zu EGMR Art. 6, 9, 10, 11, 14, 35 III,IV, 41, 46).
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Art. 12 EMRK Recht auf Eheschließung
Männer und Frauen im heiratsfähigen Alter haben das Recht, nach den innerstaatlichen Gesetzen, welche die Ausübung dieses Rechts regeln, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen.
Leitsätze/Entscheidungen:
Eine Beschwerde kann nach Art. 37 I lit. b EMRK im Register gestrichen werden, wenn der vom Beschwerdeführer gerügte Umstand nicht mehr besteht und die Wirkungen einer möglichen Verletzung wieder gutgemacht worden
sind. Seit Verabschiedung der Konvention hat es bei der Institution der Ehe erhebliche soziale Veränderungen gegeben. Es gibt aber keinen europäischen Konsens über die Zulässigkeit einer Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen
Partnern, die zur Zeit von nicht mehr als sechs der 47 Vertragsstaaten erlaubt wird. Art. 9 der Europäischen Grundrechtecharta (GR-Charta, Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen) hat bewusst abweichend von Art.
12 EMRK (Recht auf Eheschließung) den Hinweis auf Männer und Frauen weggelassen. Art. 9 GR-Charta verweist aber auf die einzelstaatlichen Gesetze und überlässt ihnen die Entscheidung, ob eine Ehe zwischen Partnern
desselben Geschlechts zugelassen werden soll. Dabei wird nicht verlangt, dass die staatliche Gesetzgebung solche Ehen erleichtert. Unter Berücksichtigung von Art. 9 GR-Charta nimmt der Gerichtshof nicht mehr an, dass das in Art.
12 EMRK garantierte Recht, eine Ehe einzugehen, unter allen Umständen auf eine Ehe zwischen zwei Personen unterschiedlichen Geschlechts beschränkt ist. Die Vorschrift verpflichtet die Staaten aber nicht dazu,
gleichgeschlechtliche Ehen zu ermöglichen. Die gleichgeschlechtliche Partnerschaft eines Paares fällt unter den Begriff „Privatleben" i. S. von Art. 8 EMRK (Schutz des Privat- und Familienlebens). Unter Aufgabe seiner bisherigen
Rechtsprechung nimmt der Gerichtshof an, dass die Beziehung der Bf., die als gleichgeschlechtliches Paar in einer stabilen de facto-Partnerschaft zusammenleben, auch unter den Begriff des „Familienlebens" i. S. von Art. 8 EMRK
fällt. Die Staaten haben einen Ermessensspielraum, welche Rechte sie einem gleichgeschlechtlichen Paar in einer eingetragenen Partnerschaft einräumen (EGMR, Urteil vom 24.06.2010 - 30141/04 zu EMRK Art. 8, 12, 14, 34, 35, 37;
Zusatzprotokoll zur EMRK Art. 1, BeckRS 2011, 01470).
Art. 13 EMRK Recht auf wirksame Beschwerde
Jede Person, die in ihren in dieser Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, hat das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben, auch wenn die Verletzung von Personen
begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben.
Leitsätze/Entscheidungen:
„... 7. Der Beschwerdeführer wurde 1955 geboren und ist in M. wohnhaft.
1. Der Hintergrund der Sache
8. Am 16. März 1983 nahm der Beschwerdeführer eine Arbeit als Redakteur beim amerikanischen Rundfunksender Radio Free Europe/Radio Liberty (nachstehend als „RFE/RL" bezeichnet) auf. Nach der gegen den Beschwerdeführer
ergangenen Kündigung erhob dieser im Jahr 1988 vor dem Arbeitsgericht München eine Kündigungsschutzklage (Geschäftszeichen 22 Ca 2079/88). Im Zuge des Verfahrens beantragte RFE/RL die gerichtliche Auflösung des
Arbeitsverhältnisses des Betroffenen; dies wurde vom Bundesarbeitsgericht am 7. März 2002 im letzten Rechtszug zurückgewiesen. Die Kündigung war vom Landesarbeitsgericht am 25. September 1998 endgültig aufgehoben
worden. Die Dauer dieses Verfahrens lag dem Urteil M. ./. Deutschland (Nr. 422505/98, 18. Oktober 2001) zugrunde, mit dem der Gerichtshof eine Verletzung des Artikels 6 Absatz 1 der Konvention festgestellt und dem
Beschwerdeführer 15.000 DM (ca. 7.500 EUR) wegen immateriellen Schadens zugesprochen hat.
2. Das streitige Verfahren
9. Am 23. Mai 1990 erhob der Beschwerdeführer vor dem Arbeitsgericht München eine Klage auf Weiterbeschäftigung. Dem Verfahren wurde das Geschäftszeichen 22 Ca 6244/90 zugeordnet.
10. Am 30. August 1990 reichte der Beschwerdeführer eine Klageerweiterung ein und forderte die Zahlung seiner Gehälter durch den Arbeitgeber für den Zeitraum vom 1. August 1988 bis zum 31. August 1990. Er machte ebenfalls
Forderungen in Bezug auf seine Rentenansprüche für den Zeitraum vom 1. August 1988 bis zum 30. November 1990 geltend.
11. Das Arbeitsgericht erließ am 10. Oktober 1990 ein Teilurteil, mit dem es die Klage des Beschwerdeführers auf Weiterbeschäftigung abwies.
Was die Klagen wegen Gehälterzahlung und die Forderungen in Bezug auf die Rentenansprüche anbelangte (Rdnr. 10 oben), hat das Arbeitsgericht den Rechtsstreit am 19. Juni 1991 ausgesetzt, um den Ausgang des
Kündigungsschutzverfahrens abzuwarten (Rdnr. 8 oben); es erließ sodann am 21. Oktober 2002 ein Teilanerkenntnisurteil. Dieses Verfahren liegt dem Urteil M. ./. Deutschland (Nr. 2) (Nr. 71972/01 vom 11. Juni 2009) zugrunde.
12. Am 7. Dezember 1990 legte der Beschwerdeführer Berufung gegen das Teilurteil vom 10. Oktober 1990 (Geschäftszeichen 6(9) Sa 868/90) ein.
13. Auf Antrag von RFE/RL und mit Zustimmung des Beschwerdeführers setzte das Landesarbeitsgericht das Verfahren am 26. September 1991 aus, um den Ausgang des Kündigungsschutzverfahrens abzuwarten (Rdnr. 8 oben).
14. Am 4. Oktober 1999 beraumte das Landesarbeitsgericht einen Termin für den 9. November 1999 an. Am 31. Oktober 1999 teilte der Beschwerdeführer dem Landesarbeitsgericht mit, dass sein Rechtsbeistand sein Mandat
niedergelegt habe und beantragte die Beiordnung eines neuen Rechtsbeistandes. Am 2. November 1999 hob das Landesarbeitsgericht den Verhandlungstermin auf. Am 19. Oktober 2000 drängte der Beschwerdeführer erneut beim
Landesarbeitsgericht auf eine Entscheidung bezüglich seines Antrags vom 31. Oktober 1999. Am 24. Oktober 2000 ordnete ihm das Landesarbeitsgericht einen neuen Rechtsbeistand bei.
15. Am 15. Mai 2001 formulierte der Beschwerdeführer seine Anträge neu und begehrte neben der Aufhebung des Teilurteils des Arbeitsgerichts vom 10. Oktober 1990 Gehaltsnachzahlungen für den Zeitraum vom 1. Dezember 1990
bis 31. Dezember 1993 sowie eine Entschädigung für den Fall, dass sich RFE/RL weigern würde, ihm eine Stelle zu verschaffen, die seinem Status als Redakteur mit 18 Berufsjahren entspricht. Ferner beantragte er beim
Landesarbeitsgericht, falls dieses seinen Anträgen nicht stattgeben sollte, die Verweisung der Sache zur Vorabentscheidung an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften.
16. Am 26. Juni 2001 setzte das Landesarbeitsgericht das Verfahren erneut bis zum Abschluss des Verfahrens bezüglich der gerichtlichen Auflösung des Arbeitsverhältnisses aus (Rdnr. 8 oben), dessen Ausgang für das vorliegende
Verfahren entscheidend war.
17. Am 1. November 2001 rief der Beschwerdeführer das Bundesverfassungsgericht an und rügte insbesondere die Untätigkeit des Landesarbeitsgerichts und die überlange Verfahrensdauer (1 BvR 1870/01). Das
Bundesverfassungsgericht nahm diese Beschwerde am 12. März 2004 nicht zur Entscheidung an. Es legte unter anderem dar, dass die Verfassungsbeschwerde, soweit sie gegen den Aussetzungsbeschluss des Landearbeitsgerichts vom
18.Mai 2001 und dessen Untätigkeit gerichtet war, unzulässig geworden sei, weil das Landesarbeitsgericht mittlerweile durch das angegriffene Urteil vom 3. Dezember 2002 in der Sache entschieden habe. Es führte weiter aus, der
Beschwerdeführer habe keinen Anspruch auf die Feststellung einer Verletzung des Grundgesetzes durch eine überlange Dauer des Verfahrens im Nachhinein, weil nach dem Verfassungsrecht keine Rechtsgrundlage bestehe, die es
ermögliche, die Entscheidung eines Gerichts wegen überlanger Verfahrensdauer im Nachhinein aufzuheben oder Schadensersatz aus diesem Grunde zuzuerkennen. Die Aufhebung des Urteils des Landesarbeitsgerichts vom 3.
Dezember 2002 habe den Verfassungsverstoß der überlangen Verfahrensdauer nicht beseitigt, sondern das Verfahren weiter verzögert.
18. Am 26. November 2002 präzisierte der Beschwerdeführer seine Anträge beim Landesarbeitsgericht. Er begehrte nunmehr auch Entschädigungsleistungen für die Aussetzung seines Arbeitsverhältnisses von März 1988 bis
Dezember 1994 und für die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sowie Gehaltsnachzahlungen für den Zeitraum vom 1. Januar 1991 bis 31. Dezember 1994 (ca. 235.500 Euro).
19. Mit Urteil vom 3. Dezember 2002 wies das Landesarbeitsgericht die Berufung des Beschwerdeführers zurück. Es vertrat insbesondere die Auffassung, dass die weiteren Anträge des Beschwerdeführers im Hinblick auf
Entschädigungsleistungen, Schadenersatz und Gehaltsnachzahlungen, denen RFE/RL im Übrigen nicht zugestimmt habe, nicht zulässig seien, weil sie einen neuen Streitgegenstand darstellten, bezüglich dessen die Ergebnisse des
vorliegenden Verfahrens (Weiterbeschäftigung) nicht verwendet werden könnten. Das Landesarbeitsgericht ließ die Revision nicht zu. Das Urteil wurde dem Beschwerdeführer am 25. April 2003 zugestellt.
20. Am 25. Juni 2003 erhob der Beschwerdeführer vor dem Bundesarbeitsgericht Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision.
21. Mit Beschluss vom 3. November 2004 wies das Bundesarbeitsgericht die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen die Nichtzulassung der Revision mit der Begründung zurück, eine Divergenz zwischen dem angegriffenen Urteil
des Landesarbeitsgericht und seiner eigenen Rechtsprechung bzw. der des Bundesverfassungsgerichts liege nicht vor.
22. Am 1. Juli 2005 lehnte das Bundesverfassungsgericht es ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers gegen diesen Beschluss zur Entscheidung anzunehmen, weil sie unzulässig sei (1 BvR 2789/04). Es führte aus, dass
von einer Begründung abgesehen werde.
RECHTCHE WÜRDIGUNG
I. DIE BEHAUPTETE VERLETZUNG DES ARTIKELS 6 ABSATZ 1 DER KONVENTION
23. Der Beschwerdeführer behauptet, die Dauer des Verfahrens habe den Grundsatz der „angemessenen Frist" im Sinne des Artikels 6 Absatz 1 der Konvention mit folgendem Wortlaut verletzt:
„Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen (...) von einem (...) Gericht (...) innerhalb angemessener Frist verhandelt wird".
24. Die Regierung räumt ein, dass dieser Artikel verletzt worden ist. Sie unterstreicht jedoch, dass die Sache eine gewisse Komplexität aufwies und im Zusammenhang mit den anderen vom Beschwerdeführer parallel angestrengten
Verfahren zu sehen sei. Dieser habe zudem in erheblichem Maße zur Dauer des Verfahrens beigetragen, indem er eine Vielzahl von Beschwerden erhoben habe, u.a. ein Ablehnungsgesuch und vier Verfassungsbeschwerden. Die
Regierung ist der Ansicht, dass die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts, das Verfahren auszusetzen und den Ausgang des Verfahrens hinsichtlich der Kündigung und der gerichtlichen Vertragsauflösung abzuwarten, sinnvoll war.
Sie behauptet schließlich, das vorliegende Verfahren sei zwar Teil einer arbeitsgerichtlichen Streitigkeit, die Klage des Beschwerdeführers auf Weiterbeschäftigung würde aber nicht dieselbe Eile gebieten wie ein Rechtsstreit, in dem
es um das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses geht.
25. Der Gerichtshof stellt fest, dass der zu berücksichtigende Zeitraum am 23. Mai 1990 begann und am 1. Juli 2005 endete, als die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erging. Er hat demnach etwas mehr als fünfzehn
Jahre für vier Rechtszüge gedauert.
A. Zur Zulässigkeit
26. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht offensichtlich unbegründet im Sinne von Artikel 35 Absatz 3 Buchstabe a der Konvention ist. Er weist außerdem darauf hin, dass in Bezug auf die Rüge kein anderer
Unzulässigkeitsgrund vorliegt. Sie ist daher für zulässig zu erklären.
B. Zur Hauptsache
27. Der Gerichtshof ruft in Erinnerung, dass die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens entsprechend den Umständen der Rechtssache und unter Berücksichtigung der in seiner Rechtsprechung verankerten Kriterien, insbesondere
der Komplexität des Falles, des Verhaltens des Beschwerdeführers und des Verhaltens der zuständigen Behörden sowie der Bedeutung des Rechtsstreits für die Betroffenen zu beurteilen ist (siehe unter vielen anderen Frydlender ./.
Frankreich [GK], Nr. 30979/96, Rdnr. 43, CEDH 2000-VII). 28. Der Gerichtshof hat mehrfach Rechtssachen behandelt, die ähnliche Fragen wie im vorliegenden Fall betreffen, und eine Verletzung des Artikels 6 Absatz 1 der
Konvention festgestellt (o.a. Rechtssache M., Dostál ./. Tschechische Republik, Nr. 52859/99, 25. Mai 2004, o.a. Rechtssache M. Nr. 2 und K. ./. Deutschland, Nr. 21061/06, 22. Dezember 2009).
29. Nach Prüfung aller ihm vorgetragenen Umstände ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die Dauer des Verfahrens seit seiner Wiederaufnahme im Jahr 2002 bis zum Abschluss am 1. Juli 2005 an sich zwar nicht als unangemessen zu
betrachten ist, die Gesamtdauer des streitigen Verfahrens aber übermäßig lang ist und dem Erfordernis einer „angemessenen Frist" nicht entspricht. Er ruft hierbei in Erinnerung, dass die Tatsache, dass die Dauer dieses Verfahrens
größtenteils durch den Beschluss bedingt ist, die Prüfung der Sache in Erwartung des Ausgangs des Verfahrens hinsichtlich der Kündigung und der gerichtlichen Vertragsauflösung auszusetzen (Rdnr. 8 oben), nicht deren
unverhältnismäßigen Charakter entkräftet, sondern im Rahmen des Artikels 41 der Konvention zu berücksichtigen ist (o.a. Rechtssache M. Nr. 2, Rdnr. 45).
30. Demnach ist Artikel 6 Absatz 1 verletzt worden.
II. DIE BEHAUPTETE VERLETZUNG DES ARTIKELS 13 DER KONVENTION
31. Der Beschwerdeführer rügt auch die Tatsache, es gäbe in Deutschland kein Gericht, an das man sich wenden könne, um sich über die übermäßige Verfahrensdauer zu beschweren. Er beruft sich auf Artikel 13 der Konvention, der
wie folgt lautet:
„Jede Person, die in ihren in dieser Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, hat das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben, auch wenn die Verletzung von Personen
begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben."
32. Die Regierung räumt ein, dass dem Beschwerdeführer kein wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung stand, um sich über die Dauer des streitigen Verfahrens zu beschweren. Sie weist auf den Gesetzentwurf hin, mit dem ein neuer
Entschädigungsanspruch im deutschen Recht eingeführt wird.
A. Zur Zulässigkeit
33. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht offensichtlich unbegründet im Sinne von Artikel 35 Absatz 3 Buchstabe a der Konvention ist. Er weist außerdem darauf hin, dass in Bezug auf die Rüge kein anderer
Unzulässigkeitsgrund vorliegt. Sie ist daher für zulässig zu erklären.
B. Zur Hauptsache
34. Der Gerichtshof erinnert daran, dass er wiederholt das Fehlen eines wirksamen Rechtsbehelfs im deutschen Recht festgestellt hat, um sich wegen der Dauer eines Zivilverfahrens im Sinne des Artikels 6 der Konvention zu
beschweren (S. ./. Deutschland [GK], Nr. 75529/01, Rdnrn. 115-116, CEDH 2006-VII, H. ./. Deutschland, Nr. 20027/02, Rdnrn. 65-68, 11. Januar 2007, und R. ./. Deutschland, Nr. 46344/06, Rdnr. 52, 2. September 2010).
35. Daher ist Artikel 13 der Konvention verletzt worden.
III. DIE ANDEREN VORGEBRACHTEN RÜGEN
36. Insoweit der Beschwerdeführer neue Rügen auf der Grundlage von Artikel 6 Absatz 1 der Konvention und des Protokolls Nr. 1 vorzubringen scheint, erinnert der Gerichtshof daran, dass er in seiner Teilentscheidung vom 19. Mai
2009 beschlossen hat, der Regierung nur die Rügen wegen der Verfahrensdauer und wegen des Fehlens einer wirksamen Beschwerde im Sinne des Artikels 13 der Konvention, um sich wegen der Dauer des Verfahrens zu beschweren,
zur Kenntnis zu bringen und die anderen vorgebrachten Rügen für unzulässig zu erklären. Demnach ist es nicht nötig, diese erneut zu würdigen.
IV. DIE ANWENDUNG DES ARTIKELS 41 DER KONVENTION
37. Artikel 41 der Konvention lautet wie folgt:
„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser
Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist."
A. Schaden
38. Wegen des materiellen Schadens verlangt der Beschwerdeführer 235.474,45 Euro (EUR) für den dreijährigen Verdienstausfall, mindestens 25.000 EUR wegen der Verletzung seines Grundrechts auf Beschäftigung und 6.174,98
EUR nebst Zinsen für Anwaltsgebühren der Gegenseite in dem Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten. Wegen des immateriellen Schadens, den er erlitten habe, fordert der Beschwerdeführer 63.000 EUR.
39. Was den behaupteten materiellen Schaden anbelangt, macht die Regierung geltend, es gäbe keinen Kausalzusammenhang zwischen den behaupteten Verletzungen und dem Schaden. Bezüglich des behaupteten immateriellen
Schadens hat sie sich wegen des unverhältnismäßigen Charakters der Ansprüche nicht geäußert.
40. Der Gerichtshof sieht keinen Kausalzusammenhang zwischen den festgestellten Verletzungen und dem behaupteten materiellen Schaden und weist diese Forderung zurück. Er ist hingegen der Auffassung, der Beschwerdeführer
habe mit Sicherheit einen immateriellen Schaden erlitten. Bezüglich der Verfahrensdauer ist er jedoch der Auffassung, dass die Feststellung einer Verletzung von Artikel 6 Absatz 1 eine ausreichende gerechte Entschädigung darstellt,
und zwar sowohl hinsichtlich der Dauer, die durch die Aussetzung des streitigen Verfahrens verursacht wurde (Rdnrn. 13-16 oben - siehe o.a. Rechtssache M. Nr. 2, Rdnr. 66), als auch hinsichtlich der Dauer des Verfahrens seit seiner
Wiederaufnahme bis zum Abschluss (Rdnr. 29 oben). In Bezug auf die Verletzung des Artikels 13 der Konvention billigt er dem Beschwerdeführer hierfür den Betrag von 1.000 EUR zu.
B. Kosten und Auslagen
41. Der Beschwerdeführer fordert ebenfalls 3.395,56 EUR für die Anwaltsgebühren vor dem Bundesarbeitsgericht und 4.500 EUR für die Kosten vor dem Gerichtshof sowie 1.370,85 EUR für Übersetzungskosten bezüglich des
Verfahrens vor dem Gerichtshof. Er fordert außerdem den Betrag von 2.000 EUR für eigene Kosten vor den innerstaatlichen Gerichten und vor dem Gerichtshof sowie 150 EUR bedingt durch die Ausgaben für Ablichtungen, Faxe und
Portogebühren.
42. Die Regierung hat hierzu nicht Stellung genommen.
43. Der Gerichtshof erinnert daran, dass ein Beschwerdeführer die Erstattung seiner Kosten und Auslagen nur insoweit erhalten kann, als diese tatsächlich angefallen sind und erforderlich waren, d.h. sie sich auf die festgestellte
Verletzung beziehen und im Hinblick auf ihre Höhe angemessen sind. Unter Berücksichtigung der dem Gerichtshof vorliegenden Unterlagen und angesichts seiner Rechtsprechung sowie der Tatsache, dass die Stellungnahmen des
Beschwerdeführers nicht nur die Rügen betrafen, die der Gerichtshof der Regierung zur Kenntnis gebracht hat (Rdnr. 36 oben), erachtet der Gerichtshof es für angemessen, im vorliegenden Fall den Betrag von 3.900 EUR für das
Verfahren vor dem Gerichtshof (kombinierte Kosten) und von 250 EUR für die Kosten des Beschwerdeführers zuzubilligen. Er erinnert hier daran, dass in den Fällen, in denen es sich um die Verfahrensdauer handelt, die
Verlängerung der Prüfung einer Sache über die „angemessene Frist" hinaus eine Erhöhung der Kosten zu Lasten des Betroffenen mit sich bringt (o.a. Rechtssache S., Rdnr. 148). Er billigt dem Beschwerdeführer demnach 4.150 EUR
für Kosten und Auslagen zu.
C. Verzugszinsen
44. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank zuzüglich 3 Prozentpunkte zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Er erklärt die Beschwerde für zulässig.
2. Er entscheidet, dass Artikel 6 Absatz 1 der Konvention verletzt ist.
3. Er entscheidet, dass Artikel 13 der Konvention verletzt ist.
4. Er entscheidet, dass
a) der beschwerdegegnerische Staat dem Beschwerdeführer innerhalb von drei Monaten 1.000 EUR (eintausend Euro) für den vom Beschwerdeführer erlittenen immateriellen Schaden und 4.150 EUR (viertausendeinhundertfünfzig
Euro) für Kosten und Auslagen zuzüglich der Beträge, die als Steuer möglicherweise angefallen sind, zu zahlen hat;
b) dass dieser Betrag nach Ablauf der genannten Frist und bis zur Zahlung um einfache Zinsen zu einem Satz entsprechend demjenigen der Spitzenrefinanzierungsfazilität der Europäischen Zentralbank, der in diesem Zeitraum
Gültigkeit hat, zu erhöhen ist, zuzüglich drei Prozentpunkten.
5. Er weist im Übrigen den Antrag auf gerechte Entschädigung zurück.
Ausgefertigt in französischer Sprache und anschließend am 13. Oktober 2011 gemäß Artikel 77 Absätze 2 und 3 der Verfahrensordnung schriftlich übermittelt. ..." (EGMR, Urteil vom 13.10.2011 - 3863/06)
***
„... Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass Artikel 13 auch dann anwendbar ist, wenn eine Verletzung der Konventionsrechte des Beschwerdeführers nicht vorliegt. Allerdings findet er nur dann Anwendung, wenn eine Person
"vertretbar" beanspruchen kann, in einem Recht aus der Konvention verletzt zu sein (siehe u. a. Boyle und Rice . / .Vereinigtes Königreich, 27. April 1988, Rdnr. 52, Serie A Bd. 131).Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass die
Rüge des Beschwerdeführers nach Artikel 6 Abs. 1 wegen der Verfahrensdauer offensichtlich unbegründet ist. Folglich hatte der Beschwerdeführer keinen "vertretbaren Anspruch" im Sinne von Artikel 13 (siehe beispielsweise S. ./.
Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 22367/04, 12. Februar 2008, und E. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 77151/01, 23. Juni 2005). Daraus folgt, dass diese Beschwerde ebenfalls offensichtlich
unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist. ..." (EGMR, Entscheidung vom 06.09.2011 - 24098/09)
***
Der Begriff "Opfer" in Art 34 EMRK (Individualbeschwerden) muss autonom und unabhängig von entsprechenden Begriffen im staatlichen Recht, wie z. B. dem Rechtsschutzinteresse, ausgelegt werden. Opfer ist zunächst der direkt
von einer angeblichen Menschenrechtsverletzung Betroffene, ausnahmsweise auch ein nur indirekt Betroffener, z. B. Angehörige von Opfern. Auch mögliche Opfer können in Ausnahmefällen berechtigt sein, Beschwerde einzulegen,
z. B. wenn das angegriffene Gesetz geheime Maßnahmen erlaubt, so dass der Beschwerdeführer nicht darlegen kann, dass es auf ihn angewendet worden ist, wenn das angegriffene Gesetz ein Verhalten mit Strafe bedroht und der
Beschwerdeführer deswegen sein Verhalten ändern musste oder wenn er einer Personengruppe angehört, die Gefahr läuft, direkt von Auswirkungen des angegriffenen Gesetzes betroffen zu werden. Einerlei, ob es sich um eine direkte,
indirekte oder mögliche Beschwer handelt, muss jedenfalls ein direkter Zusammenhang zwischen dem Beschwerdeführer und dem Schaden bestehen, den er durch eine Konventionsverletzung erlitten zu haben glaubt. Die Konvention
kennt keine Popularklage zur Auslegung der in ihr garantierten Rechte. Der Beschwerdeführer beschwert sich über eine Schweizer Verfassungsvorschrift und macht nicht geltend, sie sei auf ihn angewendet worden. Er ist weder
direktes noch indirektes Opfer der behaupteten Konventionsverletzung, und auch kein mögliches Opfer, weil sein Verhalten nicht durch die umstrittene Verfassungsvorschrift beeinflusst wurde. Er behauptet auch nicht, dass er in
absehbarer Zeit eine Moschee mit einem Minarett bauen möchte. Deswegen ist seine Beschwerde ratione personae unvereinbar mit der Konvention und als unzulässig zurückzuweisen. Art 13 EMRK (Recht auf eine wirksame
Beschwerde) garantiert keinen Rechtsbehelf, mit dem man bei einem staatlichen Gericht geltend machen kann, dass ein Gesetz nicht mit der Konvention vereinbar sei (EGMR, Entscheidung vom 28.06.2011 - 65840/09 zu EMRK Art.
9, 13, 14, 34, 35 III, IV, BeckRS 2011, 25462).
***
Der im blockierten Wagen sitzende Polizist konnte berechtigterweise annehmen, dass sein Leben durch Angriffe von Demonstranten gefährdet war. Dass er nach einer Warnung einen ungezielten Schuss abgegeben hat, der einen
Demonstranten tödlich verletzt hat, war nach Art. 2 II lit. a EMRK (Recht auf Leben) gerechtfertigt, weil die Gewaltanwendung unbedingt erforderlich war, um sich und seine Kollegen gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen. Art.
2 EMRK verpflichtet die Staaten nicht nur, absichtliche ungerechtfertigte Tötungen zu unterlassen, sondern auch dazu, die notwendigen Maßnahmen zum Schutz des Lebens der Personen unter ihrer Hoheitsgewalt zu treffen. Sie
müssen einen rechtlichen und verwaltungsmäßigen Rahmen schaffen, der die Voraussetzungen begrenzt, unter denen Polizisten Gewalt anwenden und von der Schusswaffe Gebrauch machen dürfen und dabei angemessene Garantien
gegen Willkür und Missbrauch vorsieht. Die italienischen Behörden haben alles getan, was vernünftigerweise von ihnen erwartet werden konnte, um den Schutz des Lebens bei den Polizeioperationen, bei denen die Gefahr tödlicher
Gewaltanwendung bestand, zu gewährleisten. Deswegen ist Art. 2 EMRK auch nicht bei Organisation und Planung dieser Operation verletzt. Italien hat weiter die sich aus Art. 2 EMRK ergebene Pflicht, beim Tod einer Person
wirksame Ermittlungen anzustellen, nicht verletzt. Deswegen ist gegen diese Vorschrift auch nicht in ihrem verfahrensrechtlichen Aspekt verstoßen worden (EGMR, Urteil vom 24.03.2011 - 23458/02 zu Art. 2, 3, 6, 13, 38, BeckRS
2011, 21463).
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Weder Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) noch eine andere Vorschrift der Konvention garantiert einem Ausländer das Recht auf eine Aufenthaltserlaubnis in einem Konventionsstaat. Doch müssen die
Staaten ihre Ausländerpolitik so handhaben, dass sie mit den Grundrechten der Ausländer vereinbar bleibt, insbesondere mit den Rechten in Art. 8 EMRK und dem Verbot der Diskriminierung nach Art. 14 EMRK. Zum Begriff des
Familienlebens i.S. von Art. 8 I EMRK gehören jedenfalls die Beziehungen aus einer rechtmäßigen Ehe, wie sie zwischen dem Beschwerdeführer und seiner russischen Ehefrau besteht. Art. 14 EMRK verbietet eine Diskriminierung
auch wegen einer Behinderung und allgemein wegen des Gesundheitszustands einer Person einschließlich einer HIV-Infektion. Daher ist Art. 14 EMRK i.V. mit Art. 8 EMRK im vorliegenden Fall anwendbar. Behandelt ein
Konventionsstaat Einzelpersonen oder Personengruppen unterschiedlich, muss er nachweisen, dass es dafür sachliche und vernünftige Gründe gibt, er also ein berechtigtes Ziel verfolgt und die angewendeten Mittel zu diesem Ziel
verhältnismäßig sind. Dabei hat er einen Ermessensspielraum. Der ist allerdings eng, wenn es um eine besonders verletzliche Gruppe von Personen geht, die in der Vergangenheit unter erheblicher Diskriminierung gelitten hat.
HIV-Infizierte wie der Beschwerdeführer sind eine solche Gruppe. Seit dem Ausbruch der Pandemie in den 80iger Jahren haben sie verbreitet unter Stigmatisierung und Ausschluss gelitten, auch in den Mitgliedstaaten des Europarats.
Nach übereinstimmender Auffassung aller Sachkenner innerhalb und außerhalb internationaler Organisationen sind Reisebeschränkungen ein unwirksames Mittel, die Verbreitung der HIV-Infektion zu verhindern. Untersuchungen auf
HIV sind in Russland im Übrigen für Kurzzeitbesucher und Touristen nicht vorgeschrieben und auch nicht für russische Staatsbürger bei Rückkehr von einer Reise ins Ausland. HIV-infizierte Ausländer belasten dort auch nicht den
öffentlichen Gesundheitsdienst, denn Ausländer haben in Russland keinen Anspruch auf kostenlose medizinische Versorgung. Nach dem russischen AusländerG können die Behörden und Gerichte bei ihrer Entscheidung über den
Antrag eines HIV-infizierten Ausländers auf eine Aufenthaltserlaubnis auch nicht seine besondere Situation und seine familiären Bindungen in Russland berücksichtigen. Daher ist Art. 14 EMRK i.V. mit Art. 8 EMRK im
vorliegenden Fall verletzt. Der Beschwerdeführer, obwohl juristisch nicht bewandert und anwaltlich nicht vertreten, hätte die russischen Gerichte bitten können, seinen Fall nicht öffentlich zu verhandeln. Unter den gegebenen
Umständen waren die Gerichte nicht gehalten, von Gerichts wegen die Öffentlichkeit auszuschließen. Insoweit ist die auf Art. 6 I EMRK gestützte Beschwerde offensichtlich unbegründet und nach Art. 35 III lit a, IV EMRK
unzulässig (EGMR, Urteil vom 10.03.2011 - 2700/10 zu EMRK Art. 6 I, 8, 13, 14, 15, 35 III, 41, BeckRS 2011, 26127).
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Für die Berechnung der Sechsmonatsfrist des Art. 35 I EMRK ist im vorliegenden Fall das Datum des Eingangs der dem Beschwerdeführer mit gewöhnlichem Brief zugestellten Entscheidung des BVerfG maßgebend. Anhaltspunkte
dafür, dass der Eingangsstempel des Anwalts auf der Entscheidung nicht ordnungsgemäß angebracht wurde, liegen nicht vor. Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK ist ein Grundpfeiler der
"demokratischen Gesellschaft" i. S. der Konvention. Sie ist in ihrer religiösen Dimension eines der wichtigsten Elemente, das die Identität der Gläubigen und ihre Auffassung vom Leben bestimmt. Doch sie ist auch ein wertvolles Gut
für Atheisten, Agnostiker, Skeptiker und Gleichgültige. Der von einer demokratischen Gesellschaft untrennbare Pluralismus - teuer erkauft über die Jahrhunderte - hängt von ihr ab. Zur Religionsfreiheit gehört auch die Freiheit, seine
Religionszugehörigkeit oder seine religiösen Überzeugungen nicht angeben zu müssen. Staatliche Behörden haben nicht das Recht, in die Gewissensfreiheit des Einzelnen einzugreifen und nach seinen religiösen Überzeugungen zu
fragen oder ihn zu zwingen, seine Glaubensüberzeugungen zu offenbaren. Die Pflicht des Beschwerdeführers, auf der Lohnsteuerkarte seine Mitgliedschaft in einer Kirche oder Religionsgemeinschaft anzugeben, ist ein Eingriff in
seine nach Art. 9 I EMRK geschützte Religionsfreiheit. Der Eingriff war "gesetzlich vorgesehen" und verfolgte ein berechtigtes Ziel i. S. von Art. 9 II EMRK, nämlich das den Kirchen und Religionsgemeinschaften nach dem GG
garantierte Recht zu sichern, Kirchensteuer zu erheben. Der Eingriff war verhältnismäßig, denn der Vermerk auf der Steuerkarte besagt lediglich, dass der Beschwerdeführer keiner Kirche oder Religionsgemeinschaft angehört, die
Steuern zu erheben berechtigt ist. Außerdem wird die Steuerkarte nur zur Vorlage beim Arbeitgeber verwendet, und im Übrigen hält sich die Regelung im Rahmen des Ermessensspielraums, der den Konventionsstaaten in diesem
Bereich zusteht. Obwohl der Beschwerdeführer vor dem BVerfG nur Verletzung seiner Religionsfreiheit gerügt hat, ist seine Beschwerde nach Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) nicht unzulässig nach
Art. 35 I EMRK, denn nach der Rechtsprechung des BVerfG wird bei einer mit der Religionsfreiheit vereinbarten Maßnahme eine Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung nicht mehr geprüft. Der Eingriff in die
Rechte nach Art. 8 I EMRK ist jedoch nach Art. 8 II gerechtfertigt. Diskriminierung (Art. 14 EMRK) hat der Beschwerdeführer nicht vor dem BVerfG gerügt, obwohl die Verfassungsbeschwerde eine wirksame Beschwerde i. S. von
Art. 13 EMRK ist, die ein Beschwerdeführer grundsätzlich erheben muss, bevor er den Gerichtshof anruft. Die Beschwerde ist daher insoweit nach Art. 35 I EMRK unzulässig (EGMR, Urteil vom 17.02.2011 - 12884/03 zu EMRK
Art. 8, 9, 13, 14, 35 I, IIIa, IV).
***
Art. 2 I EMRK verpflichtet die Vertragsstaaten, das Recht auf Leben durch wirksame Strafvorschriften zu schützen, zu denen ein System zur Durchsetzung mit dem Ziel der Vorbeugung, Verhinderung und Bestrafung von Verstößen
gehört. Daraus ergibt sich die weitere Pflicht, wirksame Ermittlungen anzustellen, wenn jemand durch Gewaltanwendung oder unter verdächtigen Umständen ums Leben gekommen ist. Die Ermittlungen müssen unabhängig,
unparteiisch und gründlich sein. Die Angehörigen des Opfers müssen Zugang zum Verfahren haben. Der Gerichtshof prüft, ob die Ermittlungen den genannten Anforderungen entsprechen, ohne sich in die Arbeit der zuständigen
Behörden oder Gerichte einzumischen, es sei denn, sie haben willkürlich gehandelt oder wesentliche Umstände nicht beachtet. Dem ist so im vorliegenden Fall: die bulgarische Behörden haben zahlreiche mögliche
Ermittlungsmaßnahmen nicht ergriffen und offenkundig wesentliches Beweismaterial außer Acht gelassen. Die Angehörigen hatten auch keinen Zugang zum Ermittlungsverfahren und waren am Verfahren über die Absprache
zwischen der Staatsanwaltschaft und dem Straftäter nicht beteiligt. Damit ist Art. 2 EMRK verletzt. Rassistisch motivierte Gewalt ist ein besonderer Angriff auf die Würde des Menschen und verlangt wegen ihrer gefährlichen
Auswirkungen von den Behörden besondere Aufmerksamkeit und energische Reaktion. Bei der Untersuchung von Gewalttaten sind die Vertragsstaaten verpflichtet, alles zu unternehmen, um rassistische Beweggründe
aufzudecken und herauszufinden, ob Hass oder Vorurteile wegen ethnischer Zugehörigkeit bei den Ereignissen eine Rolle gespielt haben. Im vorliegenden Fall scheint der verurteilte Täter seinem Opfer zugerufen zu haben "Du
verdammter Zigeuner", und der ermittelnde Staatsanwalt hat das Opfer und seine Angehörigen als "Zigeuner" bezeichnet. Unter den Umständen des Falls reicht das aber nicht aus, auf rassistische Vorurteile zu schließen, welche die
Ermittlungen beeinflusst hätten (EGMR, Urteil vom 27.01.2011 - 44862/04 zu EMRK Art. 2, 13, 14, 34, 35 I, III lit. a, 41, BeckRS 2011, 24044).
***
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in einem richtungsweisenden Urteil die Abschiebung eines afghanischen Asylbewerbers aus Belgien nach Griechenland verurteilt. Der Beschwerdeführer, ein
afghanischer Staatsangehöriger, verließ Kabul Anfang 2008 und reiste, auf dem Weg über den Iran und die Türkei, über Griechenland in die EU ein. Am 10.02.2009 stellte er in Belgien einen Asylantrag. Gemäß der Dublin
II-Verordnung der EU ersuchte das belgische Ausländeramt die griechischen Behörden, die Prüfung des Asylantrags zu übernehmen. In der Zwischenzeit äußerte der UNHCR in einem Brief an den belgischen Minister für Migrations-
und Asylpolitik Kritik an den Mängeln des Asylverfahrens in Griechenland sowie an den dortigen Aufnahmebedingungen und empfahl, Überstellungen von Asylbewerbern nach Griechenland auszusetzen. Dennoch ordnete das
belgische Ausländeramt Ende Mai 2009 die Überstellung des Beschwerdeführers nach Griechenland an, wo er einen Asylantrag stellen könnte. Dass die griechischen Behörden innerhalb der vorgesehenen Frist von zwei Monaten nicht
geantwortet hatten, betrachtete das belgische Ausländeramt als stillschweigende Billigung. Zudem führte das Amt aus, dass Belgien gemäß der Dublin II-Verordnung der EU nicht für die Prüfung des Asylantrags zuständig sei und dass
es keinen Anlass zu der Annahme gebe, dass die griechischen Behörden ihren rechtlichen Verpflichtungen im Asylverfahren nicht nachkommen würden. Der Beschwerdeführer legte beim belgischen Rat für Ausländerstreitsachen
Berufung ein. Er machte geltend, dass ihm in Griechenland Haft unter unzumutbaren Bedingungen drohe, dass das dortige Asylverfahren Mängel habe und dass er befürchte, letztlich ohne Prüfung der Gründe für seine Flucht wieder
nach Afghanistan abgeschoben zu werden. Dort sei er einem Mordversuch der Taliban als Vergeltung für seine Arbeit als Dolmetscher für die internationalen Streitkräfte in Kabul entkommen. Nachdem der Rat seinen Eilantrag auf
Aussetzung der Maßnahme abgelehnt hatte, wurde er am 15.06.2009 nach Griechenland überstellt. Unmittelbar nach seiner Ankunft wurde er in einem Gebäude neben dem Flughafen untergebracht, wo er nach seinen Angaben mit 20
anderen Personen in einem kleinen Raum eingeschlossen worden sei, nur zu bestimmten Zeiten Zugang zu den Toiletten und keinen Zugang zur frischen Luft gehabt, nur wenig zu essen bekommen habe und wo er entweder auf
schmutzigen Matratzen oder dem nackten Boden habe schlafen müssen. Am 18.06.2009 wurde er freigelassen und erhielt einen Asylbewerberausweis. Seitdem habe er ohne Unterhaltsmittel auf der Straße gelebt. Einige Zeit später
wurde der Beschwerdeführer, nachdem er versucht hatte, Griechenland mit einem gefälschten Ausweis zu verlassen, erneut eine Woche lang in dem Haftzentrum neben dem Flughafen festgehalten. Nach seinen Angaben sei er dort
von der Polizei geschlagen worden. Nach seiner Freilassung habe er weiter, mit gelegentlicher Unterstützung durch Anwohner und die Kirche, auf der Straße gelebt. Bei der Verlängerung seines Asylbewerberausweises im Dezember
2009 wurden seitens der Behörden offenbar erste Schritte unternommen, um eine Übernachtungsmöglichkeit für den Beschwerdeführer zu finden. Nach seinen Angaben sei ihm aber nie eine Unterkunft angeboten worden. Der
afghanische Flüchtling argumentierte, dass seine Abschiebung aus Belgien nach Griechenland eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention darstellt, weil Asylbewerber dort unzumutbaren Bedingungen ausgesetzt
sind. Schließlich habe ihm nach belgischem Recht kein wirksamer Rechtsbehelf gegen seine Überstellung zur Verfügung gestanden. Die Beschwerde wurde am 11.06.2009 beim EGMR eingelegt. Der Antrag des Beschwerdeführers,
seine Überstellung nach Griechenland durch eine einstweilige Maßnahme nach Art. 39 der Verfahrensordnung gegenüber Belgien auszusetzen, wurde am 12.06.2009 abgelehnt. Am 02.07.2009 entschied der Gerichtshof, Art. 39
gegenüber Griechenland anzuwenden, mit der Wirkung, die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan bis zur Entscheidung seines Falls vor dem Gerichtshof auszusetzen.
Der EGMR hat der Beschwerde stattgegeben. Die belgischen Behörden hätten Asylwerber nicht nach Griechenland abschieben dürfen. So habe es konkret bei dem Afghanen eine Verletzung von Art. 3 der Europäischen
Menschenrechtskonvention (Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) durch Griechenland aufgrund der Haft- und der Lebensbedingungen des Beschwerdeführers gegeben. Außerdem registrierten die Richter eine
Verletzung von Art. 13 (Recht auf wirksame Beschwerde) durch Griechenland aufgrund der Mängel des dortigen Asylverfahrens im Fall des Beschwerdeführers. Schließlich wurde Belgien aufgrund der Überstellung des afghanischen
Flüchtlings nach Griechenland verurteilt, weil der Asylwerber dem "dortigen mangelhaften Asylsystem und den damit verbundenen Risiken sowie den dortigen Haft- und Lebensbedingungen ausgesetzt" war. Ferner wurde eine
Verletzung von Art. 13 durch Belgien festgestellt, weil der Beschwerdeführer nach dortigem Recht über keinen wirksamen Rechtsbehelf gegen seine Überstellung verfügte. Griechenland muss dem Beschwerdeführer 1.000 Euro für
den erlittenen immateriellen Schaden und 4.725 Euro für die entstandenen Kosten zahlen. Belgien hat dem Beschwerdeführer 24.900 Euro für den erlittenen immateriellen Schaden und 7.350 Euro für die entstandenen Kosten zu
zahlen. Mit dem EGMR-Urteil wurde auch die Dublin II-Verordnung, nach welcher Asylsuchende ihr Verfahren in jenem EU-Land abwarten müssen, in welches sie zuerst eingereist sind, infrage gestellt. Deutschland hat bereits
wegen der humanitären Notsituation die Rückführung von Asylbewerbern nach Griechenland für ein Jahr gestoppt. Das Urteil kann Auswirkungen auf all jene EU-Staaten haben, die weiterhin Asylsuchende nach Griechenland
zurückschicken, wenn sie dort in die EU eingereist sind (EGMR, Entscheidung vom 21.01.2011 - 30696/09).
***
Ein Verfahren zur Amtsenthebung des Präsidenten der Republik betrifft weder eine Entscheidung über „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen" noch über eine „strafrechtliche Anklage". Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires
Verfahren) ist deswegen nicht anwendbar. Art. 3 Zusatzprotokoll zur EMRK (Recht auf freie Wahlen) gilt nur für die Wahl der gesetzgebenden Körperschaften. Deswegen ist er auf die Wahl des Parlaments anwendbar, nicht aber auf
die Wahl des Präsidenten der Republik. Art. 17 EMRK (Verbot des Missbrauchs der Rechte) will Personen oder Gruppen mit totalitären Zielsetzungen daran hindern, die in der Konvention verankerten Grundsätze für ihre Interessen
auszunutzen. Die Vorschrift kann nur ausnahmsweise und in extremen Fällen angewendet werden, insbesondere wenn der Beschwerdeführer ein Konventionsrecht missbrauchen und für Ziele benutzen will, die Buchstaben und Geist
der Konvention widersprechen. Art. 3 Zusatzprotokoll zur EMRK enthält das Recht zu wählen und gewählt zu werden. Die Konventionsstaaten können Einzelheiten regeln und insbesondere Voraussetzungen für das aktive und
passive Wahlrecht festlegen. Sie haben dabei einen Ermessensspielraum. Der Gerichtshof prüft, ob die Einschränkungen gesetzlich vorgesehen sind, ein berechtigtes Ziel verfolgen und verhältnismäßig sind. Art. 3 Zusatzprotokoll zur
EMRK schließt nicht aus, das Wahlrecht von Personen zu beschränken, die ein öffentliches Amt in schwerwiegender Weise missbraucht haben und deren Verhalten die Rechtsstaatlichkeit oder andere demokratische Grundsätze
gefährdet hat. Bei Beurteilung der Verhältnismäßigkeit ist von besonderer Bedeutung, ob die Beschränkung des Rechts befristet ist und ob sie später geändert werden kann. Das ist in Litauen nicht der Fall, so dass Art. 3
Zusatzprotokoll zur EMRK verletzt ist. Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) verlangt nicht, dass es im staatlichen Recht einen Rechtsbehelf gibt, mit dem man geltend machen kann, ein Gesetz oder eine Entscheidung des
Verfassungsgerichts mit normativer Wirkung verstoße gegen die Konvention (EGMR, Urteil vom 06.01.2011 - 34932/04 zu EMRK Art. 6, 7, 13, 17, 35 III, IV, 41; Zusatzprotokoll zur EMRK Art. 3; Protokoll Nr. 7 zur EMRK Art. 4,
BeckRS 2011, 20426).
***
Ob das Verbot der Gay Pride Paraden und Mahnwachen "gesetzlich vorgesehen" war und ein berechtigtes Ziel i.S. von Art. 11 II EMRK (Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit) verfolgt hat, kann dahingestellt bleiben, denn es war
jedenfalls nicht "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig". Die Versammlungsfreiheit des Art. 11 EMRK schützt auch Demonstrationen, die Menschen belästigen oder beleidigen, welche die Anliegen ablehnen, für die dort
geworben werden soll. Die zuständigen Behörden der Vertragsstaaten müssen geeignete Maßnahmen treffen, damit rechtmäßige Demonstrationen friedlich verlaufen. Petitionen zugunsten des Verbots einer geplanten Demonstration
verbunden mit der Ankündigung von Gegendemonstrationen müssen unter dem Gesichtspunkt des Sicherheitsrisikos sorgfältig geprüft werden. Das ist im vorliegenden Fall nicht geschehen. Ziel und Zweck der umstrittenen
Veranstaltungen war es, zu Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten aufzurufen. Solche Demonstrationen, auf denen sich Menschen offen als Schwule, Lesben oder Angehörige einer anderen sexuellen Minderheit bekennen und
ihre Rechte und Freiheiten einfordern, sind in den meisten Ländern Europas gang und gäbe. Insoweit hatten die Moskauer Behörden und Gerichte entgegen der Auffassung der Regierung keinen weiten Ermessensspielraum. Jede
Einschränkung der Versammlungsfreiheit muss sich auf eine nachvollziehbare Würdigung der maßgeblichen Tatsachen stützen. Daran fehlt es im vorliegenden Fall, denn die Moskauer Behörden haben bei ihrem Verbot nur den
öffentlichen Widerstand gegen die geplanten Veranstaltungen berücksichtigt und die persönlichen Moralvorstellungen ihrer eigenen Repräsentanten in Betracht gezogen. Wird eine geplante Versammlung nicht genehmigt, ist eine
Beschwerde gegen das Verbot nur "wirksam" i.S. von Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde), wenn die zuständige "innerstaatliche Instanz" verpflichtet ist, vor dem für die Veranstaltung in Aussicht genommenen Termin
zu entscheiden. Das war hier nicht der Fall. Mit dem Verbot der umstrittenen Veranstaltungen wegen Förderung der Homosexualität haben die Moskauer Behörden und Gerichte den Beschwerdeführer wegen seiner sexuellen
Orientierung diskriminiert und gegen Art. 14 EMRK i.V. mit Art. 11 verstoßen (EGMR, Urteil vom 21.10.2010 - 4916/07, 25924/08, 14599/09, 4916-07, 25924/08, 14599/09 zu EMRK Art. 11, 13, 14, 35 III, IV, 41, BeckRS 2011, 22425).
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Quellenschutz ist für die Pressefreiheit in einer demokratischen Gesellschaft von großer Bedeutung. Aufforderungen an einen Journalisten, seine Quellen anzugeben, sowie Durchsuchungen seiner Wohnung oder seines Arbeitsplatzes,
um eine solche Quelle festzustellen, greifen in sein Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 10 EMRK ein. Sie sind nur gerechtfertigt, wenn dafür ein überwiegendes öffentliches Interesse besteht. Im vorliegenden Fall hat die StA
mit Durchsuchung und Beschlagnahme gedroht, woraufhin die Beschwerdeführerin die verlangten Fotos herausgegeben hat. Damit hat die StA in deren Rechte nach Art. 10 EMRK eingegriffen. Um nach Art. 10 II EMRK
gerechtfertigt zu sein, muss ein solcher Eingriff zunächst "gesetzlich vorgesehen" sein. Das heißt, er muss eine Grundlage im staatlichen Recht haben, und die muss eine bestimmte Qualität aufweisen. Angesichts der Bedeutung des
Quellenschutzes für die Pressefreiheit muss das Recht auf diesen Schutz durch gesetzlich festgelegte Verfahrensgarantien abgesichert werden. Dazu gehört vorrangig die Überprüfung durch einen Richter oder ein anderes unabhängiges
und unparteiisches Entscheidungsorgan, und das grundsätzlich vor Vollzug der Anordnung. Die hier umstrittene Aufforderung war auf § 96a niederländische StPO gestützt. Sie hatte damit eine Grundlage im staatlichen Recht. Das
aber kennt kein Verfahren, in dem objektiv und unparteiisch geprüft werden könnte, ob das von der StA angeführte Interesse an der Aufdeckung einer Straftat dem Interesse des Quellenschutzes in diesem Fall vorgeht. Daher war der
Eingriff nicht "gesetzlich vorgesehen" i. S. von Art. 10 II EMRK. Daran ändert nichts, dass die StA auf Veranlassung der Beschwerdeführerin noch vor Herausgabe der Fotos einen Untersuchungsrichter eingeschaltet hat, denn der hat
in diesem Bereich keinerlei rechtliche Befugnisse. Auch die nachträgliche Kontrolle durch das LG Amsterdam hat den Mangel der Rechtsgrundlage nicht geheilt: das LG konnte die Ermittler nicht davon abhalten, die umstrittenen
Fotos, einmal in ihren Händen, auch auszuwerten. Die Beschwerdeführerin hatte mit einer Stiftung verabredet, dass diese unter bestimmten Umständen einen Teil der Kosten übernehmen würde, die sie aufgrund einer
Honorarvereinbarung ihren Anwälten zahlen muss. Eine solche Absprache ist von dem Fall zu unterscheiden, in dem Rechtsverfolgungskosten von einem Dritten getragen werden. Sie ist für die Anwendung von Art. 41 EMRK
(Gerechte Entschädigung) ohne Bedeutung (EGMR, Urteil vom 14.09.2010 - 38224/03 zu EMRK Art. 10, 13, 41, BeckRS 2011, 19137):
„... A. Allgemeine Erwägungen
Die Freiheit der Meinungsäußerung ist einer der Grundpfeiler der demokratischen Gesellschaft, und die Garantien für die Presse sind dabei von besonderer Bedeutung. Wenngleich sie die ihr gesetzten Grenzen nicht überschreiten darf,
hat die Presse doch Informationen und Ideen zu Fragen von öffentlichem Interesse weiterzugeben, und die Öffentlichkeit hat das Recht, diese zu empfangen. Wäre es anders, könnte die Presse ihre unverzichtbare Rolle eines
„Wachhundes" nicht spielen (s. EGMR, 1991, Serie A, Bd. 216, S. 29-30 Nr. 59 = ÖJZ 1992, 378 - Observer u. Guardian/Vereinigtes Königreich). Das Recht der Journalisten auf Schutz ihrer Quellen ist Teil der Freiheit,
„Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe ... zu empfangen und weiter zu geben", wie sie Art.10 EMRK schützt. Es ist eine ihrer wesentlichen Garantien, ein Eckstein der Pressefreiheit, ohne den Informanten davon
abgehalten werden könnten, der Presse bei Unterrichtung der Öffentlichkeit über Fragen des öffentlichem Interesses zu helfen. Das aber könnte die Presse in ihrer entscheidenden Rolle als „Wachhund" beeinträchtigen und ihre
Fähigkeit mindern, die Öffentlichkeit genau und zuverlässig zu informieren.
Der Gerichtshof hat die Garantien zur Wahrung der Freiheit der Meinungsäußerung in Fällen zu Art. 10 EMRK immer besonders sorgfältig geprüft. Angesichts der Bedeutung des Schutzes journalistischer Quellen für die
Pressefreiheit in einer demokratischen Gesellschaft ist ein Eingriff in diese Rechte mit Art. 10 EMRK unvereinbar, wenn ihn nicht ein überwiegendes öffentliches Interesse rechtfertigt (s. EGMR, Slg. 1996-II Nr. 39 = ÖJZ 1996, 795 -
Goodwin/Vereinigtes Königreich; EGMR, Slg. 2003-IV Nr. 39 - Roemen u. Schmit/Luxemburg; EGMR, NJW 2008, 2563 Nr. 65 - Voskuil/Niederlande). ...
B. Eingriff
1. Urteil der Kammer (zusammengefasst)
[52] Die Kammer hat entschieden, es liege ein Eingriff in Form einer „Einschränkung" vor, Art. 10 EMRK sei anwendbar.
2. Vortrag der Beteiligten
a) Die Regierung (zusammengefasst)
Die Regierung bezweifelt, dass es zwischen der Bf. oder ihren Mitarbeitern und den Organisatoren des Autorennens irgendeine Absprache gegeben habe, um die Anonymität der Beteiligten zu wahren. Im Übrigen habe das Rennen auf
einer öffentlichen Strasse stattgefunden, also könne sich die Bf. gar nicht zur Vertraulichkeit oder Geheimhaltung verpflichtet haben. Doch selbst wenn hier eine Quelle zu schützen sei, beträfe die angebliche Absprache nur das
Rennen. Das aber habe Polizei und StA nie interessiert.
b) Die Bf. (zusammengefasst)
Die Bf. bekräftigt, ihre Journalisten hätten versprechen müssen, die Anonymität der an dem Rennen Beteiligten zu wahren, um fotografieren zu können.
c) Die Drittbeteiligten (zusammengefasst)
Die Drittbeteiligten betonen, die Behörden hätten dank der Fotos der Bf. einige oder alle Teilnehmer an der Rennveranstaltung identifizieren können.
3. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs
In früheren Fällen hat der Gerichtshof verschiedene behördliche Aktionen als Verstöße gegen die Freiheit der Meinungsäußerung von Journalisten angesehen, die gezwungen worden waren, auf ihr Privileg zu verzichten und
Informationen über ihre Quellen zu gehen oder Zugang zu ihren Informationen zu gewähren. Im Fall Goodwin/Vereinigtes Königreich (EGMR, Slg. 1996-II S. 496 Nr. 28 = ÖJZ 1996, 795) war er der Auffassung, dass die
Aufforderung an einen Journalisten, die Identität einer Person preiszugeben, die ihm im Schutz der Anonymität Informationen geliefert hatte, sowie die wegen seiner Weigerung gegen ihn verhängte Geldbusse Eingriffe in sein Recht
auf freie Meinungsäußerung nach Art. 10 I EMRK gewesen seien.
In ihrer Entscheidung British Broadcasting Corporation/Vereinigtes Königreich vom 18.1.1996 (25794/94), auf die sich die Regierung bezieht, hat die EKMR diesen Fall von der Sache Goodwin/Vereinigtes Königreich (s. EGMR,
Slg. 1996-II, S. 496 Nr. 28 = ÖJZ 1996, 795) unterschieden. Im letzten Fall habe der Bf. Informationen von einer vertraulichen Quelle erhalten, die anonym bleiben wollte, während die Informationen der BBC Aufnahmen zu einem
Sachverhalt eingeschlossen hätten, der sich in der Öffentlichkeit zugetragen hatte. Daher könne hier eine Pflicht zur Geheimhaltung oder Vertraulichkeit nicht in Frage kommen. Trotzdem sei in die Rechte der BBC nach Art. 10
EMRK eingriffen worden.
In seinen Urteilen Roemen u. Schmit/Luxemburg (s. EGMR, Slg. 2003-IV Nr. 47), Ernst u.a./Belgien (Urt. v. 15.7.2003 - 33400/96 Nr. 94) und Tillack/Belgien (s. EGMR, Slg. 2007-XIII Nr. 56 = NJW 2008, 2565 (2567)) hat der
Gerichtshof entschieden, dass Durchsuchungen der Wohnungen und Arbeitsplätze von Journalisten, um öffentliche Bedienstete zu identifizieren, die vertrauliche Informationen weitergegeben hatten, in die Rechte der Journalisten
nach Art. 10 I EMRK eingegriffen hätten. In der Sache Roemen u. Schmit/Luxemburg hat er auch betont, der Zweck der Durchsuchungen, nämlich die Identifizierung der Quelle des Journalisten, entfalle nicht deshalb, weil die
Durchsuchung erfolglos geblieben sei.
In seinem Urteil Voskuil/Niederlande (s. NJW 2008, 2563-2564 Nr. 49) hat der Gerichtshof einen Eingriff in die Rechte des Bf., eines Journalisten, nach Art. 10 EMRK festgestellt, weil das zuständige niederländische Gericht seine
Haft angeordnet hatte, um ihn zum Reden zu bringen, weil er sich geweigert hatte, die Person zu benennen, die ihm Informationen über ein angeblich fehlerhaftes Verhalten der Polizei bei ihren Ermittlungen geliefert hatte.
Jüngst hat der Gerichtshof im Fall Financial Times Ltd u.a./Vereinigtes Königreich (Urt. v. 15.12.2009 - 821/03 Nr. 56) die an vier Zeitungsherausgeber und eine Nachrichtenagentur gerichtete Anordnung, eine anonyme
Informationsquelle aufzudecken, als Eingriff in die den Betroffenen garantierten Rechte nach Art. 10 EMRK gewertet. Dass die Anordnung nicht vollzogen worden war, habe ihre nachteiligen Folgen für die Bf. nicht beseitigt. Denn
obwohl es - Ende 2009, als der Gerichtshof diesen Fall entschied - wenig wahrscheinlich sei, dass sie noch vollstreckt würde, sei sie doch weiterhin vollstreckbar.
4. Anwendung dieser Grundsätze im vorliegenden Fall
Ob es in diesem Fall eine Absprache gegeben hat, nach der die Bf. Vertraulichkeit zu wahren hatte, worüber die Parteien ausgiebig gestritten haben, kann dahingestellt bleiben. Der Gerichtshof stimmt der Bf. darin zu, dass es nicht
notwendig ist, die von ihr behauptete Absprache zu beweisen. Wie schon die Kammer sieht auch die Grosse Kammer keinen Grund, den Vortrag der Bf. in Zweifel zu ziehen, es sei versprochen worden, die am Rennen beteiligten
Wagen und ihre Eigentümer vor Aufdeckung ihrer Identität zu schützen.
Die Regierung weist mit Recht darauf hin, dass die Behörden von der Bf. nicht verlangt haben, Informationen herauszugeben, um die Teilnehmer an dem Straßenrennen zu identifizieren, sondern nur Fotos, die nach Auffassung der Bf.
zur Identifizierung der Teilnehmer führen konnten. Im Fall Nordisk Film & TV A/S/Dänemark (s. EGMR, Slg. 2005-XIII) hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Entscheidung des dänischen OGH, die Bf. zu zwingen, nicht
veröffentlichte Aufnahmen herauszugeben, ein Eingriff in die nach Art. 10 I EMRK garantierten Rechte sei, wenngleich die Betroffenen nicht als „anonyme Informationsquellen" i.S. der Rechtsprechung des Gerichtshofs angesehen
werden konnten (s. oben Nrn. 59, 61). Der Gerichtshof hat in seiner Entscheidung anerkannt, dass Art. 10 EMRK in einer solchen Situation anwendbar sein könne, und festgestellt, dass sich die erzwungene Aushändigung von
recherchiertem Material auf die Ausübung der Pressefreiheit abschreckend auswirken könne.
Im vorliegenden Fall war die umstrittene Anordnung außerdem nicht darauf angelegt, die Personen in Zusammenhang mit dem illegalen Straßenrennen zu identifizieren. Tatsächlich wurden keine Ermittlungen wegen dieses Rennens
eingeleitet, nicht einmal gegen A und M, die schwerer Straftaten verdächtig waren. Doch ist das nicht entscheidend.
Inwieweit eine Zwangsmassnahme zur Offenlegung von Quellen geführt hat oder zur strafrechtlichen Verfolgung von Informanten, hat der Gerichtshof bislang als unwesentlich für die Frage angesehen, ob in das Recht eines
Journalisten auf Schutz seiner Quellen eingegriffen worden ist. Im Fall Roemen u. Schmit/Luxemburg hatte die Vollstreckung des Durchsuchungsbefehls und die Anordnung der Beschlagnahme in den Arbeitsräumen des betroffenen
Journalisten die gesuchten Informationen nicht erbracht. Die Anordnungen wurden als „drastischer angesehen als die Aufforderung, die Identität der Quelle preiszugeben ... denn die Ermittler, die ohne Vorankündigung und mit
Durchsuchungsbefehlen einen Journalisten am Arbeitsplatz überraschen, hätten weitgehende Befugnisse, da sie logischerweise Zugang zu allen Unterlagen des Journalisten hätten. Deshalb haben die Durchsuchungen der Wohnung
und des Arbeitsplatzes des Bf. zu 1 den Schutz der Quellen noch mehr beeinträchtigt als die Maßnahmen, um die es im Fall Goodwin/Vereinigtes Königreich (s. EGMR, Slg. 1996-II S. 464 ff = ÖJZ 1996,795) gegangen ist" (s.
EGMR, Slg. 2003-IV Nr. 46 - Roemen u. Schmitt/Luxembourg).
Wie bereits erwähnt, hat der Umstand, dass im Fall Financial Times Ltd u.a./Vereinigtes Königreich (s. EGMR, Urt. v. 15.12.2009 - 821/03 Nr. 56) die Anordnung der Offenlegung nicht gegen die Bf. vollstreckt worden war, den
Gerichtshof nicht daran gehindert festzustellen, dass ein Eingriff vorlag (s. oben Nr. 63).
Schon die Kammer hat darauf hingewiesen, dass die Räume der Bf. anders als in ähnlichen Fällen ( s. EGMR, Urt. v. 15.7.2003 - 33400/96 Nr. 94 - Ernst u.a./Belgien; EGMR, Slg. 2003-IV Nr. 46 - Roemen u. Schmit/Luxembourg;
EGMR, Slg. 2007-XIII Nr. 56 = NJW 2008, 2565 (2567) - Tillack/Belgien) nicht durchsucht worden sind. Doch haben StA und Polizei im vorliegenden Fall klar ihre Absicht bekundet, das zu tun, wenn die Herausgeber der Autoweek
ihrer Aufforderung nicht nachkämen.
Diese Drohung zusammen mit der kurzen Festnahme des Journalisten war zweifellos glaubwürdig. Sie ist so ernst zu nehmen, wie das Vorgehen der Behörden, wäre sie wahr gemacht worden. Dann wären nicht nur die Büroräume der
Herausgeber von Autoweek durchsucht worden, sondern auch die der Herausgeber der anderen Zeitschriften der Bf.. Das hätte dazu führen können, dass die Büros für längere Zeit geschlossen geblieben und die betroffenen
Publikationen wahrscheinlich entsprechend später erschienen wären, sodass die Nachrichten über aktuelle Ereignisse, die sie hätten verbreiten wollen, zeitlich überholt gewesen wären ... . Nachrichten aber sind eine leicht verderbliche
Ware, und ihre Veröffentlichung auch nur für kurze Zeit zu verschieben, kann ihnen schnell allen Wert und jedes Interesse nehmen (s. z.B. EGMR, 1991, Serie A, Bd. 216, S. 30 Nr. 60 = ÖJZ 1992, 378 - Observer u.
Guardian/Vereinigtes Königreich; EGMR, 1991, Serie A, Bd. 217, S. 29 Nr. 51 - Sunday Times/Vereinigtes Königreich (Nr. 2); EGMR, Slg. 2001-VIII Nr. 56 - Association Ekin/Frankreich). Diese Gefahr besteht nicht nur für
Veröffentlichungen oder Zeitschriften, die sich mit aktuellen Fragen befassen (s. EGMR, Urt. v. 29.3.2005 - 40287/98 Nr. 37 - Alinak/Türkei).
Im vorliegenden Fall hat es weder eine Durchsuchung noch eine Beschlagnahme gegeben. Doch wirkt es stets abschreckend, wenn der Eindruck entsteht, Journalisten seien an der Aufdeckung anonymer Quellen beteiligt (s. mutatis
mutandis EGMR, Urt. v. 15.12.2009 Nr. 70 - Financial Times Ltd u.a./Vereinigtes Königreich).
Zusammengefasst stellt der Gerichtshof fest, dass der vorliegende Fall eine Anordnung auf Herausgabe journalistischen Materials mit Informationen betrifft, die es möglich machten, Informationsquellen zu identifizieren. Das reicht
aus, um zu entscheiden, dass diese Anordnung schon für sich in die Freiheit der Bf. eingegriffen hat, Informationen nach Art. 10 I EMRK zu empfangen und zu verbreiten.
C. „gesetzlich vorgesehen"
1. Das Urteil der Kammer (zusammengefasst)
Für die Kammer war § 96a niederländische StPO eine ausreichende Rechtsgrundlage i.S. von Art. 10 II EMRK, wobei sie der Rolle des Untersuchungsrichters in diesem Fall entscheidende Bedeutung beigemessen hat.
2. Vortrag der Beteiligten (zusammengefasst)
Die Bf. meint, § 96a niederländische StPO sei unbestimmt, er gebe der StA unbegrenztes Ermessen, die Herausgabe von Informationen anzuordnen, ohne Voraussetzungen oder die Art und Weise des Vorgehens festzulegen. Über
Eingriffe in das Recht von Journalisten auf Quellenschutz sage er gar nichts. Dass eine vorhergehende richterliche Prüfung nicht mehr vorgesehen sei, verstoße ebenfalls gegen das Erfordernis der Gesetzlichkeit. Daran ändere nichts,
dass in ihrem Fall ein Untersuchungsrichter eingeschaltet worden sei.
Die Regierung widerspricht: § 96a genüge den Anforderungen an die Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit des Gesetzes, denn er verweise auf §§ 217-219 niederländische StPO, in denen die Personen genannt werden, die in diesem
Zusammenhang besonderen Schutz genießen. Dazu gehörten nicht die Journalisten. Für die Auslegung von § 96a ergäben sich Leitlinien außerdem aus der Entstehungsgeschichte sowie den allgemein zugänglichen Richtlinien des
Justizministers über die Stellung der Presse bei Polizeiaktionen (Leidraad over de positie van de pers bij politieoptreden) vom 19.5.1988 („die Richtlinien von 1988"). ...
Die Drittbeteiligten weisen darauf hin, dass es in Europa und darüber hinaus eine Tendenz gebe, das Recht der Journalisten auf Quellenschutz rechtlich abzusichern.
3. Beurteilung durch den Gerichtshof
a) Grundsätze
Der Begriff „gesetzlich vorgesehen" („prescribed by law"/"in accordance with the law"; „prévue par la loi") in Art. 8-11 EMRK verlangt nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur, dass der Eingriff, um den es geht,
eine Grundlage im staatlichen Recht hat, sondern bezieht sich auch auf deren Qualität. Das Recht muss angemessen zugänglich und vorhersehbar sein, d.h. es muss so ausreichend bestimmt sein, dass der Einzelne - notfalls mit
sachkundiger Hilfe - sein Verhalten danach einrichten kann.
Um diesen Anforderungen zu entsprechen, muss das Recht der Vertragsstaaten ein bestimmtes Maß an Rechtsschutz gegen willkürliche Eingriffe in die von der Konvention garantierten Rechte gewähren. Geht es um Grundrechte, liefe
es dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit, einem der in der Konvention verankerten Grundsätze der demokratischen Gesellschaft, zuwider, der Exekutive unbegrenztes Ermessen einzuräumen. Deshalb muss das staatliche Recht den
Umfang des Ermessens für die Behörden mit angemessener Bestimmtheit festlegen sowie auch die Art und Weise seiner Ausübung (s. EGMR, 1979, Serie A, Bd. 30, S. 31 Nr. 49 = EGMR-E 1, 366 - Sunday Times/Vereinigtes
Königreich (Nr. 1); EGMR, 1995, Serie A, Bd. 316, S. 71-72 Nr. 37 = ÖJZ 1995, 949 - Tolstoy Miloslavsky/Vereinigtes Königreich; EGMR, Slg. 2000-V Nr. 52 = ÖJZ 2002, 74 - Rotaru/Rumänien; EGMR, Slg. 2000-XI Nr. 84 -
Hasan u. Chaush/Bulgarien; EGMR, Slg. 2004-I Nr. 30 - Maestri/Italien).
Außerdem hat der Gerichtshof den Begriff „gesetzlich vorgesehen" in Art. 8-11 EMRK stets in materiellem und nicht in formellem Sinn verstanden, der „geschriebenes Recht" umfasst, einschließlich des Rechts unterhalb des
Gesetzes, sowie Regelungen von Berufsorganisationen, die sie im Rahmen ihrer vom Parlament übertragenen Rechtsetzungsbefugnis verabschiedet haben, aber auch ungeschriebenes Recht. „Gesetzlich" erfasst Gesetze und
„Richterrecht". Kurzum, „Gesetz" ist das geltende Recht, wie es die zuständigen Gerichte ausgelegt haben (s. EGMR, Slg. 2005-XI Nr. 88 = NVwZ 2006, 1389 (1390-1391) - Leyla Sahin/Türkei mit weiteren Nachweisen).
b) Anwendung dieser Grundsätze
(i) Rechtsgrundlage
Der Hoge Raad hat in seinem Urteil vom 10.5.1996 (s. NJ 1996 Nr. 578) grundsätzlich das Recht des Journalisten auf Schutz seiner Quellen entsprechend dem kurz vorher ergangenen Urteil des Gerichtshofsim Fall
Goodwin/Vereinigtes Königreich (s. EGMR, Slg.1996-II = ÖJZ 1996, 795) anerkannt.
Im Zeitpunkt des Geschehens in diesem Fall waren die Richtlinien von 1988 noch in Kraft ... .
Der Gerichtshof sieht wie auch die Parteien in § 96a niederländische StPO die Rechtsgrundlage für den Eingriff in diesem Fall.
Dass diese Vorschrift ausreichend zugänglich ist, ist unbestritten.
(ii) Qualität der Rechtsgrundlage
Da der Schutz von journalistischen Quellen und von Informationen, die zu ihrer Identifizierung führen können, für die Pressefreiheit entscheidende Bedeutung hat, müssen für jeden Eingriff in das Recht auf diesen Schutz
Verfahrensgarantien gesetzlich festgelegt sein, die der Bedeutung dieses Grundsatzes entsprechen.
Anordnungen auf Angabe einer Informationsquelle können sich nicht nur zum Nachteil der Quelle auswirken, deren Identität aufgedeckt wird, sondern auch für Zeitungen oder sonstige Publikationen, deren Ruf durch die Aufdeckung
bei möglichen späteren Quellen Schaden nehmen kann, aber auch auf die Öffentlichkeit, die ein Interesse daran hat, Informationen aus anonymen Quellen zu erhalten (s. mutatis mutandis EGMR, NJW 2008, 2563 (2565) Nr. 71 - Voskuil/Niederlande).
Zu jenen Verfahrensgarantien gehört vorrangig die Überprüfung des Eingriffs durch einen Richter oder ein anderes unabhängiges und unparteiisches Entscheidungsorgan. Der Grundsatz, dass in Fällen zum Quellenschutz „das Gericht
in der Lage sein muss, das Gesamtbild zu beurteilen", ist in einer der ersten Entscheidungen zu dieser Frage von der EKMR betont worden (s. Entsch. v. 18.6.1996 - 25794/94 - British Broadcasting Corporation/Vereinigtes
Königreich). Die Überprüfung muss durch eine Stelle erfolgen, die von der Exekutive und anderen Beteiligten unabhängig ist. Außerdem muss sie befugt sein, vor Herausgabe des Materials zu entscheiden, ob ein öffentliches Interesse
besteht, das dem Grundsatz des Quellenschutzes vorgeht, sowie nicht notwendigen Zugang zu Informationen zu verhindern, die zur Aufhebung der Identität der Quellen führen könnte.
Allerdings mag es den Ermittlungsbehörden in dringenden Fällen unmöglich sein, die Gründe für eine Anordnung oder Aufforderung dazu im Einzelnen darzulegen. In solchen Fällen wäre eine unabhängige Prüfung spätestens vor
Einsichtnahme und Verwertung des Materials ausreichend, um festzustellen, ob sich eine Frage der Vertraulichkeit stellt, und gegebenenfalls, ob angesichts der besonderen Umstände des Falls das von den Ermittlungs- oder
Verfolgungsbehörden angeführte öffentliche Interesse dem Quellenschutz vorgeht. Eine unabhängige Überprüfung erst nach Aushändigung des Materials, das zur Identifizierung der Quellen führen kann, würde das Recht auf
Vertraulichkeit in seinem Kern aushöhlen.
Da es einer präventiven Überprüfung bedarf, muss der Richter oder jedes andere unabhängige und unparteiische Kontrollorgan in der Lage sein, die möglichen Risiken und jeweiligen Interessen schon vor einer Aufdeckung
abzuwägen, und das mit Bezug auf das Material, das benannt werden soll, damit die Gründe der Behörden, welche die Angabe verlangen, angemessen beurteilt werden können. Für die Entscheidung muss es klare Kriterien geben,
insbesondere auch dafür, ob eine weniger einschneidende Maßnahme genügen könnte, das festgestellte überwiegende öffentliche Interesse zu wahren. Der Richter oder das sonst zuständige Kontrollorgan muss einen Antrag auf
Anordnung einer Aufdeckung der Quelle ablehnen können oder in der Lage sein, eine begrenzte oder bedingte Anordnung zu erlassen, um Quellen gegen ihre Preisgabe zu schützen, ob sie nun in dem zurückgehaltenen Material
ausdrücklich erwähnt sind oder nicht, und das mit der Begründung, dass die Weitergabe solchen Materials eine ernste Gefahr für die Quellen des Journalisten begründet (s. EGMR, Slg. 2005-XIII - Nordisk Film & TV A/S/Dänemark).
Für dringende Fälle muss es ein Verfahren geben, das es ermöglicht, vor Verwertung des Materials durch die Behörden die Informationen herauszufinden und auszusondern, die zur Identifizierung von Quellen führen können (s.
mutatis mutandis EGMR, Slg. 2007-XI Nrn. 62-66 = NJW 2008, 3409 (3411) - Wieser u. Bicos Beteiligungen GmbH/Österreich).
In den Niederlanden trifft diese Entscheidung seit In-Kraft-Treten von § 96a StPO die StA und nicht ein unabhängiger Richter. Wie jeder öffentliche Bedienstete hat zwar auch der StA umfassende Dienst- und Treuepflichten. Doch in
verfahrensrechtlicher Hinsicht ist er „Partei", der Interessen vertritt, die möglicherweise mit dem Schutz der Quellen eines Journalisten unvereinbar sind. Er kann daher kaum als objektiv und unparteiisch angesehen werden, um die
verschiedenen, widerstreitenden Interessen, wie erforderlich, gegeneinander abzuwägen.
Die Richtlinien von1988 sahen in Abschnitt B vor ..., dass journalistisches Material rechtmäßig erst nach Einleitung einer gerichtlichen Voruntersuchung und aufgrund einer Anordnung eines Untersuchungsrichters beschlagnahmt
werden dürfe. Nachdem § 96a niederländische StPO die Befugnis, Herausgabe solchen Materials anzuordnen, auf die StA übertragen hat, sind diese Richtlinien keine Garantie mehr für eine unabhängige Überprüfung. Für die
qualitativen Anforderungen an das Recht spielen sie deshalb im vorliegenden Fall keine Rolle.
Richtig ist allerdings, dass die Bf. darum gebeten hat, den Untersuchungsrichter einzuschalten, und dass dies geschehen ist. Die Regierung ist der Auffassung, und die Kammer ist ihr darin gefolgt, dass den Anforderungen
angemessenen verfahrensrechtlichen Schutzes damit Genüge getan wurde.
Die Grosse Kammer teilt diese Auffassung nicht. Zunächst gibt es für das Einschreiten des Untersuchungsrichters keine rechtliche Grundlage. Vom Gesetz nicht gefordert, kam es allein deshalb dazu, weil es der StA zuließ.
Zweitens wurde der Untersuchungsrichter lediglich zu Rate gezogen. Zwar behauptet niemand, dass der StA, hätte sich der Richter anders geäußert, gleichwohl verlangt hätte, die CD-Rom auszuhändigen. Doch ändert das nichts
daran, dass der Untersuchungsrichter in diesem Punkt keinerlei rechtliche Befugnisse hatte, was er übrigens selbst anerkannt hat ... . Er konnte also keine Anordnung treffen oder einen entsprechenden Antrag ablehnen oder ihm
stattgeben oder Bedingungen und Grenzen einer Beschlagnahme festlegen.
Das alles aber ist mit dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit kaum vereinbar. Der Gerichtshof wäre übrigens zu diesem Ergebnis auch aus jedem der genannten Gründe gekommen.
Die nachträgliche Kontrolle durch das LG Amsterdam hat diese Mängel nicht geheilt. Das LG war auch nicht in der Lage, den StA und die Polizei von der Prüfung der Fotos auf der CD-Rom abzuhalten, als sie in ihren Händen war.
Im Ergebnis war das Recht mangelhaft, weil es kein mit angemessenen rechtlichen Sicherungen ausgestattetes Verfahren für die Bf. gab, das eine unabhängige Beurteilung ermöglicht hätte, ob das Interesse der strafrechtlichen
Ermittlungen das Interesse am Schutz der journalistischen Quellen überwiege. Also ist Art. 10 EMRK verletzt, weil der umstrittene Eingriff nicht „gesetzlich vorgesehen" war.
D. Die übrigen Erfordernisse nach Art. 10 II EMRK
(Nach der Feststellung, dass der Eingriff nicht „gesetzlich vorgesehen" ist, erübrigt sich eine Prüfung der übrigen Voraussetzungen für eine Rechtfertigung des Eingriffs nach Art. 10 II EMRK).
III. Art. 41 EMRK
...
B. Kosten und Auslagen
(Die Bf. verlangt Erstattung von Kosten und Auslagen in Höhe von insgesamt 117.133,15 €)
Die Regierung erwidert, es bestehe kein Kausalzusammenhang zwischen diesen Kosten und Auslagen und dem Sachverhalt, den die Kammer als Verstoß gegen die Konvention gewertet hat. Jeder Verstoß, den die Grosse Kammer
feststellen würde, wenn es denn dazu käme, beträfe das Fehlen verfahrensrechtlicher Sicherungen. Die Beschlagnahme des journalistischen Materials sei davon zu trennen. Die Entscheidungen der niederländischen Gerichte selbst
verstießen nicht gegen Art. 10 EMRK und könnten daher Erstattung der von der Bf. geforderten Beträge nicht rechtfertigen.
Im Übrigen und hilfsweise seien diese Beträge maßlos übertrieben.
In der mündlichen Verhandlung vom 6.1.2010 hat der Verfahrensbevollmächtigte der Regierung auf eine Pressemitteilung hingewiesen, der zufolge die Vertreter der Bf. von der Stiftung für die Pressefreiheit (Stichting
Persvrijheidsfonds) bezahlt worden seien.
Aufgefordert, dazu schriftlich Stellung zu nehmen, hat die Bf. erklärt, dass ihr die Stiftung zugesagt habe, 9000 € zu übernehmen, falls der Gerichtshof ihre Anträge ablehne. Hätte sie Erfolg, müsste sie ihre Kosten selbst in voller
Höhe tragen.
Nach Art. 41 EMRK sind Kosten und Auslagen - so die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs - nur zu erstatten, wenn nachgewiesen ist, dass sie entstanden und notwendig waren sowie ihrer Höhe nach angemessen sind.
Rechtsverfolgungskosten müssen sich außerdem auf die festgestellte Verletzung der Konvention beziehen (s. zuletzt EGMR, Urt. v. 9.4.2009 - 71463/01 Nr. 226 - Silih/Slowenien; EGMR, Slg. 2009 Nr. 134 = StV 2010, 490 -
Mooren/Deutschland; EGMR, Slg. 2009 Nr. 229 = NJOZ 2011, 516 - Varnava u.a./Türkei).
Feststeht, dass die Bf. Kosten hatte, insofern sie als Mandantin mit ihren Anwälten eine rechtlich verbindliche Honorarvereinbarung getroffen hatte. Was sie dabei verabredet hatten, um den finanziellen Verpflichtungen der Bf.
gegenüber ihren Anwälten nachkommen zu können, ist für Art. 41 EMRK ohne Bedeutung. Der Fall unterscheidet sich insofern von dem, in dem die Kosten von einem Dritten getragen werden (s. EGMR, 1983, Serie A, Bd. 59, S.
9-10 Nrn. 21-22 = EGMR-E 2, 21 - Dudgeon/Vereinigtes Königreich (Art. 50)).
Der Gerichtshof hat, worauf die Regierung zu Recht hinweist, über die Berechtigung der Beschlagnahme nicht in der Sache entschieden. Bei den Kosten und Auslagen lässt sich aber im vorliegenden Fall nicht zwischen Verfahren und
Begründetheit in der Sache unterscheiden. Das von der Bf. anhängig gemachte Verfahren war hinsichtlich ihres Beschwerdepunkts - unzureichender verfahrensrechtlicher Schutz - insofern angemessen, als es den niederländischen
Behörden eine realistische Möglichkeit bot, den behaupteten materiellen Mängeln abzuhelfen. Tatsächlich ist es schwer vorstellbar, dass der Gerichtshof die Beschwerde für zulässig erklärt hätte, hätte die Bf. nicht die Möglichkeiten
genutzt, die ihr das niederländische Recht gibt. Daher besteht ein Kausalzusammenhang zwischen der festgestellten Verletzung und den verlangten Kosten. Mit anderen Worten, die Kosten sind „notwendig entstanden".
Doch sind die Beträge nicht angemessen, weder was die Höhe des Stundenhonorars, noch was die Zahl der angesetzten Stunden betrifft. ..."
***
Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) verlangt, dass die Staaten in ihrer Rechtsordnung einen wirksamen Rechtsbehelf zur Verfügung stellen, mit dem über eine auf die Konvention gestützte „vertretbare Beschwerde"
entschieden und angemessene Abhilfe erlangt werden kann. In Deutschland gibt es entgegen Art. 13 EMRK keinen wirksamen Rechtsbehelf gegen überlange zivil- und verwaltungsgerichtliche Verfahren. Die überlange Dauer
gerichtlicher Verfahren ist in Deutschland ein allgemeines Problem, das den meisten für Deutschland festgestellten Konventionsverletzungen zu Grunde liegt. Mehr als die Hälfte der Urteile gegen Deutschland betreffen diese
Frage. Von 1959 bis 2009 hat der Gerichtshof mehr als 40 Urteile gegen Deutschland gefällt, in denen er eine überlange Dauer von Gerichtsverfahren festgestellt hat. Die Regierung hat seit dem Urteil in der Sache
Sürmeli/Deutschland aus dem Jahr 2006 (Slg. 2006-VII, NJW 2006, 2389) in 28 Fällen einen Vergleich geschlossen und in acht Fällen eine einseitige Verpflichtungserklärung abgegeben. Zurzeit sind 55 Beschwerden gegen
Deutschland wegen der Dauer von Gerichtsverfahren anhängig. Diese Konventionsverletzungen sind die Folge von Unterlassungen Deutschlands und das Ergebnis einer mit der Konvention nicht vereinbaren Praxis. Seit dem
Sürmeli-Urteil aus dem Jahr 2006 ist klar, dass Deutschland verpflichtet ist, einen Rechtsbehelf gegen überlange Gerichtsverfahren einzuführen. Das zeigt ein so gut wie vollkommenes Widerstreben dagegen, das Problem in
angemessener Zeit zu lösen. Deutschland muss nunmehr ohne Verzögerung, spätestens binnen eines Jahres, einen Rechtsbehelf oder mehrere gegen überlange Gerichtsverfahren schaffen (EGMR, Urteil vom 02.09.2010, 46344/06).
***
Der Gerichtshof hat keine Zuständigkeit zu prüfen, ob ein Konventionsstaat die Maßnahmen ergriffen hat, die zu treffen er nach einem Urteil des Gerichtshofs verpflichtet ist. Es ist aber möglich, dass die vom Staat zur
Wiedergutmachung getroffenen Maßnahmen neue Fragen nach der Konvention aufwerfen, die Gegenstand einer neuen Beschwerde sein können, über die der Gerichtshof entscheiden kann. Wenn das Ministerkomitee des Europarats
seine Überwachung nach Art. 46 II EMRK abgeschlossen und festgestellt hat, der beklagte Staat habe seine Verpflichtung aus dem Urteil zu individuellen Maßnahmen erfüllt, kann der Gerichtshof das nicht prüfen, ohne in die
Zuständigkeit des Ministerkomitees einzugreifen. Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) gilt nicht für Wiederaufnahmeverfahren nach rechtskräftiger Verurteilung, denn der Verurteilte wird in diesem Verfahren nicht
strafrechtlich angeklagt (EGMR, Entscheidung vom 06.07.2010 - 5980/07 Öcalan/Türkei, NJW 2010, 3703).
***
Die Entscheidung der Kammer, die Beschwerde teilweise für unzulässig zu erklären, ist endgültig. Dieser Teil der Beschwerde ist deswegen nicht vor der Großen Kammer anhängig. Art. 7 II EMRK (Keine Strafe ohne Gesetz) soll
deutlich machen, dass Art. 7 I EMRK nicht für Gesetze gilt, die unter ganz außergewöhnlichen Umständen am Ende des Zweiten Weltkrieges erlassen worden sind, z.B. um Kriegsverbrechen zu bestrafen. Die Definition von
Kriegsverbrechen in der Charta des Internationalen Kriegsverbrechertribunals in Nürnberg ist als Kodifizierung des 1939 geltenden Kriegsvölkerrechts und der völkerrechtlichen Gebräuche zu verstehen. Kriegsverbrechen wurden im
Mai 1944 als Handlungen definiert, die gegen Recht und Gebräuche des Krieges verstoßen. Das Völkerrecht hatte die zugrundeliegenden Prinzipien bestimmt und einen umfangreichen Katalog von Kriegsverbrechen aufgestellt. Die
Misshandlung, Verletzung und Tötung der Bewohner des Dorfes Mazie Bati war 1944 nach dem Kriegsvölkerrecht ein Kriegsverbrechen.Das Völkerrecht und die Gebräuche des Krieges genügten 1944, eine persönliche strafrechtliche
Verantwortlichkeit zu begründen. Das hätte der Beschwerdeführer vorhersehen können. Die Handlungen des Beschwerdeführers waren nach Recht und Gebräuchen des Krieges 1944 ausreichend als Straftaten bestimmt, so dass die
Verurteilung des Beschwerdeführers Art. 7 I EMRK nicht verletzt (EGMR, Urteil vom 17.05.2010 - 36376/04 zu EMRK Art. 2, 3, 5, 6, 7, 13, 15, 18, 43).
***
Schon die Unterbringung eines Untersuchungsgefangenen in einer erheblich überbelegten Zelle in einem estnischen Arresthaus begründet einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK, weil dies als eine unmenschliche und erniedrigende
Behandlung zu qualifizieren ist. Im Falle der Verletzung von Art. 3 EMRK umfasst das Recht auf wirksame Beschwerde des Art. 13 EMRK auch die Möglichkeit des Betroffenen, Schadensersatz zu erhalten. Eine böse Absicht des
Gefängnispersonals kann nicht zur Voraussetzung für einen Anspruch auf immateriellen Schadensersatz gemacht werden (EGMR, Urteil vom 02.07.2009 - 41653/05 zu Art 3, 13 MRK - juris).
***
Art. 3 MRKZProt verankert das Recht, für Parlamentswahlen zu kandidieren, als ein Individualrecht. Dieses kann auch ohne ausdrückliche Regelung eingeschränkt, darf aber nicht in seinem Wesensgehalt angetastet werden und seine
Wirksamkeit nicht verlieren. Außerdem müssen solche Einschränkungen mit dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit vereinbar und mit ausreichenden Sicherungen gegen Willkür versehen sein. Willkürliche Entscheidungen und
Machtmissbrauch bei Wahlen sind zu vermeiden und das insbesondere bei der Registrierung von Kandidaten. Außerdem muss das Verfahren der Registrierung von Kandidaten fair und rechtssicher sein. Schließlich ist ein wirksames
Rechtsbehelfssystem eine bedeutende Sicherung gegen Willkür bei Wahlen. Art. 13 MRK garantiert einen innerstaatlichen Rechtsbehelf zur Durchsetzung der Rechte und Freiheiten der Konventionen, in welcher Form auch immer er
in der staatlichen Rechtsordnung gewährleistet ist. Der Rechtsbehelf muss sowohl praktisch als auch rechtlich in dem Sinne wirksam sein, dass mit ihm entweder die behauptete Verletzung oder ihre Fortdauer verhindert oder
angemessene Abhilfe für schon eingetretene Verletzungen erlangt werden kann. In Fällen, in denen die Behörden durch bewusstes Handeln oder Unterlassen einen Kandidaten für eine Parlamentswahl daran gehindert haben zu
kandidieren, kann der Verstoß gegen Art. 3 MRKZProt nicht ausschließlich durch Zahlung von Schadensersatz geheilt werden. Um den Anforderungen des Art. 13 MRK zu entsprechen, ist ein Verfahren erforderlich, in dem die
Kandidaten ihr Recht, bei den Parlamentswahlen zu kandidieren, vor einer Instanz geltend machen können, die in der Lage ist, die Auswirkungen zu prüfen, welche die angebliche Verletzung ihres Wahlrechts auf den Verlauf und den
Ausgang der Wahlen gehabt haben. Wenn diese Instanz den Verstoß für schwer genug ansieht, den Wahlausgang zu beeinflussen, muss sie befugt sein, das Wahlergebnis ganz oder teilweise für nichtig zu erklären. Ein Rechtsbehelf ist
nur dann wirksam i. S. v. Art. 13 MRK, wenn der Beschwerdeführer in der Lage ist, das Verfahren direkt anhängig zu machen (EGMR, Urteil vom 11.06.2009 - 77568/01, 178/02 und 505/02, 77568/01, 178/02, 505/02 - juris).
***
Art. 14 EMRK Diskriminierungsverbot
Der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung,
der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten.
Leitsätze/Entscheidungen:
„... SACHVERHALT
Der 19… geborene Beschwerdeführer, Herr D., ist deutscher Staatsangehöriger und in B. wohnhaft.
A. Die Umstände des Falls
Der vom Beschwerdeführer vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.
1. Der Hintergrund der Rechtssache
Der Beschwerdeführer hat einen Sohn, der 1995 nichtehelich geboren wurde. Noch im selben Jahr erkannte er die Vaterschaft für das Kind an. Da die Eltern keine gemeinsame Sorgeerklärung abgegeben hatten, erhielt die Mutter nach
§ 1626a Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs („BGB" - siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht") die alleinige elterliche Sorge.
Von 1995 bis Dezember 1997, als die Eltern sich trennten und die Mutter in eine andere Wohnung in der Nachbarschaft umzog, lebten der Beschwerdeführer und die Kindesmutter zusammen mit dem Kind in einem gemeinsamen
Haushalt in B. Im Zeitraum von Januar 1998 bis Januar 2002 betreuten beide Eltern das Kind wöchentlich abwechselnd im selben Umfang.
Im Januar 2002 verzog die Mutter mit dem Sohn von B. nach S., einer Stadt, die 650 km von B. entfernt ist, ohne dies mit dem Beschwerdeführer abgesprochen zu haben. Die Mutter behauptete, sie sei umgezogen, weil das Verhalten
des Beschwerdeführers in der Vergangenheit dem Wohl des Kindes geschadet habe.
2. Das Verfahren zur Regelung der elterlichen Sorge und des Umgangs
(a) Das Verfahren bis zur Regelung des Umgangsrechts des Beschwerdeführers
Mit Schriftsätzen vom 29. Januar und 1. Februar 2002 beantragte der Beschwerdeführer vor dem Amtsgericht B., ihm die elterliche Sorge, hilfsweise das Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind zu übertragen. Außerdem beantragte
der Beschwerdeführer Umgang mit seinem Sohn abwechselnd wöchentlich sowie darüber hinaus eine einstweilige Anordnung hinsichtlich einer vorläufigen Regelung seines Umgangs mit dem Kind.
Mit Schreiben vom 6. Februar 2002 teilte das Gericht dem Beschwerdeführer mit, dass die Sache an das Amtsgericht S. abgegeben worden sei; dort wurden zwei getrennte Verfahren eröffnet: ein Verfahren über die Übertragung des
Sorgerechts auf den Beschwerdeführer (Az.: 41 F 36/02) und ein weiteres Verfahren über den Antrag des Beschwerdeführers auf Umgang mit seinem Sohn (Az.: 41 F 37/02). In der Folgezeit wurden die Verfahren weitgehend
gleichzeitig geführt.
Am 1. März 2002 erstattete der Beschwerdeführer Strafanzeige gegen die Mutter u. a. wegen Kindesentziehung. Das daraufhin gegen die Mutter eingeleitete Ermittlungsverfahren wurde von der Staatsanwaltschaft eingestellt.
Nachdem die Mutter den Beschwerdeführer beschuldigt hatte, das Kind sexuell missbraucht zu haben, leitete die Staatsanwaltschaft B. gegen ihn ein Ermittlungsverfahren ein.
Am 21. Juni 2002 teilte das Jugendamt S. dem Amtsgericht mit, dass es eine Stellungnahme zu der Frage, wie der Umgang des Vaters mit dem Sohn geregelt werden sollte, nicht abgeben könne, da die Mutter Gesprächsangebote
abgelehnt habe.
Bei einer Anhörung im Verfahren über das Umgangsrecht (Az.: 41 F 37/02) am 26. Juni 2002 beantragte der Beschwerdeführer unbetreuten Umgang mit seinem Sohn.
Mit Beschluss vom 5. November 2002 räumte das Amtsgericht dem Beschwerdeführer im Wege der einstweiligen Anordnung betreuten Umgang unter Einschaltung des Ortsverbandes S. (nahe S.) des Deutschen Kinderschutzbundes
ein. Das Gericht wies den Antrag des Beschwerdeführers auf unbetreuten Umgang mit der Begründung ab, dass darüber erst im Hauptsacheverfahren entschieden werden könne, nachdem das Gericht ein Gutachten zu einer möglichen
Regelung des Umgangs zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Sohn eingeholt habe.
In den Hauptsacheverfahren (Az.: 41 F 37/02 and 41 F 36/02) wurden die Eltern und das Kind am 11. bzw. 18. Dezember 2002 angehört. Das Kind äußerte den Wunsch, abwechselnd eine Woche bei seiner Mutter und eine Woche bei
seinem Vater zu verbringen.
Mit Beschluss vom 14. Januar 2003 ordnete das Amtsgericht S. ein psychologisches Sachverständigengutachten zu der Frage an, welche Ausgestaltung des Sorge- und Umgangsrechts dem Kindeswohl dienlich wäre, und bestellte eine
Gutachterin. Beide Elternteile wandten sich gegen die Entscheidung des Gerichts und lehnten die Gutachterin ab. Später weigerte sich die Mutter, mit der Gutachterin zusammenzuarbeiten.
Zwischen dem 27. Dezember 2002 und dem 18. Juli 2003 hatte der Beschwerdeführer in etwa zwölf Mal betreuten Umgang mit seinem Sohn in den Räumlichkeiten des Kinderschutzbundes Schifferstadt. Dann stellte er die Besuche
ein, da er die Bedingungen, unter denen der Umgang mit seinem Sohn stattfand, als für das Wohl des Kindes schädlich ansah.
Mit Schreiben vom 25. Juni 2003 teilte die Staatsanwaltschaft B. dem Beschwerdeführer mit, dass das 2002 gegen ihn wegen sexuellen Missbrauchs seines Sohnes eingeleitete Ermittlungsverfahren eingestellt worden sei.
Am 2. und 16. Juli 2003 beantragte der Beschwerdeführer erneut im Wege einer einstweiligen Anordnung ein unbetreutes Umgangsrecht und verwies zur Begründung darauf, dass nach Einstellung des Ermittlungsverfahrens kein
Grund mehr bestehe, sein Recht auf Umgang mit seinem Sohn Einschränkungen zu unterwerfen.
In einem Beschluss vom 16. Januar 2004, mit dem die Zurückweisung eines Befangenheitsantrags des Beschwerdeführers gegen den mit der Sache befassten Richter am Amtsgericht S. bestätigt wurde, wies das Oberlandesgericht
Zweibrücken darauf hin, dass eine missbräuchliche Vereitelung des Umgangs des Beschwerdeführers mit dem Kind durch die Mutter Zweifel an ihrer Erziehungseignung begründen und sogar den Entzug des
Aufenthaltsbestimmungsrechts zur Folge haben könne.
Mit Beschluss vom 27. Januar 2004 gab das Amtsgericht den Parteien auf, mit der Sachverständigen zusammenzuarbeiten, und drohte im Fall der Zuwiderhandlung ein Zwangsgeld bis zu 2.000,00 Euro an.
Am 29. Januar 2004 verbrachte der Beschwerdeführer mit Einverständnis der Mutter vier Stunden allein mit seinem Sohn.
Ein erstes Treffen zwischen der Sachverständigen und der Mutter fand im März 2004 statt.
Am 11. März 2004 hob das Oberlandesgericht Zweibrücken den Beschluss des Amtsgerichts vom 27. Januar 2004 auf und stellte fest, dass Eltern zwar nach dem Gesetz nicht verpflichtet seien, ihr Kind begutachten zu lassen, und
ihnen deshalb auch kein Zwangsgeld angedroht werden könne, die beharrliche Weigerung der Mutter, mit der Sachverständigen zusammenzuarbeiten, im vorliegenden Fall jedoch Zweifel an ihrer Geeignetheit zur Ausübung der
elterlichen Sorge aufkommen lassen könne.
Mit Beschluss vom 27. Mai 2004 wies das Amtsgericht S. den Antrag des Beschwerdeführers ab, seinen Beschluss vom 5. November 2002 abzuändern und ihm nicht betreuten Umgang mit seinem Sohn einzuräumen. Das Gericht
stellte fest, dass in Anbetracht der von der Mutter erhobenen Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs ein nicht betreuter Umgang erst dann in Betracht kommen könne, wenn das Gutachten vorliege und Klarheit in Bezug auf den
Wahrheitsgehalt dieser Anschuldigungen bestehe.
Am 18. Juni 2004 sprach die Sachverständige mit dem Kind.
Am 5. und 8. Juli 2004 beantragte der Beschwerdeführer im Wege einer einstweiligen Anordnung erneut unbetreuten Umgang mit seinem Sohn.
Nachdem ein Richterwechsel stattgefunden hatte, bestellte das Amtsgericht mit Beschluss vom 29. Juli 2004 eine Verfahrenspflegerin für das Kind.
Am 5. August 2004 wurden die Eltern und das Kind erneut angehört.
Mit Beschluss vom 11. August 2004 bestellte das Amtsgericht einen neuen Sachverständigen, nachdem hinsichtlich der Kompetenz und Objektivität der zunächst bestellten Gutachterin Zweifel entstanden waren.
Mit Beschluss vom selben Tag wies das Amtsgericht nach Anhörung der Eltern und des Kindes sowie unter Bezugnahme auf eine schriftliche Stellungnahme der zunächst bestellten Gutachterin vom 8. Juli 2004 den erneuten Antrag
des Beschwerdeführers auf einstweilige Anordnung des unbetreuten Umgangs bis zur Fertigstellung eines Gutachtens durch den neu bestellten Sachverständigen ab. Das Gericht war nach Anhörung der Mutter der Auffassung, dass die
Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs nicht gänzlich unsubstantiiert seien und deshalb auf ein Sachverständigengutachten nicht verzichtet werden könne. Die ausdrückliche Weigerung des Beschwerdeführers, seinen Sohn unter den
Bedingungen eines betreuten Umgangs zu sehen oder andere Formen des betreuten Umgangs zu akzeptieren, ließen Zweifel an der Bedeutung aufkommen, die er dem Wohl des Kindes zumesse.
Das Gutachten wurde am 12. November 2004 erstattet, nachdem die Eltern und das Kind befragt worden waren. Der Sachverständige kam zu dem Ergebnis, dass es unter den gegebenen Umständen dem Kindeswohl abträglich wäre,
der Mutter das Sorgerecht zu entziehen und die alleinige Sorge dem Vater zu übertragen. Ein gemeinsames Sorgerecht diene dem Kindeswohl auch nicht, denn das Verhältnis zwischen den Eltern sei immer noch angespannt. Der
Sachverständige empfahl jedoch regelmäßigen Umgang des Beschwerdeführers mit seinem Sohn. Zunächst könne vorgesehen werden, dass der Vater seinen Sohn an jedem zweiten Wochenende in S. besucht; nach einer Probezeit von
sechs Monaten könnten längere Aufenthalte des Kindes im Haushalt des Vaters in Betracht gezogen werden.
Nachdem sie die Eltern und das Kind angehört hatte, sprach sich die Verfahrenspflegerin in ihren schriftlichen Stellungnahmen vom 3. und 27. Dezember 2004 ebenfalls gegen eine Übertragung des Sorgerechts auf den
Beschwerdeführer aus, empfahl aber, ihm sofort ein Recht auf unbetreuten Umgang mit seinem Sohn einzuräumen. Die Verfahrenspflegerin wies darauf hin, dass nach dem anwendbaren Recht die Übertragung der Alleinsorge auf den
nichtehelichen Vater, wenn die Zustimmung der Mutter nicht vorliege, nach § 1666 BGB nur dann möglich sei, wenn die Mutter erziehungsunfähig und dadurch das Wohl des Kindes gefährdet sei. Der Mutter könne zwar vorgeworfen
werden, dass sie den Sohn ohne einen triftigen Grund aus seiner vertrauten Umgebung in B. herausgerissen und ihm den Vater als Bezugsperson entzogen habe, aber es gebe keine Anhaltspunkte für die Behauptungen des
Beschwerdeführers, dass sie psychisch gestört und deshalb erziehungsunfähig sei. Die Verfahrenspflegerin war ferner der Meinung, dass in Anbetracht der anhaltenden Streitigkeiten und der Uneinigkeit zwischen den Eltern über die
Erziehung des Kindes ein gemeinsames Sorgerecht ebenfalls ausscheide.
Mit Beschluss vom 2. Februar 2005 räumte das Amtsgericht S. dem Beschwerdeführer unbetreuten Umgang mit dem Kind an jedem zweiten Wochenende mit der Maßgabe ein, dass die Begegnungen im Umkreis von 30 km vom
Wohnsitz der Mutter stattfinden müssten. Gegen diesen Beschluss legten beide Parteien Rechtsmittel ein.
Mit Beschluss vom 15. Juli 2005 änderte das Oberlandesgericht Zweibrücken den Beschluss des Amtsgerichts vom 2. Februar 2005 ab und gewährte dem Beschwerdeführer regelmäßigen unbetreuten Umgang mit dem Kind an jedem
dritten Wochenende sowie während der Hälfte der Schulferien.
In der Folgezeit konnte der Beschwerdeführer sein Umgangsrecht anscheinend dementsprechend ausüben.
(b) Das Sorgerechtsverfahren im Übrigen
Im Rahmen der Vorbereitung auf einen Sitzungstermin in dem noch immer anhängigen Sorgerechtsverfahren, in dem der Sachverständige sein Gutachten vom 12. November 2004 näher erläutern sollte, beantragte der
Beschwerdeführer beim Amtsgericht S. die Zulassung eines Diplom-Pädagogen, der den psychologischen Sachverständigen an seiner Stelle befragen sollte, da weder er noch sein Anwalt über den erforderlichen psychologischen
Sachverstand verfügten, um die relevanten Fragen zu stellen. Mit Beschluss vom 25. Juli 2005 wies das Gericht den Antrag des Beschwerdeführers mit der Feststellung zurück, sein Anwalt habe dem Sachverständigen bereits
schriftlich eine Liste mit relevanten Fragen vorgelegt, die den von ihm behaupteten Mangel an Sachverstand nicht erkennen lasse. Das Gericht war außerdem der Meinung, dass der vom Beschwerdeführer vorgeschlagene Pädagoge
nicht über die erforderlichen Qualifikationen verfüge. Unter Hinweis darauf, dass Verhandlungen in Familiensachen grundsätzlich nicht öffentlich seien und die Zulassung von weiteren Beiständen für die Parteien deshalb die
Ausnahme bleiben müsse, vertrat das Gericht die Auffassung, dass außergewöhnliche Umstände, die eine Abweichung von diesem Grundsatz rechtfertigen würden, im vorliegenden Fall nicht gegeben seien.
Am 19. Juni 2006 fand eine mündliche Verhandlung statt, in welcher der Sachverständige weitere Ausführungen machte. Die Verfahrenspflegerin berichtete, dass das Kind nach seinem letzten Besuch beim Vater Anfang Juni 2006
den Wunsch geäußert habe, er wolle jetzt bei seinem Vater wohnen und seine Mutter nur besuchen.
Mit Beschluss vom 23. August 2006 wies das Amtsgericht S. den Antrag des Beschwerdeführers zurück, ihm nach § 1672 bzw. 1666 BGB die alleinige elterliche Sorge für das Kind, hilfsweise das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu
übertragen. Seinen weiter hilfsweise gestellten Antrag, die gemeinsame Sorge herzustellen und die nach § 1672 Abs. 1 BGB erforderliche Zustimmung der Mutter hierzu nach Art. 224 § 2 Buchstabe a [sic] EGBGB, einer vom
deutschen Gesetzgeber am 31. Dezember 2003 eingeführten Übergangsvorschrift (siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht"), zu ersetzen, wies das Gericht ebenfalls zurück.
In Bezug auf die Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge stellte das Gericht zunächst fest, dass der Antrag des Beschwerdeführers, sofern er nach § 1672 BGB gestellt sei, als unzulässig zurückgewiesen werden müsse. Das
Gericht wies darauf hin, dass der Beschwerdeführer und die Kindesmutter niemals miteinander verheiratet gewesen seien und keine gemeinsame Sorgeerklärung abgegeben hätten und dass die elterliche Sorge daher nach § 1626a BGB
der Mutter allein zustehe. Gemäß § 1672 Abs. 1 könne, wenn die Kindeseltern nicht nur vorübergehend getrennt lebten und die elterliche Sorge für das Kind nach § 1626a BGB der Mutter zustehe, der Vater nur mit Zustimmung der
Mutter beantragen, dass ihm das Gericht die elterliche Sorge oder einen Teil der elterlichen Sorge allein übertrage. Da die Mutter im vorliegenden Fall ihre Zustimmung verweigert habe, scheide § 1672 Abs. 1 als Rechtsgrundlage für
den diesbezüglichen Antrag des Vaters aus. Auf die Gründe, aus denen die Mutter die Zustimmung verweigert habe, komme es nicht an, denn die genannte Vorschrift sehe die Möglichkeit einer gerichtlichen Ersetzung der
Zustimmung der Mutter grundsätzlich nicht vor. Dabei sei leider hinzunehmen, dass nach wie vor keine Gleichstellung von Vätern nichtehelicher Kinder mit den Vätern ehelicher Kinder erreicht sei.
Anschließend befasste sich das Gericht mit der Frage, ob eine Übertragung des Sorgerechts durch eine Gerichtsentscheidung ohne Zustimmung der Mutter unter den in § 1666 BGB genannten Ausnahmen in Betracht kommen könnte;
danach sei das Familiengericht befugt, die erforderlichen Schutzmaßnahmen anzuordnen, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet sei und die Eltern nicht gewillt seien, selbst Maßnahmen zu ergreifen.
Das Gericht war jedoch insbesondere unter Bezugnahme auf das Sachverständigengutachten vom 12. November 2004, das in der mündlichen Verhandlung am 19. Juni 2006 ergänzt worden war, der Auffassung, dass das Wohl des
Kindes im vorliegenden Fall durch das alleinige Sorgerecht der Mutter nicht gefährdet sei. Der Sachverständige hatte festgestellt, dass eine Übertragung der elterlichen Sorge auf den Vater dem Kindeswohl widersprechen würde,
insbesondere im Hinblick auf das angespannte Verhältnis zwischen den Eltern, das im Wesentlichen darauf zurückzuführen sei, dass der Vater versuche, die von der Mutter geleistete Erziehungsarbeit zu untergraben. Die früher von
der Mutter erhobenen sexuellen Missbrauchsvorwürfe könnten nicht zu einer anderen Einschätzung führen, denn sie habe diese Vorwürfe vor ihm nicht aufrechterhalten und aus der Exploration des Kindes ergäben sich keine
Anhaltspunkte dafür, dass das vertrauensvolle Verhältnis zwischen Vater und Sohn infolge der Behauptungen der Mutter Schaden genommen habe. Der Sachverständige führte weiter aus, dass es keine Anhaltspunkte für die
Behauptung des Vaters gebe, dass die Mutter an einer pathologischen Persönlichkeitsstörung leide und deshalb erziehungsunfähig sei. Dass das Kind nach seinem letzten Aufenthalt bei seinem Vater im Juni 2006 den Wunsch
geäußert habe, er wolle nunmehr auch einmal bei seinem Vater leben und seine Mutter nur besuchen, sei eine normale Konfliktreaktion eines Kindes, dessen Eltern sich getrennt haben. Doch da der Sohn erst 11 Jahre alt und deshalb
nicht fähig sei, sich die Konsequenzen eines Umzugs zu seinem Vater vorzustellen, könnten die Äußerungen des Kindes keine Änderung seiner Schlussfolgerung, nämlich die alleinige elterliche Sorge der Mutter beizubehalten, bewirken.
Die Schlussfolgerungen des Sachverständigen deckten sich mit den Schilderungen der Verfahrenspflegerin in der mündlichen Verhandlung am 19. Juni 2006; sie hatte kurz vor dem Verhandlungstermin mit dem Kind gesprochen und
bestätigt, dass das Kind emotional stabil sei. Nach alledem war das Gericht der Auffassung, dass eine weitere Anhörung des Kindes nicht erforderlich sei.
Abschließend stellte das Gericht fest, dass der Hilfsantrag des Beschwerdeführers auf Einrichtung der gemeinsamen elterlichen Sorge nach § 1626a Abs. 1 Nr. 1 BGB sowie Art. 224 § 2 Buchstabe a [sic] EGBGB zwar zulässig, aber
unbegründet sei. Nach dieser Übergangsvorschrift sei es zwar grundsätzlich möglich, die gemeinsame elterliche Sorge anzuordnen und die diesbezügliche Zustimmung der Mutter zu ersetzen, wenn sich die Eltern, wie im vorliegenden
Fall, vor dem 1. Juli 1998 getrennt und vor der Trennung mindestens sechs Monate ohne Unterbrechung mit dem Kind zusammengelebt hätten, aber Voraussetzung sei auch, dass die gemeinsame elterliche Sorge dem Kindeswohl
diene. Unter Bezugnahme auf seine Begründung hinsichtlich der Voraussetzungen für die Übertragung der alleinigen oder gemeinsamen elterlichen Sorge nach § 1666 BGB sowie die Einschätzung des Sachverständigen in der
Anhörung vom 19. Juni 2006 und die Stellungnahmen der Vertreterin des Jugendamts und der Verfahrenspflegerin gelangte das Gericht zu der Überzeugung, dass in Anbetracht der anhaltenden Spannungen zwischen den Eltern die
gemeinsame Sorge zu weiteren Auseinandersetzungen über die Erziehung des Sohnes, seine Betreuung und die Frage seines Aufenthaltsorts führen würde. Diese Auseinandersetzungen könnten die positive Entwicklung des
Verhältnisses zwischen Vater und Sohn gefährden und liefen somit dem Kindeswohl zuwider. Das Gericht hob ferner hervor, dass sich keine Zweifel an der Fachkompetenz des bestellten Gutachters oder der Richtigkeit seiner
Feststellungen ergeben hätten.
Der Beschwerdeführer legte gegen das Urteil mit Schriftsatz vom 6. November 2006 Beschwerde ein. Er machte insbesondere geltend, dass in Anbetracht der Tatsache, dass das Kind vom Gericht und von dem Sachverständigen
zuletzt im Jahr 2004 angehört worden sei, im Juni 2006 aber gegenüber der Verfahrenspflegerin erklärt habe, dass es nun bei seinem Vater leben wolle, eine erneute Anhörung seines Sohnes durch das Gericht sowie ein neues
Sachverständigengutachten unverzichtbar seien für eine Entscheidung über die Frage, welche Zuordnung der elterlichen Sorge dem Kindeswohl dienen würde.
Am 10. Januar 2007 wies das Oberlandesgericht Zweibrücken die Beschwerde des Beschwerdeführers zurück. Das Oberlandesgericht schloss sich den Feststellungen des Amtsgerichts S. an und wies ergänzend darauf hin, dass die
gemeinsame elterliche Sorge ein Mindestmaß an Kooperationsbereitschaft zwischen den Eltern voraussetze; im vorliegenden Fall, in dem die unüberbrückbaren Konflikte zwischen den Eltern durch eine gemeinsame Sorge eher noch
verschärft würden, sei diese Voraussetzung nicht erfüllt. Diese Feststellungen könnten aus dem Inhalt der Akten und ohne Einholung eines neuen Sachverständigengutachtens getroffen werden. Einer weiteren Anhörung des Kindes
oder der übrigen Prozessbeteiligten habe es ebenfalls nicht bedurft, da hiervon keine weiteren, für die Entscheidung bedeutsamen Erkenntnisse hinsichtlich der Übertragung der elterlichen Sorge zu erwarten gewesen seien.
Am 30. Januar 2007 erhob der Beschwerdeführer Anhörungsrüge zum Oberlandesgericht Zweibrücken.
Am 14. Februar 2007 erhob er Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts S. vom 23. August 2006 sowie gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Zweibrücken vom 10. Januar 2007 und focht die Ablehnung
seines Antrags auf Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge, hilfsweise der gemeinsamen Sorge für seinen Sohn gemäß § 1666 BGB bzw. Art. 224 § 2 Buchstabe a [sic] EGBGB an.
Mit Beschluss vom 22. Februar 2007 wies das Oberlandesgericht die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers als unbegründet zurück. In Ergänzung der in seinem Beschluss vom 10. Januar 2007 angeführten Gründe vertrat das
Oberlandesgericht die Auffassung, dass das Amtsgericht den Sachverhalt umfassend ermittelt und seine Entscheidung auf der Grundlage der Erklärungen der Verfahrensbeteiligten getroffen habe, die mit Ausnahme des Kindes zeitnah
angehört worden seien. Seit dem Beschluss des Amtsgerichts hätten sich keine entscheidungserheblichen tatsächlichen Änderungen ergeben, und es könne deshalb ausgeschlossen werden, dass eine erneute Anhörung zu einer anderen
Einschätzung des Sachverhalts führen würde. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass die Mutter erziehungsungeeignet sei oder das Kindeswohl in einem Maß gefährdet habe, das die Entziehung ihres Sorgerechts nach § 1666 BGB
rechtfertigen würde. Außerdem stehe außer Zweifel, dass der erhebliche Konflikt zwischen den Eltern eine gemeinsame elterliche Sorge unmöglich mache; ein weiteres Sachverständigengutachten oder eine erneute Anhörung des
Kindes könne daher für die Entscheidung darüber, wer das Sorgerecht erhalte, keine Rolle spielen.
Mit Schriftsatz vom 26. März 2007 erstreckte der Beschwerdeführer seine Verfassungsbeschwerde auf den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 22. Februar 2007.
Am 3. März 2009 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne weitere Begründung ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 846/07). Die Entscheidung wurde dem
Beschwerdeführer am 23. März 2009 zugestellt.
3. Das Verfahren vor dem Gerichtshof
Am 14. September 2005 erhob der Beschwerdeführer beim Gerichtshof eine erste Individualbeschwerde nach Artikel 34 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Individualbeschwerde Nr. 40014/05) betreffend das Sorgerecht
für seinen Sohn und das Recht auf Umgang mit ihm. Unter Berufung auf Artikel 6 Abs. 1 sowie die Artikel 8 und 14 der Konvention rügte er die Dauer des innerstaatlichen Verfahrens und die Weigerung der innerstaatlichen Gerichte,
ihm unbetreuten Umgang mit seinem Sohn zu gewähren.
In seinem Urteil hierüber vom 8. Juli 2010 entschied der Gerichtshof, dass zwar die Dauer des umgangsrechtlichen Verfahrens noch konventionskonform sei, die Dauer des Sorgerechtsverfahrens aber das in Artikel 6 der Konvention
verankerte Gebot der Entscheidung innerhalb „angemessener Frist" verletzt habe, und erklärte die Beschwerde im Übrigen für unzulässig. Der Gerichtshof erklärte dazu allerdings, dass die Rüge des Beschwerdeführers nach Artikel 8
ausschließlich das Umgangsrechtsverfahren betreffe und die Vereinbarkeit des Sorgerechtsverfahrens mit dieser Vorschrift Gegenstand einer gesonderten Individualbeschwerde sei (vorliegende Individualbeschwerde Nr. 50216/09).
B. Das einschlägige innerstaatliche Recht und die innerstaatliche Praxis
Nach Artikel 6 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) sind die Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
Die Gesetzesbestimmungen zu Sorge- und Umgangsrecht finden sich im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB). Nach § 1626 Abs. 1 BGB haben die Eltern die Pflicht und das Recht, für das Kind zu sorgen (elterliche Sorge).
Nach § 1666 BGB hat das Familiengericht die erforderlichen Schutzmaßnahmen zu treffen, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes durch Vernachlässigung gefährdet wird und die Eltern nicht gewillt sind,
diese Maßnahmen selbst zu treffen. Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von einem Elternteil verbunden ist, sind nur zulässig, wenn das Kind andernfalls in Gefahr wäre (§ 1666a BGB).
Nichtehelich geborene Kinder standen - nach § 1705 BGB in der früheren Fassung - automatisch unter der elterlichen Sorge der Mutter. Diese Bestimmung wurde jedoch 1996 vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig
erklärt. Am 1. Juli 1998 trat die Reform zum Kindschaftsrecht (Bundesgesetzblatt 1997, S. 2942) zur Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts von 1996 in Kraft. Die einschlägigen Bestimmungen im BGB wurden wie
folgt geändert: Nach § 1626a Abs. 1 können die Eltern eines nichtehelichen minderjährigen Kindes die elterliche Sorge gemeinsam ausüben, wenn sie eine entsprechende Erklärung abgeben (Sorgeerklärung) oder einander heiraten.
Andernfalls sieht § 1626a Abs. 2 vor, dass die Mutter das alleinige Sorgerecht erhält.
Leben die Eltern nicht nur vorübergehend getrennt und steht die alleinige elterliche Sorge nach § 1626a Abs. 2 BGB der Mutter zu, so sieht § 1672 Abs. 1 BGB vor, dass das Familiengericht die elterliche Sorge dem Vater allein
übertragen kann, wenn ein Elternteil mit Zustimmung des anderen Elternteils den entsprechenden Antrag stellt. Dem Antrag ist stattzugeben, wenn die Übertragung dem Wohl des Kindes dient.
Im Gegensatz hierzu führen Eltern nach ihrer Trennung das Sorgerecht gemeinsam fort, wenn sie vor ihrer Trennung die elterliche Sorge gemeinsam ausgeübt haben, entweder weil das Kind ehelich geboren wurde, weil die Eltern
einander nach der Geburt des Kindes geheiratet haben, oder weil sie eine Sorgeerklärung abgegeben haben, es sei denn, ein Gericht spricht einem Elternteil auf dessen Antrag hin, und wenn es dem Wohl des Kindes dient, nach § 1671
BGB das alleinige Sorgerecht zu.
Am 29. Januar 2003 befand das Bundesverfassungsgericht, dass § 1626a BGB nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sei, da eine Übergangsregelung für unverheiratete Eltern fehle, die 1996 zusammengelebt, sich aber noch vor
Inkrafttreten des Kindschaftsrechtsreformgesetzes am 1. Juli 1998 getrennt hätten (also diejenigen, denen es unmöglich war, eine Sorgeerklärung abzugeben). Um die oben genannte mangelnde Verfassungsmäßigkeit zu beheben,
führte der deutsche Gesetzgeber am 31. Dezember 2003 Artikel 224 § 2 Buchstabe a [sic] des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB) ein, wonach ein Gericht auf Antrag des Vaters die Sorgeerklärung der
Mutter ersetzen kann, wenn nicht miteinander verheiratete Eltern mindestens sechs Monate ohne Unterbrechung mit ihrem Kind zusammengelebt und sich vor dem 1. Juli 1998 getrennt haben, vorausgesetzt, die gemeinsame elterliche
Sorge dient dem Kindeswohl.
In seinem Urteil vom 29. Januar 2003 befand das Bundesverfassungsgericht auch, dass § 1626a Abs. 2 BGB - von der fehlenden Übergangsregelung abgesehen - das Recht von Vätern nichtehelich geborener Kinder auf Achtung ihres
Familienlebens nicht verletze.
In einem späteren Urteil vom 21. Juli 2010 stellte das Bundesverfassungsgericht jedoch u. a. unter Bezugnahme auf die Schlussfolgerungen des Gerichtshofs in der Rechtssache Z. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 22028/04,
3. Dezember 2009) fest, dass das nach Artikel 6 Abs. 2 GG garantierte Elternrecht des Vaters dadurch verletzt werde, dass dieser generell von der Sorgetragung für ein nichteheliches Kind ausgeschlossen werde, wenn die Mutter des
Kindes ihre Zustimmung verweigere, ohne dass ihm die Möglichkeit eingeräumt werde, gerichtlich überprüfen zu lassen, ob er aus Gründen des Kindeswohls an der elterlichen Sorge zu beteiligen oder die alleinige Sorge für das Kind
auf ihn selbst zu übertragen sei. Das Bundesverfassungsgericht entschied folglich, dass § 1626a Abs. 1 Nr. 1 und § 1672 Abs. 1 BGB verfassungswidrig und bis zum Inkrafttreten der erforderlichen gesetzlichen Neuregelung mit der
Maßgabe anzuwenden seien, dass das Familiengericht auf Antrag eines Elternteils die elterliche Sorge gemeinsam oder allein übertrage, soweit zu erwarten sei, dass dies dem Kindeswohl entspreche.
RÜGEN
Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 14 der Konvention, dass die Tatsache, dass ihm das Sorgerecht für seinen Sohn nur deshalb verwehrt worden sei, weil er mit der Kindesmutter nicht verheiratet
gewesen sei, einen Verstoß gegen sein Recht auf Achtung seines Familienlebens und eine ungerechtfertigte Diskriminierung wegen des Geschlechts darstelle. Ferner rügte er, dass die innerstaatlichen Gerichte seinen Antrag auf
Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge, hilfsweise der gemeinsamen Sorge für seinen Sohn gemäß § 1666 BGB sowie Art. 224 § 2 Buchstabe a [sic] EGBGB abgelehnt hätten.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
1. Unter Berufung auf Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 14 der Konvention rügte der Beschwerdeführer, dass die innerstaatlichen Behörden mit ihrer Entscheidung, ihm jegliches Sorgerecht für seinen Sohn mit der Begründung zu
verweigern, dieser sei nichtehelich geboren, seine Elternrechte im Vergleich zur Kindesmutter unverhältnismäßig stark beschnitten hätten.
Artikel 8 sieht Folgendes vor:
„(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.
(2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das
wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer."
Artikel 14 lautet wie folgt:
„Der Genuss der in [der] Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung,
der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten."
Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer in seiner Eigenschaft als Vater eines nichtehelich geborenen Kindes im vorliegenden Fall im Wesentlichen eine gegen Artikel 8 und 14 der Konvention verstoßende
Ungleichbehandlung gegenüber der Mutter rügte, da er keine Möglichkeit habe, ohne deren Zustimmung das alleinige oder gemeinsame Sorgerecht zu erlangen.
Der Gerichtshof stellt fest, dass die elterliche Sorge für ein nichteheliches Kind nach § 1626a BGB zunächst der Mutter zukommt, es sei denn, die beiden Elternteile einigen sich darauf, die gemeinsame elterliche Sorge zu beantragen.
Die einschlägigen Bestimmungen schließen zwar nicht kategorisch aus, dass der Vater künftig das gemeinsame Sorgerecht erlangen kann, doch nach §§ 1666 und 1672 BGB kann das Familiengericht das Sorgerecht nur dann auf den
Vater übertragen, wenn das Wohl des Kindes durch Vernachlässigung seitens der Mutter gefährdet ist oder wenn ein Elternteil mit Zustimmung des anderen Elternteils einen entsprechenden Antrag stellt. Lagen diese Voraussetzungen
nicht vor, d.h. war das Wohl des Kindes nicht gefährdet und stimmte die Mutter einer Übertragung des Sorgerechts nicht zu, wie im vorliegenden Fall festgestellt wurde, sah das zur Zeit des hier in Rede stehenden Verfahrens geltende
deutsche Recht grundsätzlich keine gerichtliche Überprüfung der Frage vor, ob dem Kindeswohl mit der Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge auf den Vater oder mit der Einrichtung der gemeinsamen Sorge beider Elternteile
gedient wäre.
Das Amtsgericht S. hat in seinem Beschluss vom 23. August 2006 mithin festgestellt, dass der Antrag des Beschwerdeführers auf Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge oder eines Teilbereichs davon, sofern er nach § 1672 Abs.
1 BGB gestellt sei, als unzulässig zurückzuweisen sei, da eine solche Übertragung nur mit Zustimmung der Mutter möglich sei. Dabei sei leider hinzunehmen, dass in dieser Hinsicht nach wie vor keine Gleichstellung von Vätern
nichtehelicher Kinder mit den Vätern ehelicher Kinder erreicht sei.
Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer im Rahmen seiner Beschwerde gegen den genannten Beschluss des Amtsgerichts S. und in seiner anschließenden Verfassungsbeschwerde lediglich das Ergebnis der
Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte in seinem besonderen Fall angefochten hat, nämlich deren Ablehnung seines Antrags auf Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge gemäß § 1666 BGB, hilfsweise der gemeinsamen
Sorge gemäß Artikel 224 § 2 Buchstabe a [sic] EGBGB. Er hat anscheinend nicht gerügt, dass er im Vergleich zur Mutter insoweit diskriminiert wurde, dass ihm nach §§ 1626a und 1672 BGB die Möglichkeit verwehrt war, das
alleinige Sorgerecht oder die gemeinsame Sorge ohne die Zustimmung der Mutter zu erlangen oder die Übertragung des alleinigen Sorgerechts auf die Mutter gerichtlich überprüfen zu lassen.
Selbst unter der Annahme, der innerstaatliche Rechtsweg wäre diesbezüglich erschöpft, weist der Gerichtshof darauf hin, dass er bereits die Frage geprüft hat, ob die Bestimmungen des BGB, nach denen die alleinige Sorge für ein
nichtehelich geborenes Kind der Mutter zusteht und eine Übertragung des Sorgerechts oder eines Teilbereichs davon auf den Vater ihrer Zustimmung bedarf, ohne dass eine gerichtliche Überprüfung für den Fall einer Verweigerung
der Zustimmung vorgesehen ist, mit Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 14 der Konvention vereinbar sind (siehe Z. ./. Deutschland, a. a. O., Rdnrn. 42 ff, und S. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 38102/04, 7.
Dezember 2010). Der Gerichtshof ließ zwar gelten, dass die ursprüngliche Zuweisung der Alleinsorge für ein nichteheliches Kind an die Mutter zum Schutz des Kindeswohls gerechtfertigt war, stellte aber fest, dass der grundsätzliche
Ausschluss einer gerichtlichen Überprüfung der ursprünglichen Zuweisung des alleinigen Sorgerechts an die Mutter hingegen nicht in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten Ziel stand, nämlich dem Schutz des Wohls
eines nichtehelichen Kindes. Der Gerichtshof stellte folglich fest, dass Artikel 14 i. V. m. Artikel 8 der Konvention verletzt wurde (siehe Z., a. a. O., Rdnrn. 55 und 63). Der Gerichtshof nimmt in diesem Zusammenhang zur Kenntnis,
dass das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 21. Juli 2010 u. a. unter Bezugnahme auf das Urteil Z. die Verfassungswidrigkeit der einschlägigen Bestimmungen des BGB (§§ 1626a Abs. 1 Nr. 1 und 1672 Abs. 1) festgestellt hat.
Das Bundesverfassungsgericht erließ bis zum Inkrafttreten der erforderlichen gesetzlichen Neuregelung eine verbindliche Übergangsregelung, nach der die genannten Bestimmungen mit der Maßgabe anzuwenden waren, dass das
Familiengericht auf Antrag eines Elternteils die elterliche Sorge für ein nichteheliches Kind gemeinsam oder allein überträgt, soweit zu erwarten ist, dass dies dem Kindeswohl entspricht.
Im Hinblick auf die besonderen Umstände der vorliegenden Rechtssache weist der Gerichtshof allerdings darauf hin, dass bereits zur Zeit des hier in Rede stehenden Verfahrens nach der Übergangsbestimmung in Artikel 224 § 2
Buchstabe a [sic] EGBGB eine Ausnahme vom Ausschluss der gerichtlichen Überprüfung der ursprünglichen Zuweisung der Alleinsorge an die Mutter einen nichtehelichen Kindes gegeben war. Nach dieser Bestimmung kann das
Familiengericht die gemeinsame elterliche Sorge anordnen und bei nicht miteinander verheirateten Eltern, die sich vor Inkrafttreten des Kindschaftsrechtsreformgesetzes am 1. Juli 1998 getrennt und vor ihrer Trennung mindestens
sechs Monate ohne Unterbrechung mit dem Kind zusammengelebt haben, die diesbezügliche Zustimmung der Mutter ersetzen, wenn die gemeinsame elterliche Sorge dem Kindeswohl dient. Während sich die Eltern im Fall Z. nach
dem 1. Juli 1998 getrennt hatten und die Übergangsregelung somit nicht galt, haben sich die Eltern in der vorliegenden Rechtssache im Dezember 1997 getrennt und die innerstaatlichen Gerichte konnten somit - anders als im
Sorgerechtsverfahren im Fall Z. - auf Antrag des Beschwerdeführers in vollem Umfang überprüfen, ob die gemeinsame elterliche Sorge dem Wohl des Sohnes des Beschwerdeführers dienen würde.
Nach alledem stellt der Gerichtshof fest, dass dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
2. Der Beschwerdeführer rügte ferner, dass der Verfahrensausgang sein Recht auf Achtung seines Familienlebens verletzt habe. Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass diese Rüge allein nach Artikel 8 der Konvention zu prüfen ist. Er
erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass die Rüge des Beschwerdeführers wegen der Dauer des Sorgerechtsverfahrens sowie seine Rügen in Bezug auf das Umgangsrechtsverfahren bereits im Urteil des Gerichtshofs vom 8. Juli
2010 (Individualbeschwerde Nr. 40014/05) behandelt wurden und nicht Gegenstand der vorliegenden Beschwerde sind. In der vorliegenden Rechtssache hat der Gerichtshof zu entscheiden, ob die innerstaatlichen Gerichte bei ihren
Entscheidungen in dem Sorgerechtsverfahren das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Familienlebens beachtet haben.
Der Gerichtshof weist in diesem Zusammenhang erneut darauf hin, dass für einen Elternteil und sein Kind das Zusammensein einen grundlegenden Bestandteil des Familienlebens darstellt, selbst wenn die Beziehung zwischen den
Eltern zerbrochen ist, und innerstaatliche Maßnahmen, welche die Betroffenen an diesem Zusammensein hindern, einen Eingriff in das durch Artikel 8 der Konvention geschützte Recht bedeuten (siehe u. a. E. ./. Deutschland [GK],
Individualbeschwerde Nr. 25735/94, Rdnr. 43, ECHR 2000-VIII).
Die angegriffenen Maßnahmen im vorliegenden Fall, nämlich die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte, mit denen die Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge auf den Beschwerdeführer, hilfsweise die Erstellung der
gemeinsamen Sorge, die das Recht auf Ausübung der elterlichen Sorge u. a. in Bezug auf die Erziehung und Betreuung seines Sohnes sowie die Bestimmung seines Aufenthalts einschließt, abgelehnt wurde, waren einen Eingriff in das
Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Familienlebens. Ein solcher Eingriff stellt eine Verletzung von Artikel 8 dar, es sei denn, er ist „gesetzlich vorgesehen", verfolgt ein oder mehrere Ziele, die nach Absatz 2 dieser
Bestimmung legitim sind, und kann als „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" angesehen werden.
Die maßgeblichen Entscheidungen des Amtsgerichts S., mit denen dieses ablehnte, der Mutter das alleinige Sorgerecht zu entziehen und es dem Beschwerdeführer zu übertragen bzw. die gemeinsame elterliche Sorge für seinen Sohn
herzustellen, beruhten auf innerstaatlichem Recht, nämlich auf § 1666 BGB bzw. Artikel 224 § 2 Buchstabe a [sic] EGBGB. Der Gerichtshof ist ferner überzeugt, dass die angegriffenen Gerichtsentscheidungen den Schutz des
Kindeswohls zum Ziel hatten und somit ein legitimes Ziel im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 verfolgten.
Bei der Entscheidung darüber, ob die angegriffenen Maßnahmen „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" waren, hat der Gerichtshof zu prüfen, ob die zur Rechtfertigung dieser Maßnahmen angeführten Gründe in
Anbetracht der Rechtssache insgesamt im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 zutreffend und ausreichend waren. Von entscheidender Bedeutung ist bei jeder Rechtssache dieser Art zweifellos die Überlegung, was dem Kindeswohl am besten
dient. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass die nationalen Behörden insoweit im Vorteil sind, als sie unmittelbaren Kontakt zu allen Beteiligten haben. Die Aufgabe des Gerichtshofs besteht demnach nicht darin, an Stelle der
nationalen Behörden deren Aufgaben in Fragen des Sorge- und Umgangsrechts wahrzunehmen, sondern er hat vielmehr im Lichte der Konvention die Entscheidungen zu überprüfen, die diese Behörden im Rahmen ihres
Beurteilungsspielraums getroffen haben (siehe S. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 30943/96, Rdnr. 64, EGMR 2003-VIII).
Welcher Beurteilungsspielraum den zuständigen innerstaatlichen Behörden dabei einzuräumen ist, hängt von der Art der streitigen Fragen und der Bedeutung der betroffenen Interessen ab. Insbesondere bei Sorgerechtsentscheidungen
hat der Gerichtshof anerkannt, dass die Behörden insofern einen großen Spielraum haben. Einer genaueren Kontrolle bedarf es jedoch bei weitergehenden Beschränkungen, wie beispielsweise bei Einschränkungen des Umgangsrechts
der Eltern durch diese Behörden, sowie bei allen gesetzlichen Maßnahmen, die einen wirksamen Schutz des Rechts von Eltern und Kindern auf Achtung ihres Familienlebens gewährleisten sollen. Solche weitergehenden
Beschränkungen bergen die Gefahr, dass die Familienbeziehungen zwischen einem kleinen Kind und einem oder beiden Elternteilen endgültig abgeschnitten werden (siehe N. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 39741/02,
Rdnr. 64, 12. Juli 2007).
Der Gericht weist insoweit erneut darauf hin, dass die innerstaatlichen Behörden nach Artikel 8 einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen des Kindes und denen der Eltern herbeizuführen und dabei dem Wohl des Kindes, das
je nach seiner Art und Bedeutung den Interessen der Eltern vorgehen kann, besonderes Gewicht beizumessen haben. Insbesondere kann ein Elternteil nach Artikel 8 der Konvention nicht beanspruchen, dass Maßnahmen getroffen
werden, die der Gesundheit und der Entwicklung des Kindes schaden würden (siehe S. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 31871/96, Rdnr. 64, ECHR 2003-VIII). In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof gelten
lassen, dass es triftige Gründe dafür geben kann, einem nicht verheirateten Vater die Teilhabe an der elterlichen Sorge zu versagen; wenn Streitigkeiten oder mangelnde Kommunikation zwischen den Eltern das Kindeswohl gefährden
können (siehe Z., a. a. O., Rdnr. 56).
Im Hinblick auf die Umstände der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass die innerstaatlichen Gerichte insbesondere unter Bezugnahme auf die Feststellungen des psychologischen Sachverständigen vom 12.
November 2004, die in der mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht am 19. Juni 2006 ergänzt wurden, zu dem Schluss kamen, dass es keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass das Wohl des Kindes durch die aktuelle
Sorgerechtsregelung gefährdet sei, und deshalb auch keine Veranlassung bestehe, der Mutter nach § 1666 BGB das alleinige Sorgerecht zu entziehen und es dem Vater zu übertragen. In Anbetracht der anhaltenden Spannungen
zwischen den Eltern und der Versuche des Vaters, die Erziehungsarbeit der Mutter zu untergraben, waren die Gerichte der Auffassung, dass vielmehr eine Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge auf den Vater dem Kindeswohl
abträglich wäre. Die Feststellungen des Sachverständigen deckten sich mit der Einschätzung der für das Kind bestellten Verfahrenspflegerin. Die innerstaatlichen Gerichte trugen dem Umstand, dass sich das Kind nach seinem letzten
Aufenthalt bei seinem Vater in B. im Jahr 2006 dahingehend geäußert hatte, nun bei seinem Vater leben und seine Mutter nur besuchen zu wollen, zwar Rechnung, waren aber gleichwohl von der Einschätzung des Sachverständigen
überzeugt, dass das Kind aufgrund seines jungen Alters nicht fähig sei, sich die Konsequenzen einer solchen Entscheidung vorzustellen, und sich deshalb durch eine entsprechende Äußerung des Kindes eine Änderung der
Einschätzung der Situation nicht ergeben könne. In seinem Beschluss vom 23. August 2006 führte das Amtsgericht S. auch aus, warum Zweifel an der Fachkompetenz des Sachverständigen oder der Richtigkeit seiner
Schlussfolgerungen nicht veranlasst seien.
Insbesondere in Anbetracht der anhaltenden und unüberbrückbaren Differenzen zwischen den Eltern sowie der mangelnden Einigung in Fragen der Erziehung, der Betreuung und des Aufenthaltsortes ihres Sohnes kamen die
innerstaatlichen Gerichte zu dem Schluss, dass die gemeinsame elterliche Sorge dem Kindeswohl auch nicht dienlich wäre, und wiesen deshalb den Antrag des Beschwerdeführers, die diesbezügliche Zustimmung der Mutter nach
Artikel 224 § 2 Buchstabe a [sic] EGBGB zu ersetzen, zurück.
Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die innerstaatlichen Gerichte die Begründung ihrer Beschlüsse auf Erwägungen gestützt haben, die auf eine Übertragung der elterlichen Sorge zum Wohl des Kindes gerichtet waren, und dass
diese Gründe daher im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 zutreffend und ausreichend waren.
Darüber hinaus gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass der erforderliche Schutz der Interessen des Beschwerdeführers im Entscheidungsprozess der innerstaatlichen Gerichte nicht gewährleistet war. Das Amtsgericht S. hörte die
Eltern an und berücksichtigte Äußerungen und Berichte der Verfahrenspflegerin und des zuständigen Jugendamts sowie die Feststellungen des psychologischen Sachverständigen. Der Beschwerdeführer konnte in den Verfahren vor
dem Amtsgericht und dem Oberlandesgericht alle Argumente für eine Übertragung des Sorgerechts für seinen Sohn auf ihn vorbringen. Es wurde ihm insbesondere Gelegenheit gegeben, den Sachverständigen in der mündlichen
Verhandlung am 19. Juni 2006 zu befragen, und er hatte auch Zugang zu allen maßgeblichen Informationen, auf die sich die Gerichte gestützt haben.
Im Hinblick auf den Antrag des Beschwerdeführers, den Sachverständigen von einem Pädagogen befragen zu lassen, stellte das Amtsgericht S. in seinem Beschluss vom 25. Juli 2005 fest, dass die beantragte Maßnahme im
innerstaatlichen Recht regelmäßig nicht vorgesehen sei, und führte schlüssig begründet aus, dass im Fall des Beschwerdeführers keine besonderen Umständen vorlägen, die eine Abweichung von dieser Regel rechtfertigen würden. Der
Gerichtshof erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass es generell Sache der nationalen Gerichte ist, die ihnen vorliegenden Beweise zu würdigen; dies gilt auch für die Mittel zur Feststellung des entscheidungserheblichen
Sachverhalts (Vidal ./. Belgien, 22. April 1992, Rdnr. 33, Serie A Band 235-B).
Hinsichtlich des Problems, dass das Kind vom Amtsgericht zuletzt im Jahr 2004, d.h. zwei Jahre vor dessen Beschluss vom 23. August 2006, angehört worden war, stellt der Gerichtshof fest, dass die Entscheidung der innerstaatlichen
Gerichte, das Sorgerecht für den Sohn allein bei der Mutter zu belassen, auf ihrer Einschätzung beruhte, dass eine Übertragung des Sorgerechts bzw. die Herstellung der gemeinsamen elterlichen Sorge dem Wohl des Kindes nicht
dienlich sei, weil die Eltern offensichtlich und unbestritten keine Kooperationsbereitschaft zeigten. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die Verfahrenspflegerin, die an der Gerichtsverhandlung am 19. Juni 2006 teilnahm, erst kurz
vor diesem Termin mit dem Kind gesprochen hatte. Unter diesen Umständen durften das Amtsgericht und das Oberlandesgericht zu der Einschätzung gelangen, dass eine erneute Anhörung des Kindes für die Entscheidung über eine
Sorgerechtsübertragung nicht nötig war und es keines weiteren psychologischen Sachverständigengutachtens bedurfte.
Der Gerichtshof erinnert außerdem daran, dass der Wunsch des Kindes, bei seinem Vater zu wohnen, im Rahmen des früheren Umgangsrechtsverfahrens berücksichtigt worden war. Mit Beschluss des Amtsgerichts S. vom 5.
November 2002 war dem Beschwerdeführer im Wege der einstweiligen Anordnung ein Recht auf betreuten Umgang mit seinem Sohn eingeräumt worden; dieses Recht wurde mit Beschluss des Oberlandesgerichts Zweibrücken vom
15. Juli 2005 durch ein Recht auf regelmäßigen nicht betreuten Umgang mit seinem Sohn ersetzt. Der Gerichtshof ist der Meinung, dass diese Entscheidungen darauf gerichtet waren, eine übermäßige Einschränkung des Verhältnisses
zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Sohn zu vermeiden.
Aus den vorstehenden Erwägungen und unter Berücksichtigung des großen Beurteilungsspielraums, der den innerstaatlichen Behörden in Sorgerechtsfragen zusteht, ist der Gerichtshof überzeugt, dass die Verfahrensweise der
deutschen Gerichte unter den gegebenen Umständen angemessen war und dass sie mit ihren Beschlüssen in dem Sorgerechtsverfahren einen gerechten Ausgleich zwischen dem Wohl des Kindes und den Interessen der Eltern
hergestellt haben.
Der Gerichtshof stellt daher fest, dass dieser Teil der Beschwerde ebenfalls offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof die Individualbeschwerde mit Stimmenmehrheit für unzulässig. ..." (EGMR, Entscheidung vom 21.02.2012 - 50216/09)
***
„... Die Bf., die Axel Springer AG, hat ihren Sitz in Hamburg. Die von ihr herausgegebenen Bild-Zeitung veröffentlichte am 29.9.2004 auf der Titelseite folgende Schlagzeile in großen Buchstaben : „Kokain ! TV-Kommissar Y auf
dem Oktoberfest erwischt !" Sie berichtete über die Festnahme des bekannten Schauspielers X in einem Bierzelt auf dem Münchner Oktoberfest, der seit 1998 die Rolle des Kommissars Y in einer bekannten Fernsehserie spielte. Der
Artikel wurde mit drei Fotos von X illustriert und im Inneren des Blatts fortgesetzt. Dort wurde unter der Überschrift „ TV-Star X mit Kokain erwischt. Eine Brezn, eine Maß und eine Nase Koks" berichtet. In dem Artikel heißt es, X
habe die Aufmerksamkeit der Polizei erregt, weil er seine Nase gewischt habe. Eine Überprüfung habe ergeben, dass er 0,23 Gramm Kokain bei sich hatte. X sei schon im Juli 2000 wegen Drogenbesitzes zu einer Gefängnisstrafe auf
Bewährung verurteilt worden. Am 7.7.2005 veröffentlichte die Bild-Zeitung im inneren Teil einen weiteren Artikel unter der Schlagzeile : "TV-Kommissar X. Kokain-Beichte vor Gericht. 18 000 Euro Strafe !" Auch dieser Artikel
war mit einem Foto von X illustriert.
X beantragte unmittelbar nach Erscheinen des ersten Artikels eine einstweilige Verfügung gegen die Bf.. Das LG Hamburg gab dem Antrag am 30.9.2004 statt und verbot der Bf. die weitere Veröffentlichung des Artikels und am
6.10.2004 auch der Fotos. Mit zwei Urteilen vom 12.11.2004 bestätigte es die einstweiligen Verfügungen. Die Bf. focht die Entscheidung nicht an, die sie sich auf die Fotos bezog. Die im Übrigen eingelegte Berufung blieb ohne
Erfolg. Im Hauptverfahren verbot das LG Hamburg mit Urteil vom 11.11.2005 jede weitere Veröffentlichung des nahezu vollständigen ersten Artikels unter Androhung eines Ordnungsgelds und verurteilte die Bf. zur Zahlung von
5000 Euro für die erste Veröffentlichung. Das Recht des X auf Achtung seines Privatlebens überwiege das Informationsinteresse der Öffentlichkeit. Das OLG Hamburg wies die Berufung dagegen am 21.3.2006 zurück und setzte den
zu zahlenden Betrag auf 1000 Euro herab. Der BGH wies die Beschwerde des Verlags gegen die Nichtzulassung der Revision am 7.11.2006 zurück, am 11.12.2006 eine Anhörungsrüge.
Wegen des zweiten Artikels über die Verurteilung des X hatte das LG Hamburg am 5.5.2006 ein entsprechendes Verbotsurteil erlassen, gegen das Berufung und Revision erfolglos blieben. Das BVerfG nahm die
Verfassungsbeschwerde des Verlags am 5.3.2008 nicht zur Entscheidungan.
Am 18.8.2008 hat die Bf. beim Gerichtshof Beschwerde eingelegt und sich gegen das Verbot der Berichterstattung über die Festnahme und Verurteilung des allgemein bekannten Schauspielers wegen eines Drogendelikts gewendet.
Am 30.3.2010 hat eine Kammer der V. Sektion die Sache nach Art. 30 EMRK an die Große Kammer abgegeben. Der Präsident hat der Media Lawyers Association, der Media Legal Defence Initiative, dem International Press Institute
und der World Association of Newspapers and News Publishers nach Art. 36 II EMRK, Art. 44 II VerfO Gelegenheit gegeben, schriftlich Stellung zu nehmen. Am 7.2.2012 hat der Gerichtshof aufgrund mündlicher Verhandlung vom
13.10.2012 die Beschwerde einstimmig für zulässig erklärt, mit 12 : 5 Stimmen festgestellt, dass Art. 10 EMRK verletzt ist, und Deutschland nach Art. 41 EMRK (Gerechte Entschädigung) verurteilt, an die Bf. binnen drei Monaten
17 734,80 Euro als Ersatz für Nichtvermögensschaden und
32 522, 80 Euro als Ersatz für Kosten und Auslagen zu zahlen. ...
II. Behauptete Verletzung von Art. 10 EMRK
[53] Die Bf. wendet sich gegen das ihr gegenüber ausgesprochene Verbot der Berichterstattung über die Festnahme und Verurteilung von X. Sie beruft sich auf Art. 10 EMRK. ...
A. Zulässigkeit
[54] Die Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet i. S. von Art. 35 III lit. a EMRK und auch nicht aus einem anderen Grund unzulässig. Deswegen ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
I. Vortrag der Parteien (zusammengefasst)
1. Die Regierung
[55 - 64] Die Regierung macht geltend, die Beschwerde sei unbegründet. Die Entscheidungen der deutschen Gerichte griffen zwar in den Schutzbereich von Art. 10 EMRK ein, seien aber „gesetzlich vorgesehen" und verfolgten ein
berechtigtes Ziel i. S. von Art. 10 II EMRK, nämlich den Schutz der Privatsphäre. Der Eingriff sei auch in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen. X sei ein allgemein bekannter Schauspieler und eine Person des
öffentlichen Lebens. Die Berichterstattung habe ein geringfügiges Drogendelikt betroffen. Bei der Beurteilung hätten die Gerichte einen Ermessensspielraum, den sie nicht überschritten hätten.
II. Die Bf.
[65 - 70] Die Bf. tragen vor, X sei ein allgemein bekannter Schauspieler, der die Hauptrolle in einer sehr beliebten Krimi-Serie im Fernsehen gespielt habe. Er sei also nicht eine gewöhnliche Person, für die sich die Medien nicht
interessierten. Eine Straftat sei nie eine private Angelegenheit und das Publikumsinteresse an Informationen darüber habe mehr Gewicht als das Recht von X auf Achtung seines Privatlebens. Er selbst habe die öffentliche
Aufmerksamkeit gesucht. Im Gegensatz dazu habe im Fall von Hannover/Deutschland Nr. 2 (in diesem Heft S. …) die Bf. zu 1 ständig versucht, ihr Privatleben abzuschirmen. Die Tatsachen, über die berichtet worden sei, seien
unstreitig richtig. Die Bild-Zeitung habe im Übrigen erst über die Verhaftung berichtet, nachdem die Strafverfolgungsbehörden die Tatsachen und die Identität von X bekannt gemacht habe. Die Aufgabe der Presse dürfe nicht darauf
reduziert werden, nur über Politiker zu berichten. ...
3. Beurteilung durch den Gerichtshofs
[75] Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass die Entscheidungen der deutschen Gerichte in das in Art. 10 EMRK geschützte Recht der Bf. auf Freiheit der Meinungsäußerung eingegriffen haben.
[76] Ein solcher Eingriff verletzt Art. 10 EMRK, wenn er nicht nach Art. 10 II EMRK gerechtfertigt ist. Deswegen ist zu prüfen, ob er „gesetzlich vorgesehen" war, eines oder mehrere der in dieser Vorschrift genannten berechtigten
Ziele verfolgte und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" war, um das Ziel zu erreichen.
[77] Der Eingriff war unstreitig in § 823 I BGB und § 1004 I BGB, ausgelegt unter Berücksichtigung des Rechts auf Schutz des Persönlichkeitsrechts, vorgesehen. ...Die Parteien stimmen auch darin überein, dass er ein berechtigtes
Ziel verfolgte, nämlich den Schutz des guten Rufs oder der Rechte anderer i.S. von Art. 10 II EMRK, was nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das in Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privatlebens umfassen kann
(s. EGMR, Slg. 2004-VI Nr. 70 - Chauvy u.a./Frankreich; EGMR, NJW-RR 2008, 1218 Nr. 35 - Pfeifer/Österreich). Streitig ist aber, ob der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" war.
(a) Grundsätze
(i) Freiheit der Meinungsäußerung
[78-79] (Der Gerichtshof wiederholt die im Urteil von Hannover/Deutschland Nr. 2 [in diesem Heft S. ] in Nrn. 101, 102 niedergelegten Grundsätze zu Art. 10 EMRK).
[80] Die Aufgabe der Presse bezieht sich auch auf die Berichterstattung und Kommentierung von Gerichtsverfahren, die, wenn sie die genannten Grundsätze berücksichtigt, zu deren Öffentlichkeit beitragen und deswegen mit dem
Erfordernis nach Art. 6 I EMRK, dass gerichtliche Verfahren öffentlich sind, im Einklang stehen. Es ist nicht vorstellbar, dass es über ein Gerichtsverfahren keine vorherige oder gleichzeitige Diskussion in Spezialzeitschriften oder in
der breiten Öffentlichkeit geben dürfte. Die Medien haben nicht nur die Aufgabe, solche Informationen und Ideen zu vermitteln, die Öffentlichkeit hat auch das Recht,sie zu erhalten (s. EGMR, Slg. 2000-I Nr. 56 = MR 2000, 221 -
News Verlags GmbH & Co. KG/Österreich; EGMR, Slg. 2007-VII Nr. 35 = NJW 2008, 3412 - Dupuis u. a./Frankreich; EGMR, Urt. v. 24.4.2008 - 17107/05 Nr. 31- Campos Dâmaso/Portugal).
[81] Zur journalistischen Freiheit gehört auch die Möglichkeit einer gewissen Übertreibung und sogar Provokation (s. EGMR, Slg. 2004-XI Nr. 71 = NJW 2006, 1645 - Pedersen u. Baadsgaard/Dänemark). Außerdem ist es nicht
Aufgabe des Gerichtshofs und auch nicht der staatlichen Gerichte, anstelle der Presse über die anzuwendende Technik zu entscheiden (s. EGMR, 1994, Serie A, Bd. 298 Nr. 31 = NStZ1995, 237 -Jersild/Dänemark; EGMR, Urt. v.
10.2.2009 -3514/02 Nr. 65 - Eerikäinen u.a./Finnland).
(ii) Grenzen der Meinungsfreiheit
[82] Art. 10 II EMRK bestimmt aber, dass die Freiheit der Meinungsäußerung „mit Pflichten und Verantwortung verbunden" ist. Das gilt für die Medien auch bei der Berichterstattung über Angelegenheiten großen öffentlichen
Interesses. Diese Pflichten und Verantwortung können von besonderer Bedeutung sein, wenn die Gefahr besteht, den guten Ruf eines namentlich Genannten zu schädigen oder die „Rechte anderer" zu verletzen. Daher müssen
besondere Gründe vorliegen, um die Medien von der sie grundsätzlich treffenden Verpflichtung zu entbinden, die Richtigkeit ehrverletzender Tatsachenbehauptungen über andere zu prüfen. Ob solche Gründe gegeben sind, hängt
insbesondere von Art und Gewicht solcher ehrverletzender Behauptungen ab und davon, wie weit die Medien ihre Quelle vernünftigerweise als vertrauenswürdig ansehen können (s. EGMR, Slg. 2004-XI Nr. 78 = NJW 2006, 1645 -
Pedersen u. Baadsgaard/Dänemark; EGMR, Slg. 2007-III Nr. 89 - Tønsbergs Blad A.S. u. Haukom/Norwegen).
[83] Das Recht auf Schutz des guten Rufs ist als Teil des Rechts auf Achtung des Privatlebens von Art. 8 EMRK geschützt (s. EGMR, Slg. 2004-VI Nr. 70 - Chauvy u.a./Frankreich; EGMR, NJW-RR 2008, 1218 Nr. 35 -
Pfeifer/Österreich; EGMR, Urt. v. 21.9.2010 - 34147/06 Nr. 40 - Polanco Torres u. Movilla Polanco/Spanien). Der Begriff „Privatleben" ist umfassend und einer erschöpfenden Definition nicht zugänglich. Darunter fallen die geistige
und körperliche Identität einer Person und damit zahlreiche Aspekte der Persönlichkeit, wie die geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung, der Name oder Aspekte, die das Recht einer Person am eigenen Bild betreffen (s.
EGMR, Slg. 2008 Nr. 66 = NJOZ 2010, 696 - S. u. Marper/Vereinigtes Königreich). Der Begriff umfasst auch persönliche Informationen, von denen der Betroffene berechtigterweise erwarten kann, dass sie nicht ohne seine
Einwilligung veröffentlicht werden (s. EGMR, Urt. v. 6.4.2010 - 25576/04 Nr. 75 - Flinkkilä u.a./Finnland; EGMR, Urt. v. 12.10.2010 - 184/06 Nr. 61 - Saaristo u.a./Finnland).
Um Art. 8 EMRK ins Spiel zu bringen, muss der Angriff auf den guten Ruf einer Person eine bestimmte Schwere erreichen und die Ausübung ihres Rechts auf Achtung des Privatlebens beeinträchtigen (s. EGMR, NJW-RR 2010,
1483 Nr. 64 - A./Norwegen). Außerdem hat der Gerichtshof entschieden, dass sich eine Person nicht nach Art. 8 EMRK über eine Verletzung ihres guten Rufs beschweren kann, wenn die Verletzung vorhersehbare Folge einer eigenen
Handlung ist, z.B. des Begehens einer Straftat (s. EGMR, Slg. 2004-VIII Nr. 49 - Sidabras u. Dziautas/Litauen).
[84] Wenn zu prüfen ist, ob ein Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft „zum Schutz des guten Rufs oder der Rechte anderer" notwendig ist, kann es erforderlich sein festzustellen, ob die staatlichen Behörden und Gerichte einen
gerechten Ausgleich beim Schutz von zwei in der Konvention geschützten Rechten hergestellt haben, die in bestimmten Fällen kollidieren können, z. B. die in Art. 10 EMRK geschützte Freiheit der Meinungsäußerung und das in Art.
8 EMRK garantierte Recht auf Achtung des Privatlebens (s. EGMR, Urt. v. 14.6.2007 - 71111/01 Nr. 43 - Hachette Filipacchi Associés/Frankreich; EGMR, NJOZ 2012, … Nr. 142 - MGN Limited/Vereinigtes Königreich).
(iii) Ermessensspielraum
[85 - 88] ( Der Gerichtshof führt aus, die staatlichen Behörden und Gerichte hätten einen Ermessensspielraum, und wieder- holt die im Urteil von Hannover/Deutschland Nr. 2 [in diesem Heft] Nrn. 104-107 wiedergegebenen Grundsätze).
(iv) Grundsätze für die Interessenabwägung
[89 - 92, 94] Wenn das Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens abgewogen werden muss, gelten die nachstehenden Grundsätze. (Der Gerichtshof weist darauf hin,dassdie im Urteil von
Hannover/Deutschland Nr. 2 [in diesem Heft] Nrn. 109 - 112 genannten Grundsätze zu beachten sind, nämlich ob der Bericht zu einer Diskussion allgemeinen Interesses beigetragen hat, der Bekanntheitsgrad des Betroffenen und der
Gegenstand des Berichts, das vorherige Verhalten des Betroffenen, die Umstände der Aufnahme von Fotos sowie Inhalt und Form der Veröffentlichung. Er fügt zwei Gesichtspunkte hinzu)
(dd) Wie die Information erlangt worden ist und ihre Richtigkeit
[93] Weiterere wichtige Gesichtspunkte sind die Art und Weise, wie die Information erlangt wurde, und ob sie zutreffend ist. Der Schutz, den Art. 10 EMRK Journalisten für ihre Berichterstattung über Fragen allgemeinen Interesses
gewährt, setzt voraus, dass sie sich in gutem Glauben auf der Grundlage exakter Tatsachen äußern und "zuverlässige und genaue" Informationen in Übereinstimmung mit ihrem Berufsethos liefern (s. u.a. EGMR, Slg. 1999-I Nr. 54 =
NJW 1999, 1315 - Fressoz u. Roire/Frankreich; EGMR, Slg. 2004-XI Nr. 78 = NJW 2006, 1645 - Pedersen u. Baadsgaard/Dänemark; EGMR, Slg. 2007-V Nr. 103 = NJW-RR 2008, 1141 - Stoll/Schweiz). ...
(ff) Schwere der verhängten Sanktion
[95] Schließlich müssen bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in die Freiheit der Meinungsäußerung Art und Schwere der verhängten Sanktion berücksichtigt werden (s. EGMR, Slg. 2004-XI Nr. 93 = NJW 2006,
1645 - Pedersen u. Baadsgaard/Dänemark; EGMR, Urt. v. 6.4.2010 - 43349/05 Nr. 77 -Jokitaipale u.a./Finnland).
(b) Anwendung im vorliegenden Fall
(i) Beitrag zu einer Diskussion allgemeinen Interesses
[96] Die Zeitungsartikel betrafen die Festnahme und Verurteilung des Schauspielers X , also öffentliche Tatsachen aus der Justiz, die in bestimmten Maß von allgemeinem Interesse sind. Die Öffentlichkeit hat in der Regel ein
Interesse, über Strafverfahren unterrichtet zu werden und sich unterrichten zu können, wobei die Unschuldsvermutung strikt beachtet werden muss (s. EGMR, Slg. 2000-I Nr. 56 = MR 2000, 221 - News Verlags GmbH & Co.
KG/Österreich; EGMR, Slg. 2007-VII Nr. 37 = NJW 2008, 3412 - Dupuis u. a./Frankreich; EGMR, Urt. v. 24.4.2008 - 17107/05 Nr. 32- Campos Dâmaso/Portugal; só auch die Empfehlung (2003)13 des Ministerkomitees des
Europarats über Informationen durch die Medien bezüglich Strafverfahren, insbes. Grundsätze 1 u. 2 der Anlage ...). Das Interesse ist allerdings unterschiedlich groß und kann nach der Festnahme im Lauf des Verfahrens größer
werden, wobei mehrere Faktoren eine Rolle spielen, wie der Bekanntheitsgrad des Betroffenen, die Unmstände des Falls und andere Entwicklungen während des Verfahrens.
(ii) Bekanntheit von X und Gegenstand der Artkel
[97] Die deutschen Gerichte sind bei der Beurteilung des Bekanntheitsgrads von X zu erheblich unterschiedlichen Ergebnissen gekommen. Das LG nahm an, X habe nicht im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gestanden und die
Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit nicht in einem Ausmaß gesucht, dass angenommen werden könne, er habe auf den Schutz seines Persönlichkeitsrechts verzichtet, wenn er auch ein bekannter Schauspieler sei und häufig im
Fernsehen aufgetreten sei … Das OLG nahm demgegenüber an, X sei allgemein bekannt und sehr populär, er habe lange Zeit die Rolle eines Kommissars gespielt, ohne das Idol oder ein Vorbildcharakter des Ordnungshüters
geworden zu sein, was ein gesteigertes Interesse der Öffentlichkeit hätte begründen können zu erfahren, ob er selbst einem solchen Leitbild entsprechend lebe...
[98] Grundsätzlich ist es in erster Linie Aufgabe der staatlichen Gerichte, den Bekanntheitsgrad einer Person festzustellen, insbesondere wenn die Person hauptsächlich im betroffenen Land bekannt ist. X war zur maßgebenden Zeit
Hauptdarsteller in einer sehr populären Krimi-Serie, in der er die Hauptrolle des Kommissars Y spielte. Seine Popularität geht im Wesentlichen auf die Fernseh-Serie zurück, von der bei Erscheinen des ersten Zeitungsartikels 103
Episoden gesendet worden waren, in 54 davon hatte X den Kommissar Y gespielt. Er war also nicht, wie das LG annahm, ein weniger bedeutender Schauspieler, dessen Bekanntheit trotz vieler Filmrollen (mehr als 200 …) begrenzt
geblieben sei. Das OLG hat nicht nur darauf hingewiesen, dass es X-Fan-Clubs gab, sondern auch darauf, dass seine Fans möglicherweise dazu ermutigt worden wären, ihn durch Drogenkonsum nachzuahmen, wenn die Straftat der
Öffentlichkeit nicht verborgen geglieben wäre. ...
[99] Es trifft zwar zu, dass die Öffentlichkeit im Allgemeinen zwischen dem Schauspieler und der Person, die er darstellt, unterscheidet. Trotzdem kann es eine enge Verbindung zwischen beiden geben, besonders, wenn der
Schauspieler, wie hier, hauptsächlich wegen einer bestimmten Rolle bekannt ist. Im Fall des X war das noch dazu die Rolle eines Polizeikommissars, dessen Aufgabe es ist, für Gesetzestreue zu sorgen und Verbrechen zu bekämpfen.
Das steigerte das Interesse der Öffentlichkeit daran, über die Festnahme des X wegen einer Straftat informiert zu werden. Unter Berücksichtigung dessen und der Begründung der deutschen Gerichte für seinen Bekanntsheitsgrad war X
jedenfalls so gut bekannt, dass er als Person des öffentlichen Lebens eingestuft werden kann. Das hat das Interesse der Öffentlichkeit, über seine Festnahme und das Strafverfahren gegen ihn informiert zu werden, verstärkt.
[100] Was den Gegenstand der zwei Zeitungsartikel angeht, haben die deutschen Gerichte festgestellt, dass die von X begangene Straftat nicht geringfügig war, weil Kokain eine harte Droge ist.Trotzdem habe die Straftat nur mittleres,
ja geringes Gewicht, weil X nur eine geringe Menge der Droge bei sich gehabt habe und nur für den eigenen Konsum, und wegen der großen Zahl von derartigen Straftaten und Strafverfahren. Die deutschen Gerichte haben der
Tatsache, dass X schon wegen eines ähnlichen Delikts verurteilt worden war, kein großes Gewicht beigemessen und darauf hingewiesen, dass es seine einzige Vortat gewesen sei, die außerdem schon vor einigen Jahren begangen
worden sei. Sie sind zu dem Schluss gekommen, das Interesse der Bf. an der Veröffentlichung der Artikel beruhe nur darauf, dass X eine Straftat begangen habe, über die vermutlich nie berichtet worden wäre, wenn eine in der
Öffentlichkeit unbekannte Person sie begangen hätte. ...
Dem ist im Wesentlichen zuzustimmen. Hinzuweisen ist aber darauf, dass X in der Öffentlichkeit festgenommen worden ist, in einem Zelt auf dem Münchner Oktoberfest. Das hat nach Auffassung des OLG in der Öffentlichkeit
großes Interesse erregt, wenn es sich auchnicht auf die Beschreibung und Charakterisierung der Straftat bezogen hat, die nicht in der Öffentlichkeit begangen worden war.
(iii) Verhalten des X vor der Veröffentlichung
[101] Zu berücksichtigen ist weiter das vorherige Verhalten des X gegenüber den Medien. Er hatte selbst in vielen Interviews Einzelheiten über sein Privatleben offenbart …, also die Öffentlichkeit aktiv gesucht, só dass angesichts
seines Bekanntheitsgrads seine "berechtigte Erwartung", dass sein Privatleben wirksam geschützt werde, reduziert war (s. mutatis mutandis EGMR, MR 2009, 298 Nr. 53 - Hachette Filipacchi Associés (ICI PARIS)/Frankreich und
andererseits EGMR, Urt. v. 10.2.2009 -3514/02 Nr. 66 - Eerikäinen u.a./Finnland).
(iv) Wie die Information erlangt wurde und ob sie richtig war.
[102] Was die Art und Weise angeht, wie sie zu den veröffentlichten Informationen gekommen ist, trägt die Bf. vor, sie habe über die Festnahme von X erst berichtet, nachdem die Strafverfolgungsbehörden die Tatsachen und die
Identität des X bekannt gemacht hätten. Alle von ihr veröffentlichten Informationen seien schon vorher , insbesondere auf einer Pressekonferenz und in einer Presseerklärung der StA der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ..
Die Regierung bestreitet, dass es eine Pressekonferenz der StA gegeben habe, und trägt vor, erst nach Erscheinen des ersten Artikels habe StA W anderen Medien gegenüber die Tatsachen bestätigt, über welche die Bf. berichtet hatte.
[103] Aus den Unterlagen, die dem Gerichtshof vorliegen, ergibt sich nicht nicht, dass die Behauptung der Bf. zutrifft, vor der Veröffentlichung des ersten Artikels seien eine Pressekonferenz abgehalten und eine Presseerklärung
herausgegeben worden. Im Gegenteil hat sich die Behauptung nach einer vom Gerichtshof in der mündlichen Verhandlung gestellten Frage als unzutreffend erwiesen. Das Verhalten der Bf. ist insoweit bedauerlich.
[104] Aus den im weiteren Verlauf ergangenen Entscheidungen der deutschen Gerichte und dem Parteivortrag dazu in den Gerichtsverfahren ergibt sich aber, dass die Gerichte auf diese Frage nicht eingegangen sind. Für die Prüfung
des vorliegenden Falls genügt die Feststellung, dass die Bf. allen ihren Stellungnahmen in den verschiedenen Verfahren vor den deutschen Gerichten die Erklärung einer ihrer Journalistinnen beigefügt hat, wie die am 29.9.2004
veröffentlichten Informationen erlangt worden sind, … und dass die Regierung das nicht bestritten hat. Die Bf. kann also nicht geltend machen, sie habe nur Informationen veröffentlicht, welche die StA München auf einer
Pressekonferenz schon vorher der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hätte. Doch bleibt, dass die veröffentlichten Informationen, insbesondere über die Identität von X, von der Polizei und StA W stammten,dem
damaligenPressesprecher der StA München.
[105] Der erste Zeitungsartikel hatte also eine ausreichende Tatsachengrundlage, weil er auf Informationen des Pressesprechers der Münchner StA beruhte (s. EGMR, Slg. 1999-IIINr. 72 = NJW 2000, 1015 - Bladet Tromsø u.
Stensaas/Norwegen; EGMR, Urt. v. 10.2.2009 -3514/02 Nr. 64 - Eerikäinen u.a./Finnland; EGMR, Entsch. v. 15.5.2009 - 4020/03 - Pipi/Türkei). Die Wahrheit der Informationen in den beiden Artikeln war vor den deutschen
Gerichten und ist vor dem Gerichtshof nicht streitig (s. EGMR, Slg. 2004-X Nr. 44 = NJW 2006, 591 - Karhuvaara u. Iltalehti/Finnland).
[106] Die deutschen Gerichte waren der Meinung, aus der Tatsache, dass die Informationen von der StA München stammten, ergebe sich nur, dass sich die Bf. auf ihre Richtigkeit verlassen konnte. Das habe sie aber nicht von der
Verpflichtung entbunden, ihr Interesse an der Veröffentlichung gegen das Recht des X auf Achtung seines Privatlebens abzuwägen. Nur die Presse könne diese Abwägung vornehmen, weil eine Behörde oder ein Gericht nicht wissen
könnten, wie und in welcher Form die Information veröffentlicht würde. ...
[107] Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass eine solche Abwägung nicht vorgenommen worden ist. Richtig ist aber, dass die Bf., welche eine Bestätigung der Information von den Strafverfolgungsbehörden selbst erhalten hatte,
unter Berücksichtigung der von X begangenen Straftat, seinem Bekanntheitsgrad in der Öffentlichkeit und den Umständen seiner Festnahme sowie der Richtigkeit der Information keine ausreichenden Gründe hatte anzunehmen, sie
müsse die Anonymität von X wahren. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass StA W anderen Zeitschriften und Fernsehkanälen noch am Tage des Erscheinens des ersten Artikels alle von der Bf. enthüllten Informationen
bestätigt hat. Als der zweite Artikel erschien, waren die der Verurteilung von X zugrunde liegenden Tatsachen der Öffentlichkeit bereits bekannt (s. mutatis mutandis EGMR, Urt. v. 16.12.2010 - 24061/04 Nr. 49 - Aleksey
Ovchinnikov/Russland). Auch das OLG nahm an, der Bf. könne nicht mehr als leichte Fahrlässigkeit vorgeworfen werden, weil die von der StA mitgeteilten Information sie dazu veranlassen konnte anzunehmen, der Bericht sei legal
… Danach ist nicht nachgewiesen, dass die Bf. bei der Veröffentlichung in bösem Glauben gehandelt hat.
(v) Inhalt, Form und Auswirkungen der Artikel
[108] Der erste Artikel berichtete nur über die Festnahme von X, die von der StA erhaltenen Informationen und eine rechtliche Beurteilung des Gewichts der Straftat durch einen juristischen Sachverständigen … Der zweite Artikel
schilderte das vom Gericht am Ende der mündlichen Verhandlung und nach dem Geständnis von X erlassene Urteil … Die Artikel enthielten also keine Einzelheiten über das Privatleben von X, sondern nur über die Umstände und
Ereignisse nach seiner Festnahme (s. EGMR, Urt. v. 6.4.2010 - 25576/04 Nr. 84 - Flinkkilä u.a./Finnland; EGMR, Urt. v. 6.4.2010 - 43349/05 Nr. 72 -Jokitaipale u.a./Finnland). Sie enthielten keine abschätzigen Bemerkungen oder
grundlose Behauptungen … Dass der erste Artikel Wendungen enthielt, welche die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregen sollten, wirft nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs keine Probleme auf (s. EGMR, Urt. v. 6.4.2010 -
25576/04 Nr. 74 - Flinkkilä u.a./Finnland; EGMR, Entsch. v. 15.5.2009 - 4020/03 - Pipi/Türkei).
Im Übrigen hat das LG die Veröffentlichung der Fotos, welche die Artikel illustrierten, verboten, und die Bf. hat das auch nicht angefochten. Deswegen ist anzunehmen, dass die Form der Artikel keinen Grund für ein Verbot ihrer
Veröffentlichung darstellten. Die Regierung hat im Übrigen nicht dargelegt, dass die Veröffentlichung der Artikel für X Schäden zur Folge hatte.
(vi) Schwere der Sanktion
[109] Die der Bf. auferlegte Sanktion war war zwar mild, konnte aber eine abschreckende Wirkung haben. Jedenfalls war sie aus den erwähnten Gründen nicht gerechtfertigt.
(c) Ergebnis
[110] Die von den deutschen Gerichten angeführten Gründe sind also zwar stichhaltig, aber nicht ausreichend, um zu belegen, dass der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Trotz des den Konventionsstaaten
zustehenden Ermessensspielraums gab es kein angemessenes Verhältnis zwischen den von den deutschen Gerichten verfügten Einschränkungen des Rechts der Bf. auf Freiheit der Meinungsäußerung einerseits und dem verfolgten
berechtigten Ziel andererseits. Deswegen ist Art. 10 EMRK verletzt. ..." (EGMR, Urteil 07.02.2012 - 39954/08)
***
Der Begriff "Opfer" in Art 34 EMRK (Individualbeschwerden) muss autonom und unabhängig von entsprechenden Begriffen im staatlichen Recht, wie z. B. dem Rechtsschutzinteresse, ausgelegt werden. Opfer ist zunächst der direkt
von einer angeblichen Menschenrechtsverletzung Betroffene, ausnahmsweise auch ein nur indirekt Betroffener, z. B. Angehörige von Opfern. Auch mögliche Opfer können in Ausnahmefällen berechtigt sein, Beschwerde einzulegen,
z. B. wenn das angegriffene Gesetz geheime Maßnahmen erlaubt, so dass der Beschwerdeführer nicht darlegen kann, dass es auf ihn angewendet worden ist, wenn das angegriffene Gesetz ein Verhalten mit Strafe bedroht und der
Beschwerdeführer deswegen sein Verhalten ändern musste oder wenn er einer Personengruppe angehört, die Gefahr läuft, direkt von Auswirkungen des angegriffenen Gesetzes betroffen zu werden. Einerlei, ob es sich um eine direkte,
indirekte oder mögliche Beschwer handelt, muss jedenfalls ein direkter Zusammenhang zwischen dem Beschwerdeführer und dem Schaden bestehen, den er durch eine Konventionsverletzung erlitten zu haben glaubt. Die Konvention
kennt keine Popularklage zur Auslegung der in ihr garantierten Rechte. Der Beschwerdeführer beschwert sich über eine Schweizer Verfassungsvorschrift und macht nicht geltend, sie sei auf ihn angewendet worden. Er ist weder
direktes noch indirektes Opfer der behaupteten Konventionsverletzung, und auch kein mögliches Opfer, weil sein Verhalten nicht durch die umstrittene Verfassungsvorschrift beeinflusst wurde. Er behauptet auch nicht, dass er in
absehbarer Zeit eine Moschee mit einem Minarett bauen möchte. Deswegen ist seine Beschwerde ratione personae unvereinbar mit der Konvention und als unzulässig zurückzuweisen. Art 13 EMRK (Recht auf eine wirksame
Beschwerde) garantiert keinen Rechtsbehelf, mit dem man bei einem staatlichen Gericht geltend machen kann, dass ein Gesetz nicht mit der Konvention vereinbar sei (EGMR, Entscheidung vom 28.06.2011 - 65840/09 zu EMRK Art.
9, 13, 14, 34, 35 III, IV, BeckRS 2011, 25462).
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„... 2. Die Beschwerdeführer rügen auch eine Diskriminierung, die gegen Artikel 14 der Konvention verstößt, der wie folgt lautet:
„Der Genuss der in d(...)er Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen
Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten."
Die Regierung behauptet, die vorliegende Rechtssache falle nicht in den Anwendungsbereich des Artikels 1 des Protokolls Nr. 1. Artikel 14 der Konvention finde daher keine Anwendung. Sie führt aus, dass es sich hier nicht um die
Gewährung von Sozialleistungen handele, sondern um Ansprüche auf Entschädigung, die in keiner Weise im Zusammenhang mit dem deutschen Sozialversicherungssystem stünden. Deutschland sei jedenfalls nicht verpflichtet, für
zivile, nicht an den Kämpfen beteiligte Opfer rechtswidriger Kriegshandlungen ein Entschädigungsregime einzurichten. Die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers, Entschädigungsregeln nur für Opfer spezifisch
nationalsozialistischer Verfolgung zu schaffen, beruhe auf der Einsicht in die Einzigartigkeit dieser ideologisch motivierten Verbrechen. In diesem Zusammenhang müsse auch berücksichtigt werden, dass die Wiedergutmachung von
Schäden der Opfer von Verletzungen des humanitären Völkerrechts grundsätzlich durch das Reparationsregime gewährleistet sei. Die Regierung schließt daraus, dass Deutschland seinen in diesem Bereich anerkannten
Ermessensspielraum nicht überschritten hat.
Die Beschwerdeführer halten es für diskriminierend, dass die deutschen Gerichte die nationalen und internationalen Bestimmungen, die ihnen individuelle Rechte zuerkennen, nicht richtig angewandt haben. Sie rügen deren künstliche
Unterscheidung zwischen spezifisch nationalsozialistischem Unrecht und anderem Unrecht, wodurch allein die Zahl etwaiger Berechtigter verringert werden solle. Auch sie seien Opfer des nationalsozialistischen Schreckens und
würden aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert, denn wenn sie oder ihre Eltern im Zeitpunkt des Massakers oder der Einleitung des Verfahrens die deutsche Staatsangehörigkeit besessen hätten, wäre § 7 des Gesetzes von
1910 nicht angewandt worden.
Der Gerichtshof weist darauf hin, dass Artikel 14 die anderen materiellen Bestimmungen der Konvention und der Protokolle vervollständigt. Er führt kein eigenständiges Dasein, weil er einzig in Bezug auf den darin
zugesicherten „Genuss der (…) Rechte und Freiheiten" Gültigkeit hat. Die Anwendung von Artikel 14 setzt nicht unbedingt die Verletzung eines der von der Konvention garantierten materiellen Rechte voraus. Es ist notwendig,
aber es genügt, dass der Sachverhalt in den Schutzbereich mindestens eines der Konventionsartikel fällt (Burden ./. Vereinigtes Königreich [GK], Nr. 13378/05, Rdnr. 58, CEDH 2008-..., und Epstein und andere ./. Belgien (Entsch.),
Nr. 9717/05, CEDH 2008-... (Auszüge)).
Der Gerichtshof erinnert außerdem daran, dass ein Staat, wenn er sich entscheidet, in der Vergangenheit verursachte Schäden vor der Ratifikation der Konvention durch den Staat wieder gut zu machen, für die er gemäß der
Konvention nicht verantwortlich ist, über einen weiten Ermessensspielraum verfügt, wenn es sich um die Festlegung der Modalitäten und die Bestimmung der Berechtigten der Wiedergutmachung handelt (Epstein und andere,
vorerwähnte Entscheidung, Smiljanic' ./. Slowenien (Entsch.), Nr. 481/074, 2. Juni 2009, Belka ./. Polen, Nr. 20870/04, Rdnr. 27, 18. Mai 2010, und Teš und andere ./. Tschechische Republik (Entsch.), Nr. 28256/06, 18. Januar 2011).
Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass die Beschwerdeführer nicht eine berechtigte Erwartung behaupten können, für den erlittenen Schaden eine Entschädigung zu erhalten, und dass der streitgegenständliche Sachverhalt daher
nicht in den Schutzbereich des Protokolls Nr. 1 fällt. Artikel 14 der Konvention findet folglich ebenfalls keine Anwendung.
Nach Auffassung des Gerichtshofs steht diese Feststellung nicht im Widerspruch zu dem in der Rechtssache Stec und andere ./. Vereinigtes Königreich ((Entsch.) [GK], Nrn. 65731/01 und 65900/01, Rdnr. 54, CEDH 2005-X,
bestätigt durch das später ergangene Urteil Stec und andere ./. Vereinigtes Königreich [GK], Nr. 65731/01, Rdnr. 53, CEDH 2006-VI) aufgestellten Grundsatz, demzufolge die Rechtsvorschriften eines Staates, wenn dieser
Rechtsvorschriften einführt, die die automatische Zahlung einer beitragsgebundenen oder beitragsfreien Sozialleistung vorsehen, so anzusehen sind, als erzeugten sie ein Vermögensinteresse, das in den Geltungsbereich des Artikels 1
des Protokolls Nr. 1 fällt, für die Personen, die seine Voraussetzungen erfüllen (siehe auch Andrejeva ./. Lettland [GK], Nr. 55707/00, Rdnr. 76, CEDH 2009-....
Es ist in der Tat zwischen der vorliegenden Rechtssache und der Sache Stec und andere zu unterscheiden, insoweit als die Regierung des Vereinigten Königreichs ein allgemeines Regime für Sozialleistungen eingeführt hatte, während
die deutsche Regierung keine globale Entschädigungsregelung geschaffen hatte, wonach die Opfer des Zweiten Weltkriegs grundsätzlich einen Anspruch auf Wiedergutmachung hätten (siehe entsprechend Associazione Nazionale
Reduci und 275 weitere und Ernewein und andere, vorerwähnte Entscheidungen; siehe auch Epstein und andere, vorerwähnte Entscheidung, Corblet de Fallerans ./. Frankreich (Entsch.), Nr. 50166/08, 19. Oktober 2010, und Teš und
andere, vorerwähnte Entscheidung).
Daraus folgt, dass diese Rüge ratione materiae mit den Konventionsbestimmungen im Sinne von Artikel 35 Absatz 3 Buchstabe a unvereinbar und gemäß Artikel 35 Absatz 4 zurückzuweisen ist. ..."(EGMR, Entscheidung vom
31.05.2011 - 24120/06)
***
Anhänger des Laizismus vertreten Auffassungen, die das Maß an Folgerichtigkeit, Ernsthaftigkeit, Geschlossenheit und Bedeutung erreichen, das erforderlich ist, damit sie als "Überzeugungen" i. S. von Art. 2 S. 2 Zusatzprotokoll zur
EMRK (Recht auf Bildung) angesehen werden können, genauer gesagt als "weltanschauliche Überzeugungen", denen Achtung in einer demokratischen Gesellschaft gebührt. Für Bildung und Unterricht ist Art. 2 Zusatzprotokoll zur
EMRK lex specialis gegenüber Art. 9 EMRK (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit), muss aber unter Berücksichtigung dieser Vorschrift ausgelegt werden, die auch die Freiheit garantiert, keiner Religion anzugehören. Die
Staaten haben die Pflicht, die Ausübung verschiedener Religionen, Konfessionen und Glaubensüberzeugungen neutral und unparteiisch zu gewährleisten. Das gilt für die Beziehungen zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen sowie
für die zwischen Anhängern unterschiedlicher Glaubensüberzeugungen. Die Staaten müssen bei Erfüllung ihrer Aufgaben in Erziehung und Unterricht darauf achten, dass Informationen und Kenntnisse auf objektive, kritische und
pluralistische Weise vermittelt werden, die den Schülern ermöglicht, in einer ruhigen Atmosphäre eine kritische Einstellung gegenüber der Religion fern von jedem unangebrachten Bekehrungseifer zu entwickeln. Der Staat darf nicht
indoktrinieren. Art. 2 S. 2 Zusatzprotokoll zur EMRK erfasst auch die Gestaltung des schulischen Umfelds, wenn Behörden dafür zuständig sind, und damit das Vorhandensein von Kruzifixen. Auch dabei ist das Recht der Eltern zu
achten, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen. Das Kruzifix ist vor allem ein religiöses Symbol. Der Gerichtshof hat keine Anhaltspunkte, die
für einen möglichen Einfluss eines religiösen Symbols auf Schüler sprechen. Die verständliche subjektive Empfindung der Eltern genügt nicht. Weil die Staaten bei der Entscheidung, ob sie eine Tradition fortsetzen und ein Kruzifix
im Klassenzimmer anbringen wollen, einen weiten Ermessensspielraum haben, muss der Gerichtshof ihre Entscheidung grundsätzlich respektieren, vorausgesetzt, dass sie keine Indoktrinierung zur Folge hat. Das Anbringen von
Kruzifixen macht die Mehrheitsreligion des Landes in der Schule besonders sichtbar. Das allein ist keine Indoktrinierung. Das Kruzifix ist ein wesentlich passives Symbol. Die italienischen Behörden und Gerichte haben bei ihrer
Entscheidung, es in Klassenzimmern zu belassen, den ihnen zustehenden Ermessensspielraum nicht überschritten. Deswegen ist Art. 2 Zusatzprotokoll zur EMRK nicht verletzt. Art. 2 S. 2 Zusatzprotokoll zur EMRK gibt Schülern
einen Anspruch auf Unterrichtung unter Achtung ihres Rechts, zu glauben oder nicht zu glauben. Dieses Recht ist aber aus den oben erwähnten Erwägungen nicht verletzt (EGMR, Urteil vom 18.03.2011 - 30814/06 zu EMRK Art. 9,
14, 41; Zusatzprotokoll zur EMRK Art. 2, BeckRS 2011, 08242).
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Weder Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) noch eine andere Vorschrift der Konvention garantiert einem Ausländer das Recht auf eine Aufenthaltserlaubnis in einem Konventionsstaat. Doch müssen die
Staaten ihre Ausländerpolitik so handhaben, dass sie mit den Grundrechten der Ausländer vereinbar bleibt, insbesondere mit den Rechten in Art. 8 EMRK und dem Verbot der Diskriminierung nach Art. 14 EMRK. Zum Begriff des
Familienlebens i.S. von Art. 8 I EMRK gehören jedenfalls die Beziehungen aus einer rechtmäßigen Ehe, wie sie zwischen dem Beschwerdeführer und seiner russischen Ehefrau besteht. Art. 14 EMRK verbietet eine Diskriminierung
auch wegen einer Behinderung und allgemein wegen des Gesundheitszustands einer Person einschließlich einer HIV-Infektion. Daher ist Art. 14 EMRK i.V. mit Art. 8 EMRK im vorliegenden Fall anwendbar. Behandelt ein
Konventionsstaat Einzelpersonen oder Personengruppen unterschiedlich, muss er nachweisen, dass es dafür sachliche und vernünftige Gründe gibt, er also ein berechtigtes Ziel verfolgt und die angewendeten Mittel zu diesem Ziel
verhältnismäßig sind. Dabei hat er einen Ermessensspielraum. Der ist allerdings eng, wenn es um eine besonders verletzliche Gruppe von Personen geht, die in der Vergangenheit unter erheblicher Diskriminierung gelitten hat.
HIV-Infizierte wie der Beschwerdeführer sind eine solche Gruppe. Seit dem Ausbruch der Pandemie in den 80iger Jahren haben sie verbreitet unter Stigmatisierung und Ausschluss gelitten, auch in den Mitgliedstaaten des Europarats.
Nach übereinstimmender Auffassung aller Sachkenner innerhalb und außerhalb internationaler Organisationen sind Reisebeschränkungen ein unwirksames Mittel, die Verbreitung der HIV-Infektion zu verhindern. Untersuchungen auf
HIV sind in Russland im Übrigen für Kurzzeitbesucher und Touristen nicht vorgeschrieben und auch nicht für russische Staatsbürger bei Rückkehr von einer Reise ins Ausland. HIV-infizierte Ausländer belasten dort auch nicht den
öffentlichen Gesundheitsdienst, denn Ausländer haben in Russland keinen Anspruch auf kostenlose medizinische Versorgung. Nach dem russischen AusländerG können die Behörden und Gerichte bei ihrer Entscheidung über den
Antrag eines HIV-infizierten Ausländers auf eine Aufenthaltserlaubnis auch nicht seine besondere Situation und seine familiären Bindungen in Russland berücksichtigen. Daher ist Art. 14 EMRK i.V. mit Art. 8 EMRK im
vorliegenden Fall verletzt. Der Beschwerdeführer, obwohl juristisch nicht bewandert und anwaltlich nicht vertreten, hätte die russischen Gerichte bitten können, seinen Fall nicht öffentlich zu verhandeln. Unter den gegebenen
Umständen waren die Gerichte nicht gehalten, von Gerichts wegen die Öffentlichkeit auszuschließen. Insoweit ist die auf Art. 6 I EMRK gestützte Beschwerde offensichtlich unbegründet und nach Art. 35 III lit a, IV EMRK
unzulässig (EGMR, Urteil vom 10.03.2011 - 2700/10 zu EMRK Art. 6 I, 8, 13, 14, 15, 35 III, 41, BeckRS 2011, 26127).
***
Für die Berechnung der Sechsmonatsfrist des Art. 35 I EMRK ist im vorliegenden Fall das Datum des Eingangs der dem Beschwerdeführer mit gewöhnlichem Brief zugestellten Entscheidung des BVerfG maßgebend. Anhaltspunkte
dafür, dass der Eingangsstempel des Anwalts auf der Entscheidung nicht ordnungsgemäß angebracht wurde, liegen nicht vor. Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK ist ein Grundpfeiler der
"demokratischen Gesellschaft" i. S. der Konvention. Sie ist in ihrer religiösen Dimension eines der wichtigsten Elemente, das die Identität der Gläubigen und ihre Auffassung vom Leben bestimmt. Doch sie ist auch ein wertvolles Gut
für Atheisten, Agnostiker, Skeptiker und Gleichgültige. Der von einer demokratischen Gesellschaft untrennbare Pluralismus - teuer erkauft über die Jahrhunderte - hängt von ihr ab. Zur Religionsfreiheit gehört auch die Freiheit, seine
Religionszugehörigkeit oder seine religiösen Überzeugungen nicht angeben zu müssen. Staatliche Behörden haben nicht das Recht, in die Gewissensfreiheit des Einzelnen einzugreifen und nach seinen religiösen Überzeugungen zu
fragen oder ihn zu zwingen, seine Glaubensüberzeugungen zu offenbaren. Die Pflicht des Beschwerdeführers, auf der Lohnsteuerkarte seine Mitgliedschaft in einer Kirche oder Religionsgemeinschaft anzugeben, ist ein Eingriff in
seine nach Art. 9 I EMRK geschützte Religionsfreiheit. Der Eingriff war "gesetzlich vorgesehen" und verfolgte ein berechtigtes Ziel i. S. von Art. 9 II EMRK, nämlich das den Kirchen und Religionsgemeinschaften nach dem GG
garantierte Recht zu sichern, Kirchensteuer zu erheben. Der Eingriff war verhältnismäßig, denn der Vermerk auf der Steuerkarte besagt lediglich, dass der Beschwerdeführer keiner Kirche oder Religionsgemeinschaft angehört, die
Steuern zu erheben berechtigt ist. Außerdem wird die Steuerkarte nur zur Vorlage beim Arbeitgeber verwendet, und im Übrigen hält sich die Regelung im Rahmen des Ermessensspielraums, der den Konventionsstaaten in diesem
Bereich zusteht. Obwohl der Beschwerdeführer vor dem BVerfG nur Verletzung seiner Religionsfreiheit gerügt hat, ist seine Beschwerde nach Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) nicht unzulässig nach
Art. 35 I EMRK, denn nach der Rechtsprechung des BVerfG wird bei einer mit der Religionsfreiheit vereinbarten Maßnahme eine Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung nicht mehr geprüft. Der Eingriff in die
Rechte nach Art. 8 I EMRK ist jedoch nach Art. 8 II gerechtfertigt. Diskriminierung (Art. 14 EMRK) hat der Beschwerdeführer nicht vor dem BVerfG gerügt, obwohl die Verfassungsbeschwerde eine wirksame Beschwerde i. S. von
Art. 13 EMRK ist, die ein Beschwerdeführer grundsätzlich erheben muss, bevor er den Gerichtshof anruft. Die Beschwerde ist daher insoweit nach Art. 35 I EMRK unzulässig (EGMR, Urteil vom 17.02.2011 - 12884/03 zu EMRK
Art. 8, 9, 13, 14, 35 I, IIIa, IV).
***
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat im Fall Sporer gegen Österreich entschieden, dass der Ausschluss einer gerichtlichen Einzelfallprüfung der Sorgerechtsregelung den Vater eines unehelichen Kindes diskriminiert.
Der Beschwerdeführer Sporer ist österreichischer Staatsangehöriger, 1976 geboren, und lebt in Schalchen. Im Mai 2000 wurde sein Sohn K. unehelich geboren. Die Mutter des Kindes lebte zu diesem Zeitpunkt im selben Haus wie
Herr Sporer, der in einer anderen Wohnung mit seiner langjährigen Partnerin und ihrem gemeinsamen Sohn zusammenlebte. Im ersten Lebensjahr K.s kümmerten sich Herr Sporer und K.s Mutter abwechselnd um das Kind und
nahmen nacheinander Erziehungsurlaub. Nachdem K.s Mutter im Januar 2002 ausgezogen war, beantragte Herr Sporer beim Bezirksgericht die Übertragung des alleinigen Sorgerechts auf sich mit dem Argument, dass K.s Mutter
nicht angemessen in der Lage sei, sich um das Kind zu kümmern. K.s Mutter stellte sich der Übertragung des Sorgerechts entgegen und das Jugendamt vertrat die Auffassung, dass beide Eltern in der Lage seien, sich um das Kind zu
kümmern. In einer mündlichen Verhandlung vor dem Bezirksgericht einigten sich die Parteien zunächst, dass K. bis zu einer Entscheidung mit beiden Elternteilen jeweils die halbe Woche verbringen würde. Ein auf Antrag Herrn
Sporers vom Gericht berufener kinderpsychologischer Sachverständiger vertrat in einem Gutachten, das in einer zweiten Gerichtsverhandlung erörtert wurde, dass K.s Mutter unreif und nicht in der Lage sei, sich um das Kind zu
kümmern. Ein anschließend vom Gericht berufener zweiter Sachverständiger widersprach dieser Einschätzung. Ein dritter Sachverständiger bestätigte in einem Obergutachten die Auffassung des zweiten Gutachters und vertrat, dass
das Kindeswohl durch den Verbleib des Sorgerechts bei der Mutter nicht gefährdet sei. Herr Sporer machte nicht von der Möglichkeit Gebrauch, eine schriftliche Stellungnahme einzureichen, beantragte aber die Erörterung des
Gutachtens in einer weiteren Verhandlung.
Das Gericht lehnte den Antrag Herrn Sporers auf Übertragung des alleinigen Sorgerechts im Dezember 2002 ohne eine weitere Verhandlung ab und verwies darauf, dass das alleinige Sorgerecht nach dem Allgemeinen Bürgerlichen
Gesetzbuch automatisch der Mutter zufalle, es sei denn, das Kindeswohl würde dadurch gefährdet. Das Landesgericht Ried bestätigte die Entscheidung und der Oberste Gerichtshof lehnte die Berufung Herrn Sporers dagegen im Juni
2003 ab. K.s Mutter hat weiterhin das alleinige Sorgerecht für das Kind, während Herr Sporer Recht auf Umgang mit ihm gemäß einer vom Gericht empfohlenen Regelung hat.
Unter Berufung auf Art. 6 § 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) (Recht auf ein faires Verfahren) machte Herr Sporer geltend, dass ihm das Bezirksgericht nicht die Möglichkeit gegeben habe, in einer mündlichen
Verhandlung zu dem entscheidenden Obergutachten Stellung zu nehmen. Unter Berufung auf Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) i.V.m. Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) sah er sich zudem nach
dem Bürgerlichen Gesetzbuch als Vater eines unehelichen Kindes diskriminiert, zum einen gegenüber der Mutter, da er gegen deren Willen keine Möglichkeit habe, das gemeinsame Sorgerecht zu erhalten, und zum anderen gegenüber
verheirateten und geschiedenen Vätern, da diese nach Trennung oder Scheidung von der Kindsmutter das gemeinsame Sorgerecht behalten könnten. Die Beschwerde wurde am 12.11.2003 beim EGMR eingelegt.
Der EGMR hat eine Verletzung von Art. 14 EMRK i.V.m. Art. 8 EMRK festgestellt.
1. Nach Auffassung des Gerichtshofs liegt keine Verletzung von Art. 6 § 1 EMRK vor. Herr Sporer hatte das Recht auf eine Verhandlung, da weder außerordentliche Umstände vorgelegen haben, die den Verzicht darauf gerechtfertigt
hätten noch betraf das Verfahren lediglich formale oder rein rechtliche Fragen. Der persönliche Eindruck der Eltern in einem Sorgerechtsverfahren stelle zudem einen wichtigen Aspekt dar.
Vor dem Bezirksgericht hatten zwei Verhandlungen, eine zur Vorbereitung und eine weitere in der Sache, stattgefunden. Sie hatten es dem Gericht ermöglicht, einen persönlichen Eindruck beider Parteien zu gewinnen, und den
Parteien die Gelegenheit gegeben, die verschiedenen Gesichtspunkte des Falls zu erörtern. Der Gerichtshof zeigte sich vom Argument des Bezirksgerichts überzeugt, dass eine weitere Verhandlung nicht notwendig gewesen sei, da das
dritte Sachverständigengutachten schlüssig und alle Sach- und Rechtsfragen hinreichend geklärt gewesen seien. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass Herr Sporer nicht weitere schriftliche Stellungnahmen hätte einreichen können,
sofern er dies gewünscht hätte. Das entscheidende Obergutachten war adversatorisch auf Grundlage von Interviews und schriftlichen Stellungnahmen beider Parteien erstellt worden.
2. Es liegt eine Verletzung von Art. 14 EMRK i.V.m. Art. 8 EMRK vor. Der Gerichtshof unterstrich zunächst, dass, wie zwischen den Parteien unumstritten war, die Beziehung Herrn Sporers zu seinem Sohn angesichts der Tatsache,
dass er Erziehungsurlaub genommen und sich weiterhin regelmäßig um ihn gekümmert hatte, als "Familienleben" i.S.v. Art. 8 EMRK zu gelten hat. Im Verfahren um das Sorgerecht hatten die österreichischen Gerichte nicht darüber
zu befinden gehabt, ob ein gemeinsames Sorgerecht im Kindeswohlinteresse läge, da für die gerichtliche Prüfung dieser Frage nach dem österreichischen Bürgerlichen Gesetzbuch die Zustimmung der Mutter erforderlich war; K.s
Mutter hatte ihre Zustimmung dazu aber nicht gegeben. Die Gerichte hatten auch nicht darüber zu entscheiden, welcher Elternteil besser in der Lage wäre, das Sorgerecht auszuüben.
Sie hatten lediglich festzustellen, ob K.s Mutter das Kindeswohl gefährdete. Auf Grundlage des entscheidenden Obergutachtens hatten sie den Antrag Herrn Sporers auf Übertragung des alleinigen Sorgerechts abgelehnt. Folglich lag
hinsichtlich der Zuweisung des Sorgerechts eine Ungleichbehandlung Herrn Sporers in seiner Eigenschaft als Vater eines unehelichen Kindes gegenüber der Mutter, und zugleich gegenüber verheirateten Vätern, vor.
Im Hinblick auf die anfängliche Zuweisung des Sorgerechts für ein uneheliches Kind an dessen Mutter sah der Gerichtshof keinen Grund, zu einem anderen Schluss zu kommen als im Fall Zaunegger gegen Deutschland. In diesem
Fall hatte er befunden, dass, sofern keine gemeinsame Sorgeerklärung vorliegt, eine solche Regelung gerechtfertigt ist, um zu gewährleisten, dass das Kind ab seiner Geburt eine Person hat, die klar als gesetzlicher Vertreter handeln
kann.
Im Fall Zaunegger hatte der Gerichtshof allerdings nicht die Annahme geteilt, dass ein gemeinsames Sorgerecht gegen den Willen der Mutter grundsätzlich dem Kindeswohl zuwiderlaufe. Zwar gibt es in den Europaratsmitgliedstaaten
keine einheitliche rechtliche Herangehensweise an die Frage, ob Väter unehelicher Kinder das Recht haben, das gemeinsame Sorgerecht auch gegen den Willen der Mutter zu beantragen. In einer Mehrheit der Staaten müssen sich
Sorgerechtsentscheidungen allerdings am Kindeswohlinteresse orientieren und im Fall eines Konflikts zwischen den Eltern gerichtlich überprüft werden. Das österreichische Recht sah im Fall Herrn Sporers keinerlei gerichtliche
Prüfungsmöglichkeiten der Frage vor, ob ein gemeinsames Sorgerecht im Kindeswohlinteresse läge, oder ob ihm, falls das gemeinsame Sorgerecht diesem Interesse zuwiderliefe, besser durch die Zuweisung des Sorgerechts an die
Mutter oder den Vater gedient wäre. Die österreichische Regierung hatte keine hinreichenden Gründe angegeben, warum die Situation Herrn Sporers, der seine Rolle als K.s Vater von Anfang an angenommen hatte, weniger
gerichtliche Prüfungsmöglichkeiten zulassen sollte als diejenige von Vätern, die zunächst das Sorgerecht hatten und sich später von der Kindesmutter trennten oder scheiden ließen.
3. Der EGMR hat entschieden, dass Österreich Herrn Sporer 3.500 Euro nach Art. 41 EMRK (gerechte Entschädigung) für die entstandenen Kosten zu zahlen hat. Der Gerichtshof hat außerdem entschieden, dass die Feststellung einer
Verletzung der Konvention eine ausreichende gerechte Entschädigung für den erlittenen immateriellen Schaden darstellt (EGMR, Entscheidung vom 03.02.2011 - 35637/03 zu Art 6 § 1, Art 8 , Art 14 , Art 41 MRK).
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Art. 2 I EMRK verpflichtet die Vertragsstaaten, das Recht auf Leben durch wirksame Strafvorschriften zu schützen, zu denen ein System zur Durchsetzung mit dem Ziel der Vorbeugung, Verhinderung und Bestrafung von Verstößen
gehört. Daraus ergibt sich die weitere Pflicht, wirksame Ermittlungen anzustellen, wenn jemand durch Gewaltanwendung oder unter verdächtigen Umständen ums Leben gekommen ist. Die Ermittlungen müssen unabhängig,
unparteiisch und gründlich sein. Die Angehörigen des Opfers müssen Zugang zum Verfahren haben. Der Gerichtshof prüft, ob die Ermittlungen den genannten Anforderungen entsprechen, ohne sich in die Arbeit der zuständigen
Behörden oder Gerichte einzumischen, es sei denn, sie haben willkürlich gehandelt oder wesentliche Umstände nicht beachtet. Dem ist so im vorliegenden Fall: die bulgarische Behörden haben zahlreiche mögliche
Ermittlungsmaßnahmen nicht ergriffen und offenkundig wesentliches Beweismaterial außer Acht gelassen. Die Angehörigen hatten auch keinen Zugang zum Ermittlungsverfahren und waren am Verfahren über die Absprache
zwischen der Staatsanwaltschaft und dem Straftäter nicht beteiligt. Damit ist Art. 2 EMRK verletzt. Rassistisch motivierte Gewalt ist ein besonderer Angriff auf die Würde des Menschen und verlangt wegen ihrer gefährlichen
Auswirkungen von den Behörden besondere Aufmerksamkeit und energische Reaktion. Bei der Untersuchung von Gewalttaten sind die Vertragsstaaten verpflichtet, alles zu unternehmen, um rassistische Beweggründe
aufzudecken und herauszufinden, ob Hass oder Vorurteile wegen ethnischer Zugehörigkeit bei den Ereignissen eine Rolle gespielt haben. Im vorliegenden Fall scheint der verurteilte Täter seinem Opfer zugerufen zu haben "Du
verdammter Zigeuner", und der ermittelnde Staatsanwalt hat das Opfer und seine Angehörigen als "Zigeuner" bezeichnet. Unter den Umständen des Falls reicht das aber nicht aus, auf rassistische Vorurteile zu schließen, welche die
Ermittlungen beeinflusst hätten (EGMR, Urteil vom 27.01.2011 - 44862/04 zu EMRK Art. 2, 13, 14, 34, 35 I, III lit. a, 41, BeckRS 2011, 24044).
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Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) ist anwendbar, wenn der Gegenstand der Benachteiligung eine Form der Ausübung eines in der Konvention garantierten Rechts oder damit verbunden ist. Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des
Privat- und Familienlebens) verpflichtet den Staat nicht dazu, kinderreiche Familien finanziell zu unterstützen. Diese Unterstützung fällt aber in den Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK, so dass auch Art. 14 EMRK anwendbar ist.
Eine unterschiedliche Behandlung ausschließlich wegen der Staatsangehörigkeit ist mit der Konvention nur vereinbar, wenn es dafür besonders wichtige Rechtfertigungsgründe gibt. Weil das im vorliegenden Fall nicht so
ist, ist Art. 14 i. V. mit Art. 8 EMRK verletzt (EGMR, Urteil vom 28.10.2010 - 40080/07 zu EMRK Art. 8, 14, 41, BeckRS 2011, 17202).
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Ob das Verbot der Gay Pride Paraden und Mahnwachen "gesetzlich vorgesehen" war und ein berechtigtes Ziel i.S. von Art. 11 II EMRK (Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit) verfolgt hat, kann dahingestellt bleiben, denn es war
jedenfalls nicht "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig". Die Versammlungsfreiheit des Art. 11 EMRK schützt auch Demonstrationen, die Menschen belästigen oder beleidigen, welche die Anliegen ablehnen, für die dort
geworben werden soll. Die zuständigen Behörden der Vertragsstaaten müssen geeignete Maßnahmen treffen, damit rechtmäßige Demonstrationen friedlich verlaufen. Petitionen zugunsten des Verbots einer geplanten Demonstration
verbunden mit der Ankündigung von Gegendemonstrationen müssen unter dem Gesichtspunkt des Sicherheitsrisikos sorgfältig geprüft werden. Das ist im vorliegenden Fall nicht geschehen. Ziel und Zweck der umstrittenen
Veranstaltungen war es, zu Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten aufzurufen. Solche Demonstrationen, auf denen sich Menschen offen als Schwule, Lesben oder Angehörige einer anderen sexuellen Minderheit bekennen und
ihre Rechte und Freiheiten einfordern, sind in den meisten Ländern Europas gang und gäbe. Insoweit hatten die Moskauer Behörden und Gerichte entgegen der Auffassung der Regierung keinen weiten Ermessensspielraum. Jede
Einschränkung der Versammlungsfreiheit muss sich auf eine nachvollziehbare Würdigung der maßgeblichen Tatsachen stützen. Daran fehlt es im vorliegenden Fall, denn die Moskauer Behörden haben bei ihrem Verbot nur den
öffentlichen Widerstand gegen die geplanten Veranstaltungen berücksichtigt und die persönlichen Moralvorstellungen ihrer eigenen Repräsentanten in Betracht gezogen. Wird eine geplante Versammlung nicht genehmigt, ist eine
Beschwerde gegen das Verbot nur "wirksam" i.S. von Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde), wenn die zuständige "innerstaatliche Instanz" verpflichtet ist, vor dem für die Veranstaltung in Aussicht genommenen Termin
zu entscheiden. Das war hier nicht der Fall. Mit dem Verbot der umstrittenen Veranstaltungen wegen Förderung der Homosexualität haben die Moskauer Behörden und Gerichte den Beschwerdeführer wegen seiner sexuellen
Orientierung diskriminiert und gegen Art. 14 EMRK i.V. mit Art. 11 verstoßen (EGMR, Urteil vom 21.10.2010 - 4916/07, 25924/08, 14599/09, 4916-07, 25924/08, 14599/09 zu EMRK Art. 11, 13, 14, 35 III, IV, 41, BeckRS 2011, 22425).
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Der Begriff des "Privatlebens" i. S. von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) ist umfassend und schließt u. a. die geschlechtliche Identität, die sexuelle Orientierung und das Sexualleben ein. Auch eine
über Jahre gelebte Gefühls- und Sexualbeziehung zweier Personen gehört zum Privatleben i. S. dieser Vorschrift. Das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK gilt nur für Rechte und Freiheiten, welche die Konvention und die
Protokolle garantieren, d. h. der Sachverhalt, um den es in einem konkreten Fall geht, muss in den Anwendungsbereich wenigstens einer ihrer materiellen Vorschriften fallen. Art. 8 EMRK gibt einen Anspruch auf eine
Hinterbliebenenrente, doch das französische Recht garantiert ausdrücklich ein solches Recht. Frankreich ist also über seine Verpflichtungen nach Art. 8 EMRK hinausgegangen, was es nach Art. 53 EMRK tun kann. Damit ist Art. 8
EMRK in diesem Fall anwendbar, und folglich greift auch Art. 14 EMRK. Nach französischem Recht ist die Ehe Voraussetzung für die Zahlung einer Hinterbliebenenrente. Der Beschwerdeführer, der eine Lebenspartnerschaft nach §
515-1 ff. französischer Code civil ("PACS") eingegangen war, war damit beim Tod seines Partners nicht in derselben Lage wie ein überlebender Ehegatte. Dass das französische Recht die Eheschließung gleichgeschlechtlicher Partner
nicht gestattet, genügt allein nicht, den Beschwerdeführer hinsichtlich des Anspruchs auf eine Hinterbliebenenrente mit einem überlebenden Ehegatten gleichzustellen. Im Übrigen war seine sexuelle Orientierung nicht der Grund für
die Weigerung, ihm eine Hinterbliebenenrente zu zahlen. Nach französischem Recht haben Partner einer PACS keinen Anspruch auf eine solche Rente. Das französische Gesetz, das den Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente an die
Ehe knüpft, verfolgt damit ein berechtigtes Ziel, nämlich den Schutz der durch das Band der Ehe begründeten Familie. Eine Diskriminierung liegt insofern nicht vor. Die Beschwerde ist also offensichtlich unbegründet (EGMR,
Entscheidung vom 21.09.2010 - 66686/09 zu EMRK Art. 8, 14, 35 III, IV, BeckRS 2010, 25738).
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Der Gerichtshof hat keine Zuständigkeit zu prüfen, ob ein Konventionsstaat die Maßnahmen ergriffen hat, die zu treffen er nach einem Urteil des Gerichtshofs verpflichtet ist. Es ist aber möglich, dass die vom Staat zur
Wiedergutmachung getroffenen Maßnahmen neue Fragen nach der Konvention aufwerfen, die Gegenstand einer neuen Beschwerde sein können, über die der Gerichtshof entscheiden kann. Wenn das Ministerkomitee des Europarats
seine Überwachung nach Art. 46 II EMRK abgeschlossen und festgestellt hat, der beklagte Staat habe seine Verpflichtung aus dem Urteil zu individuellen Maßnahmen erfüllt, kann der Gerichtshof das nicht prüfen, ohne in die
Zuständigkeit des Ministerkomitees einzugreifen. Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) gilt nicht für Wiederaufnahmeverfahren nach rechtskräftiger Verurteilung, denn der Verurteilte wird in diesem Verfahren nicht
strafrechtlich angeklagt (EGMR, Entscheidung vom 06.07.2010 - 5980/07 Öcalan/Türkei).
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Eine Beschwerde kann nach Art. 37 I lit. b EMRK im Register gestrichen werden, wenn der vom Beschwerdeführer gerügte Umstand nicht mehr besteht und die Wirkungen einer möglichen Verletzung wieder gutgemacht worden
sind. Seit Verabschiedung der Konvention hat es bei der Institution der Ehe erhebliche soziale Veränderungen gegeben. Es gibt aber keinen europäischen Konsens über die Zulässigkeit einer Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen
Partnern, die zur Zeit von nicht mehr als sechs der 47 Vertragsstaaten erlaubt wird. Art. 9 der Europäischen Grundrechtecharta (GR-Charta, Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen) hat bewusst abweichend von Art.
12 EMRK (Recht auf Eheschließung) den Hinweis auf Männer und Frauen weggelassen. Art. 9 GR-Charta verweist aber auf die einzelstaatlichen Gesetze und überlässt ihnen die Entscheidung, ob eine Ehe zwischen Partnern
desselben Geschlechts zugelassen werden soll. Dabei wird nicht verlangt, dass die staatliche Gesetzgebung solche Ehen erleichtert. Unter Berücksichtigung von Art. 9 GR-Charta nimmt der Gerichtshof nicht mehr an, dass das in Art.
12 EMRK garantierte Recht, eine Ehe einzugehen, unter allen Umständen auf eine Ehe zwischen zwei Personen unterschiedlichen Geschlechts beschränkt ist. Die Vorschrift verpflichtet die Staaten aber nicht dazu,
gleichgeschlechtliche Ehen zu ermöglichen. Die gleichgeschlechtliche Partnerschaft eines Paares fällt unter den Begriff „Privatleben" i. S. von Art. 8 EMRK (Schutz des Privat- und Familienlebens). Unter Aufgabe seiner bisherigen
Rechtsprechung nimmt der Gerichtshof an, dass die Beziehung der Bf., die als gleichgeschlechtliches Paar in einer stabilen de facto-Partnerschaft zusammenleben, auch unter den Begriff des „Familienlebens" i. S. von Art. 8 EMRK
fällt. Die Staaten haben einen Ermessensspielraum, welche Rechte sie einem gleichgeschlechtlichen Paar in einer eingetragenen Partnerschaft einräumen (EGMR, Urteil vom 24.06.2010 - 30141/04 zu EMRK Art. 8, 12, 14, 34, 35, 37;
Zusatzprotokoll zur EMRK Art. 1, BeckRS 2011, 01470).
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Die Religionsfreiheit, ein Grundpfeiler der demokratischen Gesellschaft, umfasst u.a. die Freiheit, seine Religion öffentlich und mit anderen zu bekennen. Deswegen muss bei Auslegung von Art. 9 EMRK (Gedanken-, Gewissens- und
Religionsfreiheit) Art. 11 EMRK (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) berücksichtigt werden. Damit folgt aus dem Recht auf Religionsfreiheit für den Gläubigen das Recht, sich frei und ohne willkürliche staatliche Eingriffe
zusammenzuschließen. Unabhängige Religionsgemeinschaften sind für den Pluralismus in einer demokratischen Gesellschaft unabdingbare Voraussetzung und das Kernstück des von Art. 9 EMRK gewährten Schutzes. Die
Konventionsstaaten sind zu Neutralität und Unparteilichkeit verpflichtet und dürfen deshalb die Legitimität eines religiösen Glaubens nicht beurteilen. Doch haben sie das Recht, sich davon zu überzeugen, dass Ziele und Tätigkeiten
auch einer Religionsgemeinschaft mit der Rechtsordnung übereinstimmen, müssen das aber in einer Weise tun, die mit ihren Konventionspflichten vereinbar ist. Dabei unterliegen sie der Überwachung durch den Gerichtshof. Im
Übrigen darf der Staat von seiner Befugnis, staatliche Institutionen und den Bürger vor Vereinigungen zu schützen, die sie gefährden könnten, nur zurückhaltend Gebrauch machen, denn die Ausnahmen von der Vereinigungsfreiheit
(Art. 11 II EMRK ) sind eng auszulegen. Die Auflösung der Beschwerdeführerin zu 1 und das Verbot ihrer Aktivitäten haben die russischen Behörden und Gerichte damit begründet, sie habe ihre Mitglieder zur Zerstörung ihrer
Familien gezwungen; Rechte und Freiheiten ihrer Mitglieder und Dritter verletzt; ihre Mitglieder angestiftet, Selbstmord zu begehen oder ärztliche Behandlung abzulehnen; auf die Rechte von Eltern und Kindern eingewirkt;
insbesondere Kinder gegen den Willen von Eltern in die Gemeinschaft gelockt und Mitglieder ermutigt, gesetzliche Pflichten nicht zu erfüllen. Diese Vorwürfe haben die russischen Behörden und Gerichte entweder nicht substantiiert
oder nicht nachgewiesen. Außerdem waren die Auflösung der Beschwerdeführerin zu 1 und das Verbot ihrer Aktivitäten, einzige Sanktion bei einem Verstoß gegen das russische Religionsgesetz von 1997, außerordentlich
schwerwiegende und unverhältnismäßige Maßnahmen. Daher ist Art. 9 i.V. mit Art. 11 EMRK verletzt. Die Anträge der Beschwerdeführerin zu 1, sie erneut zu registrieren, wurden mit unterschiedlicher Begründung abgelehnt. Dieser
Eingriff in ihre von Art. 11 i. V. mit Art. 9 EMRK garantierten Rechte war willkürlich und deswegen nicht "gesetzlich vorgesehen" i.S. von Art. 9 II und 11 II EMRK. Die russischen Behörden und Gerichte haben nicht in gutem
Glauben gehandelt und ihre Pflicht zu Neutralität und Unparteilichkeit verletzt (EGMR, Urteil vom 10.06.2010 - 302/02 zu EGMR Art. 6, 9, 10, 11, 14, 35 III,IV, 41, 46).
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Die Beschwerdeführer nehmen aktiv am politischen Leben in Bosnien-Herzegowina teil. Ihr Vortrag, sie hätten bei den Wahlen zur 2. Kammer des Parlaments, der Kammer der Völker, kandidiert, wenn ihnen das passive Wahlrecht
nicht wegen ihrer Herkunft als Rom und Jude versagt wäre, ist daher überzeugend. Folglich können sie behaupten, Opfer der von ihnen gerügten Diskriminierung zu sein (Art 34 EMRK). Die Verfassung von Bosnien-Herzegowina ist
in einem Anhang zum Friedensabkommen von Dayton niedergelegt, einem völkerrechtlichen Vertrag. Doch kann das Parlament des Landes die Verfassung ändern. Unter diesen Umständen ist Bosnien-Herzegowina jedenfalls dafür
verantwortlich, dass die von den Beschwerdeführern angegriffenen Verfassungsvorschriften noch immer in Kraft sind. Die Kammer der Völker in Bosnien-Herzegowina gehört zu den „gesetzgebenden Körperschaften" i. S. von Art. 3
Zusatzprotokoll zur EMRK (Recht auf freie Wahlen). Die Wahlen zu ihr fallen damit in den Anwendungsbereich dieser Vorschrift. Folglich gilt das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK. Diskriminierung liegt vor, wenn
Personen in vergleichbarer Lage ohne sachlichen und vernünftigen Grund unterschiedlich behandelt werden. Diskriminierung wegen der ethnischen Herkunft ist eine Form der Rassendiskriminierung, eine besonders scheußliche Form
der Diskriminierung. Die Konventionsstaaten müssen alle verfügbaren Mittel einsetzen, um Rassismus zu bekämpfen und so die demokratische Gesellschaft stärken, in der die Vielfalt nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung
verstanden wird. Eine unterschiedliche Behandlung, die ausschließlich oder wesentlich auf die ethnische Herkunft gestützt wird, ist in einer demokratischen Gesellschaft niemals gerechtfertigt. Um nach dem Ende des durch
Völkermord und „ethnische Säuberung" gekennzeichneten Konflikts in Bosnien-Herzegowina den Frieden zu sichern, war die Zustimmung der Bosniaken, Kroaten und Serben, der „konstituierenden Völker", dringend erforderlich.
Das kann erklären, wenngleich nicht unbedingt rechtfertigen, dass die anderen Gemeinschaften an den Friedensverhandlungen nicht beteiligt waren. Angesichts der positiven Entwicklungen in Bosnien-Herzegowina ist der weiterhin
bestehende Ausschluss der Beschwerdeführer von der Kandidatur zur Kammer der Völker nicht gerechtfertigt und verstößt gegen Art. 14 EMRK i. V. mit Art. 3 Zusatzprotokoll zur EMRK. Dasselbe gilt für die Wahlen zur
Präsidentschaft des Landes. Dabei kann dahin gestellt bleiben, ob insoweit Art. 3 Zusatzprotokoll zur EMRK anwendbar ist, denn in jedem Fall liegt ein Verstoß gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 1 Prot. Nr. 12
zur EMRK vor: der Begriff der Diskriminierung nach dieser Vorschrift entspricht dem in Art. 14 EMRK. Diskriminierung aus Gründen der Rasse kann unter bestimmten Umständen eine erniedrigende Behandlung i. S. von Art. 3
EMRK (Verbot der Folter) sein. Das ist hier jedoch nicht der Fall. Stellt der Gerichtshof eine Verletzung der Konvention fest, kann er den beklagten Staat nach Art. 41 EMRK (Gerechte Entschädigung) verurteilen, dem
Beschwerdeführer u. a. die - notwendigen und angemessenen - Kosten und Auslagen für seine Vertretung vor dem Gerichtshof zu erstatten. Das gilt auch, wenn der Beschwerdeführer im Ausland ansässige Anwälte beauftragt hat,
obwohl ihn ortsansässige ebenso gut und kostengünstiger hätten vertreten können (EGMR, Urteil vom 22. 12. 2009 - 27996, 34836/06).
***
Deutschland diskriminiert Väter außerehelich geborener Kinder beim Zugang zur (gemeinsamen) elterlichen Sorge. Eine unterschiedliche Behandlung i. S. von Art. 14 EMRK ist dann diskriminierend, wenn es für sie keine objektive
und angemessene Rechtfertigung gibt, d. h., wenn sie kein legitimes Ziel verfolgt oder zwischen den eingesetzten Mitteln und dem angestrebten Zweck kein angemessenes Verhältnis besteht. Die Vertragsstaaten haben einen
Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Frage, ob und in welchem Umfang Unterschiede bei im Übrigen vergleichbaren Sachverhalten eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen. Der bei der Regelung der elterlichen Sorge
bestehende weite Beurteilungsspielraum der Vertragsstaaten ist umso enger, je mehr sich ein europäischer Standard herausgebildet hat. Insoweit ist die Konvention als lebendiges Instrument im Lichte der heutigen Verhältnisse
auszulegen. Nur sehr gewichtige Gründe können die Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts oder einer außerehelichen Geburt rechtfertigen. Dieser Maßstab gilt auch für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der
unterschiedlichen Behandlung des Vaters eines aus einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft hervorgegangenen Kindes im Vergleich zum Vater eines ehelichen Kindes. Der Ausschluss einer gerichtlichen Einzelfallprüfung der
Alleinsorge der Mutter gemäß § 1626a Abs. 2 BGB verstößt gegen Art. 14 EMRK i. V. mit Art. 8 EMRK, da die Ungleichbehandlung von Vätern außerehelich geborener Kinder im Vergleich zu Müttern und geschiedenen Vätern
nicht durch das Kindeswohl gerechtfertigt ist (gegen BVerfG, Senatsurteil v. 29. Januar 2003, 1 BvL 20/99, FamRZ 2003, 285, m. Anm. Henrich, S. 359; EGMR, Urteil vom 03.12.2009 - 22028/04 zu § 1626a Abs 2 BGB, Art 8, 14
MRK, Art 6 V GG).
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Art. 15 EMRK Abweichen im Notstandsfall
(1) Wird das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht, so kann jede Hohe Vertragspartei Maßnahmen treffen, die von den in dieser Konvention vorgesehenen Verpflichtungen abweichen, jedoch
nur, soweit es die Lage unbedingt erfordert und wenn die Maßnahmen nicht im Widerspruch zu den sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragspartei stehen.
(2) Aufgrund des Absatzes 1 darf von Artikel 2 nur bei Todesfällen infolge rechtmäßiger Kriegshandlungen und von Artikel 3 , Artikel 4 Absatz 1 und Artikel 7 in keinem Fall abgewichen werden.
(3) Jede Hohe Vertragspartei, die dieses Recht auf Abweichung ausübt, unterrichtet den Generalsekretär des Europarats umfassend über die getroffenen Maßnahmen und deren Gründe. Sie unterrichtet den Generalsekretär des
Europarats auch über den Zeitpunkt, zu dem diese Maßnahmen außer Kraft getreten sind und die Konvention wieder volle Anwendung findet.
Leitsätze/Entscheidungen:
Die Rolle des Gerichtshofs ist gegenüber staatlichen Gerichten subsidiär. Eine Regierung kann daher vor dem Gerichtshof grundsätzlich nur mit dem gehört werden, was sie zuvor den staatlichen Gerichten vorgetragen hat, so dass die
bereits darüber entscheiden konnten. Ausübung von Hoheitsgewalt ist nach Art. 1 EMRK (Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte) notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Konventionsstaat für ihm zurechenbare
Handlungen und Unterlassungen verantwortlich ist. Die Hoheitsgewalt ist grundsätzlich territorial bestimmt. Handlungen von Vertretern der Konventionsstaaten, die außerhalb ihres Hoheitsgebiets vorgenommen werden oder dort
Auswirkungen haben, können im Ausnahmefall Ausübung ihrer Hoheitsgewalt i. S. von Art. 1 EMRK sein. Ein solcher Ausnahmefall kann gegeben sein, wenn
- diplomatische oder konsularische Vertreter im Ausland tätig werden,
- ein Staat mit Zustimmung der Regierung eines anderen auf deren Hoheitsgebiet Zuständigkeiten übernimmt,
- Gewaltanwendung staatlicher Vertreter im Ausland Personen unter ihre Kontrolle bringt, insbesondere wenn die Personen gefangen genommen werden,
- infolge rechtmäßiger oder unrechtmäßiger Militäraktion ein Staat die tatsächliche Kontrolle über ein Gebiet außerhalb seines Hoheitsgebiets ausübt.
Nach dem Sturz des Ba'ath Regimes und bis zur Bildung einer irakischen Interimsregierung hat das Vereinigte Königreich zusammen mit den USA Teile der öffentlichen Gewalt im Irak übernommen, die normalerweise von einer
souveränen Regierung ausgeübt werden. Unter diesen außergewöhnlichen Umständen unterstanden die bei Sicherheitsoperationen der britischen Streitkräfte getöteten Personen der Hoheitsgewalt des Vereinigten Königreichs i. S. von
Art. 1 EMRK. Die sich aus Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) ergebende Ermittlungspflicht bei Todesfällen gilt auch unter schwierigen Sicherheitsverhältnissen nach einem bewaffneten Konflikt. Die Ermittlungen über den Tod der
Angehörigen einiger Beschwerdeführer entsprachen nicht den Anforderungen von Art. 2 EMRK, weil sie gänzlich im Bereich der unmittelbaren militärischen Hierarchie blieben und sich darauf beschränkten, Aussagen der beteiligten
britischen Soldaten aufzunehmen. Auch die Sonderabteilung der Militärpolizei, die in einigen Fällen Ermittlungen geführt hat, war nicht gänzlich unabhängig von der militärischen Hierarchie. Deswegen ist Art. 2 EMRK verletzt.
Einer der Beschwerdeführer ist noch Opfer i. S. von Art. 34 EMRK (Individualbeschwerden), obwohl er Schadensersatz und ein Schuldanerkenntnis erhalten hat, weil keine umfassenden und unabhängigen Ermittlungen angestellt
worden sind. Bei einem anderen Beschwerdeführer hat eine umfassende, öffentliche Untersuchung stattgefunden, so dass er nicht mehr Opfer der von ihm behaupteten Konventionsverletzung ist. Der Gerichtshof verurteilt die britische
Regierung nicht, weitere Ermittlungen anzustellen. Nach Art. 46 II EMRK (Verbindlichkeit und Durchführung der Urteile) ist es Aufgabe des Ministerkommitees des Europarats zu prüfen, welche Maßnahmen zur Durchführung des
Urteils erforderlich sind (EMRK, Urteil vom 07.07.2011 - 55721/07 zu EMRK Art. 1, 2, 15, 34, 35, 41, 46, 56).
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Weder Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) noch eine andere Vorschrift der Konvention garantiert einem Ausländer das Recht auf eine Aufenthaltserlaubnis in einem Konventionsstaat. Doch müssen die
Staaten ihre Ausländerpolitik so handhaben, dass sie mit den Grundrechten der Ausländer vereinbar bleibt, insbesondere mit den Rechten in Art. 8 EMRK und dem Verbot der Diskriminierung nach Art. 14 EMRK. Zum Begriff des
Familienlebens i.S. von Art. 8 I EMRK gehören jedenfalls die Beziehungen aus einer rechtmäßigen Ehe, wie sie zwischen dem Beschwerdeführer und seiner russischen Ehefrau besteht. Art. 14 EMRK verbietet eine Diskriminierung
auch wegen einer Behinderung und allgemein wegen des Gesundheitszustands einer Person einschließlich einer HIV-Infektion. Daher ist Art. 14 EMRK i.V. mit Art. 8 EMRK im vorliegenden Fall anwendbar. Behandelt ein
Konventionsstaat Einzelpersonen oder Personengruppen unterschiedlich, muss er nachweisen, dass es dafür sachliche und vernünftige Gründe gibt, er also ein berechtigtes Ziel verfolgt und die angewendeten Mittel zu diesem Ziel
verhältnismäßig sind. Dabei hat er einen Ermessensspielraum. Der ist allerdings eng, wenn es um eine besonders verletzliche Gruppe von Personen geht, die in der Vergangenheit unter erheblicher Diskriminierung gelitten hat.
HIV-Infizierte wie der Beschwerdeführer sind eine solche Gruppe. Seit dem Ausbruch der Pandemie in den 80iger Jahren haben sie verbreitet unter Stigmatisierung und Ausschluss gelitten, auch in den Mitgliedstaaten des Europarats.
Nach übereinstimmender Auffassung aller Sachkenner innerhalb und außerhalb internationaler Organisationen sind Reisebeschränkungen ein unwirksames Mittel, die Verbreitung der HIV-Infektion zu verhindern. Untersuchungen auf
HIV sind in Russland im Übrigen für Kurzzeitbesucher und Touristen nicht vorgeschrieben und auch nicht für russische Staatsbürger bei Rückkehr von einer Reise ins Ausland. HIV-infizierte Ausländer belasten dort auch nicht den
öffentlichen Gesundheitsdienst, denn Ausländer haben in Russland keinen Anspruch auf kostenlose medizinische Versorgung. Nach dem russischen AusländerG können die Behörden und Gerichte bei ihrer Entscheidung über den
Antrag eines HIV-infizierten Ausländers auf eine Aufenthaltserlaubnis auch nicht seine besondere Situation und seine familiären Bindungen in Russland berücksichtigen. Daher ist Art. 14 EMRK i.V. mit Art. 8 EMRK im
vorliegenden Fall verletzt. Der Beschwerdeführer, obwohl juristisch nicht bewandert und anwaltlich nicht vertreten, hätte die russischen Gerichte bitten können, seinen Fall nicht öffentlich zu verhandeln. Unter den gegebenen
Umständen waren die Gerichte nicht gehalten, von Gerichts wegen die Öffentlichkeit auszuschließen. Insoweit ist die auf Art. 6 I EMRK gestützte Beschwerde offensichtlich unbegründet und nach Art. 35 III lit a, IV EMRK
unzulässig (EGMR, Urteil vom 10.03.2011 - 2700/10 zu EMRK Art. 6 I, 8, 13, 14, 15, 35 III, 41, BeckRS 2011, 26127).
***
Die Entscheidung der Kammer, die Beschwerde teilweise für unzulässig zu erklären, ist endgültig. Dieser Teil der Beschwerde ist deswegen nicht vor der Großen Kammer anhängig. Art. 7 II EMRK (Keine Strafe ohne Gesetz) soll
deutlich machen, dass Art. 7 I EMRK nicht für Gesetze gilt, die unter ganz außergewöhnlichen Umständen am Ende des Zweiten Weltkrieges erlassen worden sind, z.B. um Kriegsverbrechen zu bestrafen. Die Definition von
Kriegsverbrechen in der Charta des Internationalen Kriegsverbrechertribunals in Nürnberg ist als Kodifizierung des 1939 geltenden Kriegsvölkerrechts und der völkerrechtlichen Gebräuche zu verstehen. Kriegsverbrechen wurden im
Mai 1944 als Handlungen definiert, die gegen Recht und Gebräuche des Krieges verstoßen. Das Völkerrecht hatte die zugrundeliegenden Prinzipien bestimmt und einen umfangreichen Katalog von Kriegsverbrechen aufgestellt. Die
Misshandlung, Verletzung und Tötung der Bewohner des Dorfes Mazie Bati war 1944 nach dem Kriegsvölkerrecht ein Kriegsverbrechen.Das Völkerrecht und die Gebräuche des Krieges genügten 1944, eine persönliche strafrechtliche
Verantwortlichkeit zu begründen. Das hätte der Beschwerdeführer vorhersehen können. Die Handlungen des Beschwerdeführers waren nach Recht und Gebräuchen des Krieges 1944 ausreichend als Straftaten bestimmt, so dass die
Verurteilung des Beschwerdeführers Art. 7 I EMRK nicht verletzt (EGMR, Urteil vom 17.05.2010 - 36376/04 zu EMRK Art. 2, 3, 5, 6, 7, 13, 15, 18, 43).
Art. 16 EMRK Beschränkungen der politischen Tätigkeit ausländischer Personen
Die Artikel 10 , 11 und 14 sind nicht so auszulegen, als untersagten sie den Hohen Vertragsparteien, die politische Tätigkeiten ausländischer Personen zu beschränken.
Art. 17 EMRK Verbot des Missbrauchs der Rechte
Diese Konvention ist nicht so auszulegen, als begründe sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person das Recht, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung vorzunehmen, die darauf abzielt, die in der Konvention festgelegten
Rechte und Freiheiten abzuschaffen oder sie stärker einzuschränken, als es in der Konvention vorgesehen ist.
Leitsätze/Entscheidungen:
Ein Verfahren zur Amtsenthebung des Präsidenten der Republik betrifft weder eine Entscheidung über „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen" noch über eine „strafrechtliche Anklage". Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires
Verfahren) ist deswegen nicht anwendbar. Art. 3 Zusatzprotokoll zur EMRK (Recht auf freie Wahlen) gilt nur für die Wahl der gesetzgebenden Körperschaften. Deswegen ist er auf die Wahl des Parlaments anwendbar, nicht aber auf
die Wahl des Präsidenten der Republik. Art. 17 EMRK (Verbot des Missbrauchs der Rechte) will Personen oder Gruppen mit totalitären Zielsetzungen daran hindern, die in der Konvention verankerten Grundsätze für ihre Interessen
auszunutzen. Die Vorschrift kann nur ausnahmsweise und in extremen Fällen angewendet werden, insbesondere wenn der Beschwerdeführer ein Konventionsrecht missbrauchen und für Ziele benutzen will, die Buchstaben und Geist
der Konvention widersprechen. Art. 3 Zusatzprotokoll zur EMRK enthält das Recht zu wählen und gewählt zu werden. Die Konventionsstaaten können Einzelheiten regeln und insbesondere Voraussetzungen für das aktive und
passive Wahlrecht festlegen. Sie haben dabei einen Ermessensspielraum. Der Gerichtshof prüft, ob die Einschränkungen gesetzlich vorgesehen sind, ein berechtigtes Ziel verfolgen und verhältnismäßig sind. Art. 3 Zusatzprotokoll zur
EMRK schließt nicht aus, das Wahlrecht von Personen zu beschränken, die ein öffentliches Amt in schwerwiegender Weise missbraucht haben und deren Verhalten die Rechtsstaatlichkeit oder andere demokratische Grundsätze
gefährdet hat. Bei Beurteilung der Verhältnismäßigkeit ist von besonderer Bedeutung, ob die Beschränkung des Rechts befristet ist und ob sie später geändert werden kann. Das ist in Litauen nicht der Fall, so dass Art. 3
Zusatzprotokoll zur EMRK verletzt ist. Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) verlangt nicht, dass es im staatlichen Recht einen Rechtsbehelf gibt, mit dem man geltend machen kann, ein Gesetz oder eine Entscheidung des
Verfassungsgerichts mit normativer Wirkung verstoße gegen die Konvention (EGMR, Urteil vom 06.01.2011 - 34932/04 zu EMRK Art. 6, 7, 13, 17, 35 III, IV, 41; Zusatzprotokoll zur EMRK Art. 3; Protokoll Nr. 7 zur EMRK Art. 4,
BeckRS 2011, 20426).
Art. 18 EMRK Begrenzung der Rechtseinschränkungen
Die nach dieser Konvention zulässigen Einschränkungen der genannten Rechte und Freiheiten dürfen nur zu den vorgesehenen Zwecken erfolgen.
Leitsätze/Entscheidungen:
Die Entscheidung der Kammer, die Beschwerde teilweise für unzulässig zu erklären, ist endgültig. Dieser Teil der Beschwerde ist deswegen nicht vor der Großen Kammer anhängig. Art. 7 II EMRK (Keine Strafe ohne Gesetz) soll
deutlich machen, dass Art. 7 I EMRK nicht für Gesetze gilt, die unter ganz außergewöhnlichen Umständen am Ende des Zweiten Weltkrieges erlassen worden sind, z.B. um Kriegsverbrechen zu bestrafen. Die Definition von
Kriegsverbrechen in der Charta des Internationalen Kriegsverbrechertribunals in Nürnberg ist als Kodifizierung des 1939 geltenden Kriegsvölkerrechts und der völkerrechtlichen Gebräuche zu verstehen. Kriegsverbrechen wurden im
Mai 1944 als Handlungen definiert, die gegen Recht und Gebräuche des Krieges verstoßen. Das Völkerrecht hatte die zugrundeliegenden Prinzipien bestimmt und einen umfangreichen Katalog von Kriegsverbrechen aufgestellt. Die
Misshandlung, Verletzung und Tötung der Bewohner des Dorfes Mazie Bati war 1944 nach dem Kriegsvölkerrecht ein Kriegsverbrechen.Das Völkerrecht und die Gebräuche des Krieges genügten 1944, eine persönliche strafrechtliche
Verantwortlichkeit zu begründen. Das hätte der Beschwerdeführer vorhersehen können. Die Handlungen des Beschwerdeführers waren nach Recht und Gebräuchen des Krieges 1944 ausreichend als Straftaten bestimmt, so dass die
Verurteilung des Beschwerdeführers Art. 7 I EMRK nicht verletzt (EGMR, Urteil vom 17.05.2010 - 36376/04 zu EMRK Art. 2, 3, 5, 6, 7, 13, 15, 18, 43).
Art. 19 EMRK Errichtung des Gerichtshofs
Um die Einhaltung der Verpflichtungen sicherzustellen, welche die Hohen Vertragsparteien in dieser Konvention und den Protokollen dazu übernommen haben, wird ein Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, im Folgenden
als "Gerichtshof" bezeichnet, errichtet. Er nimmt seine Aufgaben als ständiger Gerichtshof wahr.
Leitsätze/Entscheidungen:
Art. 8 EMRK (Recht auf Schutz des Familien- und Privatlebens) ist nicht dahin auszulegen, dass die Schwangerschaft und der Schwangerschaftsabbruch ausschließlich zum Privatleben der Frau gehören, weil es, wenn die Frau
schwanger ist, eng mit dem sich entwickelnden Fötus verbunden ist. Das Recht der Frau auf Achtung ihres Privatlebens muss gegen andere Rechte und Freiheiten abgewogen werden, einschließlich der Rechte des ungeborenen Kindes.
Art. 8 EMRK kann auch nicht so ausgelegt werden, dass es ein Recht auf Abtreibung gibt. Das in Irland geltende Verbot der Abtreibung aus Gründen der Gesundheit oder des Wohlbefindens der Frau sowie das Fehlen von
Durchführungsbestimmungen für eine rechtmäßige Abtreibung sind jedoch Eingriffe in das durch Art. 8 EMRK garantierte Recht auf Achtung des Privatlebens. Ein solcher Eingriff ist nur dann nach Art. 8 EMRK gerechtfertigt, wenn
er in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist, also einem dringenden sozialen Bedürfnis entspricht, und verhältnismäßig ist. Insoweit muss ein gerechter Ausgleich geschaffen werden zwischen den Rechten von schwangeren
Frauen auf Achtung ihres Privatlebens und den moralischen Überzeugungen der Mehrheit der irischen Bevölkerung hinsichtlich der Vorstellungen über den Schutz des Lebens Ungeborener. Bei der Beurteilung, ob ein gerechter
Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen hergestellt worden ist, besteht ein Ermessensspielraum des irischen Staats. Dieser ist als weit zu beurteilen und wird nicht durch das Bestehen eines Konsenses zwischen den
Konventionstaaten reduziert. Denn es existiert zwar ein Konsens unter der großen Mehrheit der Konventionsstaaten, eine Abtreibung im weiteren Sinne zu erlauben, als dies in Irland der Fall ist, nicht aber ein Konsens über die
wissenschaftliche und rechtliche Definition des Beginns des Lebens, so dass es keine übereinstimmende Antwort auf die Frage gibt, ob das Ungeborene eine Person ist, die durch Art. 2 EMRK geschützt ist. Der Ermessensspielraum
ist jedoch nicht unbeschränkt. Das Verbot der Abtreibung aus Gründen der Gesundheit und des Wohlbefindens der Frau muss mit den Pflichten Irlands nach der Konvention vereinbar sein. Wegen seiner Zuständigkeit nach Art. 19
EMRK muss der Europäische Gerichtshof überwachen, ob der Eingriff einen verhältnismäßigen Ausgleich der widerstreitenden Interessen herstellt. Angesichts der Tatsache, dass Frauen in Irland rechtmäßig für eine Abtreibung ins
Ausland reisen können und freien Zugang zu angemessenen Informationen und medizinischer Behandlung haben, überschreitet das Verbot der Abtreibung aus Gründen der Gesundheit und des Wohlbefindens der Frau, das auf
tiefwurzelnden moralischen Überzeugungen der irischen Bevölkerung über den Schutz des Rechts auf Leben für das Ungeborene beruht, den insoweit dem irischen Staat zustehenden Ermessensspielraum nicht. Da Irland in seiner
Verfassung eine Entscheidung darüber getroffen hat, unter welchen Voraussetzungen die Abtreibung zugelassen ist, nämlich für den Fall einer Gefahr für das Leben der werdenden Mutter, muss der irische Staat entsprechende
Durchführungsregelungen erlassen, die es ermöglichen, die unterschiedlichen betroffenen Interessen angemessen und im Einklang mit den Verpflichtungen aus der Konvention zu berücksichtigen. Da in Irland keine
Durchführungsbestimmungen existieren, insbesondere hinsichtlich eines wirksamen und zugänglichen Verfahrens, in dem das Recht auf Abtreibung begründet werden kann, besteht ein auffälliger Widerspruch zwischen dem
theoretisch gewährten Recht auf Abtreibung wegen einer Gefahr für das Leben der Frau einerseits und seiner praktischen Anwendung andererseits. Dies stellt eine Verletzung des Art. 8 EMRK dar (EGMR, Urteil vom 16.12.2010 -
25579/05 zu Art 2, Art 8 Abs 1, Art 8 Abs 2, Art 19, Art 35 MRK).
Art. 20 EMRK Zahl der Richter
Die Zahl der Richter des Gerichtshofs entspricht derjenigen der Hohen Vertragsparteien.
Art. 21 EMRK Voraussetzungen für das Amt
(1) Die Richter müssen hohes sittliches Ansehen genießen und entweder die für die Ausübung hoher richterlicher Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen oder Rechtsgelehrte von anerkanntem Ruf sein.
(2) Die Richter gehören dem Gerichtshof in ihrer persönlichen Eigenschaft an.
(3) Während ihrer Amtszeit dürfen die Richter keine Tätigkeit ausüben, die mit ihrer Unabhängigkeit, ihrer Unparteilichkeit oder mit den Erfordernissen der Vollzeitbeschäftigung in diesem Amt unvereinbar ist; alle Fragen, die sich
aus der Anwendung dieses Absatzes ergeben, werden vom Gerichtshof entschieden.
Art. 22 EMRK Wahl der Richter
(1) Die Richter werden von der Parlamentarischen Versammlung für jede Hohe Vertragspartei mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen aus einer Liste von drei Kandidaten gewählt, die von der Hohen Vertragspartei vorgeschlagen werden.
(2) Dasselbe Verfahren wird angewendet, um den Gerichtshof im Fall des Beitritts neuer Hoher Vertragsparteien zu ergänzen und um frei gewordene Sitze zu besetzen.
Art. 23 EMRK Amtszeit
(1) Die Richter werden für sechs Jahre gewählt. Ihre Wiederwahl ist zulässig. Jedoch endet die Amtszeit der Hälfte der bei der ersten Wahl gewählten Richter nach drei Jahren.
(2) Die Richter, deren Amtszeit nach drei Jahren endet, werden unmittelbar nach ihrer Wahl vom Generalsekretär des Europarats durch das Los bestimmt.
(3) Um so weit wie möglich sicherzustellen, dass die Hälfte der Richter alle drei Jahre neu gewählt wird, kann die Parlamentarische Versammlung vor jeder späteren Wahl beschließen, dass die Amtszeit eines oder mehrerer der zu
wählenden Richter nicht sechs Jahre betragen soll, wobei diese Amtszeit weder länger als neun noch kürzer als drei Jahre sein darf.
(4) Sind mehrere Ämter zu besetzen und wendet die Parlamentarische Versammlung Absatz 3 an, so wird die Zuteilung der Amtszeiten vom Generalsekretär des Europarats unmittelbar nach der Wahl durch das Los bestimmt.
(5) Ein Richter, der an Stelle eines Richters gewählt wird, dessen Amtszeit noch nicht abgelaufen ist, übt sein Amt für die restliche Amtszeit seines Vorgängers aus.
(6) Die Amtszeit der Richter endet mit Vollendung des 70. Lebensjahrs.
(7) Die Richter bleiben bis zum Amtsantritt ihrer Nachfolger im Amt. Sie bleiben jedoch in den Rechtssachen tätig, mit denen sie bereits befasst sind.
Art. 24 EMRK Entlassung
Ein Richter kann nur entlassen werden, wenn die anderen Richter mit Zweidrittelmehrheit entscheiden, dass er die erforderlichen Voraussetzungen nicht mehr erfüllt.
Art. 25 EMRK Kanzlei und wissenschaftliche Mitarbeiter
Der Gerichtshof hat eine Kanzlei, deren Aufgaben und Organisation in der Verfahrensordnung des Gerichtshofs festgelegt werden. Der Gerichtshof wird durch wissenschaftliche Mitarbeiter unterstützt.
Art. 26 EMRK Plenum des Gerichtshofs
Das Plenum des Gerichtshofs
a) wählt seinen Präsidenten und einen oder zwei Vizepräsidenten für drei Jahre; ihre Wiederwahl ist zulässig,
b) bildet Kammern für einen bestimmten Zeitraum,
c) wählt die Präsidenten der Kammern des Gerichtshofs; ihre Wiederwahl ist zulässig,
d) beschließt die Verfahrensordnung des Gerichtshofs und
e) wählt den Kanzler und einen oder mehrere stellvertretende Kanzler.
Art. 27 EMRK Ausschüsse, Kammern und Große Kammer
(1) Zur Prüfung der Rechtssachen, die bei ihm anhängig gemacht werden, tagt der Gerichtshof in Ausschüssen mit drei Richtern, in Kammern mit sieben Richtern und in einer Großen Kammer mit 17 Richtern. Die Kammern des
Gerichtshofs bilden die Ausschüsse für einen bestimmten Zeitraum.
(2) Der Kammer und der Großen Kammer gehört von Amts wegen der für den als Partei beteiligten Staat gewählte Richter oder, wenn ein solcher nicht vorhanden ist oder er an den Sitzungen nicht teilnehmen kann, eine von diesem Staat benannte Person an, die in der Eigenschaft eines Richters an den Sitzungen teilnimmt.
(3) Der Großen Kammer gehören ferner der Präsident des Gerichtshofs, die Vizepräsidenten, die Präsidenten der Kammern und andere nach der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ausgewählte Richter an. Wird eine Rechtssache
nach Artikel 43 an die Große Kammer verwiesen, so dürfen Richter der Kammer verwiesen, so dürfen Richter der Kammer, die das Urteil gefällt hat, der Großen Kammer nicht angehören; das gilt nicht für den Präsidenten der
Kammer und den Richter, welcher in der Kammer für den als Partei beteiligten Staat mitgewirkt hat.
Art. 28 EMRK Unzulässigkeitserklärungen der Ausschüsse
Ein Ausschuss kann durch einstimmigen Beschluss eine nach Artikel 34 erhobene Individualbeschwerde für unzulässig erklären oder im Register streichen, wenn eine solche Entscheidung ohne weitere Prüfung getroffen werden kann.
Die Entscheidung ist endgültig.
Art. 29 EMRK Entscheidungen der Kammern über die Zulässigkeit und Begründetheit
(1) Ergeht keine Entscheidung nach Artikel 28 , so entscheidet eine Kammer über die Zulässigkeit und Begründetheit der nach Artikel 34 erhobenen Individualbeschwerden.
(2) Eine Kammer entscheidet über die Zulässigkeit und Begründetheit der nach Artikel 33 erhobenen Staatenbeschwerden.
(3) Die Entscheidung über die Zulässigkeit ergeht gesondert, sofern nicht der Gerichtshof in Ausnahmefällen anders entscheidet.
Art. 30 EMRK Abgabe der Rechtssache an die Große Kammer
Wirft eine bei einer Kammer anhängige Rechtssache eine schwer wiegende Frage der Auslegung dieser Konvention oder der Protokolle dazu auf oder kann die Entscheidung einer ihr vorliegenden Frage zu einer Abweichung von
einem früheren Urteil des Gerichtshofs führen, so kann die Kammer diese Sache jederzeit, bevor sie ihr Urteil gefällt hat, an die Große Kammer abgeben, sofern nicht eine Partei widerspricht.
Art. 31 EMRK Befugnisse der Großen Kammer
Die Große Kammer
a) entscheidet über nach Artikel 33 oder Artikel 34 erhobene Beschwerden, wenn eine Kammer die Rechtssache nach Artikel 30 an sie abgegeben hat oder wenn die Sache nach Artikel 43 an sie verwiesen worden ist, und
b) behandelt Anträge nach Artikel 47 auf Erstattung von Gutachten.
Art. 32 EMRK Zuständigkeit des Gerichtshofs
(1) Die Zuständigkeit des Gerichtshofs umfasst alle die Auslegung und Anwendung dieser Konvention und der Protokolle dazu betreffenden Angelegenheiten, mit denen er nach den Artikeln 33 , 34 und 47 befasst wird.
(2) Besteht Streit über die Zuständigkeit des Gerichtshofs, so entscheidet der Gerichtshof.
Art. 33 EMRK Staatenbeschwerden
Jede Hohe Vertragspartei kann den Gerichtshof wegen jeder behaupteten Verletzung dieser Konvention und der Protokolle dazu durch eine andere Hohe Vertragspartei anrufen.
Art. 34 EMRK Individualbeschwerden
Der Gerichtshof kann, von jeder natürlichen Person, nichtstaatlichen Organisation oder Personengruppe, die behauptet, durch eine der Hohen Vertragsparteien in einem der in dieser Konvention oder den Protokollen dazu anerkannten
Rechte verletzt zu sein, mit einer Beschwerde befasst werden. Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, die wirksame Ausübung dieses Rechts nicht zu behindern.
Leitsätze/Entscheidungen:
Die Handlungspflicht nach Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) verlangt vom Staat, Vorschriften zu erlassen, wonach Krankenhäuser, ob privat oder öffentlich, angemessene Maßnahmen zum Schutz des Lebens ihrer Patienten ergreifen
müssen und Verstöße gegen die Rechte des Patienten verfolgt und bestraft werden. Wenn ein Konventionsstaat angemessen dafür gesorgt hat, dass hohe berufliche Anforderungen für das ärztliche Personal und den Schutz des Lebens
der Patienten sichergestellt werden, reichen Ereignisse wie ein Kunstfehler oder nachlässige Abstimmung unter dem ärztliche Personal bei Behandlung eines Patienten allein nicht aus, einen Konventionsstaat unter dem Gesichtspunkt
seiner Schutzpflicht nach Art. 2 EMRK zur Verantwortung zu ziehen. Ein Beschwerdeführer kann die Opfereigenschaft i.S.v. Art. 34 EMRK verlieren, wenn die Behörden oder Gerichte des Staates ausdrücklich oder in der Sache den
Verstoß gegen die Konvention anerkannt und Wiedergutmachung geleistet haben. Wo es um die Frage geht, ob ein Staat für Verstöße gegen Art. 2 EMRK verantwortlich ist, reichen erfolgreiche Zivil- oder
Verwaltungsgerichtsverfahren aus, einem Beschwerdeführer die Opfereigenschaft zu nehmen. Der Beschwerdeführer verliert seine Opfereigenschaft, wenn der behandelnde Arzt in dem verklagten Staat wegen Körperverletzung
angeklagt und durch die zuständigen Disziplinargerichte wegen Verletzung seiner Berufspflichten verurteilt wurde und wenn die Zivilgerichte dem Beschwerdeführer eine Entschädigung nach Art. 41 EMRK für
Nichtvermögensschaden zugesprochen haben, der in der Höhe den Beträgen entspricht, die der Gerichtshof in ähnlichen Fällen gegen den Konventionsstaat (hier: Polen) zugesprochen hat (EGMR, Entscheidung vom 20.09.2011 -
27294/08 - juris - Orientierungssätze).
***
Die Rolle des Gerichtshofs ist gegenüber staatlichen Gerichten subsidiär. Eine Regierung kann daher vor dem Gerichtshof grundsätzlich nur mit dem gehört werden, was sie zuvor den staatlichen Gerichten vorgetragen hat, so dass die
bereits darüber entscheiden konnten. Ausübung von Hoheitsgewalt ist nach Art. 1 EMRK (Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte) notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Konventionsstaat für ihm zurechenbare
Handlungen und Unterlassungen verantwortlich ist. Die Hoheitsgewalt ist grundsätzlich territorial bestimmt. Handlungen von Vertretern der Konventionsstaaten, die außerhalb ihres Hoheitsgebiets vorgenommen werden oder dort
Auswirkungen haben, können im Ausnahmefall Ausübung ihrer Hoheitsgewalt i. S. von Art. 1 EMRK sein. Ein solcher Ausnahmefall kann gegeben sein, wenn
- diplomatische oder konsularische Vertreter im Ausland tätig werden,
- ein Staat mit Zustimmung der Regierung eines anderen auf deren Hoheitsgebiet Zuständigkeiten übernimmt,
- Gewaltanwendung staatlicher Vertreter im Ausland Personen unter ihre Kontrolle bringt, insbesondere wenn die Personen gefangen genommen werden,
- infolge rechtmäßiger oder unrechtmäßiger Militäraktion ein Staat die tatsächliche Kontrolle über ein Gebiet außerhalb seines Hoheitsgebiets ausübt.
Nach dem Sturz des Ba'ath Regimes und bis zur Bildung einer irakischen Interimsregierung hat das Vereinigte Königreich zusammen mit den USA Teile der öffentlichen Gewalt im Irak übernommen, die normalerweise von einer
souveränen Regierung ausgeübt werden. Unter diesen außergewöhnlichen Umständen unterstanden die bei Sicherheitsoperationen der britischen Streitkräfte getöteten Personen der Hoheitsgewalt des Vereinigten Königreichs i. S. von
Art. 1 EMRK. Die sich aus Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) ergebende Ermittlungspflicht bei Todesfällen gilt auch unter schwierigen Sicherheitsverhältnissen nach einem bewaffneten Konflikt. Die Ermittlungen über den Tod der
Angehörigen einiger Beschwerdeführer entsprachen nicht den Anforderungen von Art. 2 EMRK, weil sie gänzlich im Bereich der unmittelbaren militärischen Hierarchie blieben und sich darauf beschränkten, Aussagen der beteiligten
britischen Soldaten aufzunehmen. Auch die Sonderabteilung der Militärpolizei, die in einigen Fällen Ermittlungen geführt hat, war nicht gänzlich unabhängig von der militärischen Hierarchie. Deswegen ist Art. 2 EMRK verletzt.
Einer der Beschwerdeführer ist noch Opfer i. S. von Art. 34 EMRK (Individualbeschwerden), obwohl er Schadensersatz und ein Schuldanerkenntnis erhalten hat, weil keine umfassenden und unabhängigen Ermittlungen angestellt
worden sind. Bei einem anderen Beschwerdeführer hat eine umfassende, öffentliche Untersuchung stattgefunden, so dass er nicht mehr Opfer der von ihm behaupteten Konventionsverletzung ist. Der Gerichtshof verurteilt die britische
Regierung nicht, weitere Ermittlungen anzustellen. Nach Art. 46 II EMRK (Verbindlichkeit und Durchführung der Urteile) ist es Aufgabe des Ministerkommitees des Europarats zu prüfen, welche Maßnahmen zur Durchführung des
Urteils erforderlich sind (EMRK, Urteil vom 07.07.2011 - 55721/07 zu EMRK Art. 1, 2, 15, 34, 35, 41, 46, 56).
***
Der Begriff "Opfer" in Art 34 EMRK (Individualbeschwerden) muss autonom und unabhängig von entsprechenden Begriffen im staatlichen Recht, wie z. B. dem Rechtsschutzinteresse, ausgelegt werden. Opfer ist zunächst der direkt
von einer angeblichen Menschenrechtsverletzung Betroffene, ausnahmsweise auch ein nur indirekt Betroffener, z. B. Angehörige von Opfern. Auch mögliche Opfer können in Ausnahmefällen berechtigt sein, Beschwerde einzulegen,
z. B. wenn das angegriffene Gesetz geheime Maßnahmen erlaubt, so dass der Beschwerdeführer nicht darlegen kann, dass es auf ihn angewendet worden ist, wenn das angegriffene Gesetz ein Verhalten mit Strafe bedroht und der
Beschwerdeführer deswegen sein Verhalten ändern musste oder wenn er einer Personengruppe angehört, die Gefahr läuft, direkt von Auswirkungen des angegriffenen Gesetzes betroffen zu werden. Einerlei, ob es sich um eine direkte,
indirekte oder mögliche Beschwer handelt, muss jedenfalls ein direkter Zusammenhang zwischen dem Beschwerdeführer und dem Schaden bestehen, den er durch eine Konventionsverletzung erlitten zu haben glaubt. Die Konvention
kennt keine Popularklage zur Auslegung der in ihr garantierten Rechte. Der Beschwerdeführer beschwert sich über eine Schweizer Verfassungsvorschrift und macht nicht geltend, sie sei auf ihn angewendet worden. Er ist weder
direktes noch indirektes Opfer der behaupteten Konventionsverletzung, und auch kein mögliches Opfer, weil sein Verhalten nicht durch die umstrittene Verfassungsvorschrift beeinflusst wurde. Er behauptet auch nicht, dass er in
absehbarer Zeit eine Moschee mit einem Minarett bauen möchte. Deswegen ist seine Beschwerde ratione personae unvereinbar mit der Konvention und als unzulässig zurückzuweisen. Art 13 EMRK (Recht auf eine wirksame
Beschwerde) garantiert keinen Rechtsbehelf, mit dem man bei einem staatlichen Gericht geltend machen kann, dass ein Gesetz nicht mit der Konvention vereinbar sei (EGMR, Entscheidung vom 28.06.2011 - 65840/09 zu EMRK Art.
9, 13, 14, 34, 35 III, IV, BeckRS 2011, 25462).
***
Der Gerichtshof fasst seine Rechtsprechung zum Begriff der "nichtsstaatlichen Organisation" in Art 34 EMRK zusammen. Er unterstreicht, dass er diesen Begriff nicht starr auslegt, sondern von Fall zu Fall entscheidet, unabhängig
von der Rechtsstellung, die das Recht des jeweiligen Vertragsstaats der fraglichen "Organisation" einräumt. - Dösemealti. Ob eine öffentlich-rechtliche Institution Beschwerde nach Art 34 EMRK erheben kann, hängt entscheidend
davon ab, ob sie befugt ist, öffentliche Gewalt auszuüben. Das ist bei der Beschwerdeführerin der Fall. Sie hat zunächst nach türkischem Recht den allgemeinen Bedürfnissen der örtlichen Bevölkerung Rechnung zu tragen, die
Mitglieder ihres Entscheidungsgremiums werden durch allgemeine Wahlen bestellt, ihr Budget wird durch Zuweisungen aus dem allgemeinen Haushalt sowie durch andere öffentliche Einnahmen gebildet Die Beschwerdeführerin
kann Enteignungen vornehmen, Verordnungen erlassen sowie Tun und Lassen sanktionieren, das den geltenden Gesetzen und Verordnungen widerspricht. Damit gehört die Beschwerdeführerin zu den örtlichen Gebietskörperschaften,
die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Beschwerde nach Art 34 EMRK nicht erheben können. Ihre Beschwerde ist daher ratione personae unvereinbar mit der Konvention und nach Art 35 III, IV EMRK als unzulässig
zurückzuweisen (EGMR, Entscheidung vom 23.10.2010 - 50108/06 zu EMRK Art. 6, 34, 35 III, IV, BeckRS 2011, 02095).
***
Eine Beschwerde kann nach Art. 37 I lit. b EMRK im Register gestrichen werden, wenn der vom Beschwerdeführer gerügte Umstand nicht mehr besteht und die Wirkungen einer möglichen Verletzung wieder gutgemacht worden
sind. Seit Verabschiedung der Konvention hat es bei der Institution der Ehe erhebliche soziale Veränderungen gegeben. Es gibt aber keinen europäischen Konsens über die Zulässigkeit einer Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen
Partnern, die zur Zeit von nicht mehr als sechs der 47 Vertragsstaaten erlaubt wird. Art. 9 der Europäischen Grundrechtecharta (GR-Charta, Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen) hat bewusst abweichend von Art.
12 EMRK (Recht auf Eheschließung) den Hinweis auf Männer und Frauen weggelassen. Art. 9 GR-Charta verweist aber auf die einzelstaatlichen Gesetze und überlässt ihnen die Entscheidung, ob eine Ehe zwischen Partnern
desselben Geschlechts zugelassen werden soll. Dabei wird nicht verlangt, dass die staatliche Gesetzgebung solche Ehen erleichtert. Unter Berücksichtigung von Art. 9 GR-Charta nimmt der Gerichtshof nicht mehr an, dass das in Art.
12 EMRK garantierte Recht, eine Ehe einzugehen, unter allen Umständen auf eine Ehe zwischen zwei Personen unterschiedlichen Geschlechts beschränkt ist. Die Vorschrift verpflichtet die Staaten aber nicht dazu,
gleichgeschlechtliche Ehen zu ermöglichen. Die gleichgeschlechtliche Partnerschaft eines Paares fällt unter den Begriff „Privatleben" i. S. von Art. 8 EMRK (Schutz des Privat- und Familienlebens). Unter Aufgabe seiner bisherigen
Rechtsprechung nimmt der Gerichtshof an, dass die Beziehung der Bf., die als gleichgeschlechtliches Paar in einer stabilen de facto-Partnerschaft zusammenleben, auch unter den Begriff des „Familienlebens" i. S. von Art. 8 EMRK
fällt. Die Staaten haben einen Ermessensspielraum, welche Rechte sie einem gleichgeschlechtlichen Paar in einer eingetragenen Partnerschaft einräumen (EGMR, Urteil vom 24.06.2010 - 30141/04 zu EMRK Art. 8, 12, 14, 34, 35, 37;
Zusatzprotokoll zur EMRK Art. 1, BeckRS 2011, 01470).
***
Die Opfereigenschaft eines Beschwerdeführers i.S. von Art. 34 EMRK (Individualbeschwerden) hängt nicht davon ab, ob ihm ein Schaden entstanden ist. Das ist erst für Art. 41 EMRK (gerechte Entschädigung) von Bedeutung. . Es
verletzt nicht notwendig Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), wenn aus dem Schweigen des Angeklagten Schlüsse gezogen werden. Das kann insbesondere zulässig sein, wenn nach den Tatumständen und der Beweislage
eine Erklärung des Angeklagten eindeutig erwartet werden kann. . Auch die Unschuldsvermutung in Art. EMRK 6 II EMRK gilt nicht absolut, denn in jedem Strafrechtssystem gibt es Tatsachen- und Rechtsvermutungen, die nicht
grundsätzlich konventionswidrig sind, wenn sie sich in vernünftigen Grenzen halten. Im vorliegenden Fall hat das Gericht aus der Weigerung des Beschwerdeführers als Halter des Wagens, den Fahrer zu benennen, den Schluss
gezogen, dass er selbst gefahren sei. Der Beschwerdeführer hatte angegeben, er sei zur Tatzeit nicht in Österreich gewesen und könne den Fahrer nicht angeben, weil das Kraftfahrzeug regelmäßig von mehreren Personen benutzt
werde. Unter solchen Umständen ist es nicht der einzige nach gesundem Menschenverstand mögliche Schluss, dass der Beschwerdeführer selbst gefahren ist. Damit ist die Beweislast von der Anklage auf die Verteidigung verlagert
worden, obwohl die Anklage keinen überzeugenden prima facie-Beweis erbringen konnte. . Wenn das Gericht aus der Weigerung des Beschwerdeführers den Schluss ziehen wollte, er sei gefahren, hätte es ausreichende
Verfahrensgarantien geben, insbesondere mündlich verhandeln und den Beschwerdeführer befragen müssen (EGMR, Urteil vom 18.03.2010 - 13201/05, NJW 2011, 201).
***
Die Beschwerdeführer nehmen aktiv am politischen Leben in Bosnien-Herzegowina teil. Ihr Vortrag, sie hätten bei den Wahlen zur 2. Kammer des Parlaments, der Kammer der Völker, kandidiert, wenn ihnen das passive Wahlrecht
nicht wegen ihrer Herkunft als Rom und Jude versagt wäre, ist daher überzeugend. Folglich können sie behaupten, Opfer der von ihnen gerügten Diskriminierung zu sein (Art 34 EMRK). Die Verfassung von Bosnien-Herzegowina ist
in einem Anhang zum Friedensabkommen von Dayton niedergelegt, einem völkerrechtlichen Vertrag. Doch kann das Parlament des Landes die Verfassung ändern. Unter diesen Umständen ist Bosnien-Herzegowina jedenfalls dafür
verantwortlich, dass die von den Beschwerdeführern angegriffenen Verfassungsvorschriften noch immer in Kraft sind. Die Kammer der Völker in Bosnien-Herzegowina gehört zu den „gesetzgebenden Körperschaften" i. S. von Art. 3
Zusatzprotokoll zur EMRK (Recht auf freie Wahlen). Die Wahlen zu ihr fallen damit in den Anwendungsbereich dieser Vorschrift. Folglich gilt das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK. Diskriminierung liegt vor, wenn
Personen in vergleichbarer Lage ohne sachlichen und vernünftigen Grund unterschiedlich behandelt werden. Diskriminierung wegen der ethnischen Herkunft ist eine Form der Rassendiskriminierung, eine besonders scheußliche Form
der Diskriminierung. Die Konventionsstaaten müssen alle verfügbaren Mittel einsetzen, um Rassismus zu bekämpfen und so die demokratische Gesellschaft stärken, in der die Vielfalt nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung
verstanden wird. Eine unterschiedliche Behandlung, die ausschließlich oder wesentlich auf die ethnische Herkunft gestützt wird, ist in einer demokratischen Gesellschaft niemals gerechtfertigt. Um nach dem Ende des durch
Völkermord und „ethnische Säuberung" gekennzeichneten Konflikts in Bosnien-Herzegowina den Frieden zu sichern, war die Zustimmung der Bosniaken, Kroaten und Serben, der „konstituierenden Völker", dringend erforderlich.
Das kann erklären, wenngleich nicht unbedingt rechtfertigen, dass die anderen Gemeinschaften an den Friedensverhandlungen nicht beteiligt waren. Angesichts der positiven Entwicklungen in Bosnien-Herzegowina ist der weiterhin
bestehende Ausschluss der Beschwerdeführer von der Kandidatur zur Kammer der Völker nicht gerechtfertigt und verstößt gegen Art. 14 EMRK i. V. mit Art. 3 Zusatzprotokoll zur EMRK. Dasselbe gilt für die Wahlen zur
Präsidentschaft des Landes. Dabei kann dahin gestellt bleiben, ob insoweit Art. 3 Zusatzprotokoll zur EMRK anwendbar ist, denn in jedem Fall liegt ein Verstoß gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 1 Prot. Nr. 12
zur EMRK vor: der Begriff der Diskriminierung nach dieser Vorschrift entspricht dem in Art. 14 EMRK. Diskriminierung aus Gründen der Rasse kann unter bestimmten Umständen eine erniedrigende Behandlung i. S. von Art. 3
EMRK (Verbot der Folter) sein. Das ist hier jedoch nicht der Fall. Stellt der Gerichtshof eine Verletzung der Konvention fest, kann er den beklagten Staat nach Art. 41 EMRK (Gerechte Entschädigung) verurteilen, dem
Beschwerdeführer u. a. die - notwendigen und angemessenen - Kosten und Auslagen für seine Vertretung vor dem Gerichtshof zu erstatten. Das gilt auch, wenn der Beschwerdeführer im Ausland ansässige Anwälte beauftragt hat,
obwohl ihn ortsansässige ebenso gut und kostengünstiger hätten vertreten können (EGMR, Urteil vom 22. 12. 2009 - 27996, 34836/06).
Art. 35 EMRK Zulässigkeitsvoraussetzungen
(1) Der Gerichtshof kann sich mit einer Angelegenheit erst nach Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe in Übereinstimmung mit den allgemein anerkannten Grundsätzen des Völkerrechts und nur innerhalb einer Frist von
sechs Monaten nach der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung befassen.
(2) Der Gerichtshof befasst sich nicht mit einer nach Artikel 34 erhobenen Individualbeschwerde, die
a) anonym ist oder
b) im Wesentlichen mit einer schon vorher vom Gerichtshof geprüften Beschwerde übereinstimmt oder schon einer anderen internationalen Untersuchungs- oder Vergleichsinstanz unterbreitet worden ist und keine neuen Tatsachen enthält.
(3) Der Gerichtshof erklärt eine nach Artikel 34 erhobene Individualbeschwerde für unzulässig, wenn er sie für unvereinbar mit dieser Konvention oder den Protokollen dazu, für offensichtlich unbegründet oder für einen Missbrauch
des Beschwerderechts hält.
(4) Der Gerichtshof weist eine Beschwerde zurück, die er nach diesem Artikel für unzulässig hält. Er kann dies in jedem Stadium des Verfahrens tun.
Leitsätze/Entscheidungen:
Nach Art. 35 Abs. 3 S 1 Buchst. a EMRK kann eine Individualbeschwerde wegen Missbrauchs dann zurückgewiesen werden, wenn sie wissentlich auf falsche Tatsachen gestützt wird. Anwälte von Beschwerdeführern müssen ein
hohes Maß an beruflicher Umsicht aufbringen und angemessen mit dem Gerichtshof zusammenarbeiten, indem sie ihn vor sinnlosen Beschwerden verschonen sowie nach Erhebung einer Beschwerde peinlich genau alle
Verfahrensvorschriften beachten und ihre Mandanten dazu anhalten, dasselbe zu tun. Der wissentliche oder fahrlässige Missbrauch der Mittel des Gerichtshofes kann dazu führen, dass der betreffende Anwalt von der Vertretung von
Mandanten vor dem Gerichtshof nach Art. 36 Abs. 4 Buchst. b VerfO ausgeschlossen wird. Versäumt es ein Anwalt, den Gerichtshof darüber zu informieren, dass eine lebenslang Freiheitsstrafe des Beschwerdeführers in eine zeitlich
befristete Gefängnisstrafe umgewandelt wurde, so betrifft diese Tatsache den Kern der Beschwerde. Das Verhalten des Anwalts ist eine "Demonstration empörender Verantwortungslosigkeit" im Sinne der Rechtsprechung des
Gerichtshofes (EGMR, Urteil vom 10.04.2012 - 14102/02 - juris - Orientierungssätze).
***
Die Rolle des Gerichtshofs ist gegenüber staatlichen Gerichten subsidiär. Eine Regierung kann daher vor dem Gerichtshof grundsätzlich nur mit dem gehört werden, was sie zuvor den staatlichen Gerichten vorgetragen hat, so dass die
bereits darüber entscheiden konnten. Ausübung von Hoheitsgewalt ist nach Art. 1 EMRK (Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte) notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Konventionsstaat für ihm zurechenbare
Handlungen und Unterlassungen verantwortlich ist. Die Hoheitsgewalt ist grundsätzlich territorial bestimmt. Handlungen von Vertretern der Konventionsstaaten, die außerhalb ihres Hoheitsgebiets vorgenommen werden oder dort
Auswirkungen haben, können im Ausnahmefall Ausübung ihrer Hoheitsgewalt i. S. von Art. 1 EMRK sein. Ein solcher Ausnahmefall kann gegeben sein, wenn
- diplomatische oder konsularische Vertreter im Ausland tätig werden,
- ein Staat mit Zustimmung der Regierung eines anderen auf deren Hoheitsgebiet Zuständigkeiten übernimmt,
- Gewaltanwendung staatlicher Vertreter im Ausland Personen unter ihre Kontrolle bringt, insbesondere wenn die Personen gefangen genommen werden,
- infolge rechtmäßiger oder unrechtmäßiger Militäraktion ein Staat die tatsächliche Kontrolle über ein Gebiet außerhalb seines Hoheitsgebiets ausübt.
Nach dem Sturz des Ba'ath Regimes und bis zur Bildung einer irakischen Interimsregierung hat das Vereinigte Königreich zusammen mit den USA Teile der öffentlichen Gewalt im Irak übernommen, die normalerweise von einer
souveränen Regierung ausgeübt werden. Unter diesen außergewöhnlichen Umständen unterstanden die bei Sicherheitsoperationen der britischen Streitkräfte getöteten Personen der Hoheitsgewalt des Vereinigten Königreichs i. S. von
Art. 1 EMRK. Die sich aus Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) ergebende Ermittlungspflicht bei Todesfällen gilt auch unter schwierigen Sicherheitsverhältnissen nach einem bewaffneten Konflikt. Die Ermittlungen über den Tod der
Angehörigen einiger Beschwerdeführer entsprachen nicht den Anforderungen von Art. 2 EMRK, weil sie gänzlich im Bereich der unmittelbaren militärischen Hierarchie blieben und sich darauf beschränkten, Aussagen der beteiligten
britischen Soldaten aufzunehmen. Auch die Sonderabteilung der Militärpolizei, die in einigen Fällen Ermittlungen geführt hat, war nicht gänzlich unabhängig von der militärischen Hierarchie. Deswegen ist Art. 2 EMRK verletzt.
Einer der Beschwerdeführer ist noch Opfer i. S. von Art. 34 EMRK (Individualbeschwerden), obwohl er Schadensersatz und ein Schuldanerkenntnis erhalten hat, weil keine umfassenden und unabhängigen Ermittlungen angestellt
worden sind. Bei einem anderen Beschwerdeführer hat eine umfassende, öffentliche Untersuchung stattgefunden, so dass er nicht mehr Opfer der von ihm behaupteten Konventionsverletzung ist. Der Gerichtshof verurteilt die britische
Regierung nicht, weitere Ermittlungen anzustellen. Nach Art. 46 II EMRK (Verbindlichkeit und Durchführung der Urteile) ist es Aufgabe des Ministerkommitees des Europarats zu prüfen, welche Maßnahmen zur Durchführung des
Urteils erforderlich sind (EMRK, Urteil vom 07.07.2011 - 55721/07 zu EMRK Art. 1, 2, 15, 34, 35, 41, 46, 56).
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Der Begriff "Opfer" in Art 34 EMRK (Individualbeschwerden) muss autonom und unabhängig von entsprechenden Begriffen im staatlichen Recht, wie z. B. dem Rechtsschutzinteresse, ausgelegt werden. Opfer ist zunächst der direkt
von einer angeblichen Menschenrechtsverletzung Betroffene, ausnahmsweise auch ein nur indirekt Betroffener, z. B. Angehörige von Opfern. Auch mögliche Opfer können in Ausnahmefällen berechtigt sein, Beschwerde einzulegen,
z. B. wenn das angegriffene Gesetz geheime Maßnahmen erlaubt, so dass der Beschwerdeführer nicht darlegen kann, dass es auf ihn angewendet worden ist, wenn das angegriffene Gesetz ein Verhalten mit Strafe bedroht und der
Beschwerdeführer deswegen sein Verhalten ändern musste oder wenn er einer Personengruppe angehört, die Gefahr läuft, direkt von Auswirkungen des angegriffenen Gesetzes betroffen zu werden. Einerlei, ob es sich um eine direkte,
indirekte oder mögliche Beschwer handelt, muss jedenfalls ein direkter Zusammenhang zwischen dem Beschwerdeführer und dem Schaden bestehen, den er durch eine Konventionsverletzung erlitten zu haben glaubt. Die Konvention
kennt keine Popularklage zur Auslegung der in ihr garantierten Rechte. Der Beschwerdeführer beschwert sich über eine Schweizer Verfassungsvorschrift und macht nicht geltend, sie sei auf ihn angewendet worden. Er ist weder
direktes noch indirektes Opfer der behaupteten Konventionsverletzung, und auch kein mögliches Opfer, weil sein Verhalten nicht durch die umstrittene Verfassungsvorschrift beeinflusst wurde. Er behauptet auch nicht, dass er in
absehbarer Zeit eine Moschee mit einem Minarett bauen möchte. Deswegen ist seine Beschwerde ratione personae unvereinbar mit der Konvention und als unzulässig zurückzuweisen. Art 13 EMRK (Recht auf eine wirksame
Beschwerde) garantiert keinen Rechtsbehelf, mit dem man bei einem staatlichen Gericht geltend machen kann, dass ein Gesetz nicht mit der Konvention vereinbar sei (EGMR, Entscheidung vom 28.06.2011 - 65840/09 zu EMRK Art.
9, 13, 14, 34, 35 III, IV, BeckRS 2011, 25462).
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Art. 8 EMRK (Recht auf Schutz des Familien- und Privatlebens) ist nicht dahin auszulegen, dass die Schwangerschaft und der Schwangerschaftsabbruch ausschließlich zum Privatleben der Frau gehören, weil es, wenn die Frau
schwanger ist, eng mit dem sich entwickelnden Fötus verbunden ist. Das Recht der Frau auf Achtung ihres Privatlebens muss gegen andere Rechte und Freiheiten abgewogen werden, einschließlich der Rechte des ungeborenen Kindes.
Art. 8 EMRK kann auch nicht so ausgelegt werden, dass es ein Recht auf Abtreibung gibt. Das in Irland geltende Verbot der Abtreibung aus Gründen der Gesundheit oder des Wohlbefindens der Frau sowie das Fehlen von
Durchführungsbestimmungen für eine rechtmäßige Abtreibung sind jedoch Eingriffe in das durch Art. 8 EMRK garantierte Recht auf Achtung des Privatlebens. Ein solcher Eingriff ist nur dann nach Art. 8 EMRK gerechtfertigt, wenn
er in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist, also einem dringenden sozialen Bedürfnis entspricht, und verhältnismäßig ist. Insoweit muss ein gerechter Ausgleich geschaffen werden zwischen den Rechten von schwangeren
Frauen auf Achtung ihres Privatlebens und den moralischen Überzeugungen der Mehrheit der irischen Bevölkerung hinsichtlich der Vorstellungen über den Schutz des Lebens Ungeborener. Bei der Beurteilung, ob ein gerechter
Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen hergestellt worden ist, besteht ein Ermessensspielraum des irischen Staats. Dieser ist als weit zu beurteilen und wird nicht durch das Bestehen eines Konsenses zwischen den
Konventionstaaten reduziert. Denn es existiert zwar ein Konsens unter der großen Mehrheit der Konventionsstaaten, eine Abtreibung im weiteren Sinne zu erlauben, als dies in Irland der Fall ist, nicht aber ein Konsens über die
wissenschaftliche und rechtliche Definition des Beginns des Lebens, so dass es keine übereinstimmende Antwort auf die Frage gibt, ob das Ungeborene eine Person ist, die durch Art. 2 EMRK geschützt ist. Der Ermessensspielraum
ist jedoch nicht unbeschränkt. Das Verbot der Abtreibung aus Gründen der Gesundheit und des Wohlbefindens der Frau muss mit den Pflichten Irlands nach der Konvention vereinbar sein. Wegen seiner Zuständigkeit nach Art. 19
EMRK muss der Europäische Gerichtshof überwachen, ob der Eingriff einen verhältnismäßigen Ausgleich der widerstreitenden Interessen herstellt. Angesichts der Tatsache, dass Frauen in Irland rechtmäßig für eine Abtreibung ins
Ausland reisen können und freien Zugang zu angemessenen Informationen und medizinischer Behandlung haben, überschreitet das Verbot der Abtreibung aus Gründen der Gesundheit und des Wohlbefindens der Frau, das auf
tiefwurzelnden moralischen Überzeugungen der irischen Bevölkerung über den Schutz des Rechts auf Leben für das Ungeborene beruht, den insoweit dem irischen Staat zustehenden Ermessensspielraum nicht. Da Irland in seiner
Verfassung eine Entscheidung darüber getroffen hat, unter welchen Voraussetzungen die Abtreibung zugelassen ist, nämlich für den Fall einer Gefahr für das Leben der werdenden Mutter, muss der irische Staat entsprechende
Durchführungsregelungen erlassen, die es ermöglichen, die unterschiedlichen betroffenen Interessen angemessen und im Einklang mit den Verpflichtungen aus der Konvention zu berücksichtigen. Da in Irland keine
Durchführungsbestimmungen existieren, insbesondere hinsichtlich eines wirksamen und zugänglichen Verfahrens, in dem das Recht auf Abtreibung begründet werden kann, besteht ein auffälliger Widerspruch zwischen dem
theoretisch gewährten Recht auf Abtreibung wegen einer Gefahr für das Leben der Frau einerseits und seiner praktischen Anwendung andererseits. Dies stellt eine Verletzung des Art. 8 EMRK dar (EGMR, Urteil vom 16.12.2010 -
25579/05 zu Art 2, Art 8 Abs 1, Art 8 Abs 2, Art 19, Art 35 MRK).
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Weder Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) noch eine andere Vorschrift der Konvention garantiert einem Ausländer das Recht auf eine Aufenthaltserlaubnis in einem Konventionsstaat. Doch müssen die
Staaten ihre Ausländerpolitik so handhaben, dass sie mit den Grundrechten der Ausländer vereinbar bleibt, insbesondere mit den Rechten in Art. 8 EMRK und dem Verbot der Diskriminierung nach Art. 14 EMRK. Zum Begriff des
Familienlebens i.S. von Art. 8 I EMRK gehören jedenfalls die Beziehungen aus einer rechtmäßigen Ehe, wie sie zwischen dem Beschwerdeführer und seiner russischen Ehefrau besteht. Art. 14 EMRK verbietet eine Diskriminierung
auch wegen einer Behinderung und allgemein wegen des Gesundheitszustands einer Person einschließlich einer HIV-Infektion. Daher ist Art. 14 EMRK i.V. mit Art. 8 EMRK im vorliegenden Fall anwendbar. Behandelt ein
Konventionsstaat Einzelpersonen oder Personengruppen unterschiedlich, muss er nachweisen, dass es dafür sachliche und vernünftige Gründe gibt, er also ein berechtigtes Ziel verfolgt und die angewendeten Mittel zu diesem Ziel
verhältnismäßig sind. Dabei hat er einen Ermessensspielraum. Der ist allerdings eng, wenn es um eine besonders verletzliche Gruppe von Personen geht, die in der Vergangenheit unter erheblicher Diskriminierung gelitten hat.
HIV-Infizierte wie der Beschwerdeführer sind eine solche Gruppe. Seit dem Ausbruch der Pandemie in den 80iger Jahren haben sie verbreitet unter Stigmatisierung und Ausschluss gelitten, auch in den Mitgliedstaaten des Europarats.
Nach übereinstimmender Auffassung aller Sachkenner innerhalb und außerhalb internationaler Organisationen sind Reisebeschränkungen ein unwirksames Mittel, die Verbreitung der HIV-Infektion zu verhindern. Untersuchungen auf
HIV sind in Russland im Übrigen für Kurzzeitbesucher und Touristen nicht vorgeschrieben und auch nicht für russische Staatsbürger bei Rückkehr von einer Reise ins Ausland. HIV-infizierte Ausländer belasten dort auch nicht den
öffentlichen Gesundheitsdienst, denn Ausländer haben in Russland keinen Anspruch auf kostenlose medizinische Versorgung. Nach dem russischen AusländerG können die Behörden und Gerichte bei ihrer Entscheidung über den
Antrag eines HIV-infizierten Ausländers auf eine Aufenthaltserlaubnis auch nicht seine besondere Situation und seine familiären Bindungen in Russland berücksichtigen. Daher ist Art. 14 EMRK i.V. mit Art. 8 EMRK im
vorliegenden Fall verletzt. Der Beschwerdeführer, obwohl juristisch nicht bewandert und anwaltlich nicht vertreten, hätte die russischen Gerichte bitten können, seinen Fall nicht öffentlich zu verhandeln. Unter den gegebenen
Umständen waren die Gerichte nicht gehalten, von Gerichts wegen die Öffentlichkeit auszuschließen. Insoweit ist die auf Art. 6 I EMRK gestützte Beschwerde offensichtlich unbegründet und nach Art. 35 III lit a, IV EMRK
unzulässig (EGMR, Urteil vom 10.03.2011 - 2700/10 zu EMRK Art. 6 I, 8, 13, 14, 15, 35 III, 41, BeckRS 2011, 26127).
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Für die Berechnung der Sechsmonatsfrist des Art. 35 I EMRK ist im vorliegenden Fall das Datum des Eingangs der dem Beschwerdeführer mit gewöhnlichem Brief zugestellten Entscheidung des BVerfG maßgebend. Anhaltspunkte
dafür, dass der Eingangsstempel des Anwalts auf der Entscheidung nicht ordnungsgemäß angebracht wurde, liegen nicht vor. Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK ist ein Grundpfeiler der
"demokratischen Gesellschaft" i. S. der Konvention. Sie ist in ihrer religiösen Dimension eines der wichtigsten Elemente, das die Identität der Gläubigen und ihre Auffassung vom Leben bestimmt. Doch sie ist auch ein wertvolles Gut
für Atheisten, Agnostiker, Skeptiker und Gleichgültige. Der von einer demokratischen Gesellschaft untrennbare Pluralismus - teuer erkauft über die Jahrhunderte - hängt von ihr ab. Zur Religionsfreiheit gehört auch die Freiheit, seine
Religionszugehörigkeit oder seine religiösen Überzeugungen nicht angeben zu müssen. Staatliche Behörden haben nicht das Recht, in die Gewissensfreiheit des Einzelnen einzugreifen und nach seinen religiösen Überzeugungen zu
fragen oder ihn zu zwingen, seine Glaubensüberzeugungen zu offenbaren. Die Pflicht des Beschwerdeführers, auf der Lohnsteuerkarte seine Mitgliedschaft in einer Kirche oder Religionsgemeinschaft anzugeben, ist ein Eingriff in
seine nach Art. 9 I EMRK geschützte Religionsfreiheit. Der Eingriff war "gesetzlich vorgesehen" und verfolgte ein berechtigtes Ziel i. S. von Art. 9 II EMRK, nämlich das den Kirchen und Religionsgemeinschaften nach dem GG
garantierte Recht zu sichern, Kirchensteuer zu erheben. Der Eingriff war verhältnismäßig, denn der Vermerk auf der Steuerkarte besagt lediglich, dass der Beschwerdeführer keiner Kirche oder Religionsgemeinschaft angehört, die
Steuern zu erheben berechtigt ist. Außerdem wird die Steuerkarte nur zur Vorlage beim Arbeitgeber verwendet, und im Übrigen hält sich die Regelung im Rahmen des Ermessensspielraums, der den Konventionsstaaten in diesem
Bereich zusteht. Obwohl der Beschwerdeführer vor dem BVerfG nur Verletzung seiner Religionsfreiheit gerügt hat, ist seine Beschwerde nach Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) nicht unzulässig nach
Art. 35 I EMRK, denn nach der Rechtsprechung des BVerfG wird bei einer mit der Religionsfreiheit vereinbarten Maßnahme eine Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung nicht mehr geprüft. Der Eingriff in die
Rechte nach Art. 8 I EMRK ist jedoch nach Art. 8 II gerechtfertigt. Diskriminierung (Art. 14 EMRK) hat der Beschwerdeführer nicht vor dem BVerfG gerügt, obwohl die Verfassungsbeschwerde eine wirksame Beschwerde i. S. von
Art. 13 EMRK ist, die ein Beschwerdeführer grundsätzlich erheben muss, bevor er den Gerichtshof anruft. Die Beschwerde ist daher insoweit nach Art. 35 I EMRK unzulässig (EGMR, Urteil vom 17.02.2011 - 12884/03 zu EMRK
Art. 8, 9, 13, 14, 35 I, IIIa, IV).
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Der Gerichtshof hat mehrfach entschieden, dass eine gewisse Verzögerung der Haftentlassung nach einer dahingehenden gerichtlichen Entscheidung verständlich und oft aus praktischen Gründen unvermeidbar sein kann. In Fällen, in
denen eine gesetzlich vorgeschriebene Höchstdauer der Haft überschritten worden ist, war er strenger, weil das Ende der zulässigen Höchstdauer im Voraus bekannt ist. Im vorliegenden Fall ist die gesetzlich vorgeschriebene
Höchstdauer der Haft um 30 Minuten überschritten worden. Die Staatsanwaltschaft hatte einen Haftbefehl innerhalb der vorgesehenen Frist gestellt und es stand eine Anhörung durch den Untersuchungsrichter unmittelbar bevor.
Deswegen ist Art. 5 I EMRK nicht verletzt (EGMR, Urteil vom 08.02.2011 - 36988/07 zu EMRK Art. 5, 35 III, IV, 41, BeckRS 2011, 21464).
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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat nach Art. 35 Abs. 3 Buchst. b EMRK unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, eine Beschwerde für unzulässig zu erklären, sofern der Beschwerdeführer durch die
behauptete Konventionsverletzung keinen erheblichen Nachteil erlitten hat. Zu diesen Fallgestaltungen zählen nicht nur Fälle von geringer finanzieller Bedeutung. Hatte der tschechische Verfassungsgerichtshof dem
Beschwerdeführer die Stellungnahmen der Instanzgerichte zu seiner Verfassungsbeschwerde nicht zugestellt und ihm so keine Gelegenheit zur Äußerung dazu gegeben, kann der Beschwerdeführer dadurch (noch) keinen erheblichen
Nachteil i.S.d. Art. 35 Abs. 3 Buchst. b EMRK erlitten haben. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in ähnlichen Fällen bereits entschieden, dass das Verhalten des tschechischen Verfassungsgerichtshof gegen das
Recht auf ein faires Verfahren i.S.d. Art. 6 Abs. 1 EMRK verstößt (vergleiche EGMR, 26. Oktober 2006, 1414/03 und EGMR, 3. Juli 2008, 20728/05). In Ansehung dessen hat der tschechische Verfassungsgerichtshof seine
Verfahrenspraxis geändert. Von daher erfordert die "Achtung der Menschenrechte, wie sie in der Konvention ... anerkannt ist" keine "Prüfung der Begründetheit der Beschwerde". Die "Rechtssache" des Beschwerdeführers, mithin
vorliegend seine in Tschechien erhobene Zivilklage, ist auch von tschechischen Gerichten "gebührend geprüft worden" i.S.d. Art 35 Abs. 3 Buchst. b EMRK; von daher ist die Beschwerde nach Art. 35 Abs. 3 Buchst. b EMRK
unzulässig (EGMR, Entscheidung vom 14.12.2010 - 24880/05 zu Art 6 Abs 1, 35 Abs 3 Buchst a, 35 Abs 3 Buchst b MRK).
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Beträge zwischen 97 und 312 Euro, um die es in den überlangen sozialgerichtlichen Verfahren über Honoraransprüche eines Zahnarztes ging, sind geringfügig. Art. 35 III lit. c EMRK (Zulässigkeitsvoraussetzungen) in der Fassung
des Protokolls Nr. 14 zur EMRK kann nicht angewendet werden, weil es in Deutschland keinen wirksamen Rechtsbehelf gegen überlange Gerichtsverfahren in Zivilsachen einschließlich sozialgerichtlicher Verfahren gibt, und die
Rüge deswegen nicht von einem deutschen Gericht gebührend geprüft worden ist. Die Beschwerde ist aber nach Art. 35 III lit. a EMRK missbräuchlich und deswegen unzulässig. Die Änderung des Art. 35 III EMRK durch das
Protokoll Nr. 14 zur EMRK hindert den Gerichtshof nicht daran, seine bisherige Rechtsprechung über den Missbrauch des Beschwerderechts fortzusetzen und den Grundsatz de minimis non curat praetor anzuwenden, wenn dem
Beschwerdeführer kein erheblicher Nachteil entstanden ist und keine grundsätzlichen Fragen aufgeworfen werden (EGMR, Entscheidung vom 23.11.2010 - 12977/09 zu EMRK Art. 6 I, 13, 35 III).
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Der Gerichtshof fasst seine Rechtsprechung zum Begriff der "nichtsstaatlichen Organisation" in Art 34 EMRK zusammen. Er unterstreicht, dass er diesen Begriff nicht starr auslegt, sondern von Fall zu Fall entscheidet, unabhängig
von der Rechtsstellung, die das Recht des jeweiligen Vertragsstaats der fraglichen "Organisation" einräumt. - Dösemealti. Ob eine öffentlich-rechtliche Institution Beschwerde nach Art 34 EMRK erheben kann, hängt entscheidend
davon ab, ob sie befugt ist, öffentliche Gewalt auszuüben. Das ist bei der Beschwerdeführerin der Fall. Sie hat zunächst nach türkischem Recht den allgemeinen Bedürfnissen der örtlichen Bevölkerung Rechnung zu tragen, die
Mitglieder ihres Entscheidungsgremiums werden durch allgemeine Wahlen bestellt, ihr Budget wird durch Zuweisungen aus dem allgemeinen Haushalt sowie durch andere öffentliche Einnahmen gebildet Die Beschwerdeführerin
kann Enteignungen vornehmen, Verordnungen erlassen sowie Tun und Lassen sanktionieren, das den geltenden Gesetzen und Verordnungen widerspricht. Damit gehört die Beschwerdeführerin zu den örtlichen Gebietskörperschaften,
die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Beschwerde nach Art 34 EMRK nicht erheben können. Ihre Beschwerde ist daher ratione personae unvereinbar mit der Konvention und nach Art 35 III, IV EMRK als unzulässig
zurückzuweisen (EGMR, Entscheidung vom 23.10.2010 - 50108/06 zu EMRK Art. 6, 34, 35 III, IV, BeckRS 2011, 02095).
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Art. 35 III lit. b EMRK soll dem Gerichtshof ermöglichen, in Zukunft unbegründete Beschwerden schneller zu bescheiden und sich auf seine zentrale Aufgabe zu konzentrieren, Rechtsschutz im Bereich der Menschenrechte auf
europäischer Ebene zu gewährleisten. Auf ihrer Konferenz in Interlaken am 19. 2. 2010 haben ihn die Vertragsstaaten im Übrigen aufgefordert, diese neue Vorschrift voll auszuschöpfen und auch weitere Möglichkeiten in Betracht zu
ziehen, den Grundsatz des de minimis non curat praetor anzuwenden. Ein „erheblicher Nachteil" i.S. von Art. 35 III lit. b EMRK liegt nur vor, wenn die behauptete Verletzung der Konvention ein Minimum an Schwere aufweist. Ob
dieser Schweregrad erreicht wird, hängt von den Umständen des Falls ab. Dabei kann der durch die behauptete Verletzung eingetretene Schaden eine Rolle spielen, aber auch der Umstand, dass die Beschwerde eine Grundsatzfrage
aufwirft. Hier ging es dem Beschwerdeführer nur um die unterbliebene Beitreibung von 25,50 russische Rubel (weniger als 1 Euro). Ein erheblicher Nachteil ist ihm durch diesen Verlust nicht entstanden. Das grundsätzliche Problem
der Nichtvollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Russland haben der Gerichtshof und das Ministerkomitee des Europarats bereits behandelt. Eine Prüfung der Begründetheit der Beschwerde brächte insofern nichts Neues. Die
Achtung der Menschenrechte, wie sie in der Konvention und in den Protokollen dazu anerkannt sind, erfordert sie daher nicht. Die Sache des Beschwerdeführers ist auch bereits durch die russischen Gerichte gebührend geprüft
worden. Die Beschwerde ist damit nach Art. 35 II lit. b EMRK unzulässig (EGMR, Entscheidung vom 01.07.2010 - 25551/05 Korolev/Russland, NJW 2010, 3081).
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Eine Beschwerde kann nach Art. 37 I lit. b EMRK im Register gestrichen werden, wenn der vom Beschwerdeführer gerügte Umstand nicht mehr besteht und die Wirkungen einer möglichen Verletzung wieder gutgemacht worden
sind. Seit Verabschiedung der Konvention hat es bei der Institution der Ehe erhebliche soziale Veränderungen gegeben. Es gibt aber keinen europäischen Konsens über die Zulässigkeit einer Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen
Partnern, die zur Zeit von nicht mehr als sechs der 47 Vertragsstaaten erlaubt wird. Art. 9 der Europäischen Grundrechtecharta (GR-Charta, Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen) hat bewusst abweichend von Art.
12 EMRK (Recht auf Eheschließung) den Hinweis auf Männer und Frauen weggelassen. Art. 9 GR-Charta verweist aber auf die einzelstaatlichen Gesetze und überlässt ihnen die Entscheidung, ob eine Ehe zwischen Partnern
desselben Geschlechts zugelassen werden soll. Dabei wird nicht verlangt, dass die staatliche Gesetzgebung solche Ehen erleichtert. Unter Berücksichtigung von Art. 9 GR-Charta nimmt der Gerichtshof nicht mehr an, dass das in Art.
12 EMRK garantierte Recht, eine Ehe einzugehen, unter allen Umständen auf eine Ehe zwischen zwei Personen unterschiedlichen Geschlechts beschränkt ist. Die Vorschrift verpflichtet die Staaten aber nicht dazu,
gleichgeschlechtliche Ehen zu ermöglichen. Die gleichgeschlechtliche Partnerschaft eines Paares fällt unter den Begriff „Privatleben" i. S. von Art. 8 EMRK (Schutz des Privat- und Familienlebens). Unter Aufgabe seiner bisherigen
Rechtsprechung nimmt der Gerichtshof an, dass die Beziehung der Bf., die als gleichgeschlechtliches Paar in einer stabilen de facto-Partnerschaft zusammenleben, auch unter den Begriff des „Familienlebens" i. S. von Art. 8 EMRK
fällt. Die Staaten haben einen Ermessensspielraum, welche Rechte sie einem gleichgeschlechtlichen Paar in einer eingetragenen Partnerschaft einräumen (EGMR, Urteil vom 24.06.2010 - 30141/04 zu EMRK Art. 8, 12, 14, 34, 35, 37;
Zusatzprotokoll zur EMRK Art. 1, BeckRS 2011, 01470).
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Die Religionsfreiheit, ein Grundpfeiler der demokratischen Gesellschaft, umfasst u.a. die Freiheit, seine Religion öffentlich und mit anderen zu bekennen. Deswegen muss bei Auslegung von Art. 9 EMRK (Gedanken-, Gewissens- und
Religionsfreiheit) Art. 11 EMRK (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) berücksichtigt werden. Damit folgt aus dem Recht auf Religionsfreiheit für den Gläubigen das Recht, sich frei und ohne willkürliche staatliche Eingriffe
zusammenzuschließen. Unabhängige Religionsgemeinschaften sind für den Pluralismus in einer demokratischen Gesellschaft unabdingbare Voraussetzung und das Kernstück des von Art. 9 EMRK gewährten Schutzes. Die
Konventionsstaaten sind zu Neutralität und Unparteilichkeit verpflichtet und dürfen deshalb die Legitimität eines religiösen Glaubens nicht beurteilen. Doch haben sie das Recht, sich davon zu überzeugen, dass Ziele und Tätigkeiten
auch einer Religionsgemeinschaft mit der Rechtsordnung übereinstimmen, müssen das aber in einer Weise tun, die mit ihren Konventionspflichten vereinbar ist. Dabei unterliegen sie der Überwachung durch den Gerichtshof. Im
Übrigen darf der Staat von seiner Befugnis, staatliche Institutionen und den Bürger vor Vereinigungen zu schützen, die sie gefährden könnten, nur zurückhaltend Gebrauch machen, denn die Ausnahmen von der Vereinigungsfreiheit
(Art. 11 II EMRK ) sind eng auszulegen. Die Auflösung der Beschwerdeführerin zu 1 und das Verbot ihrer Aktivitäten haben die russischen Behörden und Gerichte damit begründet, sie habe ihre Mitglieder zur Zerstörung ihrer
Familien gezwungen; Rechte und Freiheiten ihrer Mitglieder und Dritter verletzt; ihre Mitglieder angestiftet, Selbstmord zu begehen oder ärztliche Behandlung abzulehnen; auf die Rechte von Eltern und Kindern eingewirkt;
insbesondere Kinder gegen den Willen von Eltern in die Gemeinschaft gelockt und Mitglieder ermutigt, gesetzliche Pflichten nicht zu erfüllen. Diese Vorwürfe haben die russischen Behörden und Gerichte entweder nicht substantiiert
oder nicht nachgewiesen. Außerdem waren die Auflösung der Beschwerdeführerin zu 1 und das Verbot ihrer Aktivitäten, einzige Sanktion bei einem Verstoß gegen das russische Religionsgesetz von 1997, außerordentlich
schwerwiegende und unverhältnismäßige Maßnahmen. Daher ist Art. 9 i.V. mit Art. 11 EMRK verletzt. Die Anträge der Beschwerdeführerin zu 1, sie erneut zu registrieren, wurden mit unterschiedlicher Begründung abgelehnt. Dieser
Eingriff in ihre von Art. 11 i. V. mit Art. 9 EMRK garantierten Rechte war willkürlich und deswegen nicht "gesetzlich vorgesehen" i.S. von Art. 9 II und 11 II EMRK. Die russischen Behörden und Gerichte haben nicht in gutem
Glauben gehandelt und ihre Pflicht zu Neutralität und Unparteilichkeit verletzt (EGMR, Urteil vom 10.06.2010 - 302/02 zu EGMR Art. 6, 9, 10, 11, 14, 35 III,IV, 41, 46).
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Das Verbot der Verbreitung des umstrittenen Textes ist ein Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin nach Art. 10 I EMRK (Freiheit der Meinungsäußerung). Er stützt sich auf §§ 823 I und 1004 I BGB, ist also "gesetzlich
vorgesehen", und verfolgt ein berechtigtes Ziel, nämlich den Schutz des "guten Rufs und der Rechte anderer" (Art. 10 II EMRK). Der umstrittene Artikel betraf ein Anliegen von öffentlichem Interesse und enthielt wesentlich
beweisfähige, von der Beschwerdeführerin aber nicht bewiesene Tatsachenbehauptungen. Im Kern ging es um den von einem Aktionär und ehemaligen Mitarbeiter von AUDI erhobenen Vorwurf, ein Vorstandsvorstand des Konzerns
habe zum Nachteil des Unternehmens persönliche und berufliche Interessen vermischt. Dem Beklagten in einem einstweiligen Verfügungsverfahren die Pflicht aufzuerlegen, den Wahrheitsgehalt mitgeteilter Äußerungen
nachzuweisen, ist mit Art. 10 EMRK grundsätzlich nicht unvereinbar. Dabei ist zu beachten, dass die Tatsachengrundlage umso solider sein muss, je schwerwiegender die Behauptungen sind. Die Presse muss grundsätzlich
Tatsachenbehauptungen vor ihrer Veröffentlichung mit der gebotenen journalistischen Sorgfalt überprüfen. Geht es um diffamierende Behauptungen gegenüber Dritten, ist sie von dieser Verpflichtung nur unter ganz besonderen
Voraussetzungen befreit. Dabei kommt es u.a. darauf an, in wie weit der Journalist seine Quellen als vertrauenswürdig ansehen konnte, ob er ausreichend recherchiert, angemessen und ausgewogen berichtet und dem Betroffenen
Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat. Wie die deutschen Gerichte festgestellt haben, hat die Beschwerdeführerin die ihr zugetragenen Informationen nicht hinreichend geprüft. Die von ihr veröffentlichten Behauptungen waren
schwerwiegend. Dabei hat sie sich lediglich auf die Äußerungen des Aktionärs und ehemaligen Mitarbeiters von AUDI gestützt. Der konnte angesichts seiner Stellung nicht als so vertrauenswürdig angesehen werden, dass sich eine
weitere Prüfung erübrigte. Die Beschwerdeführerin hat aber lediglich den Kontakt zum AUDI-Vorstand gesucht. Dass die umstrittenen Behauptungen als Äußerungen Dritter gekennzeichnet waren, genügt grundsätzlich nicht, die
Beschwerdeführerin von ihren "Pflichten und (ihrer) Verantwortung" (Art. 10 II EMRK) zu entbinden, wozu die Verpflichtung gehört, Tatsachenbehauptungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Der Autor des umstrittenen
Artikels äußert keinerlei Zweifel an den mitgeteilten Informationen und liefert auch keine eigenen Gründe oder Tatsachen, welche die mitgeteilten Behauptungen bestätigt hätten. Im Ergebnis sind sie, wie die deutschen Gerichte zu
Recht festgestellt haben, nicht in angemessen abgewogener Form dargelegt worden. Die deutschen Gerichte haben erkannt, dass es im vorliegenden Fall um einen Konflikt zwischen dem Recht, Informationen weiterzugeben, und dem
Schutz des guten Rufs und der Rechte anderer gegangen ist. Den haben sie durch Abwägung der maßgeblichen Interessen gelöst. Dabei war die von ihnen getroffene Maßnahme - Verurteilung zur Unterlassung, kein Strafverfahren,
keine Verurteilung zu Schadensersatz - verhältnismäßig zu dem verfolgten berechtigten Ziel. Ihre Gründe waren "stichhaltig und ausreichend" i.S. der Rechtsprechung des Gerichtshofs, und damit war der Eingriff in das Recht der
Beschwerdeführerin nach Art. 10 I EMRK auch "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" (Art. 10 II EMRK). Der Gerichtshof entscheidet daher (mit Mehrheit), dass die Beschwerde offensichtlich unbegründet und als
unzulässig zurückzuweisen ist (EGMR, Entscheidung vom 04.05.2010 - 38059/07 zu EMRK Art. 10, 35 III, IV, BeckRS 2011, 19781).
***
Ein Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung (Art. 10 I EMRK) ist nur gerechtfertigt, wenn er gesetzlich vorgesehen ist, ein berechtigtes Ziel verfolgt und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war (Art. 10 II EMRK).
Notwendig in diesem Sinne ist ein Eingriff, wenn er einem dringenden sozialen Bedürfnis entsprach. Bei Beurteilung dieser Frage haben die Vertragsstaaten einen gewissen Ermessensspielraum. Der Gerichtshof entscheidet
abschließend darüber, ob die von den Behörden und Gerichten eines Vertragsstaates zur Rechtfertigung des Eingriffs angeführten Gründe stichhaltig und ausreichend sind und ob der Eingriff verhältnismäßig zu dem verfolgten
berechtigten Ziel war. Die Freiheit der Meinungsäußerung ist für die demokratische Gesellschaft von grundlegender Bedeutung, insbesondere für die politische Auseinandersetzung, die im Mittelpunkt der demokratischen Gesellschaft
steht. Sie darf daher nicht ohne zwingende Gründe eingeschränkt werden. Sie gilt im Übrigen nicht nur für Informationen und Ideen, die günstig aufgenommen oder als unschädlich oder unwichtig angesehen werden, sondern auch für
Meinungsäußerungen, die verletzen, schockieren oder beunruhigen. Ganz allgemein darf jeder, der sich an einer öffentlichen Diskussion von allgemeinem Interesse beteiligt, bis zu einem gewissen Grad übertreiben und auch
provozieren, also in seinen Äußerungen über das hinausgehen, was sonst angemessen ist. Gewisse Grenzen dürfen allerdings nicht überschritten werden, insbesondere hinsichtlich des Schutzes des guten Rufs und der Rechte anderer.
So ist es von größter Bedeutung, gegen Rassendiskriminierung in all ihren Formen und Äußerungen anzugehen.. Die Äußerungen des Beschwerdeführers waren geeignet, ein negatives und alarmierendes Bild der muslimischen
Gemeinschaft in Frankreich zu vermitteln und bei den von ihm angesprochenen Franzosen Ablehnung und Feindschaft gegenüber den Muslimen zu bewirken. Die Gründe für seine Verurteilung waren im Ergebnis stichhaltig und
ausreichend. Trotz der erheblichen Höhe der gegen ihn verhängten Geldstrafe war die Verurteilung auch verhältnismäßig. Seine Beschwerde ist daher offensichtlich unbegründet und als unzulässig zurückzuweisen (Art. 35 III, IV
EMRK; EGMR, Entscheidung vom 20.04.2010 - 18788/09 zu EMRK Art. 6 I, 10, 35 III, IV, BeckRS 2011, 11836).
***
Bei einem Missverhältnis zwischen der streitigen Summe (hier: 7,99 Euro) und der ausgiebigen Inanspruchnahme staatlicher Gerichte und des Gerichtshofs kann eine Beschwerde missbräuchlich i.S. von Art.35 III EMRK sein. Der
Gerichtshof berücksichtigt dabei die finanzielle Lage des Beschwerdeführers, hier eines Beamten mit monatlichen Bezügen in Höhe von 4500 Euro. Der Gerichtshof weist auf seine Überlastung hin und darauf, dass viele Beschwerden
über schwerwiegende Menschenrechtsfragen bei ihm anhängig sind. Verfahren wie im vorliegenden Fall tragen auch zur Überlastung staatlicher Gerichte bei und damit zu langer Verfahrensdauer (EGMR, Entscheidung vom
19.01.2010 - 22051/07, NJW 2010, 1581).
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Art. 36 EMRK Beteiligung Dritter
(1) In allen bei einer Kammer oder der Großen Kammer anhängigen Rechtssachen ist die Hohe Vertragspartei, deren Staatsangehörigkeit der Beschwerdeführer besitzt, berechtigt, schriftliche Stellungnahmen abzugeben und an den
mündlichen Verhandlungen teilzunehmen.
(2) Im Interesse der Rechtspflege kann der Präsident des Gerichtshofs jeder Hohen Vertragspartei, die in dem Verfahren nicht Partei ist, oder jeder betroffenen Person, die nicht Beschwerdeführer ist, Gelegenheit geben, schriftlich
Stellung zu nehmen oder an den mündlichen Verhandlungen teilzunehmen.
Leitsätze/Entscheidungen:
Das Recht einer Person zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt ihr Leben beendet sein soll, ist Teil des Rechts auf Achtung des Privatlebens i. S. von Art. 8 EMRK, vorausgesetzt, sie kann ihren Willen frei bilden und
entsprechend handeln. Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) verpflichtet Behörden, eine Person an einer Selbsttötung zu hindern, wenn sie die Entscheidung dazu nicht frei und in Kenntnis aller Umstände getroffen hat. Es gibt unter den
Mitgliedsstaaten des Europarats keinen Konsens über das Recht einer Person zu entscheiden, wann und auf welche Weise sie ihr Leben beenden möchte. Deswegen haben die Staaten insoweit einen erheblichen Ermessensspielraum.
Die mit einem Rechtssystem, das die Beihilfe zum Selbstmord erleichtert, verbundene Missbrauchsgefahr darf nicht unterschätzt werden. Eine Verschreibungspflicht für tödliche Substanzen dient dem Schutz der Gesamtheit, der
öffentlichen Sicherheit und der Verhütung von Straftaten. Selbst wenn eine Verpflichtung der Staaten bestünde, Maßnahmen zur Erleichterung einer Selbsttötung zu treffen, hätten die Schweizer Behörden im vorliegenden Fall
angesichts des ihnen zustehenden Ermessensspielraums nicht gegen diese Pflicht verstoßen (EGMR, Urteil vom 20.01.2011 - 31322/07 zu EMRK Art. 2, 8 II, 36 II, BeckRS 2011, 80449):
„... Am 18.07.2007 hat der Bf. beim Gerichtshof Beschwerde eingelegt und Verletzung seines Rechts aus Art. 8 EMRK gerügt, über den Zeitpunkt und die Art seines Todes selbst zu entscheiden. Der Präsident hat der
Sterbehilfe-Organisation Dignitas Gelegenheit gegeben, schriftlich Stellung zu nehmen (Art. 36 II EMRK). Am 20.01.2011 hat der Gerichtshof (I. Sektion) einstimmig festgestellt, dass Art. 8 EMRK nicht verletzt ist. ..."
***
Art. 37 EMRK Streichung von Beschwerden
(1) Der Gerichtshof kann jederzeit während des Verfahrens entscheiden, eine Beschwerde in seinem Register zu streichen, wenn die Umstände Grund zur Annahme geben, dass
a) der Beschwerdeführer seiner Beschwerde nicht weiterzuverfolgen beabsichtigt,
b) die Streitigkeit einer Lösung zugeführt worden ist oder
c) eine weitere Prüfung der Beschwerde aus anderen vom Gerichtshof festgestellten Gründen nicht gerechtfertigt ist.
Der Gerichtshof setzt jedoch die Prüfung der Beschwerde fort, wenn die Achtung der Menschenrechte, wie sie in dieser Konvention und den Protokollen dazu anerkannt sind, dies erfordert.
(2) Der Gerichtshof kann die Wiedereintragung einer Beschwerde in sein Register anordnen, wenn er dies den Umständen nach für gerechtfertigt hält.
Leitsätze/Entscheidungen:
Eine Beschwerde kann nach Art. 37 I lit. b EMRK im Register gestrichen werden, wenn der vom Beschwerdeführer gerügte Umstand nicht mehr besteht und die Wirkungen einer möglichen Verletzung wieder gutgemacht worden
sind. Seit Verabschiedung der Konvention hat es bei der Institution der Ehe erhebliche soziale Veränderungen gegeben. Es gibt aber keinen europäischen Konsens über die Zulässigkeit einer Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen
Partnern, die zur Zeit von nicht mehr als sechs der 47 Vertragsstaaten erlaubt wird. Art. 9 der Europäischen Grundrechtecharta (GR-Charta, Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen) hat bewusst abweichend von Art.
12 EMRK (Recht auf Eheschließung) den Hinweis auf Männer und Frauen weggelassen. Art. 9 GR-Charta verweist aber auf die einzelstaatlichen Gesetze und überlässt ihnen die Entscheidung, ob eine Ehe zwischen Partnern
desselben Geschlechts zugelassen werden soll. Dabei wird nicht verlangt, dass die staatliche Gesetzgebung solche Ehen erleichtert. Unter Berücksichtigung von Art. 9 GR-Charta nimmt der Gerichtshof nicht mehr an, dass das in Art.
12 EMRK garantierte Recht, eine Ehe einzugehen, unter allen Umständen auf eine Ehe zwischen zwei Personen unterschiedlichen Geschlechts beschränkt ist. Die Vorschrift verpflichtet die Staaten aber nicht dazu,
gleichgeschlechtliche Ehen zu ermöglichen. Die gleichgeschlechtliche Partnerschaft eines Paares fällt unter den Begriff „Privatleben" i. S. von Art. 8 EMRK (Schutz des Privat- und Familienlebens). Unter Aufgabe seiner bisherigen
Rechtsprechung nimmt der Gerichtshof an, dass die Beziehung der Bf., die als gleichgeschlechtliches Paar in einer stabilen de facto-Partnerschaft zusammenleben, auch unter den Begriff des „Familienlebens" i. S. von Art. 8 EMRK
fällt. Die Staaten haben einen Ermessensspielraum, welche Rechte sie einem gleichgeschlechtlichen Paar in einer eingetragenen Partnerschaft einräumen (EGMR, Urteil vom 24.06.2010 - 30141/04 zu EMRK Art. 8, 12, 14, 34, 35, 37;
Zusatzprotokoll zur EMRK Art. 1, BeckRS 2011, 01470).
***
Unter bestimmten Umständen kann es angemessen sein, eine Beschwerde ganz oder teilweise nach Art. 37 Abs. 1 EMRK auf der Grundlage einer einseitigen Erklärung durch den beklagten Staat im Register zu streichen. Bei dem
erhobenen Vorwurf des Menschenhandels ist eine Streichung nicht angemessen, da es nur wenig Rechtsprechung zur Auslegung und Anwendung von Art. 4 EMRK (Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit) auf Fälle von
Menschenhandel gibt. Art. 2 EMRK verpflichtet Konventionsstaaten nicht, in ihrem Strafrecht eine weltweite Zuständigkeit ihrer Gerichte für Fälle vorzusehen, die den Tod eines ihrer Staatsangehörigen betreffen. Menschenhandel ist
eine Bedrohung für Menschenwürde und Grundfreiheiten seiner Opfer und mit der demokratischen Gesellschaft und den Grundwerten der Konvention unvereinbar. Es ist nicht erforderlich, zu unterscheiden, ob es sich bei
Menschenhandel um "Sklaverei", "Leibeigenschaft" oder "Zwangsarbeit" handelt. Er fällt jedenfalls in den Anwendungsbereich von Art. 4 EMRK. Wenn Behörden von Umständen wussten oder hätten wissen müssen, die den
Verdacht begründen, dass eine bestimmte Person in unmittelbarer Gefahr war oder ist, Opfer von Menschenhandel oder sexueller Ausbeutung zu sein, so ist Art. 4 EMRK verletzt, wenn die Behörden es versäumen, ihnen mögliche
angemessene Maßnahmen zu treffen, um die Person aus dieser Lage und dieser Gefahr zu befreien. Wie aus Art. 2 und 3 EMRK ergibt sich auch aus Art. 4 EMRK die verfahrensrechtliche Pflicht der Konventionsstaaten, Tatumstände
möglichen Menschenhandels zu ermitteln und bei der Strafverfolgung mit den zuständigen Behörden anderer beteiligter Staaten zusammenzuarbeiten.(EGMR, Urteil vom 07.01.2010 - 25965/04 zu Art 2, 3, 4, 5, 35, 37, 41 - juris).
Art. 38 EMRK Prüfung der Rechtssache und gütliche Einigung
(1) Erklärt der Gerichtshof die Beschwerde für zulässig, so
a) setzt er mit den Vertretern der Parteien die Prüfung der Rechtssache fort und nimmt, falls erforderlich, Ermittlungen vor; die betreffenden Staaten haben alle zur wirksamen Durchführung der Ermittlungen erforderlichen
Erleichterungen zu gewähren;
b) hält er sich zur Verfügung der Parteien mit dem Ziel, eine gütliche Einigung auf der Grundlage der Achtung der Menschenrechte, wie sie in dieser Konvention und den Protokollen dazu anerkannt sind, zu erreichen.
(2) Das Verfahren nach Absatz 1 Buchstabe b ist vertraulich.
Leitsätze/Entscheidungen:
Der im blockierten Wagen sitzende Polizist konnte berechtigterweise annehmen, dass sein Leben durch Angriffe von Demonstranten gefährdet war. Dass er nach einer Warnung einen ungezielten Schuss abgegeben hat, der einen
Demonstranten tödlich verletzt hat, war nach Art. 2 II lit. a EMRK (Recht auf Leben) gerechtfertigt, weil die Gewaltanwendung unbedingt erforderlich war, um sich und seine Kollegen gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen. Art.
2 EMRK verpflichtet die Staaten nicht nur, absichtliche ungerechtfertigte Tötungen zu unterlassen, sondern auch dazu, die notwendigen Maßnahmen zum Schutz des Lebens der Personen unter ihrer Hoheitsgewalt zu treffen. Sie
müssen einen rechtlichen und verwaltungsmäßigen Rahmen schaffen, der die Voraussetzungen begrenzt, unter denen Polizisten Gewalt anwenden und von der Schusswaffe Gebrauch machen dürfen und dabei angemessene Garantien
gegen Willkür und Missbrauch vorsieht. Die italienischen Behörden haben alles getan, was vernünftigerweise von ihnen erwartet werden konnte, um den Schutz des Lebens bei den Polizeioperationen, bei denen die Gefahr tödlicher
Gewaltanwendung bestand, zu gewährleisten. Deswegen ist Art. 2 EMRK auch nicht bei Organisation und Planung dieser Operation verletzt. Italien hat weiter die sich aus Art. 2 EMRK ergebene Pflicht, beim Tod einer Person
wirksame Ermittlungen anzustellen, nicht verletzt. Deswegen ist gegen diese Vorschrift auch nicht in ihrem verfahrensrechtlichen Aspekt verstoßen worden (EGMR, Urteil vom 24.03.2011 - 23458/02 zu Art. 2, 3, 6, 13, 38, BeckRS
2011, 21463).
Art. 39 EMRK Gütliche Einigung
Im Fall einer gütlichen Einigung streicht der Gerichtshof durch eine Entscheidung, die sich auf eine kurze Angabe des Sachverhalts und der erzielten Lösung beschränkt, die Rechtssache in seinem Register.
Art. 40 EMRK Öffentliche Verhandlung und Akteneinsicht
(1) Die Verhandlung ist öffentlich, soweit nicht der Gerichtshof aufgrund besonderer Umstände anders entscheidet.
(2) Die beim Kanzler verwahrten Schriftstücke sind der Öffentlichkeit zugänglich, soweit nicht der Präsident des Gerichtshofs anders entscheidet.
Art. 41 EMRK Gerechte Entschädigung
Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser
Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.
Leitsätze/Entscheidungen:
„... VERFAHREN UND SACHVERHALT
1. Der Rechtssache liegt eine gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtete Individualbeschwerde (Nr. 1620/03) zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, Herr S. („der Beschwerdeführer"), am 11. Januar 2003 nach Artikel
34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention") beim Gerichtshof eingereicht hat.
2. In dem Urteil vom 23. September 2010 („das Urteil in der Hauptsache"), das am 23. Dezember 2010 endgültig wurde, war der Gerichtshof der Ansicht, dass die Entscheidungen der deutschen Arbeitsgerichte, mit denen die
Kündigung des Beschwerdeführers durch die Katholische Kirche bestätigt wurde, Artikel 8 der Konvention verletzt haben (S. ./. Deutschland, Nr. 1620/03, CEDH 2010). Er vertrat insbesondere die Auffassung, die deutschen
Arbeitsgerichte hätten nicht hinlänglich dargelegt, warum den Folgerungen des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf zufolge die Interessen der katholischen Kirchengemeinde diejenigen des Beschwerdeführers bei weitem übertroffen
haben und dass sie die Rechte des Beschwerdeführers und diejenigen des kirchlichen Arbeitgebers nicht in einer Weise abgewogen hätten, die in Einklang mit der Konvention steht. Unter Berücksichtigung der besonderen Umstände
der Sache hat er gefolgert, dass der deutsche Staat dem Beschwerdeführer demnach nicht den notwendigen Schutz gewährt hat und dass somit Artikel 8 der Konvention verletzt worden ist (ibidem, Rdnrn. 74-75).
3. Unter Berufung auf Artikel 41 der Konvention forderte der Beschwerdeführer eine gerechte Entschädigung in Höhe von 323.741,45 Euro (EUR) als materiellen Schaden bis zum 31. Dezember 2008, von 30.000 EUR als
immateriellen Schaden, den er erlitten habe, und von 3.565,38 EUR für Kosten und Auslagen.
4. Da die Frage der Anwendung von Artikel 41 der Konvention noch nicht spruchreif war, hat der Gerichtshof sich diese Frage vorbehalten und die Regierung sowie den Beschwerdeführer aufgefordert, innerhalb von drei Monaten ab
der Urteilsverkündung ihre Stellungnahmen zu dieser Frage vorzulegen und ihn von jeder Einigung, die sie möglicherweise erzielen, zu unterrichten (ibidem, Rdnr. 81 und Ziffer 3 des Tenors).
5. Sowohl der Beschwerdeführer als auch die Regierung haben schriftliche Stellungnahmen vorgelegt. Am 30. November 2011 hat der Kammervorsitzende gemäß Artikel 4 (sic) Absatz 2 Ziffer 2 Buchstabe a) der Verfahrensordnung
des Gerichtshofs die Parteien aufgefordert, weitere schriftliche Stellungnahmen zum Fortgang des Verfahrens betreffend die zweite Kündigung des Beschwerdeführers durch den kirchlichen Arbeitgeber (siehe Randnummer 29 des
Urteils in der Hauptsache) und in Bezug auf die Restitutionsklage betreffend die streitgegenständliche Kündigung abzugeben, die der Beschwerdeführer nach dem Urteil des Gerichtshofs in der Hauptsache erhoben hatte. Mit
Schreiben vom 8. und 12. Dezember 2011 haben die Parteien diese Auskünfte erteilt.
6. Aus diesen Informationen geht hervor, dass der Fortgang des internen Verfahrens seit dem Urteil in der Hauptsache sich wie folgt darstellt:
Mit Urteil vom 4. Mai 2011 verwarf das Landesarbeitsgericht Düsseldorf, das der Beschwerdeführer kurz nach dem Urteil des Gerichtshofs angerufen hatte, die Restitutionsklage als unzulässig. Es hob hervor, dass § 580 Nr. 8 der
Zivilprozessordnung die Wiederaufnahme eines Verfahrens nach einem Urteil des Gerichtshofs, mit dem eine Verletzung der Konvention in Bezug auf dieses Verfahren festgestellt wird, grundsätzlich gestattet. Gemäß § 35 des
Einführungsgesetzes zur Zivilprozessordnung gelte § 580 Nr. 8 der Zivilprozessordnung, der eingefügt wurde, um der Empfehlung des Ministerkomitees des Europarats vom 19. Januar 2000 (Nr. R (2000) 2) Folge zu leisten, aber nur
für Verfahren, die nach seinem Inkrafttreten am 31. Dezember 2006 abgeschlossen worden sind. Das Landesarbeitsgericht hob in diesem Zusammenhang hervor, das Verfahren des Beschwerdeführers sei mit Beschluss des
Bundesarbeitsgerichts vom 29. Mai 2000, mit dem die Revision nicht zugelassen wurde, beendet worden (siehe Rdnr. 26 des Urteils in der Hauptsache). Es verdeutlichte, der Klage des Beschwerdeführers stünde jedenfalls § 586
Absatz 2 Satz 2 der Zivilprozessordnung entgegen, wonach eine Restitutionsklage nur innerhalb einer Frist von fünf Jahren ab dem Tag der Rechtskraft des entsprechenden Urteils erhoben werden kann. Es fügte hinzu, dass dem
Gesetzgeber in Deutschland bei seiner Entscheidung, Ziffer 8 des § 580 in die Zivilprozessordnung einzufügen, zwar bekannt war, dass die Rechtsuchenden die Möglichkeit der Anrufung des Gerichtshofs haben und wie lange die
dortigen Verfahren dauern, er gleichwohl die Frist nach § 586 Absatz 2 der Zivilprozessordnung nicht geändert hat. Das Landesarbeitsgericht hat die Revision zugelassen. Die Sache ist gegenwärtig vor dem Bundesarbeitsgericht anhängig.
Der Beschwerdeführer hatte zuvor am 15. Oktober 2010 das Landesarbeitsgericht ersucht, das Verfahren betreffend die zweite Kündigung wieder aufzunehmen, das in Erwartung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in
dem Verfahren zur ersten Kündigung am 17. August 2000 ausgesetzt worden war. Am 26. Januar 2011 unterrichtete das Landesarbeitsgericht die Parteien davon, dass die Prüfung der ersten Kündigung eine Vorbedingung für die
Prüfung der zweiten Kündigung sei, die drei Monate nach der ersten Kündigung ausgesprochen worden ist und dass demnach eine Verbindung der beiden Verfahren vom Gericht nicht beabsichtigt sei. Am 26. Oktober 2011 erachtete
es dieses Verfahren als erledigt, weil dieses seitens des Beschwerdeführers mehr als sechs Monate nicht betrieben worden ist.
RECHTLCHE WÜRDIGUNG
7. Artikel 41 der Konvention lautet wie folgt:
„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser
Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist."
A. Schaden
1. Die Argumente der Parteien
a) Der Beschwerdeführer
8. Der Beschwerdeführer fordert 644.099,27 EUR wegen des erlittenen materiellen Schadens. Dieser Betrag setzt sich wie folgt zusammen: 233.225,31 EUR wegen des vergangenen Dienstausfalls für den Zeitraum vom 1. Juli 1998
bis zum 30. Juni 2011, 202.711,82 EUR wegen des erwarteten zukünftigen Verdienstausfalls für den Zeitraum vom 1. Juli 2011 bis zum 30. November 2022 und 208.153,13 EUR wegen der erwarteten Rentenminderung. Er
verdeutlicht, dass diese Beträge sich abzüglich des Arbeitslosengeldes und des Gehaltes zusammensetzen, das er ab dem 1. September 2002 aus seiner Teilzeittätigkeit (50%) bei einer evangelischen Kirchengemeinde in Essen
verdiente (siehe Randnummer 28 des Urteils in der Hauptsache). Bei der Bemessung der konkretisierten Verluste ist der Beschwerdeführer von der Annahme ausgegangen, dass er bis zu seinem Renteneintritt im Dezember 2022
weiterhin als Organist in der Kirchengemeinde St. Lambertus angestellt gewesen wäre.
9. Der Beschwerdeführer unterstreicht zunächst, ihm stehe nach innerstaatlichem Recht kein Mittel zur Verfügung, um eine Wiedergutmachung wegen des erlittenen Schadens zu erlangen, weil die Zivilprozessordnung die
Wiederaufnahme des Kündigungsverfahrens gemäß §§ 580 Nr. 8 und 586 Absatz 2 der Zivilprozessordnung und § 35 des Einführungsgesetzes zur Zivilprozessordnung nicht gestatte. Er behauptet im Übrigen, es könne von ihm nicht
verlangt werden, ein neues Verfahren einzuleiten, um in den Genuss eines Ausgleichs zu gelangen (siehe Barberà, Messegué und Jabardo ./. Spanien (Artikel 50), 13. Juni 1994, Rdnr. 17, Serie A Bd. 285-C).
10. Der Beschwerdeführer behauptet, dass zwischen seiner Kündigung und den bezifferten Verlusten ein Kausalzusammenhang bestehe. Seine Situation sei mit derjenigen der Beschwerdeführer in der genannten Rechtssache Barberà,
Messegué und Jabardo vergleichbar. Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, dass, sollte der Staat seiner Pflicht nicht genügen, im Falle seiner Kündigung einen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, weil es an einer Abwägung der
in Rede stehenden Interessen mangelt, es sich hierbei um einen unmittelbaren staatlichen Akt handele, der den geltend gemachten materiellen Nachteil verursacht hat. Hätten die Arbeitsgerichte seine Kündigung nicht bestätigt, wäre er
seines Erachtens mit hinlänglicher Sicherheit im Sinne der Grundsätze für eine gerechte Entschädigung weiterhin als Organist in der Kirchengemeinde St. Lambertus tätig gewesen. In diesem Zusammenhang legt er dar, dass er kurz
nach seiner ersten Kündigung den Status eines unkündbaren Beschäftigten erlangt hätte, dass er angesichts seiner speziellen Ausbildung und der Tatsache, dass die Orgel von St. Lambertus nach seinen Plänen konzipiert wurde, ein
großes persönliches Interesse an seiner Weiterbeschäftigung hatte und dass im Übrigen die lebenslange Beschäftigung auf ein und derselben Stelle bei Organisten dem Regelfall entspreche. Ihm zufolge würde sein neuer Arbeitsplatz
(ab dem 1. September 2002) in einer evangelischen Kirchengemeinde, der ca. drei Kilometer von seiner früheren Anstellung entfernt liegt, diese Feststellung bekräftigen. Er fügt hinzu, dass er im Gegensatz zu den Betroffenen in der
Rechtssache Smith und Grady ./. Vereinigtes Königreich (gerechte Entschädigung) Nr. 33985/96 und Nr. 33986/96, CEDH 2000-IX) größere Schwierigkeiten habe, einen neuen Arbeitsplatz wegen seiner speziellen Ausbildung zu
finden, und dass es ihm wegen der Vorschriften über die Beschäftigung nicht evangelischer Personen nicht möglich war, eine Teilzeitbeschäftigung mit 75% in der Evangelischen Kirche anzunehmen (siehe Randnummer 39 des
Urteils in der Hauptsache).
11. Was den immateriellen Schaden anbelangt, fordert der Beschwerdeführer 500 EUR für die Dauer des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht und 34.000 EUR, um eine Reihe von Folgeerscheinungen im Anschluss an seine
Kündigung zu beheben. Diesbezüglich behauptet der Beschwerdeführer, dass er durch das öffentliche Verfahren vor den Arbeitsgerichten, insbesondere im Zuge der Beweisaufnahme und bei den Anhörungen der Zeugen, bloßgestellt
worden sei, dass er nicht nur seine Arbeitsstelle verloren habe, sondern auch die Möglichkeiten, sich künstlerisch auszudrücken und die von ihm mit gestaltete Orgel zu bedienen, dass seine Freundschaften und familiären Beziehungen
zerbrochen seien, öffentlich Klage gegen ihn wegen Betrugs erhoben worden sei, dass er seinen Lebensstandard drastisch zurückschrauben musste und nicht mehr in der Lage sei, seinen Kindern Unterhalt zu zahlen und ihnen das
Erlernen eines zweiten Instruments zu ermöglichen.
b) Die Regierung
12. Die Regierung verweist auf den fehlenden Kausalzusammenhang zwischen der vom Gerichtshof festgestellten Verletzung und dem vom Beschwerdeführer geltend gemachten materiellen Schaden. Sie behauptet eingangs, der
vorliegende Fall sei eindeutig von dem Urteil in der vorgenannten Rechtssache Barberà, Messegué und Jabardo zu unterscheiden, in dem die Betroffenen Einkommensverluste wegen ihrer Inhaftierung erlitten haben, die im Anschluss
an ein Strafverfahren angeordnet worden ist, das mit Artikel 6 der Konvention nicht in Einklang stand. Deren Inhaftierung erweise sich nämlich als ein unmittelbarer staatlicher Eingriff in das Recht der Betroffenen auf Freiheit,
wohingegen im vorliegenden Fall ein privater Arbeitgeber die Kündigung ausgesprochen hat und der Beschwerdeführer deswegen die Arbeitsgerichte anrufen konnte.
13. Die Regierung behauptet sodann, der Gerichtshof habe sich in seinem Urteil in der Hauptsache darauf beschränkt, die unzureichende Abwägung konkurrierender Rechte zu beanstanden, weil die deutschen Arbeitsgerichte nicht
nachgewiesen hätten, warum die Interessen der Kirchengemeinde diejenigen des Beschwerdeführers bei weitem übertrafen. Ihr zufolge gäbe es aber keinen Hinweis darauf, dass das Verfahren zu Gunsten des Beschwerdeführers
ausgefallen wäre, wenn die Arbeitsgerichte eine der Rechtsprechung des Gerichtshofs genügende Interessenabwägung vorgenommen hätten. Ihres Erachtens könne über die Behauptungen des Beschwerdeführers hierzu nur spekuliert
werden. Beim Beschwerdeführer könne in der Tat nicht davon ausgegangen werden, dass er sich in einer Lage befand, in der die Abwägung der Arbeitsgerichte zu seinen Gunsten ausgefallen wäre. Unter Bezugnahme auf Urteile, in
denen der Gerichtshof der Ansicht war, dass die Feststellung der Verletzung eine ausreichende gerechte Entschädigung darstellen würde (z.B. Informationsverein Lentia u.a. ./. Österreich, 24. November 1993, Serie A Bd. 276), folgert
die Regierung, der Beschwerdeführer sei nicht berechtigt, die Erstattung des Verdienstausfalles zu fordern und habe allenfalls Anspruch auf Bruchteile der geforderten Summen.
14. Die Regierung ist ferner der Ansicht, es sei nicht erwiesen, dass der Beschwerdeführer bis zu seinem Renteneintritt als Organist in der Kirchengemeinde St. Lambertus tätig geblieben wäre. Auch wenn zu bedenken sei, dass der
Beschwerdeführer bei seiner Anstellung möglicherweise den Plan hatte, dieses Amt sein ganzes Berufsleben über auszufüllen, erinnert die Regierung daran, dass solche Lebenspläne unsicher und mit Unwägbarkeiten verbunden und
demnach nicht berechenbar sind, wie die Trennung von seiner ersten Frau und die Beziehung zu seiner neuen Frau unter Beweis stellen. Die Regierung vertritt die Auffassung, dass selbst wenn die Kündigung sicherlich ein schwerer
Schicksalsschlag für den Beschwerdeführer gewesen ist, es nicht Aufgabe des Staates ist, diesen vor solchen Lebensrisiken wie dem Verlust des Arbeitsplatzes zu bewahren oder ihn bis ans Lebensende zu alimentieren. Der
Beschwerdeführer trage Eigenverantwortung für sein Leben und habe im Übrigen seinen Beruf damals gewählt, obwohl er von den strengen Moralvorstellungen der Katholischen Kirche wusste und die begrenzten Möglichkeiten
kannte, wegen seiner speziellen Ausbildung anderswo beschäftigt werden zu können. Die Regierung behauptet ferner, der Beschwerdeführer sei verpflichtet gewesen, den etwaigen materiellen Schaden bedingt durch seine Kündigung
zu begrenzen und sich stärker zu bemühen, eine seiner Ausbildung entsprechende (zusätzliche) Beschäftigung zu finden, wie Musiklehrer in einer Schule oder auf privater Ebene oder eine Tätigkeit zu übernehmen, die nicht auf seiner
Ausbildung aufbaut.
15. Die Regierung legt schließlich dar, die Höhe des Schadens könne nicht, wie der Beschwerdeführer dies getan hat, nach innerstaatlichem Recht bemessen werden, sondern auf der Grundlage der vom Gerichtshof zu Artikel 41 der
Konvention aufgestellten Kriterien. In diesem Zusammenhang verweist sie auf die Beträge, die vom Gerichtshof in anderen Fällen zugebilligt wurden und die in diesem Bereich ein Bild der Größenordnung geben würden, wobei sie
insbesondere unterstreicht, dass es bei diesen Rechtssachen um Kündigungen durch den Staat (Smith und Grady a.a.O.) oder um solche ging, die von privaten Arbeitgebern in Anwendung eines Gesetzes mit Vorschriften zur Regelung
dieser Beschäftigung ausgesprochen wurden (Rainys und Gasparavic(ius ./. Litauen (Nr. 70665/01 und 74345/01, 7. April 2005).
16. Was den immateriellen Schaden anbelangt, so bestreitet die Regierung zunächst die geforderte Summe wegen der Dauer des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht, die dem Urteil in der Hauptsache nicht zu Grunde lag
und folglich nicht berücksichtigt werden könne. Bezüglich der vom Beschwerdeführer geltend gemachten Folgen der Kündigung ist sie der Ansicht, dass keine dieser Folgen einen Kausalzusammenhang mit der vom Gerichtshof
festgestellten Verletzung aufweist. Auch hier dürften die Rechtssachen Smith and Grady a.a.O., Lustig-Prean und Beckett ./. Vereinigtes Königreich (gerechte Entschädigung), Nr. 31417/96 und Nr. 32377/96, 25. Juli 2000), Perkins
und R. ./. Vereinigtes Königreich (Nr. 43208/98 und Nr. 44875/98, 22. Oktober 2002), Beck u.a. ./. Vereinigtes Königreich (Nr. 48535/99, Nr. 48536/99 und Nr. 48537/99, 22. Oktober 2002) und Rainys und Gasparavic(ius a.a.O.
nützlich sein, um ein Bild von der Größenordnung der zuzubilligenden Beträge zu geben.
2. Die Würdigung des Gerichtshofs
a) Behebung der Verletzung auf innerstaatlicher Ebene
17. Der Gerichtshof erinnert zunächst daran, dass, sollte ein Einzelner Opfer eines Verfahrens geworden sein, in dem gegen die Erfordernisse nach Artikel 6 der Konvention verstoßen wurde, ein neues Verfahren oder eine
Wiederaufnahme des Verfahrens auf Antrag des Betroffenen grundsätzlich ein angemessenes Mittel darstellt, um der festgestellten Verletzung abzuhelfen (Sejdovic ./. Italien [GK], Nr. 56581/00, Rdnr. 126, CEDH 2006-II; Cudak ./.
Litauen [GK], Nr. 15869/02, Rdnr. 79, 23. März 2010, und Guadagnino ./. Italien und Frankreich, Nr. 2555/03, Rdnr. 81, 18. Januar 2011). Da der Gerichtshof in der vorliegenden Sache eine Verletzung des Artikels 8 der Konvention
festgestellt hat, weil die Arbeitsgerichte eine unzureichende Abwägung vorgenommen haben (siehe Randnummer 2 oben), ist er der Auffassung, dass angesichts der besonderen Umstände des Falles die Wiederaufnahme des
arbeitsrechtlichen Verfahrens des Beschwerdeführers und eine Prüfung des Falles im Licht der Schlussfolgerungen des Gerichtshofs ebenfalls ein angemessenes Mittel darstellt, um die festgestellte Verletzung zu beheben.
18. Er weist aber darauf hin, dass der deutsche Gesetzgeber im Jahr 2006 die Möglichkeit der Wiederaufnahme eines Zivilverfahrens zwar eingeführt hat, wenn der Gerichtshof nämlich eine Verletzung bezüglich dieses Verfahrens
festgestellt hat, dass die Wiederaufnahme des Verfahrens im vorliegenden Fall jedoch wegen der Fristen, die zu diesem Zweck in der Zivilprozessordnung und im Einführungsgesetz zur Zivilprozessordnung vorgesehen sind, nicht
mehr möglich sein dürfte (siehe Randnummer 6 oben). Die Regierung bestreitet dies im Übrigen nicht. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Landesarbeitsgericht diese Feststellung in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 bestätigt hat. Es
trifft zu, dass das Bundesarbeitsgericht gegenwärtig mit dieser Frage befasst ist und bei Bedarf das Bundesverfassungsgericht anrufen könnte, um zu prüfen, ob diese Fristen mit dem Grundgesetz in Einklang stehen. Diesbezüglich
stellt der Gerichtshof ebenfalls fest, dass seit dem am 27. Oktober 2011 in Kraft getretenen Gesetz vom 21. Oktober 2011 zur Änderung [insbesondere] des § 522 der Zivilprozessordnung die in § 586 Absatz 2 Satz 2 der
Zivilprozessordnung vorgesehene Frist von fünf Jahren gemäß dem neuen Absatz 4 von § 586 der Zivilprozessordnung auf die Restitutionsklage nach § 580 Nr. 8 der Zivilprozessordnung nicht mehr anzuwenden ist. Angesichts des
eindeutigen Wortlauts der einschlägigen Rechtsvorschriften, der Dauer des vorliegenden Verfahrens vor dem Gerichtshof und der Tatsache, dass das Revisionsverfahren vor dem Bundesarbeitsgericht anhängig ist und die Partei, zu
deren Ungunsten die Entscheidung des Obersten Gerichts ergeht, grundsätzlich eine Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht einreichen könnte, erachtet der Gerichtshof sich aber nicht für verpflichtet, die Entscheidung
über die Anträge des Beschwerdeführers auszusetzen und den Ausgang des Revisionsverfahrens vor den innerstaatlichen Instanzen abzuwarten (siehe sinngemäß Barberà, Messegué und Jabardo a.a.O., Rdnr. 17).
b) Der geltend gemachte materielle und immaterielle Schaden
19. Was den geltend gemachten materiellen Schaden anbelangt, so ruft der Gerichtshof in Erinnerung, dass eine gerechte Entschädigung einzig für die Schäden zuzusprechen ist, die durch eine vom Gerichtshof festgestellte
Konventionsverletzung verursacht werden (Motais de Narbonne ./. Frankreich (gerechte Entschädigung), Nr. 48161/99, Rdnr. 19, 27. Mai 2003, Backlung ./. Finnland (gerechte Entschädigung), Nr. 36498/05, Rdnr. 13, 12. Juli 2011).
Angesichts der zahllosen unwägbaren Faktoren, die bei der Bemessung der Schäden bedingt durch Kündigungsfälle eine Rolle spielen, ist ferner festzuhalten, dass der Schaden umso ungewisser wird, je mehr Zeit seit der Kündigung
des Betroffenen verstrichen ist (sinngemäß Smith und Grady a.a.O., Rdnr. 18).
20. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass die Kündigung des Beschwerdeführers - verglichen mit anderen Rechtssachen - keine Maßnahme darstellt, die von einer Behörde getroffen wurde (Smith und Grady a.a.O.; Ivanova ./.
Bulgarien, Nr. 52435/99, 12. April 2007, siehe auch Rainys und Gasparavic(ius a.a.O. sowie Barberà, Messegué und Jabardo a.a.O., und Çak?c? ./. Türkei [GK], Nr. 23657/94, CEDH 1999-IV); die Kündigung wurde vielmehr von
einem privaten Arbeitgeber ausgesprochen, dessen Status als öffentlich-rechtliche Körperschaft nach deutschem Recht in diesem Zusammenhang nicht maßgeblich war (siehe Urteil in der Hauptsache, Rdnr. 54).
21. Der Gerichtshof stellt anschließend fest, dass er in seinem Urteil in der Hauptsache insbesondere hervorgehoben hat, dass die Argumentation der Arbeitsgerichte hinsichtlich der Konsequenzen, die diese aus dem Verhalten des
Beschwerdeführers gezogen haben, einen bündigen Charakter aufwiesen (Rdnr. 66), dass das Landesarbeitsgericht die Frage der Nähe der vom Beschwerdeführer ausgeübten Tätigkeit zum Verkündungsauftrag der Kirche nicht geprüft
hatte (Rdnr. 69), dass bei der Abwägung der konkurrierenden Rechte und Interessen eine eingehendere Prüfung nötig gewesen wäre (ibid.) und dass das Landesarbeitsgericht sich damit begnügt hatte, anzugeben, dass es die
Konsequenzen der gegen den Beschwerdeführer ausgesprochenen Kündigung nicht verkenne, ohne aber auf die Aspekte einzugehen, die es bei der Abwägung der im Spiel befindlichen Interessen in dieser Hinsicht berücksichtigt hatte
(Rdnr. 73). Der Gerichtshof hat gefolgert, die Arbeitsgerichte hätten nicht hinlänglich dargelegt, warum nach den Folgerungen des Landesarbeitsgerichts die Interessen der Kirchengemeinde diejenigen des Beschwerdeführers bei
weitem übertroffen haben, dazu hätten sie die Rechte des Beschwerdeführers und diejenigen des kirchlichen Arbeitgebers nicht in einer Weise abgewogen, die in Einklang mit der Konvention steht (Rdnr. 74).
22. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof gleichzeitig mit dem Urteil in der Hauptsache ein zweites Urteil gefällt hat, das eine mit der vorliegenden Sache vergleichbare Situation behandelt, wobei er
zu der Feststellung gelangte, dass Artikel 8 der Konvention nicht verletzt worden ist (O. ./. Deutschland, Nr. 425/03, Rdnr. 52, 23. September 2010). In dieser Sache hat er insbesondere die Auffassung vertreten, dass die
Arbeitsgerichte alle sachdienlichen Aspekte berücksichtigt und eine eingehende und umfassende Abwägung der in Rede stehenden Interessen vorgenommen hatten (ibid, Rdnr. 49, siehe auch S. ./. Deutschland, Nr. 18136/02, Rdnrn.
45-47, 3. Februar 2011).
23. Der Gerichtshof ist demnach der Ansicht, dass die einzige Grundlage für die Zubilligung einer gerechten Entschädigung in der vorliegenden Sache darin begründet ist, dass die Arbeitsgerichte bei der Abwägung der Interessen des
Beschwerdeführers und derjenigen des kirchlichen Arbeitgebers nicht alle einschlägigen Aspekte berücksichtigt und ihre Argumentation nicht hinlänglich dargelegt haben. Er erinnert daran, dass es nicht seine Aufgabe ist, über die
Schlussfolgerungen zu spekulieren, zu denen die deutschen Arbeitsgerichte gelangt wären, wenn sie eine konventionsgemäße Abwägung vorgenommen hätten. (s. sinngemäß Chevrol ./. Frankreich, Nr. 49636/99, Rdnr. 89, CEDH
2003-III ; Cudak a.a.O., Rdnr. 79). Der Gerichtshof hält es aber nicht für unangemessen, davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer einen Verlust an Chancen erlitten hat, der allerdings schwerlich zu bemessen ist (siehe sinngemäß
Lechner und Hess ./. Österreich, 23. April 1987, Rdnr. 64, Serie A Bd. 118 ; Cudak a.a.O., Rdnr. 79, Guadagnino a.a.O., Rdnr. 82, Sabeh El Leil ./. Frankreich [GK], Nr. 34869/05, Rdnr. 72, 29. Juni 2011). Hinzu kommt ein
immaterieller Schaden, den der Beschwerdeführer unstreitig erlitten hat, dem die Feststellung der Konventionsverletzung im Sinne des Urteils in der Hauptsache jedoch nicht abzuhelfen vermag.
24. Auf einer gerechten Grundlage gemäß Artikel 41 der Konvention billigt der Gerichtshof dem Beschwerdeführer 40.000 EUR unter Verknüpfung aller Schadensgründe zu.
B. Kosten und Auslagen
25. Der Beschwerdeführer verlangt für das innerstaatliche Verfahren 752,36 EUR an Rechtsanwaltsgebühren, die nötig waren, um die Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht einzureichen.
Für das Verfahren vor dem Gerichtshof verlangt er 9.683,60 EUR. Dieser Betrag setzt sich wie folgt zusammen: 876,73 EUR zwecks Einreichens der Beschwerde vor dem Gerichtshof, 1.936,29 EUR für die Übersetzung seiner
Stellungnahmen und 6.870,58 EUR für Rechtsanwaltsgebühren im Hinblick auf die Erstellung des Schriftsatzes vom 17. Februar 2011 zur Frage der gerechten Entschädigung.
26. Die Regierung weist darauf hin, dass die Rechtsanwaltsgebühren für die Erstellung des Schriftsatzes zur Frage der gerechten Entschädigung zu Unrecht auf der Grundlage eines Gegenstandswerts von 682.155,64 EUR berechnet
worden sind, wohingegen die Kosten für die Beschwerdeschrift vom 10. November 2008 auf der Grundlage eines Gegenstandswerts von ca. 15.000 EUR berechnet wurden, trotz der Tatsache, dass der Beschwerdeführer in seinem
Schriftsatz vom 10. November 2008 den Betrag von 323.741 EUR als Schadensersatz gefordert hatte.
27. Der Gerichtshof erinnert daran, dass er gemäß Artikel 41 der Konvention diejenigen Kosten erstattet, bei denen nachgewiesen ist, dass sie tatsächlich angefallen sind und erforderlich waren und einen angemessenen Betrag
darstellen (Smith und Grady a.a.O., Rdnr. 28, und Backlund a.a.O., Rdnr. 18). Angesichts der vorbezeichneten Kriterien und unter Berücksichtigung der dem Gerichtshof vorliegenden Unterlagen erachtet er hier für angemessen, dem
Beschwerdeführer die für das innerstaatliche Verfahren geforderten Kosten zuzubilligen. Bezüglich der für das Verfahren vor dem Gerichtshof spezifizierten Kosten stellt er fest, dass er nur die Erstattung eines Teils der Beträge
gebilligt hat, die der Beschwerdeführer in seiner Stellungnahme vom 17. Februar 2011 als Schadensersatz gefordert hat. Somit hält er für angemessen, dem Beschwerdeführer 7.600 EUR für Kosten und Auslagen unter Einbeziehung
aller Kosten- und Auslagengrundlagen zuzusprechen zuzüglich der Beträge, die als Steuer möglicherweise anfallen.
C. Verzugszinsen
28. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank zuzüglich 3 Prozentpunkte zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Er entscheidet,
a) dass der beschwerdegegnerische Staat dem Beschwerdeführer innerhalb von drei Monaten, nachdem das Urteil gemäß Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig geworden ist, die folgenden Beträge zu zahlen hat:
i) 40.000 EUR (vierzigtausend Euro) wegen des materiellen und immateriellen Schadens zuzüglich eventuell anfallender Steuern;
ii) 7.600 EUR (siebentausendsechshundert Euro) für Kosten und Auslagen zuzüglich der Beträge, die als Steuer möglicherweise bei dem Beschwerdeführer anfallen könnten;
b) dass dieser Betrag nach Ablauf der genannten Frist bis zur Zahlung einfach zu verzinsen ist, und zwar zu einem Satz, der demjenigen der Spitzenrefinanzierungsfazilität der Europäischen Zentralbank entspricht, der in dieser Zeit
Gültigkeit hat, zuzüglich drei Prozentpunkten.
2. Er weist im Übrigen den Antrag auf gerechte Entschädigung zurück.
Ausgefertigt in französischer Sprache und anschließend am 28. Juni 2012 gemäß Artikel 77 Absätze 2 und 3 der Verfahrensordnung schriftlich übermittelt. ..." ( EGMR, Urteil vom 28.06.2012 - 1620/03)
***
„... 4. Der 1946 geborene Beschwerdeführer ist in L. wohnhaft.
5. Am 27. August 2003 lehnte es die HBG Holzberufsgenossenschaft ab, die Atemwegserkrankungen des Beschwerdeführers als Berufskrankheit anzuerkennen.
6. Am 26. September 2003 legte der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer Widerspruch gegen die vorgenannte Entscheidung ein. Der Widerspruch wurde am 23. Dezember 2003 zurückgewiesen.
7. Am 14. Januar 2004 erhob der Beschwerdeführer Klage beim Sozialgericht Cottbus.
8. Am 11. März 2004 übersandte die Beklagte die Klageerwiderung sowie die Leistungsakten.
9. Am 14. Juni 2004 forderte das Sozialgericht u. a. Befundberichte von 19 Ärzten, die der Beschwerdeführer vor dem Verfahren konsultiert hatte, sowie Krankenunterlagen über fünf frühere Krankenhausaufenthalte des
Beschwerdeführers an. Drei Monate später waren alle diese Unterlagen eingegangen, und das Sozialgericht übersandte sie den Parteien.
10. Am 8. November 2004 und 13. Januar 2005 forderte das Sozialgericht den Beschwerdeführer auf, das Klagebegehren zu konkretisieren. Am 7. Februar 2005 trug der Beschwerdeführer vor, dass die Klage darauf gerichtet sei,
feststellen zu lassen, dass er an einer Berufskrankheit leide.
11. Am 2. Mai 2005 beschloss das Sozialgericht, ein erstes Sachverständigengutachten zu 12 konkreten Fragen einzuholen, und benannte einen Sachverständigen (Herrn W. M.). Aufgrund einer Erkrankung sagte der Beschwerdeführer
den ersten, für den 29. Juni 2005 angesetzten Untersuchungstermin ab. Am 10. August 2005 wurde der Beschwerdeführer von dem Sachverständigen untersucht. Am 13. Oktober 2005 erstattete der Sachverständige sein 19-seitiges
Gutachten, in dem er u. a. feststellte, dass ein weiteres Sachverständigengutachten erforderlich sei.
12. Am 23. März 2006 beschloss das Sozialgericht, ein weiteres Sachverständigengutachten zu unterschiedlichen Gesichtspunkten der 12 Fragen einzuholen, und benannte eine Sachverständige (Frau P. H.). Die Sachverständige
erklärte sich bereit, die Begutachtung durchzuführen.
13. Im April 2006 wechselte der Beschwerdeführer seinen Rechtsanwalt.
14. Am 24. Mai 2006 teilte die Sachverständige Frau P. H. dem Sozialgericht mit, dass der Beschwerdeführer zunächst von einer anderen Sachverständigen (Frau U. R.) untersucht werden solle. Am 4. Juli 2006 stellte der
Beschwerdeführer gegen die letztgenannte Sachverständige einen Befangenheitsantrag. Mit Schreiben vom 7. Juli 2006 wies das Sozialgericht diesen Befangenheitsantrag zurück und teilte dem Beschwerdeführer mit, dass es die
Untersuchung für erforderlich halte. Am 19. Oktober 2006 teilte der Beschwerdeführer dem Sozialgericht mit, dass er mitwirkungsbereit sei.
15. Am 7. Februar 2007 erstattete die Sachverständige, Frau U. R., ihr 11-seitiges Gutachten. Am 29. März 2007 übersandte das Sozialgericht der Sachverständigen, Frau P. H., die Akten zwecks Vornahme der erbetenen
Begutachtung. Am 17. April 2007 teilte Frau P. H. dem Sozialgericht mit, dass sie die Begutachtung nicht vornehmen könne.
16. Am 17. August 2007 änderte das Sozialgericht seinen Beschluss vom 23. März 2006 ab und benannte einen anderen Sachverständigen (Herrn D. A.). Am 31. August 2007 teilte Herr D. A. dem Sozialgericht mit, dass er die
Begutachtung nicht zeitnah vornehmen könne.
17. Am 26. September 2007 änderte das Sozialgericht seinen Beschluss vom 23. März 2006 erneut ab und benannte einen anderen Sachverständigen (Herrn Sch.). Am 10. Oktober 2007 wurde dem Sozialgericht mitgeteilt, dass Herr
Sch. im Ruhestand sei.
18. Am 10. Oktober 2007 änderte das Sozialgericht seinen Beschluss vom 23. März 2006 erneut ab und benannte einen anderen Sachverständigen (Herrn V. Z.). Am 5. Dezember 2007 teilte Herr V. Z. dem Sozialgericht mit, dass er
die Begutachtung nicht zeitnah vornehmen könne.
19. Am 11. Dezember 2007 änderte das Sozialgericht seinen Beschluss vom 23. März 2006 erneut ab und benannte einen anderen Sachverständigen (Herrn E. M.). Am 29. Januar 2008 teilte dieser dem Sozialgericht mit, dass er die
Begutachtung nicht vornehmen könne.
20. Am 12. November 2008 erließ das Sozialgericht einen neuen Beschluss zur Einholung eines Sachständigengutachtens und benannte einen Sachverständigen (Herrn H. L.). Am 2. Dezember 2008 wurde dem Sozialgericht
mitgeteilt, dass Herr H. L. im Ruhestand sei.
21. Am 11. Februar 2009 änderte das Sozialgericht seinen Beschluss vom 12. November 2008 ab und benannte einen anderen Sachverständigen (Herrn C. S.). Am 20. Februar 2009 teilte Herr C. S. dem Sozialgericht mit, dass er die
Begutachtung nicht vornehmen könne.
22. Im Februar 2009 wechselte der Beschwerdeführer seinen Rechtsanwalt. Im April 2009 legte der neue Rechtsanwalt das Mandat nieder. Im Juni 2009 nahm eine frühere Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers ihr Mandat
wieder auf.
23. Am 28. Mai 2009 änderte das Sozialgericht seinen Beschluss vom 12. November 2008 erneut ab und benannte einen anderen Sachverständigen (Herrn H. S.). Am 11. Juni 2008 wurde dem Sozialgericht mitgeteilt, dass der
Sachverständige im Ruhestand sei.
24. Am 18. Juni 2009 änderte das Sozialgericht seinen Beschluss vom 12. November 2008 erneut ab und benannte einen anderen Sachverständigen (Herrn H. E.). Am 11. November 2009 legte der Sachverständige sein 13-seitiges
Gutachten vor. Am 18. Januar 2010 ergänzte der Sachverständige sein Gutachten.
25. Am 21. Januar 2010 wurde das Gutachten an die Beteiligten zur Stellungnahme übersandt.
26. Am 25. März 2010 terminierte das Sozialgericht eine mündliche Verhandlung auf den 14. April 2010.
27. Am 14. April 2010 führte das Sozialgericht eine mündliche Verhandlung durch und wies die Klage des Beschwerdeführers ab. Das schriftliche Urteil wurde dem Anwalt des Beschwerdeführers am 7. Juni 2010 zugestellt.
28. Am 7. Juli 2010 legte der Beschwerdeführer gegen das Urteil Berufung ein.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABS. 1 DER KONVENTION
29. Der Beschwerdeführer rügte im Wesentlichen, dass die Dauer des Verfahrens vor dem Sozialgericht mit dem Gebot der „angemessenen Frist" nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention nicht vereinbar gewesen sei; Artikel 6 Abs. 1
lautet wie folgt:
„Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen ... von einem ... Gericht in einem ... Verfahren ... innerhalb angemessener Frist verhandelt wird."
30. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen. Sie trug vor, dass es sich bei dem Verfahren um ein in tatsächlicher Hinsicht komplexes Verfahren gehandelt habe. Dazu verwies sie auf die zahlreichen ärztlichen Befundberichte
aus der Zeit vor dem Verfahren, auf die Komplexität der von den Sachverständigen in ihren Gutachten zu behandelnden medizinischen Fragen mit jeweils unterschiedlichen Gesichtspunkten bei einem Dutzend konkreter Fragen sowie
auf die Tatsache, dass die drei Sachverständigengutachten nicht parallel hätten angefordert werden können, weil sich die Notwendigkeit eines ergänzenden Gutachtens stets erst aus dem jeweils zuvor angeforderten Gutachten ergeben
habe. Außerdem habe es sich nicht um Gutachten über den bloßen Gesundheitszustand des Beschwerdeführers, sondern durchweg um Gutachten über den möglichen Ursachenzusammenhang zwischen seiner früheren Berufstätigkeit
und seinen Atemwegserkrankungen gehandelt; diese hätten daher weit mehr erfordert. Die Regierung brachte ferner vor, dass der Beschwerdeführer sein Klagebegehren erst im Februar 2005 genau mitgeteilt und seine
Prozessvertretung mehrfach gewechselt habe. Gleichwohl räumte die Regierung ein, dass die Verzögerung in der Zeit von Mai 2007 bis Juni 2009 dem Sozialgericht zuzurechnen sein dürfte. Schließlich wies sie darauf hin, dass es
sich bei dem Verfahren, auch wenn es für den Beschwerdeführer ohne Zweifel belastend gewesen sei, nicht um eine Art von Verfahren handele, in denen eine besonders rasche Bearbeitung verlangt werde.
31. Der zu berücksichtigende Zeitraum begann am 26. September 2003, als der Beschwerdeführer Widerspruch einlegte (siehe beispielsweise J. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 23959/94, Rdnr. 40, 20. Dezember 2001)
und endete im ersten Rechtszug am 7. Juni 2010, als das Urteil der Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers zugestellt wurde. Er betrug somit in einem Rechtszug sechs Jahre, acht Monate und 12 Tage. Im Juli 2010 legte
der Beschwerdeführer gegen das Urteil Berufung ein. Das Berufungsverfahren ist noch nicht abgeschlossen.
A. Zulässigkeit
32. Der Gerichtshof stellt fest, dass Artikel 6 der Konvention auf das vorliegende sozialgerichtliche Verfahren anwendbar ist, weil es in der Rechtssache um die Anerkennung einer Berufskrankheit und somit um mögliche
Rentenansprüche ging (siehe sinngemäß J., a. a. O., Rdnr. 32). Die Rüge wegen der Dauer dieses Verfahrens ist im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a der Konvention nicht offensichtlich unbegründet. Der Gerichtshof stellt
weiter fest, dass sie auch nicht aus anderen Gründen unzulässig ist. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
33. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Angemessenheit der Verfahrensdauer im Lichte der Umstände des Falls sowie unter Berücksichtigung folgender Kriterien zu beurteilen ist: Komplexität der Rechtssache, Verhalten
des Beschwerdeführers sowie der zuständigen Behörden und Bedeutung des Rechtsstreits für den Beschwerdeführer (siehe u. v. a. Frydlender ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 30979/96, Rdnr. 43, ECHR 2000-VII).
34. Der Gerichtshof hat in Fällen, die ähnliche Fragen wie der vorliegende aufwerfen, bereits häufig Verstöße gegen Artikel 6 Abs. 1 der Konvention festgestellt (siehe Frydlender, a. a. O.).
35. Der Gerichtshof ist nach Prüfung sämtlicher ihm vorgelegter Unterlagen der Auffassung, dass die Regierung keine Tatsachen oder Argumente vorgetragen hat, die ihn überzeugen können, im vorliegenden Fall zu einer anderen
Schlussfolgerung zu gelangen. Der Gerichtshof stimmt der Regierung zu, dass die Rechtssache in tatsächlicher Hinsicht komplex war und schwierige medizinische Fragen aufwarf. Dennoch ist der Gerichtshof der Auffassung, dass mit
der Komplexität der vorliegenden Rechtssache allein nicht die gesamte Dauer von nahezu sieben Jahren in einem Rechtszug gerechtfertigt werden kann. Die Verfahrensverzögerungen hatten überdies weit weniger mit der Komplexität
des Verfahrensgegenstands als vielmehr z. B. damit zu tun, wie das Sozialgericht versucht hat, einen Sachverständigen für die dritte Begutachtung zu finden. Des Weiteren weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass für
Verzögerungen aufgrund von Sachverständigengutachten letztlich in erster Linie der Staat verantwortlich ist (siehe z. B. Dojs ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 47402/99, Rdnr. 38, 2. November 2004). Abschließend stellt der
Gerichtshof fest, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass das Verhalten des Beschwerdeführers, selbst wenn einige Verzögerungen ihm zuzurechnen sind, maßgeblich zur gesamten Verfahrensdauer beigetragen hat. Der
Gerichtshof ist im Hinblick auf seine einschlägige Rechtsprechung deshalb der Auffassung, dass die Verfahrensdauer in der vorliegenden Rechtssache überlang war und dem Erfordernis der „angemessenen Frist" nicht entsprach.
Folglich ist Artikel 6 Absatz 1 verletzt worden.
II. DIE ÜBRIGEN RÜGEN DES BESCHWERDEFÜHRERS
36. Der Beschwerdeführer rügte ferner, dass eine der Sachverständigen befangen gewesen sei.
37. Der Gerichtshof stellt diesbezüglich fest, dass der Beschwerdeführer gegen das Urteil des Sozialgerichts Cottbus Berufung eingelegt hat und dass das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist.
38. Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde verfrüht und in jedem Fall nach Artikel 35 Absätze 1 und 4 der Konvention wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe zurückzuweisen ist.
III. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION
39. Artikel 41 der Konvention lautet:
„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser
Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist."
A. Schaden
40. Der Beschwerdeführer verlangte 190.000 Euro (EUR) in Bezug auf den materiellen Schaden wegen seines Gesundheitszustands und fehlender Entschädigung durch die nationalen Behörden infolge der Nichtanerkennung seiner
Berufskrankheit. Er verlangte überdies 210.000 EUR für immateriellen Schaden.
41. Die Regierung bestritt den vom Beschwerdeführer geltend gemachten materiellen Schaden und brachte vor, dass der behauptete Schaden nicht unmittelbar durch die Dauer des Verfahrens verursacht worden sei.
Im Hinblick auf den immateriellen Schaden trug die Regierung vor, dass angesichts der Umstände der Rechtssache die Feststellung einer Konventionsverletzung an sich eine ausreichende Kompensation für den immateriellen Schaden
darstelle. Sollte der Gerichtshof eine gerechte Entschädigung zuerkennen, so müsse auf jedem Fall der Beitrag des Beschwerdeführers zur langen Verfahrensdauer berücksichtigt werden.
42. Der Gerichtshof kann keinen Kausalzusammenhang zwischen der festgestellten Verletzung und dem behaupteten materiellen Schaden erkennen und weist diese Forderung daher zurück.
Er ist jedoch der Ansicht, dass der Beschwerdeführer einen immateriellen Schaden erlitten haben muss. Er entscheidet nach Billigkeit und spricht ihm unter dieser Rubrik 6.000 EUR zu.
B. Kosten und Auslagen
43. Der Beschwerdeführer stellte keinen spezifizierten Antrag auf Kostenerstattung, sondern bat den Gerichtshof lediglich, alle Kosten und Auslagen dem beschwerdegegnerischen Staat aufzuerlegen.
44. Die Regierung hat sich zu der Angelegenheit nicht geäußert.
45. Da eine spezifizierte Forderung nicht vorliegt, weist der Gerichtshof, der über die Kosten und Auslagen des Beschwerdeführers nicht spekulieren kann, die Forderung nach Erstattung der Kosten und Auslagen für das
innerstaatliche Verfahren sowie für das Verfahren vor dem Gerichtshof zurück.
C. Verzugszinsen
46. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank zuzüglich 3 Prozentpunkten zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Rüge wegen der überlangen Verfahrensdauer wird für zulässig und die Individualbeschwerde im Übrigen für unzulässig erklärt;
2. Artikel 6 Abs. 1 der Konvention ist verletzt worden;
3. a) der beschwerdegegnerische Staat hat dem Beschwerdeführer binnen drei Monaten in Bezug auf den materiellen Schaden 6.000 (sechstausend) EUR zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern zu zahlen;
b) nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten bis zur Auszahlung fallen für den oben genannten Betrag einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der
Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;
4. im Übrigen wird die Forderung des Beschwerdeführers nach gerechter Entschädigung zurückgewiesen...."(EGMR, Urteil vom 20.10.2011 - 53550/09)
***
„... 7. Der Beschwerdeführer wurde 1955 geboren und ist in M. wohnhaft.
1. Der Hintergrund der Sache
8. Am 16. März 1983 nahm der Beschwerdeführer eine Arbeit als Redakteur beim amerikanischen Rundfunksender Radio Free Europe/Radio Liberty (nachstehend als „RFE/RL" bezeichnet) auf. Nach der gegen den Beschwerdeführer
ergangenen Kündigung erhob dieser im Jahr 1988 vor dem Arbeitsgericht München eine Kündigungsschutzklage (Geschäftszeichen 22 Ca 2079/88). Im Zuge des Verfahrens beantragte RFE/RL die gerichtliche Auflösung des
Arbeitsverhältnisses des Betroffenen; dies wurde vom Bundesarbeitsgericht am 7. März 2002 im letzten Rechtszug zurückgewiesen. Die Kündigung war vom Landesarbeitsgericht am 25. September 1998 endgültig aufgehoben
worden. Die Dauer dieses Verfahrens lag dem Urteil M. ./. Deutschland (Nr. 422505/98, 18. Oktober 2001) zugrunde, mit dem der Gerichtshof eine Verletzung des Artikels 6 Absatz 1 der Konvention festgestellt und dem
Beschwerdeführer 15.000 DM (ca. 7.500 EUR) wegen immateriellen Schadens zugesprochen hat.
2. Das streitige Verfahren
9. Am 23. Mai 1990 erhob der Beschwerdeführer vor dem Arbeitsgericht München eine Klage auf Weiterbeschäftigung. Dem Verfahren wurde das Geschäftszeichen 22 Ca 6244/90 zugeordnet.
10. Am 30. August 1990 reichte der Beschwerdeführer eine Klageerweiterung ein und forderte die Zahlung seiner Gehälter durch den Arbeitgeber für den Zeitraum vom 1. August 1988 bis zum 31. August 1990. Er machte ebenfalls
Forderungen in Bezug auf seine Rentenansprüche für den Zeitraum vom 1. August 1988 bis zum 30. November 1990 geltend.
11. Das Arbeitsgericht erließ am 10. Oktober 1990 ein Teilurteil, mit dem es die Klage des Beschwerdeführers auf Weiterbeschäftigung abwies.
Was die Klagen wegen Gehälterzahlung und die Forderungen in Bezug auf die Rentenansprüche anbelangte (Rdnr. 10 oben), hat das Arbeitsgericht den Rechtsstreit am 19. Juni 1991 ausgesetzt, um den Ausgang des
Kündigungsschutzverfahrens abzuwarten (Rdnr. 8 oben); es erließ sodann am 21. Oktober 2002 ein Teilanerkenntnisurteil. Dieses Verfahren liegt dem Urteil M. ./. Deutschland (Nr. 2) (Nr. 71972/01 vom 11. Juni 2009) zugrunde.
12. Am 7. Dezember 1990 legte der Beschwerdeführer Berufung gegen das Teilurteil vom 10. Oktober 1990 (Geschäftszeichen 6(9) Sa 868/90) ein.
13. Auf Antrag von RFE/RL und mit Zustimmung des Beschwerdeführers setzte das Landesarbeitsgericht das Verfahren am 26. September 1991 aus, um den Ausgang des Kündigungsschutzverfahrens abzuwarten (Rdnr. 8 oben).
14. Am 4. Oktober 1999 beraumte das Landesarbeitsgericht einen Termin für den 9. November 1999 an. Am 31. Oktober 1999 teilte der Beschwerdeführer dem Landesarbeitsgericht mit, dass sein Rechtsbeistand sein Mandat
niedergelegt habe und beantragte die Beiordnung eines neuen Rechtsbeistandes. Am 2. November 1999 hob das Landesarbeitsgericht den Verhandlungstermin auf. Am 19. Oktober 2000 drängte der Beschwerdeführer erneut beim
Landesarbeitsgericht auf eine Entscheidung bezüglich seines Antrags vom 31. Oktober 1999. Am 24. Oktober 2000 ordnete ihm das Landesarbeitsgericht einen neuen Rechtsbeistand bei.
15. Am 15. Mai 2001 formulierte der Beschwerdeführer seine Anträge neu und begehrte neben der Aufhebung des Teilurteils des Arbeitsgerichts vom 10. Oktober 1990 Gehaltsnachzahlungen für den Zeitraum vom 1. Dezember 1990
bis 31. Dezember 1993 sowie eine Entschädigung für den Fall, dass sich RFE/RL weigern würde, ihm eine Stelle zu verschaffen, die seinem Status als Redakteur mit 18 Berufsjahren entspricht. Ferner beantragte er beim
Landesarbeitsgericht, falls dieses seinen Anträgen nicht stattgeben sollte, die Verweisung der Sache zur Vorabentscheidung an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften.
16. Am 26. Juni 2001 setzte das Landesarbeitsgericht das Verfahren erneut bis zum Abschluss des Verfahrens bezüglich der gerichtlichen Auflösung des Arbeitsverhältnisses aus (Rdnr. 8 oben), dessen Ausgang für das vorliegende
Verfahren entscheidend war.
17. Am 1. November 2001 rief der Beschwerdeführer das Bundesverfassungsgericht an und rügte insbesondere die Untätigkeit des Landesarbeitsgerichts und die überlange Verfahrensdauer (1 BvR 1870/01). Das
Bundesverfassungsgericht nahm diese Beschwerde am 12. März 2004 nicht zur Entscheidung an. Es legte unter anderem dar, dass die Verfassungsbeschwerde, soweit sie gegen den Aussetzungsbeschluss des Landearbeitsgerichts vom
18.Mai 2001 und dessen Untätigkeit gerichtet war, unzulässig geworden sei, weil das Landesarbeitsgericht mittlerweile durch das angegriffene Urteil vom 3. Dezember 2002 in der Sache entschieden habe. Es führte weiter aus, der
Beschwerdeführer habe keinen Anspruch auf die Feststellung einer Verletzung des Grundgesetzes durch eine überlange Dauer des Verfahrens im Nachhinein, weil nach dem Verfassungsrecht keine Rechtsgrundlage bestehe, die es
ermögliche, die Entscheidung eines Gerichts wegen überlanger Verfahrensdauer im Nachhinein aufzuheben oder Schadensersatz aus diesem Grunde zuzuerkennen. Die Aufhebung des Urteils des Landesarbeitsgerichts vom 3.
Dezember 2002 habe den Verfassungsverstoß der überlangen Verfahrensdauer nicht beseitigt, sondern das Verfahren weiter verzögert.
18. Am 26. November 2002 präzisierte der Beschwerdeführer seine Anträge beim Landesarbeitsgericht. Er begehrte nunmehr auch Entschädigungsleistungen für die Aussetzung seines Arbeitsverhältnisses von März 1988 bis
Dezember 1994 und für die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sowie Gehaltsnachzahlungen für den Zeitraum vom 1. Januar 1991 bis 31. Dezember 1994 (ca. 235.500 Euro).
19. Mit Urteil vom 3. Dezember 2002 wies das Landesarbeitsgericht die Berufung des Beschwerdeführers zurück. Es vertrat insbesondere die Auffassung, dass die weiteren Anträge des Beschwerdeführers im Hinblick auf
Entschädigungsleistungen, Schadenersatz und Gehaltsnachzahlungen, denen RFE/RL im Übrigen nicht zugestimmt habe, nicht zulässig seien, weil sie einen neuen Streitgegenstand darstellten, bezüglich dessen die Ergebnisse des
vorliegenden Verfahrens (Weiterbeschäftigung) nicht verwendet werden könnten. Das Landesarbeitsgericht ließ die Revision nicht zu. Das Urteil wurde dem Beschwerdeführer am 25. April 2003 zugestellt.
20. Am 25. Juni 2003 erhob der Beschwerdeführer vor dem Bundesarbeitsgericht Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision.
21. Mit Beschluss vom 3. November 2004 wies das Bundesarbeitsgericht die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen die Nichtzulassung der Revision mit der Begründung zurück, eine Divergenz zwischen dem angegriffenen Urteil
des Landesarbeitsgericht und seiner eigenen Rechtsprechung bzw. der des Bundesverfassungsgerichts liege nicht vor.
22. Am 1. Juli 2005 lehnte das Bundesverfassungsgericht es ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers gegen diesen Beschluss zur Entscheidung anzunehmen, weil sie unzulässig sei (1 BvR 2789/04). Es führte aus, dass
von einer Begründung abgesehen werde.
RECHTCHE WÜRDIGUNG
I. DIE BEHAUPTETE VERLETZUNG DES ARTIKELS 6 ABSATZ 1 DER KONVENTION
23. Der Beschwerdeführer behauptet, die Dauer des Verfahrens habe den Grundsatz der „angemessenen Frist" im Sinne des Artikels 6 Absatz 1 der Konvention mit folgendem Wortlaut verletzt:
„Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen (...) von einem (...) Gericht (...) innerhalb angemessener Frist verhandelt wird".
24. Die Regierung räumt ein, dass dieser Artikel verletzt worden ist. Sie unterstreicht jedoch, dass die Sache eine gewisse Komplexität aufwies und im Zusammenhang mit den anderen vom Beschwerdeführer parallel angestrengten
Verfahren zu sehen sei. Dieser habe zudem in erheblichem Maße zur Dauer des Verfahrens beigetragen, indem er eine Vielzahl von Beschwerden erhoben habe, u.a. ein Ablehnungsgesuch und vier Verfassungsbeschwerden. Die
Regierung ist der Ansicht, dass die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts, das Verfahren auszusetzen und den Ausgang des Verfahrens hinsichtlich der Kündigung und der gerichtlichen Vertragsauflösung abzuwarten, sinnvoll war.
Sie behauptet schließlich, das vorliegende Verfahren sei zwar Teil einer arbeitsgerichtlichen Streitigkeit, die Klage des Beschwerdeführers auf Weiterbeschäftigung würde aber nicht dieselbe Eile gebieten wie ein Rechtsstreit, in dem
es um das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses geht.
25. Der Gerichtshof stellt fest, dass der zu berücksichtigende Zeitraum am 23. Mai 1990 begann und am 1. Juli 2005 endete, als die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erging. Er hat demnach etwas mehr als fünfzehn
Jahre für vier Rechtszüge gedauert.
A. Zur Zulässigkeit
26. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht offensichtlich unbegründet im Sinne von Artikel 35 Absatz 3 Buchstabe a der Konvention ist. Er weist außerdem darauf hin, dass in Bezug auf die Rüge kein anderer
Unzulässigkeitsgrund vorliegt. Sie ist daher für zulässig zu erklären.
B. Zur Hauptsache
27. Der Gerichtshof ruft in Erinnerung, dass die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens entsprechend den Umständen der Rechtssache und unter Berücksichtigung der in seiner Rechtsprechung verankerten Kriterien, insbesondere
der Komplexität des Falles, des Verhaltens des Beschwerdeführers und des Verhaltens der zuständigen Behörden sowie der Bedeutung des Rechtsstreits für die Betroffenen zu beurteilen ist (siehe unter vielen anderen Frydlender ./.
Frankreich [GK], Nr. 30979/96, Rdnr. 43, CEDH 2000-VII). 28. Der Gerichtshof hat mehrfach Rechtssachen behandelt, die ähnliche Fragen wie im vorliegenden Fall betreffen, und eine Verletzung des Artikels 6 Absatz 1 der
Konvention festgestellt (o.a. Rechtssache M., Dostál ./. Tschechische Republik, Nr. 52859/99, 25. Mai 2004, o.a. Rechtssache M. Nr. 2 und K. ./. Deutschland, Nr. 21061/06, 22. Dezember 2009).
29. Nach Prüfung aller ihm vorgetragenen Umstände ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die Dauer des Verfahrens seit seiner Wiederaufnahme im Jahr 2002 bis zum Abschluss am 1. Juli 2005 an sich zwar nicht als unangemessen zu
betrachten ist, die Gesamtdauer des streitigen Verfahrens aber übermäßig lang ist und dem Erfordernis einer „angemessenen Frist" nicht entspricht. Er ruft hierbei in Erinnerung, dass die Tatsache, dass die Dauer dieses Verfahrens
größtenteils durch den Beschluss bedingt ist, die Prüfung der Sache in Erwartung des Ausgangs des Verfahrens hinsichtlich der Kündigung und der gerichtlichen Vertragsauflösung auszusetzen (Rdnr. 8 oben), nicht deren
unverhältnismäßigen Charakter entkräftet, sondern im Rahmen des Artikels 41 der Konvention zu berücksichtigen ist (o.a. Rechtssache M. Nr. 2, Rdnr. 45).
30. Demnach ist Artikel 6 Absatz 1 verletzt worden.
II. DIE BEHAUPTETE VERLETZUNG DES ARTIKELS 13 DER KONVENTION
31. Der Beschwerdeführer rügt auch die Tatsache, es gäbe in Deutschland kein Gericht, an das man sich wenden könne, um sich über die übermäßige Verfahrensdauer zu beschweren. Er beruft sich auf Artikel 13 der Konvention, der
wie folgt lautet:
„Jede Person, die in ihren in dieser Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, hat das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben, auch wenn die Verletzung von Personen
begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben."
32. Die Regierung räumt ein, dass dem Beschwerdeführer kein wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung stand, um sich über die Dauer des streitigen Verfahrens zu beschweren. Sie weist auf den Gesetzentwurf hin, mit dem ein neuer
Entschädigungsanspruch im deutschen Recht eingeführt wird.
A. Zur Zulässigkeit
33. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht offensichtlich unbegründet im Sinne von Artikel 35 Absatz 3 Buchstabe a der Konvention ist. Er weist außerdem darauf hin, dass in Bezug auf die Rüge kein anderer
Unzulässigkeitsgrund vorliegt. Sie ist daher für zulässig zu erklären.
B. Zur Hauptsache
34. Der Gerichtshof erinnert daran, dass er wiederholt das Fehlen eines wirksamen Rechtsbehelfs im deutschen Recht festgestellt hat, um sich wegen der Dauer eines Zivilverfahrens im Sinne des Artikels 6 der Konvention zu
beschweren (S. ./. Deutschland [GK], Nr. 75529/01, Rdnrn. 115-116, CEDH 2006-VII, H. ./. Deutschland, Nr. 20027/02, Rdnrn. 65-68, 11. Januar 2007, und R. ./. Deutschland, Nr. 46344/06, Rdnr. 52, 2. September 2010).
35. Daher ist Artikel 13 der Konvention verletzt worden.
III. DIE ANDEREN VORGEBRACHTEN RÜGEN
36. Insoweit der Beschwerdeführer neue Rügen auf der Grundlage von Artikel 6 Absatz 1 der Konvention und des Protokolls Nr. 1 vorzubringen scheint, erinnert der Gerichtshof daran, dass er in seiner Teilentscheidung vom 19. Mai
2009 beschlossen hat, der Regierung nur die Rügen wegen der Verfahrensdauer und wegen des Fehlens einer wirksamen Beschwerde im Sinne des Artikels 13 der Konvention, um sich wegen der Dauer des Verfahrens zu beschweren,
zur Kenntnis zu bringen und die anderen vorgebrachten Rügen für unzulässig zu erklären. Demnach ist es nicht nötig, diese erneut zu würdigen.
IV. DIE ANWENDUNG DES ARTIKELS 41 DER KONVENTION
37. Artikel 41 der Konvention lautet wie folgt:
„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser
Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist."
A. Schaden
38. Wegen des materiellen Schadens verlangt der Beschwerdeführer 235.474,45 Euro (EUR) für den dreijährigen Verdienstausfall, mindestens 25.000 EUR wegen der Verletzung seines Grundrechts auf Beschäftigung und 6.174,98
EUR nebst Zinsen für Anwaltsgebühren der Gegenseite in dem Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten. Wegen des immateriellen Schadens, den er erlitten habe, fordert der Beschwerdeführer 63.000 EUR.
39. Was den behaupteten materiellen Schaden anbelangt, macht die Regierung geltend, es gäbe keinen Kausalzusammenhang zwischen den behaupteten Verletzungen und dem Schaden. Bezüglich des behaupteten immateriellen
Schadens hat sie sich wegen des unverhältnismäßigen Charakters der Ansprüche nicht geäußert.
40. Der Gerichtshof sieht keinen Kausalzusammenhang zwischen den festgestellten Verletzungen und dem behaupteten materiellen Schaden und weist diese Forderung zurück. Er ist hingegen der Auffassung, der Beschwerdeführer
habe mit Sicherheit einen immateriellen Schaden erlitten. Bezüglich der Verfahrensdauer ist er jedoch der Auffassung, dass die Feststellung einer Verletzung von Artikel 6 Absatz 1 eine ausreichende gerechte Entschädigung darstellt,
und zwar sowohl hinsichtlich der Dauer, die durch die Aussetzung des streitigen Verfahrens verursacht wurde (Rdnrn. 13-16 oben - siehe o.a. Rechtssache M. Nr. 2, Rdnr. 66), als auch hinsichtlich der Dauer des Verfahrens seit seiner
Wiederaufnahme bis zum Abschluss (Rdnr. 29 oben). In Bezug auf die Verletzung des Artikels 13 der Konvention billigt er dem Beschwerdeführer hierfür den Betrag von 1.000 EUR zu.
B. Kosten und Auslagen
41. Der Beschwerdeführer fordert ebenfalls 3.395,56 EUR für die Anwaltsgebühren vor dem Bundesarbeitsgericht und 4.500 EUR für die Kosten vor dem Gerichtshof sowie 1.370,85 EUR für Übersetzungskosten bezüglich des
Verfahrens vor dem Gerichtshof. Er fordert außerdem den Betrag von 2.000 EUR für eigene Kosten vor den innerstaatlichen Gerichten und vor dem Gerichtshof sowie 150 EUR bedingt durch die Ausgaben für Ablichtungen, Faxe und
Portogebühren.
42. Die Regierung hat hierzu nicht Stellung genommen.
43. Der Gerichtshof erinnert daran, dass ein Beschwerdeführer die Erstattung seiner Kosten und Auslagen nur insoweit erhalten kann, als diese tatsächlich angefallen sind und erforderlich waren, d.h. sie sich auf die festgestellte
Verletzung beziehen und im Hinblick auf ihre Höhe angemessen sind. Unter Berücksichtigung der dem Gerichtshof vorliegenden Unterlagen und angesichts seiner Rechtsprechung sowie der Tatsache, dass die Stellungnahmen des
Beschwerdeführers nicht nur die Rügen betrafen, die der Gerichtshof der Regierung zur Kenntnis gebracht hat (Rdnr. 36 oben), erachtet der Gerichtshof es für angemessen, im vorliegenden Fall den Betrag von 3.900 EUR für das
Verfahren vor dem Gerichtshof (kombinierte Kosten) und von 250 EUR für die Kosten des Beschwerdeführers zuzubilligen. Er erinnert hier daran, dass in den Fällen, in denen es sich um die Verfahrensdauer handelt, die
Verlängerung der Prüfung einer Sache über die „angemessene Frist" hinaus eine Erhöhung der Kosten zu Lasten des Betroffenen mit sich bringt (o.a. Rechtssache S., Rdnr. 148). Er billigt dem Beschwerdeführer demnach 4.150 EUR
für Kosten und Auslagen zu.
C. Verzugszinsen
44. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank zuzüglich 3 Prozentpunkte zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Er erklärt die Beschwerde für zulässig.
2. Er entscheidet, dass Artikel 6 Absatz 1 der Konvention verletzt ist.
3. Er entscheidet, dass Artikel 13 der Konvention verletzt ist.
4. Er entscheidet, dass
a) der beschwerdegegnerische Staat dem Beschwerdeführer innerhalb von drei Monaten 1.000 EUR (eintausend Euro) für den vom Beschwerdeführer erlittenen immateriellen Schaden und 4.150 EUR (viertausendeinhundertfünfzig
Euro) für Kosten und Auslagen zuzüglich der Beträge, die als Steuer möglicherweise angefallen sind, zu zahlen hat;
b) dass dieser Betrag nach Ablauf der genannten Frist und bis zur Zahlung um einfache Zinsen zu einem Satz entsprechend demjenigen der Spitzenrefinanzierungsfazilität der Europäischen Zentralbank, der in diesem Zeitraum
Gültigkeit hat, zu erhöhen ist, zuzüglich drei Prozentpunkten.
5. Er weist im Übrigen den Antrag auf gerechte Entschädigung zurück.
Ausgefertigt in französischer Sprache und anschließend am 13. Oktober 2011 gemäß Artikel 77 Absätze 2 und 3 der Verfahrensordnung schriftlich übermittelt. ..." (EGMR, Urteil vom 13.10.2011 - 3863/06)
***
Die Handlungspflicht nach Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) verlangt vom Staat, Vorschriften zu erlassen, wonach Krankenhäuser, ob privat oder öffentlich, angemessene Maßnahmen zum Schutz des Lebens ihrer Patienten ergreifen
müssen und Verstöße gegen die Rechte des Patienten verfolgt und bestraft werden. Wenn ein Konventionsstaat angemessen dafür gesorgt hat, dass hohe berufliche Anforderungen für das ärztliche Personal und den Schutz des Lebens
der Patienten sichergestellt werden, reichen Ereignisse wie ein Kunstfehler oder nachlässige Abstimmung unter dem ärztliche Personal bei Behandlung eines Patienten allein nicht aus, einen Konventionsstaat unter dem Gesichtspunkt
seiner Schutzpflicht nach Art. 2 EMRK zur Verantwortung zu ziehen. Ein Beschwerdeführer kann die Opfereigenschaft i.S.v. Art. 34 EMRK verlieren, wenn die Behörden oder Gerichte des Staates ausdrücklich oder in der Sache den
Verstoß gegen die Konvention anerkannt und Wiedergutmachung geleistet haben. Wo es um die Frage geht, ob ein Staat für Verstöße gegen Art. 2 EMRK verantwortlich ist, reichen erfolgreiche Zivil- oder
Verwaltungsgerichtsverfahren aus, einem Beschwerdeführer die Opfereigenschaft zu nehmen. Der Beschwerdeführer verliert seine Opfereigenschaft, wenn der behandelnde Arzt in dem verklagten Staat wegen Körperverletzung
angeklagt und durch die zuständigen Disziplinargerichte wegen Verletzung seiner Berufspflichten verurteilt wurde und wenn die Zivilgerichte dem Beschwerdeführer eine Entschädigung nach Art. 41 EMRK für
Nichtvermögensschaden zugesprochen haben, der in der Höhe den Beträgen entspricht, die der Gerichtshof in ähnlichen Fällen gegen den Konventionsstaat (hier: Polen) zugesprochen hat (EGMR, Entscheidung vom 20.09.2011 -
27294/08 - juris - Orientierungssätze).
***
Die Rolle des Gerichtshofs ist gegenüber staatlichen Gerichten subsidiär. Eine Regierung kann daher vor dem Gerichtshof grundsätzlich nur mit dem gehört werden, was sie zuvor den staatlichen Gerichten vorgetragen hat, so dass die
bereits darüber entscheiden konnten. Ausübung von Hoheitsgewalt ist nach Art. 1 EMRK (Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte) notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Konventionsstaat für ihm zurechenbare
Handlungen und Unterlassungen verantwortlich ist. Die Hoheitsgewalt ist grundsätzlich territorial bestimmt. Handlungen von Vertretern der Konventionsstaaten, die außerhalb ihres Hoheitsgebiets vorgenommen werden oder dort
Auswirkungen haben, können im Ausnahmefall Ausübung ihrer Hoheitsgewalt i. S. von Art. 1 EMRK sein. Ein solcher Ausnahmefall kann gegeben sein, wenn
- diplomatische oder konsularische Vertreter im Ausland tätig werden,
- ein Staat mit Zustimmung der Regierung eines anderen auf deren Hoheitsgebiet Zuständigkeiten übernimmt,
- Gewaltanwendung staatlicher Vertreter im Ausland Personen unter ihre Kontrolle bringt, insbesondere wenn die Personen gefangen genommen werden,
- infolge rechtmäßiger oder unrechtmäßiger Militäraktion ein Staat die tatsächliche Kontrolle über ein Gebiet außerhalb seines Hoheitsgebiets ausübt.
Nach dem Sturz des Ba'ath Regimes und bis zur Bildung einer irakischen Interimsregierung hat das Vereinigte Königreich zusammen mit den USA Teile der öffentlichen Gewalt im Irak übernommen, die normalerweise von einer
souveränen Regierung ausgeübt werden. Unter diesen außergewöhnlichen Umständen unterstanden die bei Sicherheitsoperationen der britischen Streitkräfte getöteten Personen der Hoheitsgewalt des Vereinigten Königreichs i. S. von
Art. 1 EMRK. Die sich aus Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) ergebende Ermittlungspflicht bei Todesfällen gilt auch unter schwierigen Sicherheitsverhältnissen nach einem bewaffneten Konflikt. Die Ermittlungen über den Tod der
Angehörigen einiger Beschwerdeführer entsprachen nicht den Anforderungen von Art. 2 EMRK, weil sie gänzlich im Bereich der unmittelbaren militärischen Hierarchie blieben und sich darauf beschränkten, Aussagen der beteiligten
britischen Soldaten aufzunehmen. Auch die Sonderabteilung der Militärpolizei, die in einigen Fällen Ermittlungen geführt hat, war nicht gänzlich unabhängig von der militärischen Hierarchie. Deswegen ist Art. 2 EMRK verletzt.
Einer der Beschwerdeführer ist noch Opfer i. S. von Art. 34 EMRK (Individualbeschwerden), obwohl er Schadensersatz und ein Schuldanerkenntnis erhalten hat, weil keine umfassenden und unabhängigen Ermittlungen angestellt
worden sind. Bei einem anderen Beschwerdeführer hat eine umfassende, öffentliche Untersuchung stattgefunden, so dass er nicht mehr Opfer der von ihm behaupteten Konventionsverletzung ist. Der Gerichtshof verurteilt die britische
Regierung nicht, weitere Ermittlungen anzustellen. Nach Art. 46 II EMRK (Verbindlichkeit und Durchführung der Urteile) ist es Aufgabe des Ministerkommitees des Europarats zu prüfen, welche Maßnahmen zur Durchführung des
Urteils erforderlich sind (EMRK, Urteil vom 07.07.2011 - 55721/07 zu EMRK Art. 1, 2, 15, 34, 35, 41, 46, 56).
***
Wie das House of Lords zu Recht festgestellt hat, unterstand der Beschwerdeführer britischer Hoheitsgewalt i. S. von Art. 1 EMRK (Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte), als er wegen des Verdachts terroristischer
Aktivitäten über drei Jahre in einem militärischen Armeegefängnis festgehalten wurde. Die Ermächtigung in der Resolution Nr. 1511 des Sicherheitsrats der VN vom 16.10.2003 hatte nicht zur Folge, dass Handlungen von Soldaten
der Multinationalen Truppe den VN und nicht den Staaten zuzurechnen sind, welche Truppen gestellt haben. Daran hat auch die Resolution Nr. 1546 des Sicherheitsrats vom 08.06.2004 nichts geändert. Art. 5 I EMRK (Recht auf
Freiheit und Sicherheit) erlaubt keine Internierung oder präventive Haft, wenn nicht beabsichtigt ist, binnen angemessener Frist Anklage zu erheben. Die Internierung war weder nach Art. 5 I EMRK noch nach Völkerrecht,
insbesondere nach den Resolutionen des Sicherheitsrats der VN, gerechtfertigt. Die Resolution des Sicherheitsrats Nr. 1546 hatte das Vereinigte Königreich zwar ermächtigt, Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Sicherheit im Irak
zu treffen. Doch weder sie noch eine andere Resolution des Sicherheitsrats haben ausdrücklich oder stillschweigend vom Vereinigten Königreich verlangt, Personen auf unbestimmte Zeit ohne Anklage festzuhalten, weil sie eine
Gefahr für die Sicherheit im Irak sind. Bei Auslegung der Resolutionen des Sicherheitsrats der VN gilt die Vermutung, dass den Staaten keine Verpflichtung auferlegt werden werden soll, die den Grundrechte zuwider liefen. Unter
Berücksichtigung von Art. 1 III und 24 II der Charta der VN und der wichtigen Rolle der VN bei der Förderung des Schutzes der Menschenrechte muss angenommen werden, dass der Sicherheitsrat klare Worte finden würde, wenn er
Maßnahmen von Staaten verlangte, die ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen zum Schutz der Menschenrechte widersprechen könnten. Deswegen ist nicht anzunehmen, dass die Resolution Nr. 1546 des Sicherheitsrats die Staaten
dazu verpflichten wollte, unter Verletzung der Menschenrechte Personen unbefristet, ohne Anklage und ohne Richtergarantie in Haft zu halten. Eine Rechtfertigung ergibt sich auch nicht aus dem der Resolution Nr. 1546 des
Sicherheitsrats beigefügten Schriftwechsel zwischen der irakischen Regierung und der Regierung der USA im Namen der anderen Staaten, die Truppen im Irak gestellt haben. Darin heißt es, dass die Multinationale Truppe auf
Ersuchen der Regierung des Irak dort bleiben und auch weiterhin internieren werde, wenn sie das aus zwingenden Sicherheitserwägungen für nötig halte. Eine Vereinbarung dieser Art kann aber bindenden Konventionspflichten nicht
vorgehen. Deswegen ist Art. 5 I EMRK verletzt (EGMR, Urteil vom 07.07.2011 - 27021/08 zu EMRK Art. 1, 5 I, 41, BeckRS 2011, 25294)
***
Anhänger des Laizismus vertreten Auffassungen, die das Maß an Folgerichtigkeit, Ernsthaftigkeit, Geschlossenheit und Bedeutung erreichen, das erforderlich ist, damit sie als "Überzeugungen" i. S. von Art. 2 S. 2 Zusatzprotokoll zur
EMRK (Recht auf Bildung) angesehen werden können, genauer gesagt als "weltanschauliche Überzeugungen", denen Achtung in einer demokratischen Gesellschaft gebührt. Für Bildung und Unterricht ist Art. 2 Zusatzprotokoll zur
EMRK lex specialis gegenüber Art. 9 EMRK (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit), muss aber unter Berücksichtigung dieser Vorschrift ausgelegt werden, die auch die Freiheit garantiert, keiner Religion anzugehören. Die
Staaten haben die Pflicht, die Ausübung verschiedener Religionen, Konfessionen und Glaubensüberzeugungen neutral und unparteiisch zu gewährleisten. Das gilt für die Beziehungen zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen sowie
für die zwischen Anhängern unterschiedlicher Glaubensüberzeugungen. Die Staaten müssen bei Erfüllung ihrer Aufgaben in Erziehung und Unterricht darauf achten, dass Informationen und Kenntnisse auf objektive, kritische und
pluralistische Weise vermittelt werden, die den Schülern ermöglicht, in einer ruhigen Atmosphäre eine kritische Einstellung gegenüber der Religion fern von jedem unangebrachten Bekehrungseifer zu entwickeln. Der Staat darf nicht
indoktrinieren. Art. 2 S. 2 Zusatzprotokoll zur EMRK erfasst auch die Gestaltung des schulischen Umfelds, wenn Behörden dafür zuständig sind, und damit das Vorhandensein von Kruzifixen. Auch dabei ist das Recht der Eltern zu
achten, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen. Das Kruzifix ist vor allem ein religiöses Symbol. Der Gerichtshof hat keine Anhaltspunkte, die
für einen möglichen Einfluss eines religiösen Symbols auf Schüler sprechen. Die verständliche subjektive Empfindung der Eltern genügt nicht. Weil die Staaten bei der Entscheidung, ob sie eine Tradition fortsetzen und ein Kruzifix
im Klassenzimmer anbringen wollen, einen weiten Ermessensspielraum haben, muss der Gerichtshof ihre Entscheidung grundsätzlich respektieren, vorausgesetzt, dass sie keine Indoktrinierung zur Folge hat. Das Anbringen von
Kruzifixen macht die Mehrheitsreligion des Landes in der Schule besonders sichtbar. Das allein ist keine Indoktrinierung. Das Kruzifix ist ein wesentlich passives Symbol. Die italienischen Behörden und Gerichte haben bei ihrer
Entscheidung, es in Klassenzimmern zu belassen, den ihnen zustehenden Ermessensspielraum nicht überschritten. Deswegen ist Art. 2 Zusatzprotokoll zur EMRK nicht verletzt. Art. 2 S. 2 Zusatzprotokoll zur EMRK gibt Schülern
einen Anspruch auf Unterrichtung unter Achtung ihres Rechts, zu glauben oder nicht zu glauben. Dieses Recht ist aber aus den oben erwähnten Erwägungen nicht verletzt (EGMR, Urteil vom 18.03.2011 - 30814/06 zu EMRK Art. 9,
14, 41; Zusatzprotokoll zur EMRK Art. 2, BeckRS 2011, 08242).
***
Weder Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) noch eine andere Vorschrift der Konvention garantiert einem Ausländer das Recht auf eine Aufenthaltserlaubnis in einem Konventionsstaat. Doch müssen die
Staaten ihre Ausländerpolitik so handhaben, dass sie mit den Grundrechten der Ausländer vereinbar bleibt, insbesondere mit den Rechten in Art. 8 EMRK und dem Verbot der Diskriminierung nach Art. 14 EMRK. Zum Begriff des
Familienlebens i.S. von Art. 8 I EMRK gehören jedenfalls die Beziehungen aus einer rechtmäßigen Ehe, wie sie zwischen dem Beschwerdeführer und seiner russischen Ehefrau besteht. Art. 14 EMRK verbietet eine Diskriminierung
auch wegen einer Behinderung und allgemein wegen des Gesundheitszustands einer Person einschließlich einer HIV-Infektion. Daher ist Art. 14 EMRK i.V. mit Art. 8 EMRK im vorliegenden Fall anwendbar. Behandelt ein
Konventionsstaat Einzelpersonen oder Personengruppen unterschiedlich, muss er nachweisen, dass es dafür sachliche und vernünftige Gründe gibt, er also ein berechtigtes Ziel verfolgt und die angewendeten Mittel zu diesem Ziel
verhältnismäßig sind. Dabei hat er einen Ermessensspielraum. Der ist allerdings eng, wenn es um eine besonders verletzliche Gruppe von Personen geht, die in der Vergangenheit unter erheblicher Diskriminierung gelitten hat.
HIV-Infizierte wie der Beschwerdeführer sind eine solche Gruppe. Seit dem Ausbruch der Pandemie in den 80iger Jahren haben sie verbreitet unter Stigmatisierung und Ausschluss gelitten, auch in den Mitgliedstaaten des Europarats.
Nach übereinstimmender Auffassung aller Sachkenner innerhalb und außerhalb internationaler Organisationen sind Reisebeschränkungen ein unwirksames Mittel, die Verbreitung der HIV-Infektion zu verhindern. Untersuchungen auf
HIV sind in Russland im Übrigen für Kurzzeitbesucher und Touristen nicht vorgeschrieben und auch nicht für russische Staatsbürger bei Rückkehr von einer Reise ins Ausland. HIV-infizierte Ausländer belasten dort auch nicht den
öffentlichen Gesundheitsdienst, denn Ausländer haben in Russland keinen Anspruch auf kostenlose medizinische Versorgung. Nach dem russischen AusländerG können die Behörden und Gerichte bei ihrer Entscheidung über den
Antrag eines HIV-infizierten Ausländers auf eine Aufenthaltserlaubnis auch nicht seine besondere Situation und seine familiären Bindungen in Russland berücksichtigen. Daher ist Art. 14 EMRK i.V. mit Art. 8 EMRK im
vorliegenden Fall verletzt. Der Beschwerdeführer, obwohl juristisch nicht bewandert und anwaltlich nicht vertreten, hätte die russischen Gerichte bitten können, seinen Fall nicht öffentlich zu verhandeln. Unter den gegebenen
Umständen waren die Gerichte nicht gehalten, von Gerichts wegen die Öffentlichkeit auszuschließen. Insoweit ist die auf Art. 6 I EMRK gestützte Beschwerde offensichtlich unbegründet und nach Art. 35 III lit a, IV EMRK
unzulässig (EGMR, Urteil vom 10.03.2011 - 2700/10 zu EMRK Art. 6 I, 8, 13, 14, 15, 35 III, 41, BeckRS 2011, 26127).
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Der Gerichtshof hat mehrfach entschieden, dass eine gewisse Verzögerung der Haftentlassung nach einer dahingehenden gerichtlichen Entscheidung verständlich und oft aus praktischen Gründen unvermeidbar sein kann. In Fällen, in
denen eine gesetzlich vorgeschriebene Höchstdauer der Haft überschritten worden ist, war er strenger, weil das Ende der zulässigen Höchstdauer im Voraus bekannt ist. Im vorliegenden Fall ist die gesetzlich vorgeschriebene
Höchstdauer der Haft um 30 Minuten überschritten worden. Die Staatsanwaltschaft hatte einen Haftbefehl innerhalb der vorgesehenen Frist gestellt und es stand eine Anhörung durch den Untersuchungsrichter unmittelbar bevor.
Deswegen ist Art. 5 I EMRK nicht verletzt (EGMR, Urteil vom 08.02.2011 - 36988/07 zu EMRK Art. 5, 35 III, IV, 41, BeckRS 2011, 21464).
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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat im Fall Sporer gegen Österreich entschieden, dass der Ausschluss einer gerichtlichen Einzelfallprüfung der Sorgerechtsregelung den Vater eines unehelichen Kindes diskriminiert.
Der Beschwerdeführer Sporer ist österreichischer Staatsangehöriger, 1976 geboren, und lebt in Schalchen. Im Mai 2000 wurde sein Sohn K. unehelich geboren. Die Mutter des Kindes lebte zu diesem Zeitpunkt im selben Haus wie
Herr Sporer, der in einer anderen Wohnung mit seiner langjährigen Partnerin und ihrem gemeinsamen Sohn zusammenlebte. Im ersten Lebensjahr K.s kümmerten sich Herr Sporer und K.s Mutter abwechselnd um das Kind und
nahmen nacheinander Erziehungsurlaub. Nachdem K.s Mutter im Januar 2002 ausgezogen war, beantragte Herr Sporer beim Bezirksgericht die Übertragung des alleinigen Sorgerechts auf sich mit dem Argument, dass K.s Mutter
nicht angemessen in der Lage sei, sich um das Kind zu kümmern. K.s Mutter stellte sich der Übertragung des Sorgerechts entgegen und das Jugendamt vertrat die Auffassung, dass beide Eltern in der Lage seien, sich um das Kind zu
kümmern. In einer mündlichen Verhandlung vor dem Bezirksgericht einigten sich die Parteien zunächst, dass K. bis zu einer Entscheidung mit beiden Elternteilen jeweils die halbe Woche verbringen würde. Ein auf Antrag Herrn
Sporers vom Gericht berufener kinderpsychologischer Sachverständiger vertrat in einem Gutachten, das in einer zweiten Gerichtsverhandlung erörtert wurde, dass K.s Mutter unreif und nicht in der Lage sei, sich um das Kind zu
kümmern. Ein anschließend vom Gericht berufener zweiter Sachverständiger widersprach dieser Einschätzung. Ein dritter Sachverständiger bestätigte in einem Obergutachten die Auffassung des zweiten Gutachters und vertrat, dass
das Kindeswohl durch den Verbleib des Sorgerechts bei der Mutter nicht gefährdet sei. Herr Sporer machte nicht von der Möglichkeit Gebrauch, eine schriftliche Stellungnahme einzureichen, beantragte aber die Erörterung des
Gutachtens in einer weiteren Verhandlung.
Das Gericht lehnte den Antrag Herrn Sporers auf Übertragung des alleinigen Sorgerechts im Dezember 2002 ohne eine weitere Verhandlung ab und verwies darauf, dass das alleinige Sorgerecht nach dem Allgemeinen Bürgerlichen
Gesetzbuch automatisch der Mutter zufalle, es sei denn, das Kindeswohl würde dadurch gefährdet. Das Landesgericht Ried bestätigte die Entscheidung und der Oberste Gerichtshof lehnte die Berufung Herrn Sporers dagegen im Juni
2003 ab. K.s Mutter hat weiterhin das alleinige Sorgerecht für das Kind, während Herr Sporer Recht auf Umgang mit ihm gemäß einer vom Gericht empfohlenen Regelung hat.
Unter Berufung auf Art. 6 § 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) (Recht auf ein faires Verfahren) machte Herr Sporer geltend, dass ihm das Bezirksgericht nicht die Möglichkeit gegeben habe, in einer mündlichen
Verhandlung zu dem entscheidenden Obergutachten Stellung zu nehmen. Unter Berufung auf Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) i.V.m. Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) sah er sich zudem nach
dem Bürgerlichen Gesetzbuch als Vater eines unehelichen Kindes diskriminiert, zum einen gegenüber der Mutter, da er gegen deren Willen keine Möglichkeit habe, das gemeinsame Sorgerecht zu erhalten, und zum anderen gegenüber
verheirateten und geschiedenen Vätern, da diese nach Trennung oder Scheidung von der Kindsmutter das gemeinsame Sorgerecht behalten könnten. Die Beschwerde wurde am 12.11.2003 beim EGMR eingelegt.
Der EGMR hat eine Verletzung von Art. 14 EMRK i.V.m. Art. 8 EMRK festgestellt.
1. Nach Auffassung des Gerichtshofs liegt keine Verletzung von Art. 6 § 1 EMRK vor. Herr Sporer hatte das Recht auf eine Verhandlung, da weder außerordentliche Umstände vorgelegen haben, die den Verzicht darauf gerechtfertigt
hätten noch betraf das Verfahren lediglich formale oder rein rechtliche Fragen. Der persönliche Eindruck der Eltern in einem Sorgerechtsverfahren stelle zudem einen wichtigen Aspekt dar.
Vor dem Bezirksgericht hatten zwei Verhandlungen, eine zur Vorbereitung und eine weitere in der Sache, stattgefunden. Sie hatten es dem Gericht ermöglicht, einen persönlichen Eindruck beider Parteien zu gewinnen, und den
Parteien die Gelegenheit gegeben, die verschiedenen Gesichtspunkte des Falls zu erörtern. Der Gerichtshof zeigte sich vom Argument des Bezirksgerichts überzeugt, dass eine weitere Verhandlung nicht notwendig gewesen sei, da das
dritte Sachverständigengutachten schlüssig und alle Sach- und Rechtsfragen hinreichend geklärt gewesen seien. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass Herr Sporer nicht weitere schriftliche Stellungnahmen hätte einreichen können,
sofern er dies gewünscht hätte. Das entscheidende Obergutachten war adversatorisch auf Grundlage von Interviews und schriftlichen Stellungnahmen beider Parteien erstellt worden.
2. Es liegt eine Verletzung von Art. 14 EMRK i.V.m. Art. 8 EMRK vor. Der Gerichtshof unterstrich zunächst, dass, wie zwischen den Parteien unumstritten war, die Beziehung Herrn Sporers zu seinem Sohn angesichts der Tatsache,
dass er Erziehungsurlaub genommen und sich weiterhin regelmäßig um ihn gekümmert hatte, als "Familienleben" i.S.v. Art. 8 EMRK zu gelten hat. Im Verfahren um das Sorgerecht hatten die österreichischen Gerichte nicht darüber
zu befinden gehabt, ob ein gemeinsames Sorgerecht im Kindeswohlinteresse läge, da für die gerichtliche Prüfung dieser Frage nach dem österreichischen Bürgerlichen Gesetzbuch die Zustimmung der Mutter erforderlich war; K.s
Mutter hatte ihre Zustimmung dazu aber nicht gegeben. Die Gerichte hatten auch nicht darüber zu entscheiden, welcher Elternteil besser in der Lage wäre, das Sorgerecht auszuüben.
Sie hatten lediglich festzustellen, ob K.s Mutter das Kindeswohl gefährdete. Auf Grundlage des entscheidenden Obergutachtens hatten sie den Antrag Herrn Sporers auf Übertragung des alleinigen Sorgerechts abgelehnt. Folglich lag
hinsichtlich der Zuweisung des Sorgerechts eine Ungleichbehandlung Herrn Sporers in seiner Eigenschaft als Vater eines unehelichen Kindes gegenüber der Mutter, und zugleich gegenüber verheirateten Vätern, vor.
Im Hinblick auf die anfängliche Zuweisung des Sorgerechts für ein uneheliches Kind an dessen Mutter sah der Gerichtshof keinen Grund, zu einem anderen Schluss zu kommen als im Fall Zaunegger gegen Deutschland. In diesem
Fall hatte er befunden, dass, sofern keine gemeinsame Sorgeerklärung vorliegt, eine solche Regelung gerechtfertigt ist, um zu gewährleisten, dass das Kind ab seiner Geburt eine Person hat, die klar als gesetzlicher Vertreter handeln
kann.
Im Fall Zaunegger hatte der Gerichtshof allerdings nicht die Annahme geteilt, dass ein gemeinsames Sorgerecht gegen den Willen der Mutter grundsätzlich dem Kindeswohl zuwiderlaufe. Zwar gibt es in den Europaratsmitgliedstaaten
keine einheitliche rechtliche Herangehensweise an die Frage, ob Väter unehelicher Kinder das Recht haben, das gemeinsame Sorgerecht auch gegen den Willen der Mutter zu beantragen. In einer Mehrheit der Staaten müssen sich
Sorgerechtsentscheidungen allerdings am Kindeswohlinteresse orientieren und im Fall eines Konflikts zwischen den Eltern gerichtlich überprüft werden. Das österreichische Recht sah im Fall Herrn Sporers keinerlei gerichtliche
Prüfungsmöglichkeiten der Frage vor, ob ein gemeinsames Sorgerecht im Kindeswohlinteresse läge, oder ob ihm, falls das gemeinsame Sorgerecht diesem Interesse zuwiderliefe, besser durch die Zuweisung des Sorgerechts an die
Mutter oder den Vater gedient wäre. Die österreichische Regierung hatte keine hinreichenden Gründe angegeben, warum die Situation Herrn Sporers, der seine Rolle als K.s Vater von Anfang an angenommen hatte, weniger
gerichtliche Prüfungsmöglichkeiten zulassen sollte als diejenige von Vätern, die zunächst das Sorgerecht hatten und sich später von der Kindesmutter trennten oder scheiden ließen.
3. Der EGMR hat entschieden, dass Österreich Herrn Sporer 3.500 Euro nach Art. 41 EMRK (gerechte Entschädigung) für die entstandenen Kosten zu zahlen hat. Der Gerichtshof hat außerdem entschieden, dass die Feststellung einer
Verletzung der Konvention eine ausreichende gerechte Entschädigung für den erlittenen immateriellen Schaden darstellt (EGMR, Entscheidung vom 03.02.2011 - 35637/03 zu Art 6 § 1, Art 8 , Art 14 , Art 41 MRK).
***
Die Fortdauer der Sicherungsverwahrung über die ursprünglich im StGB vorgesehene Höchstdauer von zehn Jahren verstößt gegen Art. 5 I lit. a (Recht auf Freiheit und Sicherheit) und Art. 7 I EMRK (keine Strafe ohne Gesetz -
Anschluss an EGMR, Slg. 2009 = NJW 2010, 2495 - M./Deutschland). Nach Art. 5 z I lit. e EMRK kann einer Person die Freiheit wegen einer psychischen Krankheit nur entzogen werden, wenn sie zuverlässig nachgewiesen und so
schwerwiegend ist, dass sie eine zwangsweise Unterbringung notwendig macht. Die Fortdauer der Unterbringung ist nur so lange zulässig, wie die Störung fortbesteht. Eine Freiheitsentziehung wegen einer psychischen Erkrankung ist
nur rechtmäßig i. S. von Art. 5 I lit. e EMRK, wenn sie in einem Krankenhaus, einer Klinik oder einer anderen geeigneten Einrichtung vollzogen wird. Es gibt aber in Deutschland keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem
Vollzug einer langen Freiheitsstrafe und dem einer Sicherungsverwahrung. Die Feststellung einer Konventionsverletzung verpflichtet den beklagten Staat nach Art. 46 EMRK (Verbindlichkeit und Durchführung der Urteile) nicht nur
zur Zahlung des nach Art. 41 EMRK (gerechte Entschädigung) zugesprochenen Betrags an den Beschwerdeführer, sondern auch dazu, unter Aufsicht des Ministerkomitees des Europarats allgemeine oder individuelle Maßnahmen zu
treffen, um die Konventionsverletzung abzustellen und so weit wie möglich Wiedergutmachung zu leisten. Aus Art. 1 EMRK (Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte) ergibt sich, dass sich die Konventionsstaaten mit
Ratifizierung der Konvention verpflichtet haben sicherzustellen, dass ihre Rechtsordnung mit der Konvention übereinstimmt. Daraus folgt, dass der beklagte Staat jedes Hindernis in seiner Rechtsordnung für eine angemessene
Wiedergutmachung beseitigen muss. Nach dem Urteil in der Sache M./Deutschland (Slg. 2009 = NJW 2010, 2495) haben einige deutsche Gerichte die konventionswidrige Sicherungsverwahrung nicht beendet mit der Begründung, sie
könnten das StGB nicht konventionskonform auslegen. Einige Oberlandesgerichte und ein Senat des BGH halten das für möglich. Deswegen sieht der Gerichtshof davon ab, bestimmte allgemeine oder individuelle Maßnahmen zu
bezeichnen, die zur Durchführung des Urteils erforderlich sind. Er fordert die deutschen Behörden und Gerichte aber dringend dazu auf, ihrer Verantwortung für die Anwendung und Durchsetzung des Rechts des Beschwerdeführers
auf Freiheit nachzukommen (EGMR, Urteil vom 13.01.2011 - 17792/07).
***
Quellenschutz ist für die Pressefreiheit in einer demokratischen Gesellschaft von großer Bedeutung. Aufforderungen an einen Journalisten, seine Quellen anzugeben, sowie Durchsuchungen seiner Wohnung oder seines Arbeitsplatzes,
um eine solche Quelle festzustellen, greifen in sein Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 10 EMRK ein. Sie sind nur gerechtfertigt, wenn dafür ein überwiegendes öffentliches Interesse besteht. Im vorliegenden Fall hat die StA
mit Durchsuchung und Beschlagnahme gedroht, woraufhin die Beschwerdeführerin die verlangten Fotos herausgegeben hat. Damit hat die StA in deren Rechte nach Art. 10 EMRK eingegriffen. Um nach Art. 10 II EMRK
gerechtfertigt zu sein, muss ein solcher Eingriff zunächst "gesetzlich vorgesehen" sein. Das heißt, er muss eine Grundlage im staatlichen Recht haben, und die muss eine bestimmte Qualität aufweisen. Angesichts der Bedeutung des
Quellenschutzes für die Pressefreiheit muss das Recht auf diesen Schutz durch gesetzlich festgelegte Verfahrensgarantien abgesichert werden. Dazu gehört vorrangig die Überprüfung durch einen Richter oder ein anderes unabhängiges
und unparteiisches Entscheidungsorgan, und das grundsätzlich vor Vollzug der Anordnung. Die hier umstrittene Aufforderung war auf § 96a niederländische StPO gestützt. Sie hatte damit eine Grundlage im staatlichen Recht. Das
aber kennt kein Verfahren, in dem objektiv und unparteiisch geprüft werden könnte, ob das von der StA angeführte Interesse an der Aufdeckung einer Straftat dem Interesse des Quellenschutzes in diesem Fall vorgeht. Daher war der
Eingriff nicht "gesetzlich vorgesehen" i. S. von Art. 10 II EMRK. Daran ändert nichts, dass die StA auf Veranlassung der Beschwerdeführerin noch vor Herausgabe der Fotos einen Untersuchungsrichter eingeschaltet hat, denn der hat
in diesem Bereich keinerlei rechtliche Befugnisse. Auch die nachträgliche Kontrolle durch das LG Amsterdam hat den Mangel der Rechtsgrundlage nicht geheilt: das LG konnte die Ermittler nicht davon abhalten, die umstrittenen
Fotos, einmal in ihren Händen, auch auszuwerten. Die Beschwerdeführerin hatte mit einer Stiftung verabredet, dass diese unter bestimmten Umständen einen Teil der Kosten übernehmen würde, die sie aufgrund einer
Honorarvereinbarung ihren Anwälten zahlen muss. Eine solche Absprache ist von dem Fall zu unterscheiden, in dem Rechtsverfolgungskosten von einem Dritten getragen werden. Sie ist für die Anwendung von Art. 41 EMRK
(Gerechte Entschädigung) ohne Bedeutung (EGMR, Urteil vom 14.09.2010 - 38224/03 zu EMRK Art. 10, 13, 41, BeckRS 2011, 19137):
„... A. Allgemeine Erwägungen
Die Freiheit der Meinungsäußerung ist einer der Grundpfeiler der demokratischen Gesellschaft, und die Garantien für die Presse sind dabei von besonderer Bedeutung. Wenngleich sie die ihr gesetzten Grenzen nicht überschreiten darf,
hat die Presse doch Informationen und Ideen zu Fragen von öffentlichem Interesse weiterzugeben, und die Öffentlichkeit hat das Recht, diese zu empfangen. Wäre es anders, könnte die Presse ihre unverzichtbare Rolle eines
„Wachhundes" nicht spielen (s. EGMR, 1991, Serie A, Bd. 216, S. 29-30 Nr. 59 = ÖJZ 1992, 378 - Observer u. Guardian/Vereinigtes Königreich). Das Recht der Journalisten auf Schutz ihrer Quellen ist Teil der Freiheit,
„Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe ... zu empfangen und weiter zu geben", wie sie Art.10 EMRK schützt. Es ist eine ihrer wesentlichen Garantien, ein Eckstein der Pressefreiheit, ohne den Informanten davon
abgehalten werden könnten, der Presse bei Unterrichtung der Öffentlichkeit über Fragen des öffentlichem Interesses zu helfen. Das aber könnte die Presse in ihrer entscheidenden Rolle als „Wachhund" beeinträchtigen und ihre
Fähigkeit mindern, die Öffentlichkeit genau und zuverlässig zu informieren.
Der Gerichtshof hat die Garantien zur Wahrung der Freiheit der Meinungsäußerung in Fällen zu Art. 10 EMRK immer besonders sorgfältig geprüft. Angesichts der Bedeutung des Schutzes journalistischer Quellen für die
Pressefreiheit in einer demokratischen Gesellschaft ist ein Eingriff in diese Rechte mit Art. 10 EMRK unvereinbar, wenn ihn nicht ein überwiegendes öffentliches Interesse rechtfertigt (s. EGMR, Slg. 1996-II Nr. 39 = ÖJZ 1996, 795 -
Goodwin/Vereinigtes Königreich; EGMR, Slg. 2003-IV Nr. 39 - Roemen u. Schmit/Luxemburg; EGMR, NJW 2008, 2563 Nr. 65 - Voskuil/Niederlande). ...
B. Eingriff
1. Urteil der Kammer (zusammengefasst)
[52] Die Kammer hat entschieden, es liege ein Eingriff in Form einer „Einschränkung" vor, Art. 10 EMRK sei anwendbar.
2. Vortrag der Beteiligten
a) Die Regierung (zusammengefasst)
Die Regierung bezweifelt, dass es zwischen der Bf. oder ihren Mitarbeitern und den Organisatoren des Autorennens irgendeine Absprache gegeben habe, um die Anonymität der Beteiligten zu wahren. Im Übrigen habe das Rennen auf
einer öffentlichen Strasse stattgefunden, also könne sich die Bf. gar nicht zur Vertraulichkeit oder Geheimhaltung verpflichtet haben. Doch selbst wenn hier eine Quelle zu schützen sei, beträfe die angebliche Absprache nur das
Rennen. Das aber habe Polizei und StA nie interessiert.
b) Die Bf. (zusammengefasst)
Die Bf. bekräftigt, ihre Journalisten hätten versprechen müssen, die Anonymität der an dem Rennen Beteiligten zu wahren, um fotografieren zu können.
c) Die Drittbeteiligten (zusammengefasst)
Die Drittbeteiligten betonen, die Behörden hätten dank der Fotos der Bf. einige oder alle Teilnehmer an der Rennveranstaltung identifizieren können.
3. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs
In früheren Fällen hat der Gerichtshof verschiedene behördliche Aktionen als Verstöße gegen die Freiheit der Meinungsäußerung von Journalisten angesehen, die gezwungen worden waren, auf ihr Privileg zu verzichten und
Informationen über ihre Quellen zu gehen oder Zugang zu ihren Informationen zu gewähren. Im Fall Goodwin/Vereinigtes Königreich (EGMR, Slg. 1996-II S. 496 Nr. 28 = ÖJZ 1996, 795) war er der Auffassung, dass die
Aufforderung an einen Journalisten, die Identität einer Person preiszugeben, die ihm im Schutz der Anonymität Informationen geliefert hatte, sowie die wegen seiner Weigerung gegen ihn verhängte Geldbusse Eingriffe in sein Recht
auf freie Meinungsäußerung nach Art. 10 I EMRK gewesen seien.
In ihrer Entscheidung British Broadcasting Corporation/Vereinigtes Königreich vom 18.1.1996 (25794/94), auf die sich die Regierung bezieht, hat die EKMR diesen Fall von der Sache Goodwin/Vereinigtes Königreich (s. EGMR,
Slg. 1996-II, S. 496 Nr. 28 = ÖJZ 1996, 795) unterschieden. Im letzten Fall habe der Bf. Informationen von einer vertraulichen Quelle erhalten, die anonym bleiben wollte, während die Informationen der BBC Aufnahmen zu einem
Sachverhalt eingeschlossen hätten, der sich in der Öffentlichkeit zugetragen hatte. Daher könne hier eine Pflicht zur Geheimhaltung oder Vertraulichkeit nicht in Frage kommen. Trotzdem sei in die Rechte der BBC nach Art. 10
EMRK eingriffen worden.
In seinen Urteilen Roemen u. Schmit/Luxemburg (s. EGMR, Slg. 2003-IV Nr. 47), Ernst u.a./Belgien (Urt. v. 15.7.2003 - 33400/96 Nr. 94) und Tillack/Belgien (s. EGMR, Slg. 2007-XIII Nr. 56 = NJW 2008, 2565 (2567)) hat der
Gerichtshof entschieden, dass Durchsuchungen der Wohnungen und Arbeitsplätze von Journalisten, um öffentliche Bedienstete zu identifizieren, die vertrauliche Informationen weitergegeben hatten, in die Rechte der Journalisten
nach Art. 10 I EMRK eingegriffen hätten. In der Sache Roemen u. Schmit/Luxemburg hat er auch betont, der Zweck der Durchsuchungen, nämlich die Identifizierung der Quelle des Journalisten, entfalle nicht deshalb, weil die
Durchsuchung erfolglos geblieben sei.
In seinem Urteil Voskuil/Niederlande (s. NJW 2008, 2563-2564 Nr. 49) hat der Gerichtshof einen Eingriff in die Rechte des Bf., eines Journalisten, nach Art. 10 EMRK festgestellt, weil das zuständige niederländische Gericht seine
Haft angeordnet hatte, um ihn zum Reden zu bringen, weil er sich geweigert hatte, die Person zu benennen, die ihm Informationen über ein angeblich fehlerhaftes Verhalten der Polizei bei ihren Ermittlungen geliefert hatte.
Jüngst hat der Gerichtshof im Fall Financial Times Ltd u.a./Vereinigtes Königreich (Urt. v. 15.12.2009 - 821/03 Nr. 56) die an vier Zeitungsherausgeber und eine Nachrichtenagentur gerichtete Anordnung, eine anonyme
Informationsquelle aufzudecken, als Eingriff in die den Betroffenen garantierten Rechte nach Art. 10 EMRK gewertet. Dass die Anordnung nicht vollzogen worden war, habe ihre nachteiligen Folgen für die Bf. nicht beseitigt. Denn
obwohl es - Ende 2009, als der Gerichtshof diesen Fall entschied - wenig wahrscheinlich sei, dass sie noch vollstreckt würde, sei sie doch weiterhin vollstreckbar.
4. Anwendung dieser Grundsätze im vorliegenden Fall
Ob es in diesem Fall eine Absprache gegeben hat, nach der die Bf. Vertraulichkeit zu wahren hatte, worüber die Parteien ausgiebig gestritten haben, kann dahingestellt bleiben. Der Gerichtshof stimmt der Bf. darin zu, dass es nicht
notwendig ist, die von ihr behauptete Absprache zu beweisen. Wie schon die Kammer sieht auch die Grosse Kammer keinen Grund, den Vortrag der Bf. in Zweifel zu ziehen, es sei versprochen worden, die am Rennen beteiligten
Wagen und ihre Eigentümer vor Aufdeckung ihrer Identität zu schützen.
Die Regierung weist mit Recht darauf hin, dass die Behörden von der Bf. nicht verlangt haben, Informationen herauszugeben, um die Teilnehmer an dem Straßenrennen zu identifizieren, sondern nur Fotos, die nach Auffassung der Bf.
zur Identifizierung der Teilnehmer führen konnten. Im Fall Nordisk Film & TV A/S/Dänemark (s. EGMR, Slg. 2005-XIII) hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Entscheidung des dänischen OGH, die Bf. zu zwingen, nicht
veröffentlichte Aufnahmen herauszugeben, ein Eingriff in die nach Art. 10 I EMRK garantierten Rechte sei, wenngleich die Betroffenen nicht als „anonyme Informationsquellen" i.S. der Rechtsprechung des Gerichtshofs angesehen
werden konnten (s. oben Nrn. 59, 61). Der Gerichtshof hat in seiner Entscheidung anerkannt, dass Art. 10 EMRK in einer solchen Situation anwendbar sein könne, und festgestellt, dass sich die erzwungene Aushändigung von
recherchiertem Material auf die Ausübung der Pressefreiheit abschreckend auswirken könne.
Im vorliegenden Fall war die umstrittene Anordnung außerdem nicht darauf angelegt, die Personen in Zusammenhang mit dem illegalen Straßenrennen zu identifizieren. Tatsächlich wurden keine Ermittlungen wegen dieses Rennens
eingeleitet, nicht einmal gegen A und M, die schwerer Straftaten verdächtig waren. Doch ist das nicht entscheidend.
Inwieweit eine Zwangsmassnahme zur Offenlegung von Quellen geführt hat oder zur strafrechtlichen Verfolgung von Informanten, hat der Gerichtshof bislang als unwesentlich für die Frage angesehen, ob in das Recht eines
Journalisten auf Schutz seiner Quellen eingegriffen worden ist. Im Fall Roemen u. Schmit/Luxemburg hatte die Vollstreckung des Durchsuchungsbefehls und die Anordnung der Beschlagnahme in den Arbeitsräumen des betroffenen
Journalisten die gesuchten Informationen nicht erbracht. Die Anordnungen wurden als „drastischer angesehen als die Aufforderung, die Identität der Quelle preiszugeben ... denn die Ermittler, die ohne Vorankündigung und mit
Durchsuchungsbefehlen einen Journalisten am Arbeitsplatz überraschen, hätten weitgehende Befugnisse, da sie logischerweise Zugang zu allen Unterlagen des Journalisten hätten. Deshalb haben die Durchsuchungen der Wohnung
und des Arbeitsplatzes des Bf. zu 1 den Schutz der Quellen noch mehr beeinträchtigt als die Maßnahmen, um die es im Fall Goodwin/Vereinigtes Königreich (s. EGMR, Slg. 1996-II S. 464 ff = ÖJZ 1996,795) gegangen ist" (s.
EGMR, Slg. 2003-IV Nr. 46 - Roemen u. Schmitt/Luxembourg).
Wie bereits erwähnt, hat der Umstand, dass im Fall Financial Times Ltd u.a./Vereinigtes Königreich (s. EGMR, Urt. v. 15.12.2009 - 821/03 Nr. 56) die Anordnung der Offenlegung nicht gegen die Bf. vollstreckt worden war, den
Gerichtshof nicht daran gehindert festzustellen, dass ein Eingriff vorlag (s. oben Nr. 63).
Schon die Kammer hat darauf hingewiesen, dass die Räume der Bf. anders als in ähnlichen Fällen ( s. EGMR, Urt. v. 15.7.2003 - 33400/96 Nr. 94 - Ernst u.a./Belgien; EGMR, Slg. 2003-IV Nr. 46 - Roemen u. Schmit/Luxembourg;
EGMR, Slg. 2007-XIII Nr. 56 = NJW 2008, 2565 (2567) - Tillack/Belgien) nicht durchsucht worden sind. Doch haben StA und Polizei im vorliegenden Fall klar ihre Absicht bekundet, das zu tun, wenn die Herausgeber der Autoweek
ihrer Aufforderung nicht nachkämen.
Diese Drohung zusammen mit der kurzen Festnahme des Journalisten war zweifellos glaubwürdig. Sie ist so ernst zu nehmen, wie das Vorgehen der Behörden, wäre sie wahr gemacht worden. Dann wären nicht nur die Büroräume der
Herausgeber von Autoweek durchsucht worden, sondern auch die der Herausgeber der anderen Zeitschriften der Bf.. Das hätte dazu führen können, dass die Büros für längere Zeit geschlossen geblieben und die betroffenen
Publikationen wahrscheinlich entsprechend später erschienen wären, sodass die Nachrichten über aktuelle Ereignisse, die sie hätten verbreiten wollen, zeitlich überholt gewesen wären ... . Nachrichten aber sind eine leicht verderbliche
Ware, und ihre Veröffentlichung auch nur für kurze Zeit zu verschieben, kann ihnen schnell allen Wert und jedes Interesse nehmen (s. z.B. EGMR, 1991, Serie A, Bd. 216, S. 30 Nr. 60 = ÖJZ 1992, 378 - Observer u.
Guardian/Vereinigtes Königreich; EGMR, 1991, Serie A, Bd. 217, S. 29 Nr. 51 - Sunday Times/Vereinigtes Königreich (Nr. 2); EGMR, Slg. 2001-VIII Nr. 56 - Association Ekin/Frankreich). Diese Gefahr besteht nicht nur für
Veröffentlichungen oder Zeitschriften, die sich mit aktuellen Fragen befassen (s. EGMR, Urt. v. 29.3.2005 - 40287/98 Nr. 37 - Alinak/Türkei).
Im vorliegenden Fall hat es weder eine Durchsuchung noch eine Beschlagnahme gegeben. Doch wirkt es stets abschreckend, wenn der Eindruck entsteht, Journalisten seien an der Aufdeckung anonymer Quellen beteiligt (s. mutatis
mutandis EGMR, Urt. v. 15.12.2009 Nr. 70 - Financial Times Ltd u.a./Vereinigtes Königreich).
Zusammengefasst stellt der Gerichtshof fest, dass der vorliegende Fall eine Anordnung auf Herausgabe journalistischen Materials mit Informationen betrifft, die es möglich machten, Informationsquellen zu identifizieren. Das reicht
aus, um zu entscheiden, dass diese Anordnung schon für sich in die Freiheit der Bf. eingegriffen hat, Informationen nach Art. 10 I EMRK zu empfangen und zu verbreiten.
C. „gesetzlich vorgesehen"
1. Das Urteil der Kammer (zusammengefasst)
Für die Kammer war § 96a niederländische StPO eine ausreichende Rechtsgrundlage i.S. von Art. 10 II EMRK, wobei sie der Rolle des Untersuchungsrichters in diesem Fall entscheidende Bedeutung beigemessen hat.
2. Vortrag der Beteiligten (zusammengefasst)
Die Bf. meint, § 96a niederländische StPO sei unbestimmt, er gebe der StA unbegrenztes Ermessen, die Herausgabe von Informationen anzuordnen, ohne Voraussetzungen oder die Art und Weise des Vorgehens festzulegen. Über
Eingriffe in das Recht von Journalisten auf Quellenschutz sage er gar nichts. Dass eine vorhergehende richterliche Prüfung nicht mehr vorgesehen sei, verstoße ebenfalls gegen das Erfordernis der Gesetzlichkeit. Daran ändere nichts,
dass in ihrem Fall ein Untersuchungsrichter eingeschaltet worden sei.
Die Regierung widerspricht: § 96a genüge den Anforderungen an die Vorhersehbarkeit und Zugänglichkeit des Gesetzes, denn er verweise auf §§ 217-219 niederländische StPO, in denen die Personen genannt werden, die in diesem
Zusammenhang besonderen Schutz genießen. Dazu gehörten nicht die Journalisten. Für die Auslegung von § 96a ergäben sich Leitlinien außerdem aus der Entstehungsgeschichte sowie den allgemein zugänglichen Richtlinien des
Justizministers über die Stellung der Presse bei Polizeiaktionen (Leidraad over de positie van de pers bij politieoptreden) vom 19.5.1988 („die Richtlinien von 1988"). ...
Die Drittbeteiligten weisen darauf hin, dass es in Europa und darüber hinaus eine Tendenz gebe, das Recht der Journalisten auf Quellenschutz rechtlich abzusichern.
3. Beurteilung durch den Gerichtshof
a) Grundsätze
Der Begriff „gesetzlich vorgesehen" („prescribed by law"/"in accordance with the law"; „prévue par la loi") in Art. 8-11 EMRK verlangt nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur, dass der Eingriff, um den es geht,
eine Grundlage im staatlichen Recht hat, sondern bezieht sich auch auf deren Qualität. Das Recht muss angemessen zugänglich und vorhersehbar sein, d.h. es muss so ausreichend bestimmt sein, dass der Einzelne - notfalls mit
sachkundiger Hilfe - sein Verhalten danach einrichten kann.
Um diesen Anforderungen zu entsprechen, muss das Recht der Vertragsstaaten ein bestimmtes Maß an Rechtsschutz gegen willkürliche Eingriffe in die von der Konvention garantierten Rechte gewähren. Geht es um Grundrechte, liefe
es dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit, einem der in der Konvention verankerten Grundsätze der demokratischen Gesellschaft, zuwider, der Exekutive unbegrenztes Ermessen einzuräumen. Deshalb muss das staatliche Recht den
Umfang des Ermessens für die Behörden mit angemessener Bestimmtheit festlegen sowie auch die Art und Weise seiner Ausübung (s. EGMR, 1979, Serie A, Bd. 30, S. 31 Nr. 49 = EGMR-E 1, 366 - Sunday Times/Vereinigtes
Königreich (Nr. 1); EGMR, 1995, Serie A, Bd. 316, S. 71-72 Nr. 37 = ÖJZ 1995, 949 - Tolstoy Miloslavsky/Vereinigtes Königreich; EGMR, Slg. 2000-V Nr. 52 = ÖJZ 2002, 74 - Rotaru/Rumänien; EGMR, Slg. 2000-XI Nr. 84 -
Hasan u. Chaush/Bulgarien; EGMR, Slg. 2004-I Nr. 30 - Maestri/Italien).
Außerdem hat der Gerichtshof den Begriff „gesetzlich vorgesehen" in Art. 8-11 EMRK stets in materiellem und nicht in formellem Sinn verstanden, der „geschriebenes Recht" umfasst, einschließlich des Rechts unterhalb des
Gesetzes, sowie Regelungen von Berufsorganisationen, die sie im Rahmen ihrer vom Parlament übertragenen Rechtsetzungsbefugnis verabschiedet haben, aber auch ungeschriebenes Recht. „Gesetzlich" erfasst Gesetze und
„Richterrecht". Kurzum, „Gesetz" ist das geltende Recht, wie es die zuständigen Gerichte ausgelegt haben (s. EGMR, Slg. 2005-XI Nr. 88 = NVwZ 2006, 1389 (1390-1391) - Leyla Sahin/Türkei mit weiteren Nachweisen).
b) Anwendung dieser Grundsätze
(i) Rechtsgrundlage
Der Hoge Raad hat in seinem Urteil vom 10.5.1996 (s. NJ 1996 Nr. 578) grundsätzlich das Recht des Journalisten auf Schutz seiner Quellen entsprechend dem kurz vorher ergangenen Urteil des Gerichtshofsim Fall
Goodwin/Vereinigtes Königreich (s. EGMR, Slg.1996-II = ÖJZ 1996, 795) anerkannt.
Im Zeitpunkt des Geschehens in diesem Fall waren die Richtlinien von 1988 noch in Kraft ... .
Der Gerichtshof sieht wie auch die Parteien in § 96a niederländische StPO die Rechtsgrundlage für den Eingriff in diesem Fall.
Dass diese Vorschrift ausreichend zugänglich ist, ist unbestritten.
(ii) Qualität der Rechtsgrundlage
Da der Schutz von journalistischen Quellen und von Informationen, die zu ihrer Identifizierung führen können, für die Pressefreiheit entscheidende Bedeutung hat, müssen für jeden Eingriff in das Recht auf diesen Schutz
Verfahrensgarantien gesetzlich festgelegt sein, die der Bedeutung dieses Grundsatzes entsprechen.
Anordnungen auf Angabe einer Informationsquelle können sich nicht nur zum Nachteil der Quelle auswirken, deren Identität aufgedeckt wird, sondern auch für Zeitungen oder sonstige Publikationen, deren Ruf durch die Aufdeckung
bei möglichen späteren Quellen Schaden nehmen kann, aber auch auf die Öffentlichkeit, die ein Interesse daran hat, Informationen aus anonymen Quellen zu erhalten (s. mutatis mutandis EGMR, NJW 2008, 2563 (2565) Nr. 71 - Voskuil/Niederlande).
Zu jenen Verfahrensgarantien gehört vorrangig die Überprüfung des Eingriffs durch einen Richter oder ein anderes unabhängiges und unparteiisches Entscheidungsorgan. Der Grundsatz, dass in Fällen zum Quellenschutz „das Gericht
in der Lage sein muss, das Gesamtbild zu beurteilen", ist in einer der ersten Entscheidungen zu dieser Frage von der EKMR betont worden (s. Entsch. v. 18.6.1996 - 25794/94 - British Broadcasting Corporation/Vereinigtes
Königreich). Die Überprüfung muss durch eine Stelle erfolgen, die von der Exekutive und anderen Beteiligten unabhängig ist. Außerdem muss sie befugt sein, vor Herausgabe des Materials zu entscheiden, ob ein öffentliches Interesse
besteht, das dem Grundsatz des Quellenschutzes vorgeht, sowie nicht notwendigen Zugang zu Informationen zu verhindern, die zur Aufhebung der Identität der Quellen führen könnte.
Allerdings mag es den Ermittlungsbehörden in dringenden Fällen unmöglich sein, die Gründe für eine Anordnung oder Aufforderung dazu im Einzelnen darzulegen. In solchen Fällen wäre eine unabhängige Prüfung spätestens vor
Einsichtnahme und Verwertung des Materials ausreichend, um festzustellen, ob sich eine Frage der Vertraulichkeit stellt, und gegebenenfalls, ob angesichts der besonderen Umstände des Falls das von den Ermittlungs- oder
Verfolgungsbehörden angeführte öffentliche Interesse dem Quellenschutz vorgeht. Eine unabhängige Überprüfung erst nach Aushändigung des Materials, das zur Identifizierung der Quellen führen kann, würde das Recht auf
Vertraulichkeit in seinem Kern aushöhlen.
Da es einer präventiven Überprüfung bedarf, muss der Richter oder jedes andere unabhängige und unparteiische Kontrollorgan in der Lage sein, die möglichen Risiken und jeweiligen Interessen schon vor einer Aufdeckung
abzuwägen, und das mit Bezug auf das Material, das benannt werden soll, damit die Gründe der Behörden, welche die Angabe verlangen, angemessen beurteilt werden können. Für die Entscheidung muss es klare Kriterien geben,
insbesondere auch dafür, ob eine weniger einschneidende Maßnahme genügen könnte, das festgestellte überwiegende öffentliche Interesse zu wahren. Der Richter oder das sonst zuständige Kontrollorgan muss einen Antrag auf
Anordnung einer Aufdeckung der Quelle ablehnen können oder in der Lage sein, eine begrenzte oder bedingte Anordnung zu erlassen, um Quellen gegen ihre Preisgabe zu schützen, ob sie nun in dem zurückgehaltenen Material
ausdrücklich erwähnt sind oder nicht, und das mit der Begründung, dass die Weitergabe solchen Materials eine ernste Gefahr für die Quellen des Journalisten begründet (s. EGMR, Slg. 2005-XIII - Nordisk Film & TV A/S/Dänemark).
Für dringende Fälle muss es ein Verfahren geben, das es ermöglicht, vor Verwertung des Materials durch die Behörden die Informationen herauszufinden und auszusondern, die zur Identifizierung von Quellen führen können (s.
mutatis mutandis EGMR, Slg. 2007-XI Nrn. 62-66 = NJW 2008, 3409 (3411) - Wieser u. Bicos Beteiligungen GmbH/Österreich).
In den Niederlanden trifft diese Entscheidung seit In-Kraft-Treten von § 96a StPO die StA und nicht ein unabhängiger Richter. Wie jeder öffentliche Bedienstete hat zwar auch der StA umfassende Dienst- und Treuepflichten. Doch in
verfahrensrechtlicher Hinsicht ist er „Partei", der Interessen vertritt, die möglicherweise mit dem Schutz der Quellen eines Journalisten unvereinbar sind. Er kann daher kaum als objektiv und unparteiisch angesehen werden, um die
verschiedenen, widerstreitenden Interessen, wie erforderlich, gegeneinander abzuwägen.
Die Richtlinien von1988 sahen in Abschnitt B vor ..., dass journalistisches Material rechtmäßig erst nach Einleitung einer gerichtlichen Voruntersuchung und aufgrund einer Anordnung eines Untersuchungsrichters beschlagnahmt
werden dürfe. Nachdem § 96a niederländische StPO die Befugnis, Herausgabe solchen Materials anzuordnen, auf die StA übertragen hat, sind diese Richtlinien keine Garantie mehr für eine unabhängige Überprüfung. Für die
qualitativen Anforderungen an das Recht spielen sie deshalb im vorliegenden Fall keine Rolle.
Richtig ist allerdings, dass die Bf. darum gebeten hat, den Untersuchungsrichter einzuschalten, und dass dies geschehen ist. Die Regierung ist der Auffassung, und die Kammer ist ihr darin gefolgt, dass den Anforderungen
angemessenen verfahrensrechtlichen Schutzes damit Genüge getan wurde.
Die Grosse Kammer teilt diese Auffassung nicht. Zunächst gibt es für das Einschreiten des Untersuchungsrichters keine rechtliche Grundlage. Vom Gesetz nicht gefordert, kam es allein deshalb dazu, weil es der StA zuließ.
Zweitens wurde der Untersuchungsrichter lediglich zu Rate gezogen. Zwar behauptet niemand, dass der StA, hätte sich der Richter anders geäußert, gleichwohl verlangt hätte, die CD-Rom auszuhändigen. Doch ändert das nichts
daran, dass der Untersuchungsrichter in diesem Punkt keinerlei rechtliche Befugnisse hatte, was er übrigens selbst anerkannt hat ... . Er konnte also keine Anordnung treffen oder einen entsprechenden Antrag ablehnen oder ihm
stattgeben oder Bedingungen und Grenzen einer Beschlagnahme festlegen.
Das alles aber ist mit dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit kaum vereinbar. Der Gerichtshof wäre übrigens zu diesem Ergebnis auch aus jedem der genannten Gründe gekommen.
Die nachträgliche Kontrolle durch das LG Amsterdam hat diese Mängel nicht geheilt. Das LG war auch nicht in der Lage, den StA und die Polizei von der Prüfung der Fotos auf der CD-Rom abzuhalten, als sie in ihren Händen war.
Im Ergebnis war das Recht mangelhaft, weil es kein mit angemessenen rechtlichen Sicherungen ausgestattetes Verfahren für die Bf. gab, das eine unabhängige Beurteilung ermöglicht hätte, ob das Interesse der strafrechtlichen
Ermittlungen das Interesse am Schutz der journalistischen Quellen überwiege. Also ist Art. 10 EMRK verletzt, weil der umstrittene Eingriff nicht „gesetzlich vorgesehen" war.
D. Die übrigen Erfordernisse nach Art. 10 II EMRK
(Nach der Feststellung, dass der Eingriff nicht „gesetzlich vorgesehen" ist, erübrigt sich eine Prüfung der übrigen Voraussetzungen für eine Rechtfertigung des Eingriffs nach Art. 10 II EMRK).
III. Art. 41 EMRK
...
B. Kosten und Auslagen
(Die Bf. verlangt Erstattung von Kosten und Auslagen in Höhe von insgesamt 117.133,15 €)
Die Regierung erwidert, es bestehe kein Kausalzusammenhang zwischen diesen Kosten und Auslagen und dem Sachverhalt, den die Kammer als Verstoß gegen die Konvention gewertet hat. Jeder Verstoß, den die Grosse Kammer
feststellen würde, wenn es denn dazu käme, beträfe das Fehlen verfahrensrechtlicher Sicherungen. Die Beschlagnahme des journalistischen Materials sei davon zu trennen. Die Entscheidungen der niederländischen Gerichte selbst
verstießen nicht gegen Art. 10 EMRK und könnten daher Erstattung der von der Bf. geforderten Beträge nicht rechtfertigen.
Im Übrigen und hilfsweise seien diese Beträge maßlos übertrieben.
In der mündlichen Verhandlung vom 6.1.2010 hat der Verfahrensbevollmächtigte der Regierung auf eine Pressemitteilung hingewiesen, der zufolge die Vertreter der Bf. von der Stiftung für die Pressefreiheit (Stichting
Persvrijheidsfonds) bezahlt worden seien.
Aufgefordert, dazu schriftlich Stellung zu nehmen, hat die Bf. erklärt, dass ihr die Stiftung zugesagt habe, 9000 € zu übernehmen, falls der Gerichtshof ihre Anträge ablehne. Hätte sie Erfolg, müsste sie ihre Kosten selbst in voller
Höhe tragen.
Nach Art. 41 EMRK sind Kosten und Auslagen - so die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs - nur zu erstatten, wenn nachgewiesen ist, dass sie entstanden und notwendig waren sowie ihrer Höhe nach angemessen sind.
Rechtsverfolgungskosten müssen sich außerdem auf die festgestellte Verletzung der Konvention beziehen (s. zuletzt EGMR, Urt. v. 9.4.2009 - 71463/01 Nr. 226 - Silih/Slowenien; EGMR, Slg. 2009 Nr. 134 = StV 2010, 490 -
Mooren/Deutschland; EGMR, Slg. 2009 Nr. 229 = NJOZ 2011, 516 - Varnava u.a./Türkei).
Feststeht, dass die Bf. Kosten hatte, insofern sie als Mandantin mit ihren Anwälten eine rechtlich verbindliche Honorarvereinbarung getroffen hatte. Was sie dabei verabredet hatten, um den finanziellen Verpflichtungen der Bf.
gegenüber ihren Anwälten nachkommen zu können, ist für Art. 41 EMRK ohne Bedeutung. Der Fall unterscheidet sich insofern von dem, in dem die Kosten von einem Dritten getragen werden (s. EGMR, 1983, Serie A, Bd. 59, S.
9-10 Nrn. 21-22 = EGMR-E 2, 21 - Dudgeon/Vereinigtes Königreich (Art. 50)).
Der Gerichtshof hat, worauf die Regierung zu Recht hinweist, über die Berechtigung der Beschlagnahme nicht in der Sache entschieden. Bei den Kosten und Auslagen lässt sich aber im vorliegenden Fall nicht zwischen Verfahren und
Begründetheit in der Sache unterscheiden. Das von der Bf. anhängig gemachte Verfahren war hinsichtlich ihres Beschwerdepunkts - unzureichender verfahrensrechtlicher Schutz - insofern angemessen, als es den niederländischen
Behörden eine realistische Möglichkeit bot, den behaupteten materiellen Mängeln abzuhelfen. Tatsächlich ist es schwer vorstellbar, dass der Gerichtshof die Beschwerde für zulässig erklärt hätte, hätte die Bf. nicht die Möglichkeiten
genutzt, die ihr das niederländische Recht gibt. Daher besteht ein Kausalzusammenhang zwischen der festgestellten Verletzung und den verlangten Kosten. Mit anderen Worten, die Kosten sind „notwendig entstanden".
Doch sind die Beträge nicht angemessen, weder was die Höhe des Stundenhonorars, noch was die Zahl der angesetzten Stunden betrifft. ..."
***
Die Religionsfreiheit, ein Grundpfeiler der demokratischen Gesellschaft, umfasst u.a. die Freiheit, seine Religion öffentlich und mit anderen zu bekennen. Deswegen muss bei Auslegung von Art. 9 EMRK (Gedanken-, Gewissens- und
Religionsfreiheit) Art. 11 EMRK (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) berücksichtigt werden. Damit folgt aus dem Recht auf Religionsfreiheit für den Gläubigen das Recht, sich frei und ohne willkürliche staatliche Eingriffe
zusammenzuschließen. Unabhängige Religionsgemeinschaften sind für den Pluralismus in einer demokratischen Gesellschaft unabdingbare Voraussetzung und das Kernstück des von Art. 9 EMRK gewährten Schutzes. Die
Konventionsstaaten sind zu Neutralität und Unparteilichkeit verpflichtet und dürfen deshalb die Legitimität eines religiösen Glaubens nicht beurteilen. Doch haben sie das Recht, sich davon zu überzeugen, dass Ziele und Tätigkeiten
auch einer Religionsgemeinschaft mit der Rechtsordnung übereinstimmen, müssen das aber in einer Weise tun, die mit ihren Konventionspflichten vereinbar ist. Dabei unterliegen sie der Überwachung durch den Gerichtshof. Im
Übrigen darf der Staat von seiner Befugnis, staatliche Institutionen und den Bürger vor Vereinigungen zu schützen, die sie gefährden könnten, nur zurückhaltend Gebrauch machen, denn die Ausnahmen von der Vereinigungsfreiheit
(Art. 11 II EMRK ) sind eng auszulegen. Die Auflösung der Beschwerdeführerin zu 1 und das Verbot ihrer Aktivitäten haben die russischen Behörden und Gerichte damit begründet, sie habe ihre Mitglieder zur Zerstörung ihrer
Familien gezwungen; Rechte und Freiheiten ihrer Mitglieder und Dritter verletzt; ihre Mitglieder angestiftet, Selbstmord zu begehen oder ärztliche Behandlung abzulehnen; auf die Rechte von Eltern und Kindern eingewirkt;
insbesondere Kinder gegen den Willen von Eltern in die Gemeinschaft gelockt und Mitglieder ermutigt, gesetzliche Pflichten nicht zu erfüllen. Diese Vorwürfe haben die russischen Behörden und Gerichte entweder nicht substantiiert
oder nicht nachgewiesen. Außerdem waren die Auflösung der Beschwerdeführerin zu 1 und das Verbot ihrer Aktivitäten, einzige Sanktion bei einem Verstoß gegen das russische Religionsgesetz von 1997, außerordentlich
schwerwiegende und unverhältnismäßige Maßnahmen. Daher ist Art. 9 i.V. mit Art. 11 EMRK verletzt. Die Anträge der Beschwerdeführerin zu 1, sie erneut zu registrieren, wurden mit unterschiedlicher Begründung abgelehnt. Dieser
Eingriff in ihre von Art. 11 i. V. mit Art. 9 EMRK garantierten Rechte war willkürlich und deswegen nicht "gesetzlich vorgesehen" i.S. von Art. 9 II und 11 II EMRK. Die russischen Behörden und Gerichte haben nicht in gutem
Glauben gehandelt und ihre Pflicht zu Neutralität und Unparteilichkeit verletzt (EGMR, Urteil vom 10.06.2010 - 302/02 zu EGMR Art. 6, 9, 10, 11, 14, 35 III,IV, 41, 46).
***
Die Opfereigenschaft eines Beschwerdeführers i.S. von Art. 34 EMRK (Individualbeschwerden) hängt nicht davon ab, ob ihm ein Schaden entstanden ist. Das ist erst für Art. 41 EMRK (gerechte Entschädigung) von Bedeutung. . Es
verletzt nicht notwendig Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), wenn aus dem Schweigen des Angeklagten Schlüsse gezogen werden. Das kann insbesondere zulässig sein, wenn nach den Tatumständen und der Beweislage
eine Erklärung des Angeklagten eindeutig erwartet werden kann. . Auch die Unschuldsvermutung in Art. EMRK 6 II EMRK gilt nicht absolut, denn in jedem Strafrechtssystem gibt es Tatsachen- und Rechtsvermutungen, die nicht
grundsätzlich konventionswidrig sind, wenn sie sich in vernünftigen Grenzen halten. Im vorliegenden Fall hat das Gericht aus der Weigerung des Beschwerdeführers als Halter des Wagens, den Fahrer zu benennen, den Schluss
gezogen, dass er selbst gefahren sei. Der Beschwerdeführer hatte angegeben, er sei zur Tatzeit nicht in Österreich gewesen und könne den Fahrer nicht angeben, weil das Kraftfahrzeug regelmäßig von mehreren Personen benutzt
werde. Unter solchen Umständen ist es nicht der einzige nach gesundem Menschenverstand mögliche Schluss, dass der Beschwerdeführer selbst gefahren ist. Damit ist die Beweislast von der Anklage auf die Verteidigung verlagert
worden, obwohl die Anklage keinen überzeugenden prima facie-Beweis erbringen konnte. . Wenn das Gericht aus der Weigerung des Beschwerdeführers den Schluss ziehen wollte, er sei gefahren, hätte es ausreichende
Verfahrensgarantien geben, insbesondere mündlich verhandeln und den Beschwerdeführer befragen müssen (EGMR, Urteil vom 18.03.2010 - 13201/05, NJW 2011, 201).
***
Art. 42 EMRK Urteile der Kammern
Urteile der Kammern werden nach Maßgabe des Artikels 44 Absatz 2 endgültig.
Art. 43 EMRK Verweisung an die Große Kammer
(1) Innerhalb von drei Monaten nach dem Datum des Urteils der Kammer kann jede Partei in Ausnahmefällen die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer beantragen.
(2) Ein Ausschuss von fünf Richtern der Großen Kammer nimmt den Antrag an, wenn die Rechtssache eine schwer wiegende Frage der Auslegung oder Anwendung dieser Konvention oder der Protokolle dazu oder eine schwer
wiegende Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft.
(3) Nimmt der Ausschuss den Antrag an, so entscheidet die Große Kammer die Sache durch Urteil.
Art. 44 EMRK Endgültige Urteile
(1) Das Urteil der Großen Kammer ist endgültig.
(2) Das Urteil einer Kammer wird endgültig,
a) wenn die Parteien erklären, dass sie die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer nicht beantragen werden,
b) drei Monate nach dem Datum des Urteils, wenn nicht die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer beantragt worden ist, oder
c) wenn der Ausschuss der Großen Kammer den Antrag auf Verweisung nach Artikel 43 abgelehnt hat.
(3) Das endgültige Urteil wird veröffentlicht.
Art. 45 EMRK Begründung der Urteile und Entscheidungen
(1) Urteile sowie Entscheidungen, mit denen Beschwerden für zulässig oder für unzulässig erklärt werden, werden begründet.
(2) Bringt ein Urteil ganz oder teilweise nicht die übereinstimmende Meinung der Richter zum Ausdruck, so ist jeder Richter berechtigt, seine abweichende Meinung darzulegen.
Art. 46 EMRK Verbindlichkeit und Durchführung der Urteile
(1) Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen.
(2) Das endgültige Urteil des Gerichtshofs mit dem Ministerkomitee zuzuleiten; dieses überwacht seine Durchführung.
Leitsätze/Entscheidungen:
Die Rolle des Gerichtshofs ist gegenüber staatlichen Gerichten subsidiär. Eine Regierung kann daher vor dem Gerichtshof grundsätzlich nur mit dem gehört werden, was sie zuvor den staatlichen Gerichten vorgetragen hat, so dass die
bereits darüber entscheiden konnten. Ausübung von Hoheitsgewalt ist nach Art. 1 EMRK (Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte) notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Konventionsstaat für ihm zurechenbare
Handlungen und Unterlassungen verantwortlich ist. Die Hoheitsgewalt ist grundsätzlich territorial bestimmt. Handlungen von Vertretern der Konventionsstaaten, die außerhalb ihres Hoheitsgebiets vorgenommen werden oder dort
Auswirkungen haben, können im Ausnahmefall Ausübung ihrer Hoheitsgewalt i. S. von Art. 1 EMRK sein. Ein solcher Ausnahmefall kann gegeben sein, wenn
- diplomatische oder konsularische Vertreter im Ausland tätig werden,
- ein Staat mit Zustimmung der Regierung eines anderen auf deren Hoheitsgebiet Zuständigkeiten übernimmt,
- Gewaltanwendung staatlicher Vertreter im Ausland Personen unter ihre Kontrolle bringt, insbesondere wenn die Personen gefangen genommen werden,
- infolge rechtmäßiger oder unrechtmäßiger Militäraktion ein Staat die tatsächliche Kontrolle über ein Gebiet außerhalb seines Hoheitsgebiets ausübt.
Nach dem Sturz des Ba'ath Regimes und bis zur Bildung einer irakischen Interimsregierung hat das Vereinigte Königreich zusammen mit den USA Teile der öffentlichen Gewalt im Irak übernommen, die normalerweise von einer
souveränen Regierung ausgeübt werden. Unter diesen außergewöhnlichen Umständen unterstanden die bei Sicherheitsoperationen der britischen Streitkräfte getöteten Personen der Hoheitsgewalt des Vereinigten Königreichs i. S. von
Art. 1 EMRK. Die sich aus Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) ergebende Ermittlungspflicht bei Todesfällen gilt auch unter schwierigen Sicherheitsverhältnissen nach einem bewaffneten Konflikt. Die Ermittlungen über den Tod der
Angehörigen einiger Beschwerdeführer entsprachen nicht den Anforderungen von Art. 2 EMRK, weil sie gänzlich im Bereich der unmittelbaren militärischen Hierarchie blieben und sich darauf beschränkten, Aussagen der beteiligten
britischen Soldaten aufzunehmen. Auch die Sonderabteilung der Militärpolizei, die in einigen Fällen Ermittlungen geführt hat, war nicht gänzlich unabhängig von der militärischen Hierarchie. Deswegen ist Art. 2 EMRK verletzt.
Einer der Beschwerdeführer ist noch Opfer i. S. von Art. 34 EMRK (Individualbeschwerden), obwohl er Schadensersatz und ein Schuldanerkenntnis erhalten hat, weil keine umfassenden und unabhängigen Ermittlungen angestellt
worden sind. Bei einem anderen Beschwerdeführer hat eine umfassende, öffentliche Untersuchung stattgefunden, so dass er nicht mehr Opfer der von ihm behaupteten Konventionsverletzung ist. Der Gerichtshof verurteilt die britische
Regierung nicht, weitere Ermittlungen anzustellen. Nach Art. 46 II EMRK (Verbindlichkeit und Durchführung der Urteile) ist es Aufgabe des Ministerkommitees des Europarats zu prüfen, welche Maßnahmen zur Durchführung des
Urteils erforderlich sind (EMRK, Urteil vom 07.07.2011 - 55721/07 zu EMRK Art. 1, 2, 15, 34, 35, 41, 46, 56).
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Die Fortdauer der Sicherungsverwahrung über die ursprünglich im StGB vorgesehene Höchstdauer von zehn Jahren verstößt gegen Art. 5 I lit. a (Recht auf Freiheit und Sicherheit) und Art. 7 I EMRK (keine Strafe ohne Gesetz -
Anschluss an EGMR, Slg. 2009 = NJW 2010, 2495 - M./Deutschland). Nach Art. 5 z I lit. e EMRK kann einer Person die Freiheit wegen einer psychischen Krankheit nur entzogen werden, wenn sie zuverlässig nachgewiesen und so
schwerwiegend ist, dass sie eine zwangsweise Unterbringung notwendig macht. Die Fortdauer der Unterbringung ist nur so lange zulässig, wie die Störung fortbesteht. Eine Freiheitsentziehung wegen einer psychischen Erkrankung ist
nur rechtmäßig i. S. von Art. 5 I lit. e EMRK, wenn sie in einem Krankenhaus, einer Klinik oder einer anderen geeigneten Einrichtung vollzogen wird. Es gibt aber in Deutschland keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem
Vollzug einer langen Freiheitsstrafe und dem einer Sicherungsverwahrung. Die Feststellung einer Konventionsverletzung verpflichtet den beklagten Staat nach Art. 46 EMRK (Verbindlichkeit und Durchführung der Urteile) nicht nur
zur Zahlung des nach Art. 41 EMRK (gerechte Entschädigung) zugesprochenen Betrags an den Beschwerdeführer, sondern auch dazu, unter Aufsicht des Ministerkomitees des Europarats allgemeine oder individuelle Maßnahmen zu
treffen, um die Konventionsverletzung abzustellen und so weit wie möglich Wiedergutmachung zu leisten. Aus Art. 1 EMRK (Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte) ergibt sich, dass sich die Konventionsstaaten mit
Ratifizierung der Konvention verpflichtet haben sicherzustellen, dass ihre Rechtsordnung mit der Konvention übereinstimmt. Daraus folgt, dass der beklagte Staat jedes Hindernis in seiner Rechtsordnung für eine angemessene
Wiedergutmachung beseitigen muss. Nach dem Urteil in der Sache M./Deutschland (Slg. 2009 = NJW 2010, 2495) haben einige deutsche Gerichte die konventionswidrige Sicherungsverwahrung nicht beendet mit der Begründung, sie
könnten das StGB nicht konventionskonform auslegen. Einige Oberlandesgerichte und ein Senat des BGH halten das für möglich. Deswegen sieht der Gerichtshof davon ab, bestimmte allgemeine oder individuelle Maßnahmen zu
bezeichnen, die zur Durchführung des Urteils erforderlich sind. Er fordert die deutschen Behörden und Gerichte aber dringend dazu auf, ihrer Verantwortung für die Anwendung und Durchsetzung des Rechts des Beschwerdeführers
auf Freiheit nachzukommen (EGMR, Urteil vom 13.01.2011 - 17792/07).
***
Der Gerichtshof hat keine Zuständigkeit zu prüfen, ob ein Konventionsstaat die Maßnahmen ergriffen hat, die zu treffen er nach einem Urteil des Gerichtshofs verpflichtet ist. Es ist aber möglich, dass die vom Staat zur
Wiedergutmachung getroffenen Maßnahmen neue Fragen nach der Konvention aufwerfen, die Gegenstand einer neuen Beschwerde sein können, über die der Gerichtshof entscheiden kann. Wenn das Ministerkomitee des Europarats
seine Überwachung nach Art. 46 II EMRK abgeschlossen und festgestellt hat, der beklagte Staat habe seine Verpflichtung aus dem Urteil zu individuellen Maßnahmen erfüllt, kann der Gerichtshof das nicht prüfen, ohne in die
Zuständigkeit des Ministerkomitees einzugreifen. Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) gilt nicht für Wiederaufnahmeverfahren nach rechtskräftiger Verurteilung, denn der Verurteilte wird in diesem Verfahren nicht
strafrechtlich angeklagt (EGMR, Entscheidung vom 06.07.2010 - 5980/07 Öcalan/Türkei, NJW 2010, 3703).
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Die Religionsfreiheit, ein Grundpfeiler der demokratischen Gesellschaft, umfasst u.a. die Freiheit, seine Religion öffentlich und mit anderen zu bekennen. Deswegen muss bei Auslegung von Art. 9 EMRK (Gedanken-, Gewissens- und
Religionsfreiheit) Art. 11 EMRK (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) berücksichtigt werden. Damit folgt aus dem Recht auf Religionsfreiheit für den Gläubigen das Recht, sich frei und ohne willkürliche staatliche Eingriffe
zusammenzuschließen. Unabhängige Religionsgemeinschaften sind für den Pluralismus in einer demokratischen Gesellschaft unabdingbare Voraussetzung und das Kernstück des von Art. 9 EMRK gewährten Schutzes. Die
Konventionsstaaten sind zu Neutralität und Unparteilichkeit verpflichtet und dürfen deshalb die Legitimität eines religiösen Glaubens nicht beurteilen. Doch haben sie das Recht, sich davon zu überzeugen, dass Ziele und Tätigkeiten
auch einer Religionsgemeinschaft mit der Rechtsordnung übereinstimmen, müssen das aber in einer Weise tun, die mit ihren Konventionspflichten vereinbar ist. Dabei unterliegen sie der Überwachung durch den Gerichtshof. Im
Übrigen darf der Staat von seiner Befugnis, staatliche Institutionen und den Bürger vor Vereinigungen zu schützen, die sie gefährden könnten, nur zurückhaltend Gebrauch machen, denn die Ausnahmen von der Vereinigungsfreiheit
(Art. 11 II EMRK ) sind eng auszulegen. Die Auflösung der Beschwerdeführerin zu 1 und das Verbot ihrer Aktivitäten haben die russischen Behörden und Gerichte damit begründet, sie habe ihre Mitglieder zur Zerstörung ihrer
Familien gezwungen; Rechte und Freiheiten ihrer Mitglieder und Dritter verletzt; ihre Mitglieder angestiftet, Selbstmord zu begehen oder ärztliche Behandlung abzulehnen; auf die Rechte von Eltern und Kindern eingewirkt;
insbesondere Kinder gegen den Willen von Eltern in die Gemeinschaft gelockt und Mitglieder ermutigt, gesetzliche Pflichten nicht zu erfüllen. Diese Vorwürfe haben die russischen Behörden und Gerichte entweder nicht substantiiert
oder nicht nachgewiesen. Außerdem waren die Auflösung der Beschwerdeführerin zu 1 und das Verbot ihrer Aktivitäten, einzige Sanktion bei einem Verstoß gegen das russische Religionsgesetz von 1997, außerordentlich
schwerwiegende und unverhältnismäßige Maßnahmen. Daher ist Art. 9 i.V. mit Art. 11 EMRK verletzt. Die Anträge der Beschwerdeführerin zu 1, sie erneut zu registrieren, wurden mit unterschiedlicher Begründung abgelehnt. Dieser
Eingriff in ihre von Art. 11 i. V. mit Art. 9 EMRK garantierten Rechte war willkürlich und deswegen nicht "gesetzlich vorgesehen" i.S. von Art. 9 II und 11 II EMRK. Die russischen Behörden und Gerichte haben nicht in gutem
Glauben gehandelt und ihre Pflicht zu Neutralität und Unparteilichkeit verletzt (EGMR, Urteil vom 10.06.2010 - 302/02 zu EGMR Art. 6, 9, 10, 11, 14, 35 III,IV, 41, 46).
*** (BVerfG)
Bindung an EGMR-Entscheidungen bei Reglung des Sorgerechts eines nichtehelichen Vaters (BVerfG, 1 BvR 1664/04 vom 5.4.2005, Absatz-Nr. (1 - 34), http://www.bverfg.de/entscheidungen/rk20050405_1bvr166404.html).
Art. 47 EMRK Gutachten
(1) Der Gerichtshof kann auf Antrag des Ministerkomitees Gutachten über Rechtsfragen erstatten, welche die Auslegung dieser Konvention und der Protokolle dazu betreffen.
(2) Diese Gutachten dürfen keine Fragen zum Gegenstand haben, die sich auf den Inhalt oder das Ausmaß der in Abschnitt I dieser Konvention und in den Protokollen dazu anerkannten Rechte und Freiheiten beziehen, noch andere
Fragen, über die der Gerichtshof oder das Ministerkomitee aufgrund eines nach dieser Konvention eingeleiteten Verfahrens zu entscheiden haben könnte.
(3) Der Beschluss der Ministerkomitees, ein Gutachten beim Gerichtshof zu beantragen, bedarf der Mehrheit der Stimmen der zur Teilnahme an den Sitzungen des Komitees berechtigten Mitglieder.
Art. 48 EMRK Gutachterliche Zuständigkeit des Gerichtshofs
Der Gerichtshof entscheidet, ob ein vom Ministerkomitee gestellter Antrag auf Erstattung eines Gutachtens in seine Zuständigkeit nach Artikel 47 fällt.
Art. 49 EMRK Begründung der Gutachten
(1) Die Gutachten des Gerichtshofs werden begründet.
(2) Bringt das Gutachten ganz oder teilweise nicht die übereinstimmende Meinung der Richter zum Ausdruck, so ist jeder Richter berechtigt, seine abweichende Meinung darzulegen.
(3) Die Gutachten des Gerichtshofs werden dem Ministerkomitee übermittelt.
Art. 50 EMRK Kosten des Gerichtshof
Die Kosten des Gerichtshofs werden vom Europarat getragen.
Art. 51 EMRK Vorrechte und Immunitäten der Richter
Die Richter genießen bei der Ausübung ihres Amtes die Vorrechte und Immunitäten, die in Artikel 40 der Satzung des Europarats und den aufgrund jenes Artikels geschlossenen Übereinkünften vorgesehen sind.
Art. 52 EMRK Anfragen des Generalsekretärs
Auf Anfrage des Generalsekretärs des Europarats erläutert jede Hohe Vertragspartei, auf welche Weise die wirksame Anwendung aller Bestimmungen dieser Konvention in ihrem innerstaatlichen Recht gewährleistet wird.
Art. 53 EMRK Wahrung anerkannter Menschenrechte
Diese Konvention ist nicht so auszulegen, als beschränke oder beeinträchtige sie Menschenrechte und Grundfreiheiten, die in den Gesetzen einer Hohen Vertragspartei oder in einer anderen Übereinkunft, deren Vertragspartei sie ist,
anerkannt werden.
Art. 54 EMRK Befugnisse des Ministerkomitees
Diese Konvention berührt nicht die dem Ministerkomitee durch die Satzung des Europarats übertragenen Befugnisse.
Art. 55 EMRK Ausschluss anderer Verfahren zur Streitbeilegung
Die Hohen Vertragsparteien kommen überein, dass sie sich vorbehaltlich besonderer Vereinbarung nicht auf die zwischen ihnen geltenden Verträge, sonstigen Übereinkünfte oder Erklärungen berufen werden, um eine Streitigkeit über
die Auslegung oder Anwendung dieser Konvention einem anderen als den in der Konvention vorgesehenen Beschwerdeverfahren zur Beilegung zu unterstellen.
Art. 56 EMRK Räumlicher Geltungsbereich
(1) Jeder Staat kann bei der Ratifikation oder jederzeit danach durch eine an den Generalsekretär des Europarats gerichtete Notifikation erklären, dass diese Konvention vorbehaltlich des Absatzes 4 auf alle oder einzelne
Hoheitsgebiete Anwendung findet, für deren internationale Beziehungen er verantwortlich ist.
(2) Die Konvention findet auf jedes in der Erklärung bezeichnete Hoheitsgebiet ab dem dreißigsten nach Eingang der Notifikation beim Generalsekretär des Europarats Anwendung.
(3) In den genannten Hoheitsgebieten wird diese Konvention unter Berücksichtigung der örtlichen Notwendigkeiten angewendet.
(4) Jeder Staat, der eine Erklärung nach Absatz 1 abgegeben hat, kann jederzeit danach für eines oder mehrere der in der Erklärung bezeichneten Hoheitsgebiete erklären, dass er die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die
Entgegennahme von Beschwerden von natürlichen Personen, nichtstaatlichen Organisationen oder Personengruppen nach Artikel 34 anerkennt.
Leitsätze/Entscheidungen:
Die Rolle des Gerichtshofs ist gegenüber staatlichen Gerichten subsidiär. Eine Regierung kann daher vor dem Gerichtshof grundsätzlich nur mit dem gehört werden, was sie zuvor den staatlichen Gerichten vorgetragen hat, so dass die
bereits darüber entscheiden konnten. Ausübung von Hoheitsgewalt ist nach Art. 1 EMRK (Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte) notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Konventionsstaat für ihm zurechenbare
Handlungen und Unterlassungen verantwortlich ist. Die Hoheitsgewalt ist grundsätzlich territorial bestimmt. Handlungen von Vertretern der Konventionsstaaten, die außerhalb ihres Hoheitsgebiets vorgenommen werden oder dort
Auswirkungen haben, können im Ausnahmefall Ausübung ihrer Hoheitsgewalt i. S. von Art. 1 EMRK sein. Ein solcher Ausnahmefall kann gegeben sein, wenn
- diplomatische oder konsularische Vertreter im Ausland tätig werden,
- ein Staat mit Zustimmung der Regierung eines anderen auf deren Hoheitsgebiet Zuständigkeiten übernimmt,
- Gewaltanwendung staatlicher Vertreter im Ausland Personen unter ihre Kontrolle bringt, insbesondere wenn die Personen gefangen genommen werden,
- infolge rechtmäßiger oder unrechtmäßiger Militäraktion ein Staat die tatsächliche Kontrolle über ein Gebiet außerhalb seines Hoheitsgebiets ausübt.
Nach dem Sturz des Ba'ath Regimes und bis zur Bildung einer irakischen Interimsregierung hat das Vereinigte Königreich zusammen mit den USA Teile der öffentlichen Gewalt im Irak übernommen, die normalerweise von einer
souveränen Regierung ausgeübt werden. Unter diesen außergewöhnlichen Umständen unterstanden die bei Sicherheitsoperationen der britischen Streitkräfte getöteten Personen der Hoheitsgewalt des Vereinigten Königreichs i. S. von
Art. 1 EMRK. Die sich aus Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) ergebende Ermittlungspflicht bei Todesfällen gilt auch unter schwierigen Sicherheitsverhältnissen nach einem bewaffneten Konflikt. Die Ermittlungen über den Tod der
Angehörigen einiger Beschwerdeführer entsprachen nicht den Anforderungen von Art. 2 EMRK, weil sie gänzlich im Bereich der unmittelbaren militärischen Hierarchie blieben und sich darauf beschränkten, Aussagen der beteiligten
britischen Soldaten aufzunehmen. Auch die Sonderabteilung der Militärpolizei, die in einigen Fällen Ermittlungen geführt hat, war nicht gänzlich unabhängig von der militärischen Hierarchie. Deswegen ist Art. 2 EMRK verletzt.
Einer der Beschwerdeführer ist noch Opfer i. S. von Art. 34 EMRK (Individualbeschwerden), obwohl er Schadensersatz und ein Schuldanerkenntnis erhalten hat, weil keine umfassenden und unabhängigen Ermittlungen angestellt
worden sind. Bei einem anderen Beschwerdeführer hat eine umfassende, öffentliche Untersuchung stattgefunden, so dass er nicht mehr Opfer der von ihm behaupteten Konventionsverletzung ist. Der Gerichtshof verurteilt die britische
Regierung nicht, weitere Ermittlungen anzustellen. Nach Art. 46 II EMRK (Verbindlichkeit und Durchführung der Urteile) ist es Aufgabe des Ministerkommitees des Europarats zu prüfen, welche Maßnahmen zur Durchführung des
Urteils erforderlich sind (EMRK, Urteil vom 07.07.2011 - 55721/07 zu EMRK Art. 1, 2, 15, 34, 35, 41, 46, 56).
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Art. 57 EMRK Vorbehalte
(1) Jeder Staat kann bei der Unterzeichnung dieser Konvention oder bei der Hinterlegung seiner Ratifikationsurkunde einen Vorbehalt zu einzelnen Bestimmungen der Konvention anbringen, soweit ein zu dieser Zeit in seinem
Hoheitsgebiet geltendes Gesetz mit der betreffenden Bestimmung nicht übereinstimmt. Vorbehalte allgemeiner Art sind nach diesem Artikel nicht zulässig.
(2) Jeder nach diesem Artikel angebrachte Vorbehalt muss mit einer kurzen Darstellung des betreffenden Gesetzes verbunden sein.
Art. 58 EMRK Kündigung
(1) Eine Hohe Vertragspartei kann diese Konvention frühestens fünf Jahre nach dem Tag, an dem sie Vertragspartei geworden ist, unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von sechs Monaten durch eine an den Generalsekretär des
Europarats gerichtet Notifikation kündigen; dieser unterrichtet die anderen Hohen Vertragsparteien.
(2) Die Kündigung befreit die Hohe Vertragspartei nicht von ihren Verpflichtungen aus dieser Konvention in Bezug auf Handlungen, die sie vor dem Wirksamwerden der Kündigung vorgenommen hat und die möglicherweise eine
Verletzung dieser Verpflichtungen darstellen.
(3) Mit derselben Maßgabe scheidet eine Hohe Vertragspartei, deren Mitgliedschaft im Europarat endet, als Vertragspartei dieser Konvention aus.
(4) Die Konvention kann in Bezug auf jedes Hoheitsgebiet, auf das sie durch eine Erklärung nach Artikel 56 anwendbar geworden ist, nach den Absätzen 1 bis 3 gekündigt werden.
Art. 59 EMRK Unterzeichnung und Ratifikation
(1) Diese Konvention liegt für die Mitglieder des Europarats zur Unterzeichnung auf. Sie bedarf der Ratifikation. Die Ratifikationsurkunden werden beim Generalsekretär des Europarats hinterlegt.
(2) Diese Konvention tritt nach Hinterlegung von zehn Ratifikationsurkunden in Kraft.
(3) Für jeden Unterzeichner, der die Konvention später ratifiziert, tritt sie mit der Hinterlegung seiner Ratifikationsurkunde in Kraft.
(4) Der Generalsekretär des Europarats notifiziert allen Mitgliedern des Europarats das In-Kraft-Treten der Konvention, die Namen der Hohen Vertragsparteien, die sie ratifiziert haben, und jede spätere Hinterlegung einer Ratifikationsurkunde.
Weitere Rechtsprechung:
BVerfG, Beschluss vom 18.8.2013 - 2 BvR 1380/08 (Ablehnung der Wiederaufnahme nationaler Verfahren)
***
Rousseau, Jean-Jacques, geb. 28.06.1712 in Genf
- Nichts ist gefährlicher als der Einfluss der Privatinteressen auf die öffentlichen Angelegenheiten.
- Die Staatsmacht hilft dem Starken, den Schwachen zu unterdrücken, und die Tendenz aller Gesetze besteht darin, die Reichen gegen die Habenichtse zu begünstigen.
- Kein Staatsbürger darf so reich sein, um sich einen anderen kaufen zu können, und keiner so arm, um sich verkaufen zu müssen.
- Wer sich zu sagen erdreistet, daß es außerhalb der Kirche kein Heil gibt, der muß aus dem Staat verjagt werden.
- Die modernen Völker besitzen keine Sklaven, sie sind selbst welche.
- Das Geld ist die Saat des Geldes, denn alles, was der Arme bezahlt, ist für ihn auf ewig verloren, es bleibt nämlich in den Händen der Reichen oder kehrt in sie zurück.
- Verträge binden den Schwachen an den Starken, niemals aber den Starken an den Schwachen.
- Die Gesetze nützen immer denjenigen, die etwas besitzen, und schaden immer denjenigen, die nichts haben.
- Überall, wo das Geld regiert, ist jenes Geld, das das Volk zur Aufrechterhaltung seiner Freiheit hergibt, das Instrument seiner Versklavung, und was es heute freiwillig bezahlt, das wird dazu verwendet, es morgen mit Gewalt zahlen
zu lassen.
***
Herr Köhler sagte auf die Frage nach der Notwendigkeit des Afghanistan-Einsatzes nach einer Heeresvisite im Kriegsgebiet am 23.05.2010: „..., dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch
Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren." Es gelte, so die Süddeutsche Zeitung in ihrer Ausgabe vom 28.05.2010 (Seite
1), freie Handelswege zu sichern und „ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitplätze und Einkommen". Seines
Präsidentenamtes ist es aber nicht würdig, - wenn auch unbedacht - entgegen der offiziellen Propaganda die Wahrheit über die Motivation von Kriegen, die Deutschland zum Schaden seiner Bürger führt, zu sagen, weshalb Herr
Bundespräsident nun von den Kriegsparteien (SPD, DIE GRÜNEN, CDU, CSU & FDP) tüchtig gescholten wird. Wie kann er nur?